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Literaturbriefe an eine Dame/XVI.

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Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame/XVI.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 817–819
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[817]
Literaturbriefe an eine Dame.
von Rudolf Gottschall.

Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie auf Ihrem einsamen Schlosse am Meere auch davon Kenntniß nehmen, was sich auf der wandelbaren Welt der deutschen Bühne abspielt. Die Jahre kommen hier auch und gehen und gleichen sich nicht; bis an das Ufer des Stillen Oceans, wo er in der Goldgräberstadt San Francisco die wunderbare Mär von Siegfried und Chriemhild, ausgestattet mit alterthümlichen Buchstabenreimen und in den Hebungsversen, die auf ungezählten Füßen laufen, immer neue Erscheinungen tauchen auf und lösen sich ab; was da bleibend und vergänglich ist, kann erst die Zukunft entscheiden. Kaum hat Roderich Benedix die Augen geschlossen, als sich auch schon ein wetteifernder Nachwuchs in die von ihm verlassenen Bahnen drängt. Auch die Länder am Baltischen Gestade, Ihr Heimathland, verehrte Freundin, haben der deutschen Bühne einen Lustspieldichter gesendet, der sich manches schönen Erfolges rühmen darf. Der Name Ernst Wichert wird wohl auch schon in die stillen Hallen Ihres Schlosses gedrungen sein.

Ernst Wichert.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Ostpreußen ist in geistiger Hinsicht keineswegs ein unfruchtbares Land; irgend ein Name von Ruf knüpft sich an viele seiner kleinsten Städte. In Insterburg, im Lande der Lithauer, erblickte Wilhelm Jordan das Licht der Welt, der Nibelungensänger, der mit dem eroberten dichterischen Hort über die Meere zog, viel weiter, als je ein Held der alten Sage, und verkündete. In der mastenreichen Pregelstadt wurde der große Denker Kant geboren; in Mohrungen der phantasievoll bewegliche Herder ; in Neidenburg aber begab sich etwas Wunderbares: nicht nur ein deutscher Dichter darf das alte Ordensstädtchen seinen Heimathsort nennen, auch einer der größten Industriellen der Neuzeit ist hier geboren, in der industrieärmsten Provinz des preußischen Staates. Die russischen Reisebilder eines Strousberg dürften nicht weniger interessant sein, als die italienischen Reisebilder eines Gregorovius, wenn erstere jemals die Presse verlassen sollten.

Insterburg, die Vaterstadt Jordan’s, ist auch diejenige Ernst Wichert’s; er ist dort am 11. März 1831 geboren. Später hielt er sich in Königsberg und in der Seestadt Pillau auf. Ein Juristenkind, widmete er sich der Wissenschaft seines Vaters und studirte von 1850 bis 1853 in Königsberg die Rechte, nachdem er anfangs sich dem Studium der Geschichte mit Eifer [818] hingegeben hatte. Er verfolgte die juristische Beamtencarrière, wie Immermann und Uechtritz, uneingedenk des Platen’schen Ausspruchs:

Niemand gehe, wenn er einen Lorbeer tragen will, davon,
Morgens auf’s Gericht mit Acten, Abends auf den Helikon.

Doch da die Spaziergänge auf den Helikon, wenn sie den ganzen Tag über fortgesetzt werden, zu wenig einträglich sind, so gehört der „Pegasus im Joche“ nach wie vor als Vignette in die deutsche Literaturgeschichte. Hat doch unser großer Dichter Schiller lange Jahre seines Lebens auf dem Katheder und als Redacteur von Zeitschriften verbracht, und war seinem wahrhaften Berufe, für die deutsche Bühne zu schaffen, ungetreu geworden, nur um sich eine noch dazu klägliche bürgerliche Existenz zu gründen. Wichert wurde, nach kurzer Beschäftigung bei dem Kreisgerichte zu Memel, im Jahre 1860 als Kreisrichter nach Prokuls, einem lithauischen Marktflecken, versetzt. Wie es Pastorenidyllen giebt, so giebt es auch Kreisrichteridyllen, die bisher noch nicht in geflügelten Hexametern geschildert worden sind. Ein Kreisrichter in einem entlegenen Städtchen hat aber das gleiche Recht, von der idyllischen Muse verherrlicht zu werden, wie irgend einer jener ehrwürdigen Hirten auf der Insel Ithaka. Wichert hatte sich seine Idylle noch dazu sehr poetisch ausgeschmückt; schon früher verlobt, heirathete er gleich nach seiner festen Anstellung und verlebte nach seinem eigenen Bekenntniß in dem weltverlassenen Prokuls eine sehr glückliche Zeit. Im Herbste 1863 wurde er an das Königsberger Stadtgericht versetzt, wo er noch jetzt als Rath amtirt.

Sie sehen, verehrte Freundin, das ist ein einfacher Lebenslauf ohne alle abenteuerliche Romantik, bürgerlich schlicht – und dies ist auch der Grundzug der Wichert’schen Lustspiele und Romane. Mit Vorliebe wählt er sogar kleinstädtische Motive; doch wer wollte gering davon denken, nachdem Jean Paul in vielen seiner besten Romane ähnliche Motive behandelt hat? Es kommt nur darauf an, ob der Dichter aus dem Engen in’s Tiefe zu schaffen weiß, während manche aus dem Weiten heraus in’s Flache verfallen.

Die poetische Begabung regte sich indeß schon früh in Wichert. Zu einer Zeit, wo Sie, verehrte Freundin, noch im Flügelkleide der Unschuld Muscheln am Meeresstrande suchten und nur die Verse kannten, welche unter den schönen Bildern in den Kinderbüchern stehen, gab ich in Königsberg „Baltische Blätter“ heraus; es war dies ein sehr gewagtes Unternehmen; denn der Journalismus findet in Ostpreußen stets nur einen stiefmütterlichen Boden. Doch damals, wo die Wogen der politischen Bewegung hoch gingen und man nach den baltischen Küsten wie nach einem Lande der Verheißung blickte, schien ein günstiger Erfolg nicht außer der Berechnung zu liegen. Verleger dieser Blätter war damals Herr Samter, der jetzt als einer der ersten Banquiers in der Stadt der reinen Vernunft und als nationalökonomischer Reformschriftsteller mit neuen und fruchtbaren Gesichtspunkten viel genannt wird. Wir brachten philosophische Aufsätze, Kritiken, Gedichte. Ein junger Gymnasiast, der den Pegasus nicht ohne Glück gesattelt hatte, sandte einige lyrische Ergüsse für die Zeitschrift ein, die auch Aufnahme fanden; es war Ernst Wichert. Die Gedichte hatten den freiheitlichen Schwung, der damals Mode war; stand doch der Ruf eines Herwegh, Prutz und Freiligrath damals in vollster Blüthe. Die politische Bewegung in Ostpreußen hatte mit ihrem Wogenschlage auch die Bänke der Prima und Secunda überfluthet. Auch an der freien Gemeinde des Dr. Rupp und an den philosophischen Abenden, welche der freigemeindliche Seelsorger veranstaltete, betheiligte sich der junge Dichter. Rupp war ein geborener Sectirer. Die hohe Gestalt mit den dunkeln Zügen und den langen schwarzen Haaren imponirte; er hatte in seinem Wesen etwas fanatisch Festes; sein Einfluß auf junge Gemüther war nicht gering. Entsprechend dem Ernst der Richtung huldigte Wichert zuerst der tragischen Muse, welche für die jüngeren Zöglinge der Dichtung etwas sehr Anziehendes hat; er dichtete schon auf den Schulbänken unter dem Einflusse der Rupp’schen Gemeinde und der Jacoby-Walesrodischen Freiheitsära einen „Huß“ und „Washington“. Im Grunde ist Wichert seiner Neigung für die Tragödie immer treu geblieben; er hat ihr bis in die jüngste Zeit gehuldigt, aber das Trauerspiel ist einmal das Stiefkind der deutschen Bühne, und wer sein Herz an reichen Erfolgen erquicken will, wird der spröden Muse der Tragödie gewiß untreu. Auf „Huß“ und „Washington“ folgte „Kaiser Otto der Dritte“, der später umgearbeitet und unter dem Titel: „Das Grab der Deutschen“ veröffentlicht wurde; es ist derselbe Stoff, den Mosen und Klein behandelt haben. In die neuere Zeit griff der Dichter, als er sein Schauspiel: „Unser General York“ (1857) schrieb; das Stück wurde auch an einigen Bühnen, in Königsberg, Breslau und Stettin, zur Aufführung gebracht. Ungehorsam und freie Selbstthat aus glühender Vaterlandsliebe giebt solchen Stoffen wie „York“ und „Schill“ einen echt dramatischen Conflict. Das Stück hatte nicht nur patriotisches Interesse, sondern auch einzelne wirksame Scenen, war aber im Ganzen zu historienhaft gehalten.

Im Sommer 1858, gerade als der Dichter in Berlin sein Staatsexamen machte, schrieb er ein bürgerliches Schauspiel, dessen Stoff er einem eigenen Erlebnisse entnahm: „Licht und Schatten“. Er hatte, wie er selbst erzählt, in Königsberg einen ältlichen Candidaten der Theologie kennen und schätzen gelernt, der sich sein Brod als Hauslehrer verdiente, weil das Consistorium ihm wegen seiner freisinnigen Richtung kein Amt anvertraute. Als ihn jedoch die Patronin einer Dorfkirche zu einer sehr gut dotirten Pfarrstelle berief, konnte man ihm kein anderes Hinderniß in den Weg legen, als daß man ihn beim Collegium sehr scharf, besonders auch in Bezug auf seinen Glauben an den Teufel, befragte. Seine Antworten mußten wohl insoweit befriedigend ausgefallen sein, daß man seine Anstellung ausfertigen konnte, die dem armen Theologen plötzlich eine Einnahme von mehreren tausend Thalern jährlich sicherte. Nun aber fing seine Gewissenhaftigkeit an, sich mit dem quälenden Gedanken zu beunruhigen, ob er bei seiner religiösen Gesinnung als ehrlicher Mann den vorgeschriebenen Kirchenglauben predigen dürfe. Die Idee, daß er die Pfarrstelle nicht annehmen dürfe, fixirte sich in ihm mehr und mehr und trieb ihn zum Wahnsinn. Gerade als Wichert die Examenreise nach Berlin machte, wurde der Freund in eine Irrenanstalt gebracht, und der Dichter fuhr mit ihm in demselben Coupé. Auch in Wichert’s Stück, dessen Spitze gegen die kirchliche Orthodoxie gerichtet ist, geht ein braver Mensch an der Anforderung zu Grunde, sich zum Teufelsglauben bekennen zu müssen. Sie sehen, verehrte Freundin, der Roman liegt auf der Straße und fährt in den Waggons; man braucht ihn blos mit geschickter Hand aufzugreifen. Auch Ihr Schloß weiß ja viel zu erzählen; die Schönheit hat immer ihre Romane, und wer im Besitze Ihrer Tagebücher wäre, brauchte Friedrich Spielhagen nicht um seine Erfindungen zu beneiden.

Im Jahre 1860 schrieb Wichert seine historische, auf dem Boden der heimathlichen Ostseeprovinz spielende Tragödie: „Der Withing von Samland“, ein Trauerspiel von kunstgerechtem Aufbau und gediegener Haltung, und noch vor zwei Jahren, als er schon durch seine Lustspiele auf allen deutschen Bühnen heimisch war, seinen „Moritz von Sachsen“. Gewiß beeilten sich doch alle Theater, auch das ernste Drama eines so beliebten Lustspieldichters zur Aufführung zu bringen, umsomehr als dasselbe von bühnengerechter Fassung war, sich nirgends in die Historie verlief und dem Geschmack des großen Publicums, welches auch im geschichtlichen Drama das rührende Familiengemälde nicht vermissen will, Zugeständnisse machte? Nein, verehrte Freundin. Keine einzige Bühne brachte das Stück zur Darstellung; Sie ersehen daraus die Ungunst, in welcher die Tragödie bei den deutschen Bühnenleitern steht. Die großen Hoftheater haben jährlich kaum mehr als eine neue Tragödie auf ihrem Repertoire, und die kleineren Bühnen folgen meistens dem Vorgang der großen. Rafft sich einmal ein kleines Theater zu dem kühnen Entschlusse auf, ein Trauerspiel zuerst in Scene gehen zu lassen, so ist dies in der Regel nur ein Schlag in’s Wasser. Die Kräfte reichen nicht aus zu würdiger Darstellung, und das Publicum kommt nicht mit dem rechten Glauben in’s Theater, der an kleineren Orten nur durch den weitverbreiteten Ruf eines Stückes hervorgerufen wird.

Die meisten Erfolge hat Wichert als Lustspieldichter davongetragen; sein erstes größeres Lustspiel, „Der Narr des Glücks“, erhielt den zweiten Preis bei der Wiener Preisausschreibung;

[819] noch größeren Erfolg hatte „Ein Schritt vom Wege“, ein Lustspiel, welchem sich später „Die Realisten“, „Frau Luft“ und das Schauspiel „Die Frau für die Welt“ anschlossen.

Als Lustspieldichter ist Ernst Wichert der Nachfolger von Roderich Benedix, und zwar der einzige unter den Neueren, der sich innerhalb der von dem wackeren Lustspielveteranen gezogenen Grenzlinie hält. Schweitzer, Moser und andere beliebte Bühnenschriftsteller überspringen dieselben stets und bewegen sich mit einer oft sehr ergötzlichen Munterkeit auf dem Gebiete des Schwankes. Wichert, wenn er auch nicht eine so glückliche komische Ader hat, wie sie in diesen Stücken höchst ungenirter Erfindung und flotter Laune sich kundgiebt, besitzt dafür weit mehr künstlerisches Maß. Schweitzer besonders verzettelt seine Grundgedanken oft in leichtfertiger Weise. Moser schiebt wie in „Ultimo“ ein paar Schwänke durcheinander. Wichert hat wie Benedix den künstlerischen Sinn, den einheitlichen Rahmen für seine Lebensbilder durchaus festzustellen. Dies war schon in „Der Narr des Glücks“ der Fall, dessen Held immer kurz vor dem erreichten Hafen scheitert. Der eigentliche Lustspielgedanke ist hier konsequent durchgeführt, und man kann gegen das Stück kaum eine andere Einwendung machen, als daß das neu-französische Motiv, die Romantik der unsicheren Vaterschaft, nicht recht zum sonstigen kleinstädtischen und spießbürgerlichen Charakter der Handlung paßt. Man darf es den Wiener Preisrichtern nicht übel nehmen, daß sie in dem Stücke ein Lustspiel von Benedix sehen wollten und, um den wackeren Lustspieldichter zu belohnen, noch einen besonderen Preis den von Hause aus festgesetzten hinzufügten. Ein Lustspiel aber, welches Benedix in seiner besten Laune geschaffen haben könnte, ist „Ein Schritt vom Wege“, dasjenige Stück Wichert’s, das sich auf den deutschen Bühnen am erfolgreichsten behauptet. Es ist ein sehr glücklicher Gedanke, wie hier die Romantik einer jungen Ehefrau, der bei ihrer Hochzeitsreise zu wenig Ungewöhnliches und Abenteuerliches begegnet ist, durch „einen Schritt vom Wege“, den ihr Gatte unternimmt, auf die Probe gesetzt wird, wie derselbe sein Geld fortwirft und sich in die Wälder schlägt, an einem Badeorte durch Concertaufführungen mit der Frau sich einen Verdienst zu schaffen sucht, und wie nun die Letztere in eine Welt der unbehaglichsten Abenteuer hineingeräth. Das Lustspiel „Die Realisten“, welches vielleicht besser „die Egoisten“ getauft worden wäre, hat zum Helden einen aus Amerika heimkehrenden Goldonkel, der seine Familie und Alles, was dazu gehört, von einer nur auf engherzigen Vortheil bedachten Gesinnung curirt; in „Biegen oder Brechen“ empört sich ein junges Ehepaar gegen die Tyrannei der Schwiegereltern; die „Frau für die Welt“ ist gegen die Eitelkeit der Salons gerichtet und gegen Männer, welche in ihren Frauen Salondamen zu besitzen wünschen.

Es giebt ein bekanntes Lustspiel von Bauernfeld, „Bürgerlich und Romantisch“; es ist dieser Gegensatz, der sich durch die meisten Wichert’schen Lustspiele hindurchzieht, und der gediegene ostpreußische Verstand des Autors entscheidet sich überall zu Gunsten des Soliden und Bürgerlichen. „Ein Schritt vom Wege“ und „Die Frau für die Welt“ enthalten eine Verurtheilung des Romantischen und Glänzenden im Frauenleben. Es leuchtet ein, daß die Wichert’schen Stücke nicht an falscher Genialität kranken, sondern daß die Klippe für das Talent des Autors eher nach der entgegengesetzten Seite liegt. Der Aufbau dieser Lustspiele ist durchaus einfach und kunstgerecht; ihr Dialog, frei von Witzhascherei, entspricht ungefähr dem Dialoge in den Lustspielen von Benedix; es herrscht in ihm wie in den Situationen oft eine glückliche Laune, welche von der Bühne herab das Publicum in heitere Stimmung versetzt.

Einige politische Gelegenheitsstücke Wichert’s, wie „Das eiserne Kreuz“, zeichnen sich durch patriotische Wärme und eine Erfindung, welche das Familien- und Vaterlandsgefühl glücklich verschmilzt, vortheilhaft aus.

Der unermüdliche Autor ist nicht minder schöpferisch als Erzähler in größeren Romanen und kleinen Novellen. Die „Gartenlaube“ brachte einige der letzteren, von denen namentlich „Schuster Lange“ allgemeine Anerkennung gefunden hat. Diese treffliche Erzählung wurde auch in mehrere fremde Sprachen übersetzt. In seinen Romanen sucht Wichert einzelne wichtige Zeitfragen mit einer Gründlichkeit zu behandeln, die den Denker fast mehr als den Dichter verräth; ja es fehlt in diesen Romanen nicht an einzelnen Stellen, welche einen für ein Dichtwerk zu trockenen Ton anschlagen, so sehr man die Tüchtigkeit der Gesinnung, die verständnißvolle Erfassung der Lebensverhältnisse und die maßvolle Gediegenheit der Darstellung, welche sich in diesen Werken zeigt, auch schätzen muß. Der Roman „Die Arbeiter“ behandelt die sociale Frage, welche Wichert in einem volksmäßigen Tendenzstücke, „Die Fabrik zu Niederbronn“, auch auf die Bühne brachte. Die Lösung dieser Frage wird der Poesie nicht minder schwer fallen, als der Staatsgewalt und den gesellschaftlichen Verbindungen, die sich damit beschäftigen; eine Gefahr für die Poesie liegt in dem vielen Maschinengeklapper, welches für den Hintergrund der Handlung unerläßlich ist, und in den sehr prosaischen Fragen der Lohnerhöhung. Daß der Dichter die reine Gesinnung liebevollen Zusammenwirkens zu einer wichtigen Instanz für die Entscheidung dieser Frage macht, ist sein gutes Recht; im praktischen Leben wird gegenwärtig geringer Werth auf eine solche moralische Lösung gelegt; hier spricht nur das Interesse, und zwar eine sehr rauhe und kampflustige Sprache. In dem Romane „Hinter den Coulissen“ schildert Wichert die Bühnenwelt in allen ihren Verzweigungen von der Hofbühne bis hinab zur Singspielhalle, und zwar nicht blos in lebendiger Schilderung, sondern auch mit einer Fülle sinnvoller Betrachtungen und allerlei Reformvorschlägen. Die Verwickelung beruht hauptsächlich auf einer abenteuerlichen Vorgeschichte, die glücklich erfunden ist; doch in der Ausbeutung dieser glücklichen Erfindung für die Zwecke der Spannung besitzt Wichert so wenig wie die meisten deutschen Autoren jene Meisterschaft der Romantechnik, wie sie die neueren französischen und englischen Sensationsschriftsteller auszeichnet. An und für sich ist dies kein Mangel; nur wenn die Erfindung selbst auf solche Wirkungen angelegt ist, vermißt man ihre glänzende Ausbeutung.

Andere Romane von Wichert, wie „Ein häßlicher Mensch“, sind mehr persönliche Lebensgemälde.

Der neueste Roman Wichert’s, „Das grüne Thor“, und eine sechsbändige Sammlung von Erzählungen und Novellen, unter denen sich mancher glückliche Griff des Autors findet und welche alle die Eigenthümlichkeit seiner schlicht gediegenen, oft von munterer Laune angehauchten Darstellungsweise nicht verleugnen, sprechen für die Fruchtbarkeit dieses Schriftstellers. Vielleicht sind Sie geneigt; verehrte Freundin, dies für ein zweifelhaftes Lob zu halten und mehr den Löwen, der nur ein Junges zur Welt bringt, als die Blattlaus mit ihrer unzähligen Nachkommenschaft für das nachahmungswerthe Vorbild des Dichters zu halten. Doch in unserer Zeit, in der nur selten ein Meisterwerk vom Himmel fällt, ist immer mehr Aussicht, daß ein Autor unter zahlreichen Nummern einen Treffer zieht, als wenn er sein Alles auf eine einzige Nummer setzt. Auch hat es sehr fruchtbare Dichter von großem Genie gegeben; ich erinnere nur an die griechischen Tragiker, welche zum Theil über hundert Trauerspiele verfaßten, an Lope de Vega und Calderon. So erfreuen wir uns getrost an der Thätigkeit rastlos schaffender Geister, die doch nicht blos in’s Danaidenfaß schöpfen.

Und wenn Sie, verehrte Freundin, mit mir allerlei romantische Neigungen theilen und in Dichtung und Leben selbst für das kühnere Wagniß empfänglich sind, welches aus dem Kreis alltäglicher Erfahrungen und Meinungen heraustritt: so haben wir uns doch Beide die Unbefangenheit gewahrt, auch den Autoren von mehr bürgerlichem Gepräge und von schlichtem Lebenssinn, sobald sie Tüchtiges schaffen, warmen Antheil zu schenken. Für die Bühne sind Schriftsteller wie Benedix und Wichert unersetzlich. Die Bühne bedarf des bürgerlichen Lebensbildes, und beide Dichter haben demselben stets eine veredelnde Tendenz gegeben.