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Literaturbriefe an eine Dame/XIX

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Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame. XIX
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 479–482
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Über Emanuel Geibel
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[479]
Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XIX.

Nach der langen Unterbrechung dieser Correspondenz, verehrte Freundin, muß ich mich jetzt, da ich sie wieder aufnehme, kurz fassen, um der literarischen Bewegung bis heute nachzukommen. Ich beginne mit der Lyrik. Was haben uns nicht die letzten Weihnachtsfeste allein an lyrischen Erzeugnissen auf den Tisch gelegt! Welche zahlreiche Blüthenkränze und Perlenschnüre, welche Anthologien und Gedankenharmonien, wie viele Sendungen, in denen die Lyrik mit vereinten Kräften nach der Palme ringt, häufen sich auf dem deutschen Büchermarkte!

Leider! kann man sagen, die Lyrik gilt nur noch en masse; die einzelnen Dichter vermögen schwer auf dem Büchermarkte sich Anerkennung zu verschaffen. Dennoch erscheinen immer neue Sammlungen von Gedichten junger strebsamer Anfänger und bewährter Meister, und einige dieser Blüthensträuße, verehrte Freundin, will ich Ihnen in Ihre Vasen stecken.

Altmeister Emanuel Geibel hat wiederum sein Saitenspiel gestimmt und „Spätherbstblätter“ herausgegeben; es finden sich indeß darunter auch einige der allerersten ewiggrünen Blätter aus dem Lenze seines Lebens und seiner Dichtung. Der gemeinsame Zug der elegischen Spätherbstlyrik und jener Jugendgedichte ist der Adel der Form, der künstlerische Geist, der ernste Sinn. Die sprudelnde Genialität des kranken Dichters der Rue d’Amsterdam, sein oft frevelhafter Cynismus liegen Geibel gänzlich fern, der, wie Sie wissen, verehrte Freundin, auch ein kranker Dichter ist, aber an der deutschen Trave dichtet man keine Romanzen, wie an der französischen Seine; da weht selbst in den Krankenstuben eine gesunde Luft; geht doch der Blick hinaus auf die Giebel der alten, ruhmreichen Hansestadt, auf die grünen Wiesen, auf die Wimpel und Masten des schiffreichen Flusses.

Abendrothbeleuchtung: das ist das Colorit dieser Dichtungen, wehmüthiger Schimmer, über jenen Fernen schwebend, aus denen das Leben herkommt, den Fernen der Kindheit und der Jugend, [480] und in der Nähe das volle, aber immer mehr verblassende Goldlicht, das um die Blätter des Spätherbstes spielt. Bisweilen freilich gewinnt es noch einen intensiven freudigen Glanz:

Im Spätherbstlaube steht mein Leben;
Zu Ende ging das frohe Spiel;
Die Sonn’ erblaßt; die Nebel weben,
Und bald, ich fühl’s, bin ich am Ziel.

Doch nicht in klagenden Accorden
Hinsterben soll mein Harfenschlag;
Zwei Freuden sind mir noch geworden,
Drum ich beglückt mich preisen mag:

Ich sah mit Augen noch die Siege
Des deutschen Volks und sah das Reich,
Und leg’ auf meines Enkels Wiege
Den frisch erkämpften Eichenzweig.

Die Sammlung ist reich an stimmungsvollen Naturbildern, wie „In der Frühe“, „Eine Sommernacht“, „Sonntagsmorgen im Walde“, das letztere ein Gedicht von echtem Waldduft durchweht und von warmer Empfindung durchdrungen. Die Ostseebilder sind kurzathmige Gedichte, ohne die Pointen der Heine’schen Nordseebilder, aber ungezwungen und klar gegliedert. Sehr zahlreich sind die Balladen der Sammlung; mehrere derselben sind in Schiller’schem Ton gehalten, besonders „Nausikaa“ mit ihrem Schmerz um den schönen Traum einer unerwiderten Liebe:

Ach, und als zu Nacht am Feuer
Seiner Rede Wohllaut floß,
Märchenhafter Abenteuer
Fremde Welt vor uns erschloß,
Wie berauscht an seinen Lippen
Hing mein Ohr, und froh und bang
Folgt’ ich ihm durch Schlacht und Klippen,
Sturmgeheul und Nixensang!

Tage dann in sel’gem Schweigen
Lebt’ ich, wie die Blume lebt,
Die, dem Helios zu eigen,
Nur zu ihm den Blick erhebt;
Wenn sein Lächeln mich getroffen,
Blühte stillbeglückt mein Sinn,
Und in heimlich süßem Hoffen
Schritt ich wie auf Wolken hin.

Auch Sinnsprüche und Epigramme fehlen in der Sammlung nicht; sie athmen den Zorn eines edelgesinnten Dichters über die modische Entweihung der Poesie und der Bühne, sie sind weniger scharf pointirt, als in dichterischem Lapidarstil gehalten.

Auch „Neue Gedichte“ (Stuttgart, Cotta) des verstorbenen Altmeisters Freiligrath sind erschienen, nicht eben mit dem Psychographen geschrieben, sondern eine Nachlese, meistens aus Gedichten bestehend, die das Familienleben feiern. Da giebt es keine Löwenritte, keine Wüstengespenster: da kehrt der Weltwanderer am häuslichen Herd ein und macht friedliche Hochzeits- und Kindtaufsgedichte, huldigt der Freundschaft und dem geselligen Leben mit heiterer Laune. Freilich, was Sie befremden wird, verehrte Freundin, diese „Neuen Gedichte“ enthalten sehr viele alte, und es ist nicht abzusehen, welches Princip bei der Auswahl tonangebend war; es finden sich dazwischen einige der wildesten und blutrothesten aus der Sturm- und Drangepoche des Dichters; da ertönt der Trauermarsch zum Sturmglockengeläute in der Hymne: „Die Todten an die Lebenden“; da berichtet der Dichter wiederum seine politische Bekehrung durch den nagelschuhigen Minnesänger Hoffmann von Fallersleben im „Riesen“ zu Coblenz; da werden uns wieder die Hübner’schen Genrebilder aus dem Harz und Riesengebirge vorgeführt; da fahren wir wieder auf dem Rheindampfer, dessen Heizer „das Proletariat von Gottes Zorn“ vertreten.

Diese Gedichte sind weder neu, noch passen sie in eine Sammlung, in welcher die neuen Gedichte uns den Poeten am häuslichen Herd, in der Stille des Familienglücks zeigen. Und doch sollte eine solche Sammlung nicht blos einen rechten Titel, sondern auch einen einheitlichen Ton, eine durchgängige Stimmung haben: wozu die bekannten Gedichte aus wildbewegter Zeit hier wiederholen?

In der That zeigt sich der Dichter in diesen häuslichen Gedichten von einer neuen Seite, der gemüthlichen, der humoristischen, und wenn auch hier und dort das Gelegenheitsgedicht, mit dem die Musen nur Halbpart machen, sich etwas zu wohlgefällig, zu banal giebt, so finden sich doch auch höchst anmuthige Bildchen darunter. So z. B. die Geburtstagsfeier der Mutter Freiligrath im December! Da redet der Dichter seine Kinder an:

Im Wintermond, und das ist wahr,
Da sind die Blumen gar zu rar,
Man sieht sie nirgends glänzen.
Wo nehmen wir die Blumen her
Und winden Kränze voll und schwer,
Die Mutter heut’ zu kränzen?

Wer hilft uns nun, wer giebt uns Rath?
– Ich, sagt der alte Freiligrath,
Und einen ganz famosen.
Habt ihr nicht Augen hell und klar?
Habt ihr nicht braun und blondes Haar,
Und Wangen wie die Rosen?

Der Himmel gab euch Licht und Thau,
Ihr seid auf dieser fremden Au
Wie Blumen frisch erwachsen.
So schlingt die Hände denn zum Tanz
Und tanzt, der allerschönste Kranz,
Um die Mama aus Sachsen.

Ebenso anmuthig ist das Gedicht, das er seiner Tochter Käthe zu ihrer Vermählung mit Eduard weiht, sowie das andere an Luise zu ihrer Vermählung mit Heinrich. Zu beiden leitet eine stimmungsvolle landschaftliche Scenerie die Verse ein, die dem häuslichen Ereignisse gewidmet sind. Seinen Enkeln, seinen Pathen dichtet er durchaus kindlich gehaltene Liederchen. Sehr rührend ist das Gedicht, welches er dem verstorbenen Bruder Otto in den Mund legt bei der Hochzeitsfeier Wolfgang’s. Heiter wechseln damit mehrere Carnevalsgedichte und schalkhafte gesellschaftliche Lieder ab. Auch der Kreis literarischer Freunde, an welche der Dichter poetische Episteln richtet, erweist sich als sehr ausgedehnt; es finden sich solche lyrische Briefe an Julius Mosen, an Hackländer, in Julius Rodenberg’s Album, an Karl Mayer’s dreiundachtzigstem Geburtstage. Scheffel’s fünfzigjähriger Geburtstag wird ebenfalls gefeiert; wie einst Grabbe wird Immermann verherrlicht; ebenso Hölderlin. Kurz, es ist ein gut Stück Literaturgeschichte, das sich in diesen Gedichten vor uns abspielt.

„Doch, ist denn dies auch der alte Freiligrath?“ werden Sie fragen, verehrte Freundin, „der Dichter mit dem bunten Farbentopf, den bizarren, fremdartigen Reimen, mit der ganzen Eigenart, die für ihn so charakteristisch ist?“ Natürlich kann er das fremdländische Colorit in solchen häuslichen Gedichten nicht verwenden; dennoch ist Ton und Stimmung bei ihm niemals alltäglich; verwaschene und abgetragene Reime vermeidet er; achten Sie nur auf Reime wie die folgenden in dem Gedichte bei Moritz Hartmann’s Abschied von Schwaben, wo es von diesem Lande heißt:

O du bist schön! Um deine Lauben
Die Blätter schimmern roth und falb.
Dein Neckar blitzt um deine Trauben,
Und kühn und hoch ragt deine Alb.
Rings deine Fülle, rings dein Segen,
Ringsum die Keltern, die du färbst;
Gesang und Lust auf allen Wegen
Verkünden weithin deinen Herbst.

Ein ganz anderer Dichterkopf ist Paul Heyse, der elegante feinsinnige Novellist und Dichter poetischer Erzählungen, der jetzt zum ersten Mal mit Liedern und Bildern als Lyriker vor das Publicum tritt. (Berlin, Verlag von Wilhelm Hertz.) Alle diese Gedichte sind von großer Anmuth der Form und bewegen sich mit Sicherheit in den verschiedenartigsten Metren. Alles Feuer der Leidenschaft, freilich damit auch alles Maßlose und Ueberschwängliche, liegt dem Dichter fern. Dagegen findet er für zarte Gefühle oft einen innigen und graziösen Ausdruck, und auch die größeren Erzählungen bewegen sich in künstlerisch gemessenem Schritte und feinem Tacte; das Packende, Gewaltige, dasjenige, was sich unauslöschlich dem Gedächtnisse einprägt, fehlt dieser Dichtermuse.

Als Liederdichter gehört Paul Heyse der Goethe’schen Schule an; einige der von ihm gewählten strophischen Formen erinnern unmittelbar an das Vorbild des Meisters. Sehr stimmungsvoll sind einzelne dieser Gedichte, z. B. das Lied am Kamin, wie man’s taufen möchte, dessen erste Strophe lautet:

Das sommermüde Jahr verklingt,
Im kahlen Wald kein Vogel singt,
Der Wind saust über die Haide.
Ein Feuerlein ist im Kamin entfacht,
Da singen wir sacht,
Mein Herz und die Flamme, wir beide.

[481] oder das folgende Lied, das in der That einen classischen Zauber athmet:

Sanft unter’m Fittig der Nacht
Schläft nun der hastige Wind.
Komm, laß uns schweigen und lauschen,
Wälder und Ströme, sie rauschen
Nur wie im Traum noch gelind.

Stürme im Busen entfacht,
Zitternd verathmet ihr Chor.
Ruhiger, ohne Gefährde
Brennen auf ewigem Herde
Flammen der Seele empor.

Folgend der himmlischen Macht,
Lodern sie herrlich in Eins.
Mild wie durch Opfergedüfte
Blicken die Sterne der Lüfte
Niederwärts segnenden Scheins.

Wo freilich die Stimmung weniger glücklich getroffen ist, da bleibt nur ein leeres, wenn auch nicht ungraziöses Spiel der Formen.

Auch die Sprüche erinnern an Goethe’s Aphorismen. Heyse ist kein scharfer Epigrammatiker, aber einzelne dieser aphoristischen Knüttelverse oder Vierzeiler geben einen sinnigen Gedanken in entsprechender Form; z. B.:

Mir ward ein Glück, das ich höher schätzte
Als alles Gold in Perus Ebne:
Ich hatte niemals Vorgesetzte
Und niemals Untergebne.

Heyse hat bekanntlich in seinem Gedicht „Salamander“, das Ihnen ja, verehrte Freundin, als ein kleiner gereimter Boccaccio wohl bekannt ist, den Terzinen, die man bisher nur als Karyatiden für ein umfassendes Weltepos wie Dante’s divina commedia ansah, die Zunge gelöst, daß diese steinernen plastischen Gestalten im modernsten Conversationston zu plaudern und zu schäkern anfingen. Auch in dieser Sammlung befindet sich ein Gedicht „Edwin“ und ein Sittenbild „der Cicisbeo“, in welchem sich diese Terzinen plauderhaft genug geberden und eine oft epigrammatische Haltung annehmen.

In den zwölf Dichterprofilen, wohlgegliederten Sonetten zum Preis der Hausgötter, die der Dichter in seinem Allerheiligsten aufgestellt hat, lernen wir den literarischen Cultus des Dichters kennen; es befinden sich unter diesen Penaten wohl Geibel und Lenau, aber auch die Stillen im Lande, außer Möricke Theodor Storm und Hermann Kurz. Die Mehrzahl dieser Dichter sind Stimmungspoeten von untergeordneter geistiger Bedeutung. Schiller und Shakespeare würden in dem Heyse’schen Literaturtempelchen wohl kaum einen Platz gefunden haben.

In den „Bildern und Geschichten“ findet sich eine bunte Schau; es sind die verschiedensten Töne angeschlagen, bald der isländische Sagenton, bald der serbische Romanzenton; bald rauscht eine Art von antikem Cymbelklang durch die Strophen, wie in dem Gedicht „die Mänade“. Am leidenschaftlichsten und bewegtesten ist die Ballade „der Pirat“. Was indeß den Gedichten fehlt, ist das große begeisterte Dichterwort; es ist der Augenaufschlag eines kleinen lyrischen Talentes. Daß Heyse auf andern Gebieten Vorzügliches geleistet, ist Ihnen, verehrte Freundin, ja wohl bekannt.

Auch Friedrich Bodenstedt ist mit neuen eigenen Dichtungen aufgetreten unter dem Titel: „Einkehr und Umschau“; ich hatte Ihnen zuletzt seine Uebersetzung des Hafis empfohlen. Hier erscheint Mirza Schaffy durchaus nicht in orientalischem Costüme; statt der Zaubergärten von Schiras besingt er die deutschen Pappelalleen, statt des Flusses Kur den vaterländischen Rheinstrom, und nicht aus den Waldungen des Kaukasus, sondern aus den thüringischen Wäldern schöpft er den frischen Hauch seiner Begeisterung.

Und dennoch, wenn uns Bodenstedt zu Gaste ladet, verehrte Freundin, nehmen wir stets auf dem westöstlichen Divan Platz. Nirgends fehlt bei ihm die orientalische Spruchweisheit, die nur in verschiedener Einkleidung erscheint. Die bunten Blätter und Sprüche sind auch hier als der eigentliche Kern der Sammlung zu betrachten; einige dieser Sprüche haben eine scharf epigrammatische Wendung; andere sind sinnige Gnomen, in denen echte Lebensweisheit gepredigt wird:

Sieh nichts, hör’ nichts, sei verschlossen
Und womöglich sei auch dumm!
Dann mit neidischen Genossen
Geht sich’s ganz erträglich um.

Wer etwas freudig will genießen,
Muß halb das Auge dabei schließen.
Wenn der Havanna reiner Brand
Dir würzig Zung’ und Nase prickelt,
So denk’ nicht an die schwarze Hand
Des Negers, der sie dir gewickelt!

Die Gedichte „Aus Thüringens Wäldern“ sind längere an einander gereihte Perlenschnüre von Sentenzen, und die Reflexionen lehnen sich meistens an irgend ein Naturbild an. Unter den „erzählenden Dichtungen“ finden sich Legenden und Ritterballaden, auch größere Geschichtsbilder. „Katharina die Zweite“ ist ein größerer Monolog; „Canossa“ hat eine modern tendenziöse Schlußwendung. Am farbenreichsten ist die poetische Glasmalerei in der „Legende vom heiligen Benedictus“. Die „Vorklänge“ sind am wenigsten didaktisch; hier ist am meisten lyrischer Zug und lyrische Stimmung. Als die Perle der Sammlung erscheint uns das allererste Gedicht:

Erst eben Donnergerolle
In flammender Wolkenschlacht,
Und nun die zaubervolle,
Selige Stille der Nacht.

Es flohen die Ruhestörer
Des Tages vor ihr hin,
Wie die besiegten Empörer
Vor ihrer Königin.

Hell schwimmt im Wasserspiegel
Der ganze Himmelsdom –
Es drückt sein Sternensiegel
Der Himmel auf den Strom.

Nur matt am Himmelssaume
Leuchtet’s noch ab und zu,
Wie sich der Geist im Traume
Noch regt in Schlafesruh’.

Einige Gelegenheitsgedichte, Prologe und ein Operntext dienen zur Füllung des stattlichen Bandes.

Einer unserer originellsten neueren Poeten, verehrte Freundin, ist Wilhelm Jensen; er ist sehr fleißig und productiv in Gedichten, Novellen und Romanen. Seiner Darstellungsweise nach könnte man ihn einen Romantiker nennen; er liebt die phantastische Beleuchtung, das Geheimnißvolle, das Grelle; doch seiner Gedankenrichtung nach gehört er zu den ganz modernen Poeten. Heute will ich Sie auf seine neuesten Gedichte „Aus wechselnden Tagen“ (Berlin, Stilke 1878) aufmerksam machen. Allerlei lyrische „Lichter und Schatten“ spielen in der Sammlung durch einander, in Bezug auf die Reinheit der Form ist nicht alles rein ausgegohren, manche Trübungen ziehen sich auch durch die kunstvoll gegliederten Sonette, durch die Liederpoesie, aber Reichthum an Phantasie und Empfindung tritt uns überall entgegen.

Das sangbare Lied ist nicht dasjenige, was Jensen vorzugsweise gelingt; gleichwohl ist das folgende „Trinklied“ ein ganz guter Wurf, der wohl einen Componisten einladen könnte, ihn in die Sprache der Töne zu übersetzen:

Wenn die Rebe blüht,
Gährt im Faß der Wein;
Wenn die Traube glüht,
Steigt der Durst am Rhein.

Grüß’ Dich Gott, mein Schatz!
Wollt’, Du wärst bei mir.
Wär’ zur Stund’ Dein Platz
Wohl bereitet hier!

Wo’s zu Berge strebt,
Wo’s zu Thale sinkt,
Wo’s sich fröhlich lebt,
Wo’s sich durstig trinkt.

In die Traube rann
Himmelslicht und Gluth,
Wieder himmelan
Trägt uns dann ihr Blut.

Im Gegensatz zu diesen leichtbeflügelten Liedern stehen die historischen Bilder, vor allen ein Nero, in Lebensgröße, in reimlosen Jamben hingemalt. Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie diesen römischen Cäsar so interessant finden, wie unsere neuen Poeten, aber alle wollen dieses psychologische Ungeheuer [482] noch durch das Sonnenmikroskop ihrer Phantasie vergrößert auf die Leinwand werfen: er ist der Hauptheld in Hamerling’s „Ahasver“, in den Dramen von Gutzkow, Wilbrandt, Greif und Costa; Sallet hat ihm ein Gedicht geweiht, und jetzt folgt Jensen seinem Beispiel. Er beginnt mit einem Portrait des Tyrannen:

Ein graues Antlitz, jung und alt zugleich,
Nicht krank und nicht gesund, auch unschön nicht,
Doch schlaff die Lippe und das Auge müd’
Verschleiert; lang, nach Weiberart, das Haar
Mit Gold bestäubt, in wehendem Gelock
Den Nacken rührend, d’ran sich, tief durchdacht,
Kunstvoller Faltenwurf des Purpurs schließt.

Im Ganzen erinnert das Gedicht an den „Tod des Tiberius“ von Geibel; es könnte ebenso gut der Tod Nero’s heißen: doch Jensen läßt Nero und Seneca zugleich sterben, die beiden größten Männer Roms! Nero schlitzt zuerst dem Philosophen die Adern auf und stößt sich dann selbst den Dolch in’s Herz. Das ist eine historische Licenz, welche den Tod Nero’s doch in eine falsche Beleuchtung rückt. Der Tod des Tiberius in dem Geibel’schen Gedicht verträgt das Licht von Klio’s Fackel. „Columbus“ wird in einem größeren Balladencyklus verherrlicht. „Kaiser Heinrich der Siebente“ ist eine Ballade mit einer scharf für den Culturkampf zurechtgeschliffenen Tendenz; „Der Henker von Pesth“ erscheint in der grellen Beleuchtung wie die Erzählungen von Jókai, welche ihre Helden bisweilen in dieser Sphäre der Ausgestoßenen suchen. Ein Jugendidyll ist „Mnemosyne“: das Leben der Kindheit, die Spiele am Strande, die Fahrten durch’s Meer, die Erinnerung an die Liebe der Mutter bilden den Inhalt dieser nicht immer tadellosen, aber oft graziös sich einschmeichelnden Distichen.

Die epigrammatischen Sprüche und Einfälle fehlen auch in dieser Sammlung nicht. Sie sehen daraus, verehrte Freundin, unsere Zeit ist etwas altklug und liebt es, ihre Lebensweisheit an den Mann zu bringen. Unsere Dichter setzen sich alle gern auf den Divan des Brahmanen und lassen Weisheitsperlen durch ihre Hände gleiten. Jensen hat gute Gedanken; es sind mehr leichtgeflügelte Gnomen als Epigramme, doch bisweilen gelingt ihm auch ein Wurf des Bilderwitzes:

Nichts seltsamer, als wenn ein Mann
Wahrnimmt, daß sein Gewand zerfetzt.
Und einen neuen Rock sich dann
In seine alten Knöpfe setzt.

Der letzte Sonettenkranz ist ein Kranz von Betrachtungen über das Vaterland und den Tod für dasselbe: durch einige Mißklänge des Zweifels hindurch führt er zu einem harmonischen Schlußaccord.

Sie sehen, verehrte Freundin, Sie haben auf dem deutschen Parnaß die Wahl unter den verschiedenartigsten Charakterköpfen; Sie können den einen oder den anderen zu Ihrem Liebling erklären. Einige Gesichter sind uns sympathisch, andere nicht; so ist’s im Leben, in der Liebe, in der Poesie. Sympathie ist das Weltgeheimniß; sie liegt aller Kritik zu Grunde, mag sie noch so vornehm ihr Gesicht in ästhetische Runzeln legen. Wir wissen dies, verehrte Freundin, und darum gönnen wir Anderen gern den Genuß dessen, was uns widerstrebt, und freuen uns des Wahlspruches: leben und leben lassen!

WS-Anmerkung:

Dieser Beitrag erschien als Nr. XIX in der Serie Literaturbriefe an eine Dame