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Märchen für die Jugend/Über den ethischen Gehalt der Märchen

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Von dem Hirsch, dem Fisch und dem Schwan, die auf Gottes Wort horchen sollten Märchen für die Jugend (1854) von Heinrich Pröhle
Über den ethischen Gehalt der Märchen, mit besonderer Rücksicht auf die vorliegende Sammlung
Literarische und mythologische Anmerkungen zu den Märchen der vorliegenden Sammlung
[217]
A. Über den ethischen Gehalt der Märchen,
mit besonderer Rücksicht
auf die vorliegende Sammlung.[1]
Eine Abhandlung für Freunde der Jugend.

Wie alle Menschen gern glücklich sein möchten, so spiegelt auch das Märchen vor Allem das Streben nach Glückseligkeit und Vollkommenheit, und es gewährt sie dem Menschen in der naiven Weise, die dem Märchen eigen ist, in weit unbeschränkterem Maße, als dies jemals einer Kunstdichtung, z. B. einem Roman, in den Sinn kommen kann, und fast stets durch raschen Glückswechsel. „Des Gluckes Rat muß umme gan,“ sagt der junge [218] Mann zum alten Mann in einem wunderschönen alten Gedichte, und das scheint auch der Grundsatz des Märchens. Bei diesem märchenhaften Glückswechsel gewinnt der Gute stets, und nur der Böse verliert.

Die auf diesem ganzen Gebiete herrschende Naivität erlaubt jedoch nicht, daß in einem einzelnen Märchen die sittliche Weltanschauung in allen einzelnen Zügen, wie dies in einer vollendeten Kunstdichtung der Fall sein kann, vollständig zur Erscheinung kommt. Das Märchen faßt z. B. einen einzelnen Fehler, wie den Geiz, in’s Auge und verfolgt ihn mit allen nur erdenkbaren Mitteln. Dabei ist ihm dann Alles erlaubt, denn es kommt ihm für jetzt nur auf diese Einzelnheit an. Werden Mord und Todtschlag begangen, um einen Fehler, der viel geringer ist als sie, zu strafen und bei der Wurzel auszurotten, so ist dies wegen des burlesken Charakters, den das Ganze gewinnt, hier eben so unverfänglich als im Puppenspiel.

Rühmenswerth und des höchsten Lobes würdig ist jene Keuschheit des Volksmärchens, welches (wie es denn den ganzen Umfang des menschlichen Lebens kennt und deshalb für den kindlichen Geist außerordentlich bildend ist) auch alle Geheimnisse, alles Böse, alles menschliche Gebrechen weiß, aber das Schlimmste schamhaft verhüllt und alle die Abgründe nicht mit Blumen, aber mit Moos und Laub bedeckt, in denen die moderne Phantasie mit Wollust herumwühlen würde und die denn auch, wie wir bei den Orientalen und Italienern sehen, fast durch jede novellistische Verarbeitung des Märchens, schamlos entblößt sind.

Unter den Märchen dieser Sammlung, wiewohl sie sonst nicht nach ihrem Werthe geordnet sind, steht doch gewiß mit Recht voran unter Nr. 1: Dank ist der Welt Lohn. Eins der schönsten Märchen, die überhaupt vorhanden sind: denn ein idealer Gedanke, der dem gewöhnlichen Leben gegenüber sogar als paradox erscheint, wird wahrhaft großartig und auf eine nicht [219] gemeine Weise siegreich durchgeführt. Aber nur der wahrhaft Reine, der sich ganz dem Idealen hingibt, machte die Erfahrung, welche die Überschrift ausspricht. Der Fuchs im folgenden Märchen, der den gleichen Satz aufstellt, macht, als er sich durch einen klugen Einfall Dank verdient hat und dies nun mit der ganzen Lüsternheit seiner Fuchsnatur ausbeuten will, doch die Erfahrung (Nr. 2): Undank ist der Welt Lohn.

Der bunte Bauer (Nr. 15), Böse werden (Nr. 16) und Das Ohrläppchen (Nr. 17) weiß Geschichten von armen und ganz verachteten Bauern zu erzählen, die, von den Schlägen des Schicksals mehr aufgerüttelt und aufgestachelt als daniedergeschlagen, mit gutem, wenn auch mitunter unfreiwilligem Humor noch den Stolz des reichen Nachbars und Vetters bestrafen, der hochmüthig auf sie herabsieht, womit dann auch wohl ein Wechsel des Geschickes verbunden ist.

Allerliebst ist in dem eben erwähnten Märchen: Böse werden (Nr. 16) der Gedanke, daß eine Wette gemacht wird, in der derjenige verliert, der zuerst auf den andern böse wird und daß der Eine Theil, der aus Geiz die ärgsten Mißhandlungen des andern ruhig ertragen hat, sich dann ganz treuherzig für böse und besiegt erklärt, als ihm die Frau todtgeschossen wird.

In dem Märchen Nr. 18: Von den ungetreuen Wirthstöchtern und von der Prinzessin mit goldenen Haaren, wird, aller Berechnung zum Trotz, das höchste Glück nicht dem zu Theil, der es listig erworben zu haben meint, sondern dieser wird wieder darum betrogen durch die Schuldlosen und Reinen, welche den Raub, den sie begehen, nicht ahnen.

Unter den dann folgenden Märchen zeigt Nr. 22: Der gute und der böse Geist, wie schwer es dem Menschen ist, das Glück zu ertragen, selbst wenn er das Unglück ertrug; es ist dies gleichfalls ein schon bekanntes und beliebtes Märchenthema, welches aber diesmal nicht [220] wie sonst scherzhaft, sondern ernst und gemessen durchgeführt wird.

Mit dem Stücke Nr. 30: Sim-sim-seliger Berg beginnt eine Reihe von Räubermärchen. Wenn man dieselben mit neuern Räuber- und andern Criminalgeschichten vergleicht, so kann man sich nicht genug wundern, wie fein und sinnig die in den Märchen waltende Phantasie unserer Altvordern diesen spröden Stoff zu behandeln und wie mannigfach sie ihn zu variiren verstand, ohne unästhetisch zu werden. Grundzug ist dabei, daß die Räuber nie durch physische Übermacht, sondern durch Geistesgegenwart, überlegenen Verstand und List bewältigt werden, was oft zum Schlusse noch zu einer hübschen wahrhaft plastischen Gruppe führt, besonders in Nr. 32: Der Reiter in Seiden, wo ein Mädchen die Räuber überlistet hat und das auch schon durch die zierlich-geheimnißvolle Erscheinung des Räubers sehr hübsch wird; nicht minder in Nr. 34: Der Scharfrichter und die Handwerksburschen, wo zu der List freilich noch hinzukommt, daß die malerische Gruppe der Räuber festgebannt wird. In Nr. 31: Die gebleichte Hand, ist die Verbindung des bekannten Märchenzuges, daß eine Königstochter, die nicht lachen kann, zum Lachen gebracht werden soll, mit einem Räubermärchen, so wie der mehr zum „Gruseln“ als zum Lachen auffordernde Spaß, wodurch dies dem Räuber gelingt, von großer Kühnheit und auch von unläugbarer Wirkung. Das Märchen Nr. 35: Der Fleischerknecht, führt ein kleines, sehr gut ausgeführtes Fechterspiel an unsern Augen vorüber. In Nr. 37: Räuber mahlen, vernichtet die Natur (durch das Wasser) selbst die Räuber; der gottlose Mühlknappe und daß das Ganze während der Kirche geschieht, wo die Mühle still stehen sollte, steigert noch den Eindruck, der fromme heimkehrende Müller tritt versöhnend zwischen das Grausen. Das Märchen Nr. 33: Die Räuberbraut, fesselt durch seinen träumerischen Anstrich. Wie es öfter in [221] Märchen vorkommt, so sagt auch die Räuberbraut nicht nur: „Es war ja nur ein Traum,“ sondern was sie erlebt hatte, ward auch wirklich wie ein Traum an uns vorübergeführt. Besonders schön ist dabei das gewaltsame Ende der hohen Dame, dessen näherer Zusammenhang mit Recht nicht aufgehellt wird, während für die Dame selbst durch die traurige Mahlzeit, so wie durch die dabei stattfindende Unterredung, doch unser Mitleid auf eine nicht gemeine Weise erregt wird. In Nr. 36: Der Edelmannssohn, bildet das Räuberhaus und was darin vorgeht, nur eine Episode. Bei der Bewältigung der Räuber kommt wiederum Frauenlist und die malerische Gruppe in’s Spiel; da hier eine Königin die Siegerin ist, so wird nur Alles viel prächtiger und glänzender ausgeführt als sonst. Im Übrigen ist das Grundthema, das auch sonst dem Märchen lieb ist, der leichtsinnige Sohn, der, als ihn sein Vater aufgegeben hat, in die Welt zieht, dann vom Glücke hoch erhoben zurückkehrt und nun noch im Vaterhause, umgekehrt wie der mit offenen Armen empfangene verlorne Sohn der Bibel, durch Verkennung und weil Niemand ihm seinen fürstlichen Rang glauben kann, durch gemeine Arbeit, Schläge und Einsperren den früheren Leichtsinn büßt, um dann gleichsam gereinigt und voller Hoheit dazustehen. Von den bisherigen unterscheidet sich das Märchen Nr. 38: Der Maurerlehrling, dadurch, daß der Räuber hier nicht förmlich besiegt wird. Wenn auch nicht der Räuber selbst, so ist doch sein Helfershelfer der Held, und gewinnt, indem er uns durch die Anhänglichkeit an seinen Meister und dessen Familie der etwaigen moralischen Bedenken überhebt durch scharf berechnenden Verstand und gutmüthigen Humor die Königstochter.

Unter den späteren Märchen mag dem im Wesentlichen schon durch andere Aufzeichnungen bekannten Nr. 43: Die Sonne bringt es an den Tag, „die uralte Idee von der göttlichen Natur der Sonne, [222] die Alles durchschaut und die Menschen erspäht, wie es im Indischen heißt“ zu Grunde liegen.

In Nr. 48: Der Hund Lilla, rettet ein Mädchen sich dadurch, daß es den Richtern ein Räthsel vorlegt, welches sie nicht errathen können. Über ihr Vergehen erfahren wir wohlweislich nichts; ihr naives Benehmen vor Gericht und ihr herzliches Vertrauen auf den treuen Hund, der ihr so seltsam dienen muß, versöhnt uns unter allen Umständen mit ihr. Nr. 49: Die kluge Bauerntochter, verherrlicht den Mutterwitz, dessen der Höchste und Mächtigste am wenigsten entbehren solle. Wie unsere Altvordern ihn besonders vor Gericht hochhielten, zeigt auch weiter unten die gesottenen Eier; aus: die kluge Hirtentochter, und: der Hund Lilla, weht uns die ganze sinnliche Naturfrische des alten Rechts an. Die kluge Bauerntochter enthält aber noch einen Nebengedanken, sie zeigt das wahrhaft Weibliche in dem sogenannten Mutterwitz auf, verherrlicht also den weiblichen Verstand und will demselben auf eine eben so feine als schalkhafte Weise seinen Einfluß auch außerhalb der ihm zunächst gesteckten Grenzen sichern.

Einige Märchen von religiösem Inhalt machen den Beschluß. Besonders schön ist darunter Nr. 63: Barrabas. Das Märchen Nr. 64: Von dem Hirsch, dem Fisch und dem Schwan, die auf Gottes Wort horchen sollten, beklagt in sehr sinniger Art, daß Gottes Gebote in der Welt zu wenig geachtet würden, ja, das von seltner Naturfrische angewehte Märchen stellt sie als vergessen dar und läßt sie vor unsern Augen im Schooße der Natur wieder geboren werden, um ihre beglückende Wirkung zu üben auf die Unschuldigen und Reinen, welche für sie empfänglich sind.

Diese Bemerkungen, welche nachdenkenden Freunden der Jugend wohl angeben werden, was sie in ihrer Weise weiter auszuführen haben, und in denen manche der schönsten Märchen der vorliegenden Sammlung gar [223] noch nicht berührt sind, ließen sich leicht noch vermehren, doch wozu, da sie ja doch immer nur an einzelnen Beispielen den ethischen Gehalt des deutschen Volksmärchens, seinen Reichthum an Belehrung und Lebensweisheit zeigen könnten? Für Eltern, Lehrer und Erzieher, welche nach dem Wunsche des Herausgebers diese Erläuterungen ihren Unterredungen mit der Jugend zu Grunde legen möchten, sei noch bemerkt, daß dieselben für die Stufe von mindestens 12 Jahren gehören, nicht aber für das frühere Lebensalter, welches sich zu dem Märchen noch völlig naiv verhält.


  1. Von dem, was ich in meinen „Kinder- und Volksmärchen,“ Vorwort S. IX, zur Literatur des deutschen Volksmärchens angab, nehmen die Grimm’schen Vorreden und der Aufsatz in den Grenzboten auch auf die ethische Seite des Märchens Bezug. Herder’s Betrachtungen über Märchen und Romane etc. (zur schönen Literatur und Kunst, 17. Theil, S. 89–123) müssen unvergessen sein und betrachten das Märchen natürlich eher vom ethischen und poetischen als vom mythologischen Gesichtspuncte. Mein eigner Aufsatz: „Über das Märchen und die Sage und ihre Benutzung in einigen deutschen Dichtungen, insbesondere Gottfried August Bürgers“ in der Allgemeinen Monatschrift von 1854, Juliheft, gehört, soweit er sich mit dem Märchen beschäftigt, ganz und gar hieher.
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