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Flügellahm

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Autor: Hans Arnold
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Titel: Flügellahm
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17–18, S. 532–540, 569–578
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Flügellahm.

Erzählung von Hans Arnold.

Das Tischgespräch an unserer Junggesellentafel hatte heute einen ungewöhnlich erregten Verlauf genommen. Ein uns allen bekannter und mehr oder weniger nahestehender junger Mann aus bester Familie und von vielverheißenden Anlagen hatte sich das Leben genommen; es hieß: eine unerwiderte Leidenschaft habe ihn zu der Verzweiflungsthat getrieben. Der Vorfall fand die verschiedenste Beurteilung; es fehlte nicht an Stimmen, welche die That einer strengen Kritik unterwarfen; andere wollten es nicht begreifen, wie ein vernünftiger Mann unserer Tage durch unglückliche Liebe dazu gebracht werden könnte, sich das Lehen zu nehmen, oder auch nur, einer solchen Leidenschaft überhaupt eine Gewalt einzuräumen, durch die bestehende Verhältnisse verändert oder gar umgestoßen würden. Am wärmsten hatte sich des Unglücklichen mein Freund Doktor Rütgers angenommen, ja, er war darüber in eine Erregtheit geraten, die ich sonst an dem ruhigen besonnenen Arzt nicht kannte. Doch als er wahrnahm, daß der Streit eine persönliche Wendung zu nehmen drohte, war er in Stillschweigen verfallen. Auch nach unserem Aufbruch schritt er eine ganze Weile schweigsam neben mir her. Erst als wir seine Wohnung erreichten, wandte er sich mir zu, während er mit den Augen gegen die Wolken deutete, aus denen eben vereinzelte große Regentropfen niederzufallen begannen.

„Wir werden heute wohl kaum zu unserem Abendspaziergang kommen,“ sagte er im Ton des Bedauerns. „Und doch drängt es mich, das Gespräch von heute mittag in Ruhe mit einem Freunde fortzusetzen. Jetzt ruft mich die Sprechstunde. Wie wär’ es aber, wenn Sie heute abend auf ein Glas Wein bei mir vorsprächen. Ich bin ganz allein, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir gerade heute Gesellschaft leisteten – es giebt Tage, wo man an seinen Gedanken keinen gemütlichen Verkehr hat!“

Ich sagte zu, und der Abend fand mich bei ihm in seinem Landhaus, das er allein bewohnte und mit feinem Geschmack und behaglichem Sinne eingerichtet hatte.

Wir saßen in einem großen Zimmer, durch dessen weit geöffnete Thür man in einen stillen, altmodischen Garten sah, der sich in leicht aufsteigendem Herbstnebel in unermeßliche Weite zu verlieren schien, obwohl er nur eng begrenzt war. Die Luft war still und warm, das Windlicht auf unserm Tisch flackerte nur eben so viel, um ab und zu zitternde Lichter in unsere Rotweingläser zu streuen. Die Einrichtung des Zimmers war einfach und behaglich – auffallend darin nur das fein ausgeführte Pastellbild eines jugendschönen Mannes in Reiteruniform, das uns gerade gegenüber hing. Ich konnte mich von dem Gesicht nicht los machen – die schwermütigen Augen standen in einem so seltsamen Gegensatz zu der strahlenden Fröhlichkeit, welche das ganze Gesicht übersonnte. Mit der Zeit wurde ich zerstreut und wortkarg; mein Freund folgte der Richtung meiner Augen und lächelte trübe vor sich hin.

„Das Bild da thut es Ihnen wohl an?“ frug er. „Das glaube ich gern. Und wenn Sie ihn erst selber damals gekannt hätten, dann hätten Sie den Zauber noch viel mehr empfunden, den er auf seine Umgebung ausübte. An ihn habe ich heute mittag denken müssen, als ich mich des unglücklichen Selbstmörders annahm, den die andern verurteilten. Er hat sich zwar nicht wie jener das Leben genommen, Gott sei Dank, nein; aber sein Schicksal lehrte mich die Macht der Leidenschaft kennen, als deren Opfer mir der Verstorbene erscheint.

Er ließ seine Augen mit fast zärtlicher Trauer auf dem kleinen Bilde ruhen und schwieg eine lange Zeit.

„Ja, so sah er aus, und so war er,“ begann er dann. „Als ich ihn kennenlernte, hatte er als junger Kavallerielieutnant seine Garnison in der Universitätsstadt, in der ich vorübergehend thätig war. Ich arbeitete dort als Assistent an einer Klinik, schon mit der festen Absicht, sehr bald die Praxis eines Freundes in einem kleinen Nordseebade zu übernehmen.

Wir wohnten in einem Hause, ohne uns zunächst persönlich zu kennen; ich hatte bloß immer mein Vergnügen an seiner feurigen, ritterlichen Erscheinung und seinem schönen Gesicht; oft bin ich auf meinem Wege stehen geblieben und habe ihm zugesehen, wie er davonritt und wieder zurückkam – es war ein Anblick zum Freuen. Wir kamen mit der Zeit auf stummen Grüßfuß, und dann wurde ich eines Nachts herausgeklingelt und zu ihm gerufen – er war sehr rasch an einer Lungenentzündung erkrankt, und sein Bursche lief in Angst die Treppe zu mir hinauf, um mich zu holen.

Die vierzehn Tage, die er da krank lag, führten mich täglich – oft mehrmals – zu ihm, nicht so sehr, weil er meiner ärztlichen Hilfe so viel bedurft hätte, als weil er mich so interessierte und anzog und weil er mich dauerte! Er stand ganz allein in der Welt, ohne Eltern und Geschwister.

Ich gewöhnte mir bald an, die Abende bei ihm zu bleiben, die er in seiner Rekonvalescenz noch zu Hause verleben mußte, und wie es so geht, ein paar Wochen täglichen Zusammenseins thun unter Umständen mehr als Jahre – wir waren rasch bekannt und befreundet, und die Freundschaft hat Farbe gehalten.

Eines Abends hatte er mich wieder zu sich bitten lassen – wir saßen am Kaminfeuer bei einer Flasche Wein zusammen, er kam mir ungewöhnlich still und nachdenklich vor.

Ich frug ihn nach dem Grund.

‚Ich bin heute dreiundzwanzig Jahr,‘ sagte er, schenkte mir ein frisches Glas ein und ließ das seine dagegen klingen, ‚wie kommt es nur, daß man an solchen Tagen plötzlich so ernsthaft werden kann – daß sie einem vielmal vergehn wie jeder andere Tag und dann auf einmal vor den Augen als Meilensteine in die Höhe ragen, auf denen allerhand unbequeme, rätselhafte Geschichten stehen?‘

,Das sind Rekonvalescenten-Stimmungen,‘ sagte ich, ‚weiter nichts!‘

Er lächelte gedankenvoll und traurig.

,Bei mir ist es doch ein bißchen mehr,‘ erwiderte er, ,ich bin in einer ganz infamen Situation, Doktor, und ich möchte Ihnen heute mal davon erzählen. Ganz kurz – fürchten Sie keine lange Geschichte! Ich bin, wie Sie wissen, der Besitzer eines großen Majorats, außerdem durch das Vermögen meiner Mutter sorgenfrei gestellt, kurz, in Bezug auf äußere Verhältnisse verzogen und verwöhnt. Da findet plötzlich ein Rechtsanwalt in alten Papieren einen Anhalt, daß ich, weil meine Mutter eine Engländerin ist, für das Majorat nicht erbberechtigt bin, ein anderer Anwärter tritt auf, strengt einen Prozeß gegen mich an – und die Sache geht in letzter Zeit fieberhaft vorwärts – es kann wohl sein, daß sie in diesem Jahr zur Entscheidung kommt.‘

Er schwieg einen Augenblick und starrte ins Feuer. ,Und seitdem bin ich aus allem Behagen gehetzt, ich sehe die ungewisse Zukunft immer wie ein heimtückisches Irrlicht vor mir hertanzen, und ich muß nach – es ist, als wenn ich keinen freien Willen mehr hätte. Bei allem, was ich thue, treibe und anfange, im Beruf, in der Fürsorge für den Besitz, immer murmelt mir eine höhnische Stimme ins Ohr: Wer weiß, ob es sich lohnt, – es ist wie eine Begleitmelodie, und ich muß darauf hören!’

Ich sah ihn aufmerksam an, während er so sprach, es war ein seltsamer Zug von Unruhe und Abgespanntheit in sein Gesicht gekommen, den ich früher nicht darin bemerkt hatte.

,Ich wollte manchmal,’ fuhr er nach einer Weile fort, ‚ich hätte den elenden Prozeß schon verloren – dann wüßte ich, woran ich wäre; aber so – begreifen Sie das, Rütgers? Mir ist immer wie dem Sindbad aus dem alten Märchen, der sein Haus auf den Kraken gebaut hat und sich da ganz häuslich niederläßt – besinnen Sie sich auf die Geschichte? Wie plötzlich der schwammige Boden unter ihm zu leben anfängt, und das Meertier taucht unter, und er schwimmt im grundlosen Wasser? Und der Sindbad war ein energischer Kerl, der kam durch; ich aber – passen Sie mal auf – ich schwimme nicht weit.‘

Er stützte den Kopf in die Hand und verstummte – er that mir so leid.

,Aber Senden,‘ sagte ich, ‚nehmen Sie es doch nicht so schwer. Selbst wenn Sie den Prozeß verlören, bleibt Ihnen, [534] wenn ich Sie recht verstand, noch genug zu sorgenfreiem Leben – und Sie sind ja nicht materiell!’

Er blickte auf. ,Nein,‘ entgegnete er, ,aber ich bin an so vieles gewöhnt. An einen Stall voll guter Pferde – an meinen Park – an die Zugehörigkeit meiner Leute – lassen Sie sich das alles mal unter den Händen zergehen wie eine schöne bunte Seifenblase – das ist gar nicht hübsch, Rütgers, das können Sie mir glauben! Und wenn ich das so kommen sehe, dann packt mich manchmal eine unsinnige Furcht – nicht davor, aber vor mir selber – ich denke dann, ich werfe der ganzen Sache die Zügel auf den Hals und lasse sie hinrasen – und wenn ich mir mal durchgehe, dann hole ich mich nie mehr ein – ich kenne mich leider in dem Punkt ganz genau. Ich habe keine Energie, Rütgers – und solche Menschen wären besser gar nicht auf der Welt!‘

Ich ließ ihn ruhig ausreden – dann sprach ich ihm zu mit aller Wärme, die ich für ihn empfand und die sich vielleicht dadurch noch steigerte, daß mir ein unheimliches Gefühl sagte, er habe nicht unrecht in seinem Urteil über sich selbst.

Von diesem Abend an waren wir, so lange ich noch in der Stadt blieb, eigentlich unzertrennlich geworden; er ging fast nie an meiner Thür vorüber, ohne anzuklopfen oder hereinzukommen, und als ich einige Monate später meine Uebersiedlung nach Roswyk ins Werk setzte, schieden wir als Duzbrüder und treueste Freunde. Er hatte sich körperlich sehr erholt, obwohl ich ihn nie für sehr widerstandsfähig hielt – und als ich ihm Lebewohl sagte, nahm ich ihm das Versprechen ab, mich, wenn irgend möglich, im Laufe des Jahres zu besuchen und jedenfalls von sich hören zu lassen.

In Roswyk angekommen, fand ich mich durch meine Verhältnisse und meine Arbeit so in Anspruch genommen, daß ich zunächst nicht dazu kam, viel an Allan Senden zu denken. Das kleine Fischerdorf, welches ich nun als Heimat zu betrachten hatte, gefiel mir sehr wohl. Es kauerte sich wie furchtsam im Schutz der dicht bewachsenen Dünen zusammen, auf die es nur ein paar Ausläufer in Gestalt von Villen und Häusern gesandt hatte, die während des Sommers von Fremden bewohnt wurden.

Eines dieser Häuser hatte mir mein Kollege, fertig eingerichtet, überlassen, und ich fühlte mich darin unter dem Scepter meiner alten sauberen Haushälterin bald sehr behaglich.

Von den Villen auf der Düne war eine bereits für den Sommer vermietet, die andere immer in festen Händen. Diese letztere, das sogenannte Seeschloß, lag weiter vom Meere ab; es war im Stil eines alten herrschaftlichen Landhauses gebaut, mit breiter, ringsumlaufender Steinterrasse, dicken Mauern und hohen, hellen Zimmern. Es gehörte, wie ich erfuhr, einer verwitweten Frau von Redebusch, die mit ihrer einzigen Tochter Annie jeden Sommer hier zu verbringen pflegte und auch demnächst erwartet wurde.

Ein drittes Haus, die Villa Bella, an Zierlichkeit und Eleganz den andern Fremdenwohnungen weit überlegen, mit bedeckter Glasveranda, die durch Topfpflanzen und Palmen wie ein kleines Treibhaus erschien, mit hellen, schönen Räumen, wurde von einem alten pensionierten General von Eichenkron bewohnt, der zunächst fast der einzige Badegast in Roswyk war und bei dem ich, wenn seine Nervenschmerzen ihm gerade Ruhe und Stimmung dazu ließen, hin und wieder eine Stunde beim Schachspiel verbrachte. Er war ein hübscher alter Herr, mit dem Gesicht eines Marquis aus dem ancien régime, und ein Zug kühler, leichter Frivolität, der auf diesem Gesichte lag, paßte ganz gut dazu; aber er hatte Verstand, und es ließ sich mit ihm plaudern.

An einem Abend, als ich eben im Begriff war, mich zu diesem Bekannten und Patienten zu begeben, traf ich den Briefboten auf dem Wege nach der Villa Bella; er übergab mir einen Brief von Allan Senden, der mich in Ueberraschung und auch etwas in Sorge versetzte.

Mein Freund teilte mir in kurzen Worten mit, daß er sich verlobt habe, und zwar – wie sonderbar der Zufall es manchmal fügt! – mit eben dem Fräulein von Redebusch, deren Mutter Eigentümerin des Seeschlosses sei. Er schrieb sehr glücklich über diese neueste Wendung seines Lebensschicksals, in so ruhigem, herzlichem Ton, daß ich den guten Einfluß dieser Verlobung mit großer Befriedigung zwischen den Zeilen las, und legte ein Bild seiner Braut bei. Dieses Bild zeigte ganz das, was ich für Allan gewünscht und gewählt hätte – ein stilles, liebliches Gesicht mit einem klaren, reinen Ausdruck, den ich nicht besser zu schildern weiß, als wenn ich sage, daß mir beim Anblick des Bildes das Bibelwort in den Sinn kam: ,So sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nichts schaden!‘ – ein Gesicht ohne Arg und ohne Falsch! Ich vertiefte mich eine ganze Weile in die Betrachtung der Photographie, ehe ich den Brief zu Ende las, der immerhin noch Wichtiges enthielt. Allan schrieb weiter, er sei vor kurzem mit dem Pferde gestürzt, habe sich ein paar Rippen geknickt und infolgedessen einen ganz leichten und ungefährlichen Husten davongetragen, aus dem aber der Arzt unnötig viel mache, weshalb er ihn einige Wochen lang an die Nordsee schicken wolle. Selbstverständlich kämen sie nun alle zu mir nach Roswyk, wo ja Frau von Redebusch ihr eigenes Haus habe und wo ich ihn unter meine Aufsicht nehmen könne – ,aber nicht als Arzt!‘ wie er gleich hinzusetzte. ,Ich bin ja ganz gesund,‘ hieß es in dem Briefe weiter, ‚aber ich kenne Dich und kenne mich! Du würdest Dein altes, ehrliches Doktorgesicht vielleicht nicht ganz verstellen können, wenn Du Dir einbildetest, irgend etwas an mir erhorcht oder erklopft zu haben, und ich weiß, daß ich die Sonnenuhr meiner Stimmung nach jedem Schatten auf Deinem Gesicht stellen würde. Ich gehe in jeder Weise gern hier fort,‘ schloß der Brief, ,denn mein Prozeß steht vor einer Entscheidung in erster Instanz, und ich kann nichts anderes, als täglich zu meinem Rechtsverdreher gehen und mir die Segel voll Hoffnung oder voll Schwermut blasen lassen – je nachdem!‘

Ich kam infolge dieses Briefes etwas verspätet zum General, der mich in ziemlich schlechter Laune empfing.

‚Jch bin wieder mal auf Wartegeld gesetzt,‘ brummte er, ‚meine Enkelin, die sich seit vier Wochen täglich an- und abmeldet, schreibt mir, daß sie wegen eines Sommerballes oder ähnlicher, welterschütternder Ereignisse noch nicht kommen kann. Und wenn sie kommt, wird sie mir das Leben schwer genug machen – vielleicht freilich auch angenehmer – das versteht sie beides vortrefflich! Was sie überhaupt hier anfangen wird, ist mir vorläufig ganz unklar. Natur ist ihr absolut gleichgültig, sofern sie ihr nicht durch irgend einen Lichteffekt zu Gesicht steht, und Menschen giebt es ja hier nicht – die Anwesenden ausgenommen!‘ setzte der General mit einem glücklichen Nachgedanken hinzu.

‚Danke!‘ sagte ich mit flüchtigem Lächeln.

,Ja, das dürfen Sie nicht übelnehmen,‘ fuhr er fort, Menschen sind für meine kleine Sinaide nur Leute, die ihr den Hof machen und sich von ihr den Kopf verdrehen lassen, und das werden wir beide wohl nicht thun.‘

‚Ich glaube kaum,‘ sagte ich lachend, ,und ich kann Ihrer Enkelin auch wenig Hoffnung auf Ersatz geben; es kommt zwar ein junger Freund von mir in nächster Zeit her, aber der ist seit kurzem glücklicher Bräutigam!‘

,Fatal!‘ meinte der alte Herr im vollsten Ernst, ,wer ist er denn?‘

Ich erzählte von Allan, und der General sah lebhaft in die Höhe: ,Allan Senden – den kenne ich ja, habe ihn als Fähnrich bei meiner Brigade gehabt – schicken Sie mir den Jungen nur bald mal her! Ich war ohnehin in letzter Zeit öfter in Gedanken mit ihm beschäftigt. Wir haben denselben Rechtsanwalt, und der berichtet mir immer von seinem Prozeß. Sehen Sie, wenn man selbst nichts mehr zu thun hat, steckt man die Nase in anderer Leute Affairen, und solch juristisches Hazardspiel ist nicht ohne Interesse.‘


Am Tage nach dieser Unterredung waren die Besitzerinnen des Seeschlosses angekommen. Allan sollte ihnen erst in einigen Tagen folgen – ich hatte beschlossen, ihn bei mir im Hause wohnen zu lassen, und er sollte alles in vollster Behaglichkeit und Ordnung vorfinden, wenn er kam.

Ich machte die Bekanntschaft der beiden Damen sehr bald, oder besser, ich schloß rasch Freundschaft mit ihnen – ob es das gemeinsame Empfinden für Allan war, ob das ungreifbare, unschätzbare, undefinierbare Fluidum, das man Sympathie nennt, ich weiß es nicht zu sagen. Ich weiß nur, daß ich nach zwei, drei Abenden, die ich in den nun so behaglichen Räumen [535] des Seeschlosses verbrachte, mit dem Gefühle davonging, bei alten, guten Freunden gewesen zu sein und ihnen dasselbe Gefühl hinterlassen zu haben.

Man hat für das rasche Verstehen, das manchmal zwischen Menschen sich findet, den sehr bezeichnenden Ausdruck: ‚Wir sprechen dieselbe Sprache‘ – aber das hält nicht immer Stich! Auch diese innerliche Sprache, und gerade sie hat ihre Dialekte, und erst, wenn man sich auch dabei und darin so ganz versteht, ist die richtige Freundschaft da, und so war es hier.

Mutter und Tochter waren äußerlich und innerlich sehr verschieden – die Mutter klein, schmächtig, blaß, mit einem Gesicht, auf das Krankheit und Zeit ihre unverwischbaren Linien gezeichnet hatten; sie machte einen unsicheren, scheuen Eindruck, und ihr fehlte bei aller Herzensgüte und feinen Liebenswürdigkeit jede Fähigkeit, einen Entschluß zu fassen. Sie hatte sich augenscheinlich daran gewöhnt, alle Verantwortung und Entscheidung ihrer Tochter zuzuschieben, und diese trug die Last solcher Verantwortung mit einer ruhigen Anmut, wie sie eigentlich erst späteren Jahren eigen zu sein pflegt. – Die Tochter, Annie, war groß, schlank und blond, mit feinen Zügen – man findet solche stille Gesichter manchmal unter der weißen Haube der Diakonissinnen – eine gewisse stolze Verschlossenheit, die sie kennzeichnete, wich erst bei näherem Kennenlernen, und man war dann überrascht, welch ein Schatz von Gefühlswärme und Gefühlstiefe in ihr lag. Sie nahm alles ein wenig ernsthaft und hatte eine einfache, verständige Art, mit dem Leben umzugehen, von der ich sehr wohl begriff, daß sie meinen unruhigen Liebling Allan gefesselt habe; es war in diesem Mädchen etwas wie frische Bergluft, kein Nebel, keine verschwommenen Linien – alles klar, scharf umrissen und sonnenbeleuchtet.

Mir kam sie, ebenso wie die Mutter, mit großem Vertrauen entgegen. ‚Wir wollen einander doch auf Treu und Glauben nehmen,‘ sagte sie zu mir, ,weil wir denselben Menschen so sehr lieb haben!‘

Das war ziemlich das einzige, was ich über ihr Verhältnis zu Allan hörte, bis ich sie zusammen sah, und wenn ich mir bisweilen Gedanken darüber gemacht hatte, ob sie wirklich warm empfinden könne, so waren diese Gedanken in dem Moment verschwunden, da ich sie am Abend seiner Ankunft miteinander beobachtet hatte.

Ich holte ihn selbst von der Bahnstation, und als ich auf die Plattform trat, brauste eben der Zug in die Halle.

Er stieg aus – langsam, wie mir schien – und ich nahm ihn gleich mit mir zu einem offenen Wägelchen, das bald mit uns durch den Abend hinrollte. Ich blickte in der Dämmerung ein paarmal nach ihm hin – er sah schmal und scharf aus und hatte einen sonderbaren Glanz in den Augen.

Als er mich einmal bei einem solchen Blick ertappte, sah er mich verwundert an. ‚Was hast du denn immerfort an mir zu studieren?‘ frug er ein wenig ungeduldig.

Ich lachte, nicht ganz unbefangen. ‚Nimm einmal an, ich freute mich wieder, was du für ein hübscher Kerl bist!‘ sagte ich scherzend.

,Ach dummes Zeug!‘ gab er zurück und zuckte die Achseln. Nach einer Weile fügte er hinzu: ,Ich bin müde, Rütgers – merkwürdig müde!‘

,So!‘ sagte ich nur, mir war ungemütlich zu Sinn.

Es schien aber, als wenn ich keinen Grund zu ernster Sorge haben sollte – er erholte sich fast von Stunde zu Stunde in der klaren, staubfreien Luft und bei der ruhigen liebevollen Sorgfalt, mit der seine Braut ihn unmerklich zu umgeben verstand und die etwas Wohlthuendes haben mußte. Ich hätte ihn gern ärztlich untersucht – er blieb aber mit Hartnäckigkeit dabei, es für unnötig und sich für ganz gesund zu erklären. Er warf den geschlossenen Brief, den ihm sein Arzt für mich mitgegeben hatte, vor meinen Augen ins Meer und wies jeden Gedanken an Krankheit und Mißstimmung weit von sich. Ich ließ ihn zunächst dabei, weil ich ihn nach keiner Richtung hin aufregen wollte.

Ich war mir nicht darüber klar, ob Annie seinen Zustand für ernst hielt; wenn ich sie mit Allan zusammen sah, war sie heiter und guter Stimmung und mit allem zufrieden, was ihm eben lieb und erwünscht schien.

Eines Abends traf es sich aber zufällig, daß ich ihr allein begegnete. Ich kam von der Praxis und sah ihre schlanke Gestalt von der Ferne her mir entgegenkommen. Sie trug ein Sträußchen in der Hand und bückte sich von Zeit zu Zeit, um noch ein Stengelchen dazu zu pflücken.

Als wir uns nahe genug waren, um uns genau zu sehen, bemerkte ich, daß sie blaß und ernsthaft war. Wir gingen schweigend nebeneinander her.

,Nun?‘ frug ich endlich statt aller andern Begrüßung und sah sie fragend an.

Sie blieb plötzlich stehen und starrte eine ganze Weile vor sich hin; dann sagte sie mit gepreßter Stimme: ,Ich habe Angst!‘

‚Wovor?‘ frug ich ausweichend.

,Vor nichts! aber um jemand! um Allan! ich glaube, er ist kränker, als wir denken. Er sieht so anders aus – und er wird so leicht müde – was kann denn das sein, Herr Doktor – was kann denn das sein?‘

Sie legte in einer ihr sonst fremden Erregtheit die Hand auf meinen Arm und sah mir flehend und fragend ins Gesicht.

,Vor allen Dingen ruhig Blut!‘ sagte ich in möglichst leichtem Ton, ,er ist doch hierher gegangen, nicht weil er gesund ist, sondern weil er gesund werden will – das dürfen wir nicht vergessen! Und mein Eindruck ist – ich kann ja eben nur von Eindrücken sprechen! – daß er sich bei fortgesetzter innerer und äußerer Ruhe, bei diesem Leben ohne Emotionen – fast hätte ich gesagt, ohne Gedanken – völlig erholen kann und wird, aber dabei müssen wir alle auf dem Posten sein. Also halten Sie den Kopf hoch und jagen Sie die schwarzen Gedanken fort, Fräulein Annie, lassen Sie sie mit den hübschen, silberweißen Möwen dort übers Meer fliegen; das ist das beste für Sie und für Allan.‘

Sie sah mich halb getröstet an.

,Das will ich auch!‘ sagte sie dann. ,Ich bin für mich selber nie ängstlich gewesen; nur wenn es sich um ihn handelt, dann bin ich so merkwürdig feige. Aber das muß aufhören. Sie sollen einmal sehen, was ich für Courage habe, wenn ich will!‘

‚Hoffentlich brauchst du sie nicht, du liebes Mädchen!‘ dachte ich bei mir, als ich nach Hause ging – so ganz leicht war mir nicht ums Herz.


Wir hatten in dieser Zeit so für uns gelebt, als ob wir allein in Roswyk wären, mit den übrigen Badegästen bestand gar kein Zusammenhang und der General hatte sich bisher noch gar nicht um Allan bekümmert und ihn nur flüchtig begrüßt.

Eines Morgens aber wurde ich an das Paar in der Villa Bella erinnert.

Ich kam mit Allan vom Baden zurück und wir gingen eben auf den Dünen entlang nach Hause. Da fuhr in raschem Trabe ein offener Wagen an uns vorbei; der General saß darin und neben ihm ein junges Mädchen. Der alte Herr grüßte und wir grüßten wieder; seine Begleiterin bog sich hastig aus dem Wagen und sah uns an.

Sie hatte dunkle Haare und sehr merkwürdig damit kontrastierende düsterblaue Augen – ein feuriges, lebhaftes, sonderbares Gesicht, in dem bei dem Lächeln, mit dem sie unsern Gruß erwiderte, ein wunderschöner, kleiner Mund mit sehr kurzer Oberlippe und blitzenden, weißen Zähnen auffiel. Das Ganze hatte etwas so Frappierendes, daß mir diese Details sogar in dem flüchtigen Augenblick zum Bewußtsein kamen.

,Das ist wohl die Enkelin!‘ sagte ich nach einer Weile zu Allan, der stehen geblieben war und dem Wagen nachsah.

Er nickte zerstreut und sprach dann nicht mehr viel – ich glaubte, er wäre vom Baden ermüdet, und ließ ihn still neben mir hergehn.

Als wir ans Haus kamen, sagte er mitten aus einem andern Gespräch heraus: ,Ein gefährliches Gesicht!‘

Ich lachte.

‚Bist du noch immer dabei?‘ frug ich.

Er lachte auch. ,Weißt du, so ein Stück Maler steckt doch nun einmal in mir – und das müßte eine hübsche Studie geben.‘

Am nächsten Morgen traf ich das Brautpaar unten am Strande. Die Soane brannte so glühend und erbarmungslos auf den weißen, weichen Sand, wie sie es nur an der Nordsee fertig bekommt – es war träge Ebbezeit. Die See lag wie ein ungeheuerer, blendender, glitzernder Schild da und schien kaum zu atmen. Ich kam gerade von einem schwer Kranken [536] und war ziemlich müde, aber ich machte doch einen kleinen Umweg, um die beiden zu sehen und mich wieder einmal zu freuen, wie sich Allan erholte.

,Und wie geht es hier?‘ frug ich und streckte mich neben ihm im Sande aus.

Er sah in den stahlblauen Himmel hinauf und antwortete nicht.

,Wunderschön geht’s!‘ erwiderte Annie für ihn, ,es ist fast zu herrlich hier – gar nicht wie auf der Erde.‘

Er lächelte flüchtig nach ihr hinüber.

,Und dabei bin ich ein so undankbarer Grübler,‘ sagte er langsam, ,daß ich mich heute immerfort frage: ist das nun eigentlich das Glück? Ich habe mir stets solche unbestimmte, goldflimmernde, blendende Vorstellung davon gemacht, und ich denke, nun habe ich es, und dabei muß ich mich das seit heute morgen immer fragen – ist das nicht sehr thöricht?‘

‚Sehr!‘ erwiderte ich; ,mit solchen phantastischen Dingen mußt du einem alten, nüchternen Landdoktor gar nicht kommen, dafür habe ich kein Verständnis.‘

,Und den ganzen Tag,‘ fuhr er fort, ohne meine Einrede zu beachten, ‚habe ich an ein Märchen denken müssen – es quält mich förmlich! Von einem uralten Brunnen, an dem die Leute vorübergehen mußten, ohne ein Wort zu sprechen, und wenn man sie frug, weshalb? dann sagten sie: ,Das Schicksal schläft!‘ und dies eine Wort läuft heute hinter mir her und jagt mich aus allem Behagen, aus aller Ruhe – was ist das nur?‘

Er richtete sich auf, stützte den Kopf in die Hand und sah mir unruhig ins Gesicht.

,Das ist die Gewitterluft!‘ erwiderte ich, ‚siehst du dort drüben die weißgraue Wand? Aus der kommen solche Geschichten und Gedanken. Klappe dein Zeichenbuch zu und gehe ins Haus, es ist hier zu heiß für dich!‘

Er stand gehorsam auf – ich habe nie einen Menschen gesehen, der leichter zu lenken war – und Annie hob Tuch und Bücher vom Boden auf und folgte ihm.

,Verwöhnung,‘ sagte ich lachend und nahm sie ihr ab.

,Ach, lassen Sie doch – das macht mich ja so glücklich!‘ erwiderte sie und hatte plötzlich Thränen in den Augen.

Am Nachmittag dieses Tages ließ der General uns beide – Allan und mich – zu sich bescheiden. Ich entsinne mich noch mit größter Deutlichkeit an jede Minute.

Das Gewitter, das schon Vormittag aufgezogen war, drohte und murrte noch immer entschlußlos am Himmel hin und her, die Luft hing wie ein glühheißer Mantel herunter.

Wir gingen nach der Villa Bella, und Allan wurde von einem Diener sofort zu dem alten Herrn hinaufgeführt. Mich wies man zunächst in den offenen Vorsaal, der in die Glasveranda ausmündete.

Als ich dort eintrat, sah ich die Enkelin des Generals träge in einem Strandstuhl liegen, unter einer Gruppe großer Palmen, die einen tiefen Schatten über ihr Gesicht warfen. Sie hatte rote Schuhe an den Füßen und belustigte sich damit, einen großen, gelben Leonberger Hund zu necken, der vor ihr auf dem Teppich lag. Das prachtvolle Tier war mir schon am Morgen aufgefallen – sie hatte es sich wohl mitgebracht.

Ihre Schönheit wirkte in der Nähe und beim Sprechen noch viel lebhafter – ich habe eigentlich nie wieder ein solches Gesicht gesehen, vorher nicht, und auch nachher nicht – zum Glück!

Mir ging es so sonderbar; ich hatte ihr gegenüber immerfort ein Gefühl zornigen Unbehagens, wie man es wohl angesichts einer herannahenden Gefahr empfindet, die die Larve noch nicht vom Gesicht genommen hat.

Ich machte mich ihr als Arzt ihres Großvaters bekannt. Sie begrüßte mich ziemlich obenhin und sah mich so unbefangen an, wie man sonst nur ein Tier oder ein Bild in Augenschein nimmt. Daß mich das gar nicht verlegen machte oder irgend welchen Eindruck auf mich hervorzubringen schien, war ihr ersichtlich auffallend – sie nahm einen fragenden, erstaunten Ausdruck an, in dem deutlich zu lesen war: Was bist du denn für eine Art Mensch?

Nach ein paar Augenblicken oberflächlichster Unterhaltung lehnte sie sich wieder sehr bequem in ihren Strandstuhl zurück und frug nachlässig:

,Wer war denn der Herr, mit dem ich Sie gestern morgen sah? und wo haben Sie ihn hingethan?‘

‚Ich ‚thue‘ meine Freunde für gewöhnlich nirgends hin,‘ erwiderte ich, ,das besorgen sie selbst – er ist bei Ihrem Herrn Großvater!‘

,Und was will er da?‘ fuhr sie fort, immer in demselben indolenten Ton.

,Das fragen Sie ihn doch selbst!‘ sagte ich ungeduldig, ‚die Herren haben militärische Beziehungen von früher her!‘

Sie öffnete ihre sonderbaren Augen weit.

,Ach – er ist Reiteroffizier – das ist ja sehr hübsch; dann können wir ja bisweilen zusammen ausreiten – ich erwarte morgen meine Pferde. Spielt er auch Tennis?‘

Ich zuckte die Achseln. Ich konnte mich ihr gegenüber kaum zur nötigsten Höflichkeit zwingen – wie gesagt, ohne den tiefsten Grund dieser Empfindung zu verstehen, und das war mir eben so sehr unangenehm, weil ich gewöhnt war, mir stets klare Rechenschaft über das zu geben, was in mir vorging. Aber ich überwand mich – ich mußte um Allans willen ihren Vergnügungsplänen einen Riegel vorschieben, und ich glaubte, es mit einem Worte zu können.

,Darf ich Sie bitten,‘ begann ich steifer – noch steifer als ich es von Natur war, ,meinem Freunde mit Reit- und Tennisplänen gar nicht zu kommen? Er ist krank gewesen und zu seiner Erholung hier, zu der in erster Linie die vollkommenste Ruhe gehört. Sie finden gewiß andere Begleiter auf Ihren Spazierritten.‘

,Zum Beispiel Sie?‘ frug sie mit einer plötzlichen Liebenswürdigkeit, die, wie ich selbst gestehen muß, hinreißend war.

,Ich habe keine Zeit für dergleichen,‘ erwiderte ich kurz.

Sie schloß die Augen halb und sah mich von oben herab an.

,Nun, dann müssen Sie mir eben erlauben, mir anderswo einen Kavalier zu suchen,‘ sagte sie kühl; ,was eine junge Dame aushält, wird ja wohl ein Kavallerist auch vertragen – die Herren Doktoren stellen den Zustand ihrer Patienten ja immer schlimmer dar, als er’s ist – es wird nicht so gefährlich sein!‘

,Das muß ich Ihrem Urteil überlassen,‘ erwiderte ich, ,in jedem Fall werde ich Allan bitten, sich Anstrengungen nicht auszusetzen.‘

Sie unterbrach mich.

,Allan heißt er?‘ frug sie lebhaft, ,das ist ein hübscher Name – er sah so aus, als könnte er keinen Alltagsnamen haben.‘

Ich schwieg, und sie war auch verstummt, obwohl sie immer noch mit ihren merkwürdig sprechenden Augen an mir herumrätselte – es machte mich ganz nervös.

Ich war froh, als Allan erschien und ich, nachdem ich ihn dem Mädchen flüchtig vorgestellt hatte, zu dem alten Herrn beschieden wurde.

Der lag in ziemlich übler Stimmung auf dem Sofa und winkte mich neben sich.

Als unsere ärztliche Rücksprache beendet war, bat er mich, ihm ein Buch vom Fenster herzureichen. ,Der Tag wird mir lang,‘ sagte er, ,ich habe fast immerfort allein gelegen.‘

,Ich dachte, Ihre Enkelin pflegte Sie,‘ erwiderte ich.

Er lachte ironisch.

,Jawohl – sie pflegt mich,‘ erwiderte er, ,wie man das so macht. Sie pflegt mich, indem sie früh bis zehn Uhr schläft und sich nachher wie ein schönes, faules Kätzchen im Strandstuhl dehnt – und dann setzt sie ihr Samariterwerk fort und singt wallonische Volkslieder durchs Haus, wo ich Mittagsruhe halte – und von morgen an wird sie mich pflegen, indem sie ausgeritten sein wird, wenn ich sie haben will. Aber sagen Sie ihr das, und sie wird ein sehr reizendes, überraschtes Gesichtchen dazu machen, denn sie ist überzeugt, ganz Diakonissin zu sein! Allein das schadet gar nichts!‘ fuhr er lebhaft fort, als er mein Kopfschütteln bemerkte, ,sie hat eine unschätzbare Eigenschaft – sie amüsiert mich immer! Auch was andere Leute an ihr unangenehm finden könnten, macht mir Spaß: ein so unbefangener, ausgebildeter Egoismus ist mir interessant wie jede Specialität – ich habe früher selbst in dem Fach gearbeitet. So ein kleines Mädchen, das zu der [537] Ueberzeugung gekommen ist, daß sie ihr hübsches Gesicht einzig und allein zu dem Zweck bekommen hat, die ganze Welt damit zum Narren zu halten und zum Spielzeug zu machen, ist etwas sehr Belustigendes für mich – ich habe immer daran zu studieren. Ja, wenn sie kein anderes Publikum hat, dann nimmt sie auch mit mir vorlieb – aber Publikum muß sie haben!‘

Ich lächelte zu seiner Schilderung und erhob mich, um zu gehen.

Als ich im Begriff war, mich zu verabschieden, rief er mir in der Thür noch nach: ‚Apropos – Ihr junger Freund hat Pech gehabt – sein Prozeß ist in erster Instanz verloren – er muß nun auf die zweite hoffen.‘

Ich erschrak.

‚Mein Gott, was wird ihm das für Eindruck machen!‘ sagte ich vor mich hin.

Der General zuckte die Achseln.

‚Er sah ziemlich blaß aus, als ich es ihm sagte, worum mich sein Anwalt gebeten hatte, aber die Sache schleppt ja weiter – er wird die Büchse noch nicht ins Korn werfen! Wie finden Sie übrigens meine kleine Sinaide,‘ warf er dann, wie beiläufig, hin, ,ich bin ein eitler Großvater, müssen Sie wissen!‘

,Ich kann mir noch kein Urteil erlauben,‘ erwiderte ich kalt.

,Nun, ob sie Ihnen schön oder häßlich erscheint, dazu brauchen Sie doch kein halbes Jahr Bedenkzeit,‘ sagte der alte Herr ärgerlich lachend, ,Sie sind ein sonderbarer Heiliger!‘

Ich ging und holte Allan aus dem Gartensaal ab – ich hörte drin schon lebhaft sprechen, als ich eintrat.

Er stand dem Mädchen gegenüber, die Hand auf den Tisch gestützt – sie hatte ihre bequeme Stellung nicht aufgegeben und lachte zu ihm hinauf; – widerwillig mußte ich mir zugestehen, daß der Großvater recht hatte und man nicht lange brauchte, um sich klar zu werden, ob sie schön oder häßlich, gefährlich oder ungefährlich sei.

Allan zog die Augenbrauen zusammen, als ich ihn frug, ob er mitkäme, und sah nach Sinaide hin, als erwartete er, sie werde ihn zum Bleiben auffordern – aber sie that nicht dergleichen; sie nickte nur uns beiden nachlässig zu, und wir gingen davon.

Das Wetter kam inzwischen herauf; eine gelbliche, fahle Dunkelheit lag über See und Strand, in der Ferne zuckten unaufhörlich blasse, unruhige Blitze wie kreuzende Schwerter.

Allan ging stumm neben mir, er sah erregt und finster aus – ich fand das begreiflich genug, nachdem er diese Nachricht über den Prozeß bekommen hatte, und blickte ein paarmal besorgt nach ihm hin – er bemerkte es nicht.

Plötzlich wandte er sich nach mir um, der ich in Gedanken die ganze Kette der Sorgen und Bedenken hinter uns her klirren fühlte, die ihm die Nachricht geschaffen haben mußte.

,Sie hat eine so merkwürdig sanfte Stimme!‘ sagte er ohne jede Verbindung.

Ich war so überrascht, daß ich stehen blieb.

,Wer?‘ frug ich ganz laut.

,Sinaide!‘ erwiderte er mir.

,Und das ist alles, was du mir sagst?‘ frug ich kopfschüttelnd, ,hast du denn den General gar nicht verstanden?‘

Er sah mich gedankenlos an und erwiderte nichts.

‚Dein Prozeß!‘ rief ich ungeduldig, und mit dem Gefühl, als müßte ich ihn, wie einen Nachtwandler, aus dem Schlaf rütteln, ‚hast du mir denn darüber gar nichts zu sagen? Junge, wach doch auf! – was ist denn mit dir?‘

Er öffnete die Augen weit und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. ‚Ach ja – der Prozeß!‘ sagte er dann, wieder zu sich kommend, ,das hatt’ ich ganz vergessen.‘

Ich schüttelte den Kopf. Mir war so unheimlich zu Sinn, als wenn das schwere Wetter, das jetzt schon mit krachenden Donnerschlägen und einzelnen schweren Regenschauern um uns her zu toben anfing, mir auf dem Herzen läge; ,wir müssen uns eilen, unter Dach zu kommen,‘ sagte ich.

Wir gingen rascher. Als wir am Seeschloß anlangten, sah ich Annie am Fenster stehen und uns, wohl schon mit Sorge, erwarten.

Allan schritt immer im selben Tempo vorwärts – die Dünen entlang; er wäre am Hause vorbeigegangen, wenn ich ihn nicht am Arm gefaßt hätte.

‚Gehst du denn heute nicht zu deiner Braut?‘ frug ich scharf, es klang ärgerlicher, als ich selbst wußte.

Er fuhr wieder zusammen, wie im Schlafwandeln angerufen.

‚Ach so!‘ sagte er, während eine Blutwelle ihm ins Gesicht schoß, und machte kehrt.

Ich höre noch, wie Annie ihm von der Thürschwelle zurief: ,Nun, du hattest dich wohl heute verirrt?‘ – ich sehe noch, wie gerade ein blauer Blitz die beiden beleuchtete, und glaube noch das abwesende Lächeln auf seinem – den zärtlich frohen Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen; dann gingen sie ins Haus, und ich drehte um und begab mich nach meiner Wohnung.

Ich riß alle Fenster auf und hakte sie fest – der Sturm brach mit furchtbarer Gewalt herein, und das Meer tobte und schrie die ganze Nacht. Mir war der Kopf so wüst!

Als das Gewitter vorbeigezogen war, lehnte ich mich zum offenen Fenster hinaus und sah Allan auf dem Wege daherkommen. Sein Schritt hallte auf den Klinkern wieder – er sah strahlend fröhlich aus und nickte mir schon von weitem zu.

,Wie schade, daß du heute nicht mit herein kamst,‘ sagte er im Eintreten, ‚wir sind so vergnügt gewesen, unglaublich vergnügt! es ist hier doch herrlich! Die Luft wirkt auf mich, als wenn ich Sekt getrunken hätte. Wollen wir noch ein bißchen vor der Hausthür bleiben?‘

[538] ‚Nein!‘ sagte ich, etwas rauh, ,es ist zu feucht für dich.‘

Er machte eine ungeduldige Bewegung.

‚Behandle mich doch nicht immer als Kranken,‘ erwiderte er ärgerlich, ,ich bin ja ganz gesund – heute so gesund wie nie zuvor. Wie ich hier zurück ging,‘ fuhr er träumerisch fort, ‚war noch Licht in den einzelnen Häusern – oder doch in einem – das sah so hübsch aus – ich hätte es gern noch einmal gesehen.‘

,In welchem Hause?‘ frug ich unwillkürlich.

,Beim General!‘ erwiderte er kurz, ‚Gute Nacht!‘


Von diesem Tage an war unser Zusammenleben, das ganze, friedliche Bild der ersten Zeit, wie mit einem Schlage verschoben und verändert – wie eine Landschaft, die man bisher im lachenden Sonnenglanz gesehen hat und die plötzlich im Schatten finsterer Wolken liegt – so blaßfarbig, so unheimlich, so anders, daß man sich immerfort fragt, ob das denn noch dieselbe Gegend ist, durch die man so fröhlich gewandert war.

Der Zufall schob die Menschen in dieser Zeit auch so sonderbar hin und her. Frau v. Redebusch erkrankte an einem nicht ganz ungefährlichen Fieber und Annie konnte sie den ganzen Tag nicht verlassen – nur spät abends kam sie vor die Thür und saß mit mir und Allan draußen. So hatte sie auch die beiden – Allan und das gefährliche Mädchen – noch nicht zusammen gesehen, und er sprach nie von Sinaide, das war mir das Allerunheimlichste.

Er hatte damals noch so viel Willenskraft, daß er sie fast gar nicht sah, so wenig als es möglich war – aber es ließ sich bei der Kleinheit des Ortes und den nun einmal vorhandenen Beziehungen natürlich nicht ganz vermeiden. Und waren es täglich nur wenige Minuten oder halbe Stunden, so war es nur zu ersichtlich, daß er eben von diesen kurzen Augenblicken lebte! Er war vorher von einer Rastlosigkeit und Aufgeregtheit, die uns andere förmlich mit ergriff – er sprach, debattierte, lachte und erzählte ohne Aufhören, und dazwischen zog er alle zwei, drei Minuten verstohlen die Uhr, bis der Augenblick gekommen war, wo er sich losmachen konnte. Ich sah dann Annies klare Augen oft mit einem Ausdruck so leidenschaftlicher Sorge auf seinem Gesicht ruhen, daß es mir das Herz zusammenpreßte. Sie wußte gar nicht, was sie denken sollte – irgend einen unbestimmten Verdacht zu schöpfen, das lag ihrer reinen Natur viel zu fern, sie schob alles auf sein Befinden, das sich wirklich verschlimmerte. Sein kurzer, nervös klingender Husten, den wir überwunden geglaubt, kam jetzt öfter und öfter. – ,Er ist krank!‘ sagte Annie bisweilen zu mir, als wollte sie sich mit diesem traurigen Grunde beruhigen.

An einem Nachmittag kam ich zu Frau v. Redebusch, sie lag auf dem Sofa und war allein im Zimmer.

‚Meine Jugend ist draußen auf der Terrasse,‘ sagte sie auf einen fragenden Blick, ,dies junge Mädchen aus der Villa Bella ist bei Annie – sie kommt jetzt öfter her. Was ist das für ein schönes Geschöpf!‘

‚Wie gefällt sie denn Ihrem Fräulein Tochter?‘ frug ich möglichst unbefangen.

‚Ich glaube, gut. Annie ist ja nicht sehr leicht enthusiasmiert und hat eigentlich, wie natürlich, nur Augen für Allan. Aber sie scheinen doch gut miteinander auszukommen – sie gingen gestern zusammen spazieren, und heut’ ist sie schon den ganzen Nachmittag hier.‘

Ich trat auf die Terrasse hinaus. Annie und Sinaide saßen an der einen Seite und schienen beschäftigt, eine Handarbeit anzufertigen – Annie lehrte, und die andere saß mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt dabei und hörte zu. Sie begrüßte mich auch nur sehr flüchtig.

‚Ich muß aufpassen,‘ sagte sie, ,meine faulen Hände sollen hier fleißig und geschickt werden.‘

Allan saß auf der steinernen Brüstung der Terrasse, er sprach kein Wort und sah finster und verdrossen aus – seine Augen hingen beständig an der Gruppe. Annie hob von Zeit zu Zeit den Kopf, sah ihn liebevoll an und nickte ihm zu. Für Sinaide schien er nicht zu existieren. Sie sprach über ihn hin, als wenn er Luft wäre – und gab ganz kurze, gleichgültige Antworten, wenn er sie etwas fragte – sie sah ihn kaum an, und ich merkte wohl, daß er vor verzweifelter Ungeduld und nervöser Erregung kaum mehr er selbst war. – Bisweilen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, flog es wie ein arglistiges Lächeln um ihren Mund – ich sah es wohl.

Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sie sich. ,Ich muß jetzt nach Hause gehen, Großpapa braucht mich,‘ sagte sie mit ihrer gesetztesten Miene und warf mir einen flüchtigen, schalkhaften Blick zu, ,bin ich nicht sehr pflichtgetreu, Herr Doktor? Fräulein v. Redebusch wird noch ein Mustermädchen aus mir machen.‘

‚Das könnte nichts schaden,‘ erwiderte ich halb lächelnd – ich verstand ihre neueste Rolle noch nicht.

Annie war ins Zimmer gegangen, um nach der Mutter zu sehen.

Sinaide legte ihre Arbeit zusammen und setzte den großen schattigen Strandhut auf – als sie an Allan vorbeiging, sah sie plötzlich zu ihm in die Höhe und ich hörte sie halblaut sagen: ‚Ich gehe jetzt noch an den Strand – haben Sie heute den ganzen Abend ‚Dienst‘?‘

Er sah mit einem förmlich aufleuchtenden Blick empor und schüttelte den Kopf. Sie nahm flüchtig Abschied, und in dem Augenblick, als sie in der Balkonthür stand, knickte eine der Blumen ab, die sie im Gürtel trug, und fiel zur Erde. Ich sah, wie Allan sich hastig danach bückte und sie aufhob – dann war Sinaide fort. –

Ich fühlte eine so tiefe, innerliche Empörung über dies Doppelspiel, daß ich zuerst nicht sprechen konnte – ich beschloß aber doch, wenigstens das meine zu thun, um der Sache entgegenzuarbeiten.

‚Ich bleibe heut’ abend hier,‘ sagte ich, als Annie eben wieder zu uns trat, ‚Allan wollte uns ja aus ‚Childe Harold‘ vorlesen!‘

Er erwiderte nichts und ging die Stufen hinunter – vor dem Hause blieb er unschlüssig stehen. Ich überlegte einen Augenblick, dann sprach ich zu Annie.

‚Nehmen Sie ihn ein bißchen in acht!‘ sagte ich ernst, ‚dieses Fräulein amüsiert sich mit ihm und über ihn! Das ist nichts für ihn – und nichts für Sie!‘

Sie sah mich ruhig an und schüttelte mit einem zuversichtlichen Lächeln den Kopf.

‚Nein, nein – da thun Sie ihr unrecht!‘ sagte sie entschieden, ‚sie hat sich ja den ganzen Nachmittag nicht um ihn bekümmert – sie spricht kaum ein Wort mit ihm! Das hat ihn vielleicht etwas verstimmt; er ist es so gar nicht gewöhnt, daß er den Leuten unwichtig ist.‘

Sie lachte mich unbefangen an, und während wir noch sprachen, sah ich Allan langsam die Strandtreppe hinuntergehen und dann weiter unten Sinaidens weißes Kleid durch die Dämmerung leuchten und neben ihm auftauchen.

Sie war meinen Augen gefolgt und sah eine Weile starr nach der angegebenen Richtung.

‚Mein Gott, das ist ja doch aber gar nicht möglich!‘ sagte sie, ‚das ist doch gar nicht möglich!‘


Von diesem Tage an nahm die Sache eine andere Gestalt an: es war über unseren armen Jungen gekommen wie eine Krankheit, die Leidenschaft zu dem bethörenden Geschöpf hatte ihn gepackt und hielt ihn wie mit Krallen fest. Mir ging, wenn ich ihn so sah, oft ein altes Volkslied durch den Sinn, das die friesischen Bauernfrauen sangen: ‚Wenn das Stroh in Flammen steht und der Wind dazwischen weht‘ – dies Verzehrende, Rastlose, Rasche, das lag auch in seiner Art – und es verzehrte auch ihn!

Annie ließ sich nach jenem ersten Abend nie mehr etwas anmerken. Sie ging tapfer und blaß neben ihm her, immer bemüht, ihm alles fern zu halten, was ihn verletzen konnte, und ertrug seine jetzt oft sehr gereizten und bitteren Stimmungen mit einer stillen Geduld, die mich aufs tiefste rührte.

Wie weit Frau v. Redebusch in der Sache klar sah, das weiß ich nicht. Sie war, wie viele Kranke, zu sehr mit [539] sich beschäftigt, um in ihrer Umgebung dem sehr viel Aufmerksamkeit zu schenken, was sich nicht in Thatsachen, sondern in Stimmungen offenbarte, und sie hatte sich seit Jahren so daran gewöhnt, Annie sicher und unbeirrt ihren Weg gehen zu sehen, daß sie gar nicht den Wunsch fühlte, gleich einzugreifen, wo dieser Weg einmal eine unerwartete Biegung zu machen schien.

Und es ging auch äußerlich alles so einfach her, die Tage flossen scheinbar wie ein ruhiger Strom dahin, nur wer näher und schärfer sah, entdeckte unter dieser glatten Oberfläche den unheimlichen Wirbel einer Leidenschaft, die nur darauf lauerte, hervorzubrechen und alles mit sich in die Tiefe zu reißen. Sinaide spann ihre Fäden wie eine schöne Spinne – so ganz fein, so ganz unmerklich und so ohne jedes Erbarmen – sie zog ihn sachte immer mehr an sich. Sie spielte mit ihm Tennis – trotz meines Abratens – er hielt sich während des Spiels mit eiserner Energie aufrecht, brach dann zusammen und lag stundenlang erschöpft und regungslos. Dann ritten sie miteinander aus – kein Tag verging, wo sie ihn nicht stundenlang gesehen hätte – die Zeit für Annie wurde immer kürzer, immer knapper, immer unruhiger.

An dem einen Morgen, wo sich ein solcher Spazierritt ungewöhnlich lang ausdehnte, stand ich vor meinem Hause, um Allan zu erwarten, als Annie plötzlich neben mir war – ich erschrak, ich hatte sie gar nicht kommen hören.

,Ist er noch nicht zurück?‘ frug sie mit gepreßter Stimme.

Ich wies statt der Antwort nach dem Strande, wo die beiden Reiter eben auftauchten.

,Und in der brennenden Sonne!‘ sagte sie leise vor sich hin.

Ich schwieg.

Sie faßte sich plötzlich ein Herz.

,Herr Doktor, – lieber, guter Freund,‘ sagte sie, mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich ihr kaum zugetraut hätte, ,ich kann es nicht mehr mit ansehen! Sprechen Sie einmal mit ihm – sagen Sie ihm, daß er nicht so viel reiten soll! Er mag ja sonst gern mit ihr zusammen sein – ich habe gewiß kein Mißtrauen, nicht wahr, das glauben Sie ganz fest? aber er hält es ja nicht aus!‘

Sie nahm meine Hand einen Augenblick zwischen ihre beiden und drückte sie heftig, dann war sie so rasch fort wie sie gekommen.

Allan und Sinaide waren indes abgestiegen und kamen, ihre Pferde führend, die Düne entlang auf mich zu – ich konnte in der stillen zitternden Mittagsluft jedes Wort verstehen, das sie sprachen – sie achteten auch gar nicht auf mich und sahen mich wohl kaum. Sie hielt einen Strauß brennendroter Mohnblumen in der Hand und sah mit einem Ausdruck darauf hin, als wenn sie den liebsten Menschen vor sich hätte. Allan biß sich auf die Lippen und schlug mit der Reitgerte gegen seine Hand – plötzlich nahm er ihr die Blumen weg und warf sie auf die Erde und trat mit dem Absatz darauf, bis sie wie ein gestaltloser Blutstropfen aus dem weißen Sande leuchteten.

‚Was machen Sie denn da mit meinen Blumen?‘ frug sie und sah mit einem trotzigen Lächeln zu ihm auf.

,Ich hasse Mohn!‘ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

,Der arme Mohn, und warum das?‘ frug sie gleichgültig.

Er antwortete ihr erst gar nicht, sondern sah sie nur drohend und fest an: ,Weil Sie ihn lieben,‘ sagte er dann.

Sie blieb stehen und hielt ihm mit einem leichten Achselzucken die Hand hin. ,Adieu, bis morgen,‘ sagte sie nachlässig, ‚vergessen Sie mich nicht!‘ und dabei lachte sie.

Er behielt ihre Hand einen Augenblick.

,Was sagen Sie?‘ frug er dumpf, ,ich soll Sie nicht vergessen? Wissen Sie mir nichts Besseres zu wünschen? Das beste, das einzigste, was Sie mir wünschen sollten, wäre doch ‚Vergessen Sie mich!‘ Warum sagen Sie denn das nicht?‘

,Das können Sie ja von selbst thun,‘ erwiderte sie und lachte wieder hell auf, ,und nun Adieu – aber heute nachmittag kommen Sie nicht – ich kann Sie gar nicht brauchen – wir erwarten Besuch!‘

,Ich weiß!‘ gab er düster zurück und wandte sich zum Gehen – dann blieb er plötzlich stehen.

,Sehe ich Sie heute gar nicht mehr?‘ frug er, wie hingeworfen.

,Vielleicht doch – ich will mit Großpapa nach dem Thee noch auf die Düne gehen – so gegen acht Uhr – vielleicht kommen Sie mit Ihrer Braut dann auch dahin – das wäre ja sehr hübsch – acht Uhr – hören Sie wohl?‘

Sie nickte ihm zu und verließ ihn – er machte keinen Versuch mehr, sie zurückzuhalten, sondern ging an mir vorbei, ohne mich zu beachten, ins Haus. Ich folgte ihm auf sein Zimmer, wo er sich mit geschlossenen Augen aufs Sofa geworfen hatte, und stand eine ganze Weile neben ihm.

,Allan!‘ sagte ich endlich.

,Was willst du?‘ fragte er ungeduldig, ohne die Augen zu öffnen, ,ich bin müde!‘

,Das sehe ich, mein Junge,‘ erwiderte ich, ,und darum bitte ich dich, laß jetzt einmal das unsinnige Reiten und Tennisspielen – laß es mal ein paar Tage, und du sollst sehen, wie gut es dir thut! Du warst ja doch die erste Zeit hier so frisch und wohl bei dem ruhigen Leben!‘

Er sah mich mit weitgeöffneten Augen an und richtete sich ein wenig in die Höhe.

‚Leben!‘ sagte er dann, ,ja – wenn du das leben nennst – das war ja gar kein Leben – das war nur ein Hindämmern – ein Scheindasein – gelebt habe ich überhaupt erst seit vierzehn Tagen! Sieh’ mal, Rütgers,‘ fuhr er fort, ,ich bin wie ein Schlafwandler durch die Welt gegangen – immer auf so einfachen, glatten Wegen – und es hat der düsteren Flammenbeleuchtung dieser Tage bedurft, um mir zu zeigen, was für Abgründe rechts und links von uns liegen! Sage mir nur nicht, daß ich ein Schwächling, ein erbärmlicher Mensch ohne Energie sei – du brauchst es mir nicht zu sagen, denn ich weiß es selbst ganz – ganz genau! Alles, was du mir sagen kannst, das sage ich mir auch – die langen schlaflosen Nächte hindurch – und jetzt und immerfort – bloß dann nicht, wenn ich mit ihr zusammen bin – dann ist es aus – dann weiß ich überhaupt nichts mehr – gar nichts! Du kannst dir nicht denken, wie dankbar ich bin, wenn mich einmal nichts an sie erinnert!‘

Ich strich ihm sanft die Haare von der glühenden Stirn und sprach gar nicht – mir war der Hals wie zusammengeschnürt.

In dem Augenblick wurde die Thür aufgestoßen und Sinaidens großer Hund kam herein und auf Allan zu, den er ungestüm ansprang. Mich faßte in dem Augenblick eine unsinnige Wut gegen alles, was mit ihr zusammenhing, und ich gab dem Tiere einen Stoß, daß es mit einem lauten Aufheulen weit weg flog – ich konnte nicht anders.

Allan sah mich sonderbar an.

‚Laß doch das Tier,‘ sagte er, ,das arme Tier – das ist ja viel besser als ich, das ist doch wenigstens treu!‘

Ich stand eine ganze Weile stumm am Fenster.

Ich war so ratlos ihm gegenüber – ich kam mir vor wie einer, dem die Hochflut entgegenkommt und der sie mit seinen beiden Händen zurückhalten soll.

Als ich mich nach ihm umwandte, war er eingeschlafen; aber der Schlaf hatte den unruhigen Zug nicht aus seinem Gesicht fortzuwischen vermocht – er warf sich hin und her und atmete kurz – mir fiel wieder auf, wie krank er jetzt aussah.

An diesem Tage kam, wie Sinaide ja schon gesagt hatte, ein auswärtiger Gast zum General, ein junger, eleganter Mann mit blondem Scheitel und sehr hübschem, nichtssagendem Gesicht – er blieb bis gegen Abend da. Sinaide war ohne Aufhören mit ihm zusammen, immer da, wo man sie von den Dünenhäusern aus beobachten konnte – sie spielte mit ihm Tennis, und nachmittags ließ sie sich ihren Strandstuhl hinunterbringen, was sie sonst nie that, und saß stundenlang mit dem Fremden am Meer. Er lag auf einer Decke zu ihren Füßen, und sie schien sich vortrefflich mit ihm zu unterhalten, so daß sie für nichts und niemand anders Augen hatte.

Allan bestand darauf, auch an den Strand zu gehen – Annie und ich begleiteten ihn, ich hatte gerade freie Zeit.

Als wir an den beiden vorbeikamen, grüßten wir. Sinaide nickte, wie zerstreut, flüchtig nach uns hin und wandte dann gleich wieder den Kopf nach dem Fremden, der ihr allerlei Schnurren zu erzählen schien, über die sie ausgelassen lachte.

Allan zog Annie so rasch mit sich, daß sie ihm kaum zu folgen vermochte.

[540] ,Wo willst du denn hin?‘ frug sie bange.

‚Fort!‘ sagte er, ,nur ganz weit fort!‘ Ich ließ sie beide gehn – ich dachte so halb und halb, er würde am Ende jetzt den richtigen Weg zu ihr zurückfinden, und ich hatte außerdem beschlossen, keinen Tag mehr vorbeizulassen, ohne etwas in der Sache zu thun.

Es dämmerte schon, als Allan und Annie zurückkamen – ich hatte vor, den Abend mit ins Seeschloß zu kommen, und wir saßen auf der Terrasse zusammen.

‚Bleiben wir heut’ einmal hier oben!‘ sagte ich zu Annie, ,gehn wir nicht mehr ans Meer!‘

Sie verstand mich und sah mich dankbar an. ,Nicht wahr, Allan, wir bleiben heute bei Mama?‘ sagte sie und legte schüchtern die Hand in seinen Arm.

Er nickte zerstreut. ,Ja, ich mag gar nicht mehr hinaus!‘ sagte er.

Aber als die Dämmerung tiefer wurde, begann er unruhig zu werden – ich sah, wie er mehrmals unter einem Vorwand aufstand und den Weg hinunterblickte. ,Ich glaube beinahe, ich habe Fräulein Sinaide versprochen, daß du noch mit mir auf den Dünenweg kommen willst, Annie,‘ sagte er dann mit scheinbarer Gleichgültigkeit, ‚ob es nicht unfreundlich aussieht, wenn wir nicht kommen?‘

Sie sah ihm fest und traurig in die Augen – er wandte den Kopf unruhig ab.

‚Ich glaube nicht,‘ sagte sie, ‚und selbst wenn es so wäre – laß es doch unfreundlich aussehen – brauchen wir denn immer fremde Menschen?‘

Er schien sich zu fügen – ich setzte mich zu Frau v. Redebusch ins Zimmer und wir spielten eine Partie Halma – das Brautpaar stand auf der Terrasse und sprach leise.

Plötzlich fuhr ein pfeifender Windstoß durchs Zimmer, der die Lampe fast verlöscht hätte, die Thür war aufgesprungen, ich wollte sie schließen und sah Annie allein auf der Terrasse stehn.

,Wo ist Allan?‘ frug ich.

Sie wies nach der Düne hinunter – er ging mit raschen Schritten immer auf und ab, wir konnten in der tiefen, feuchten Dunkelheit seine Gestalt nur eben noch erkennen – das rote Fünkchen seiner Cigarre glimmte durch die Nacht.

In der Ferne gluckte und schluchzte das Meer im Zurückebben, auf der Höhe des Wassers standen finster und schattenhaft die Boote der Heringsfischer wie Gespensterschiffe, der Leuchtturm warf ab und zu einen zuckenden Feuerschein auf die dunkle Wasserfläche.

Annie stand regungslos, die Hände beide fest auf die steinerne Einfassung des Balkons gepreßt; ich sah auf ihr feines, schmales Gesicht, in das ein strenger Schmerzenszug gekommen war, und fühlte einmal wieder so recht, wie ohnmächtig der Mensch auch dem Liebsten und Nächsten gegenüber ist, wie er ihm nichts abnehmen und nichts geben kann, und wie jeder doch seine Schlacht allein schlagen – siegen oder zu Grunde gehen muß.

Plötzlich wandte sie sich nach mir um – ihr Mund zitterte, wie von mühsam bekämpftem Weinen.

,Es ist mir ja gar nicht so um mich!‘ sagte sie mit erstickter Stimme, ‚aber es ist so furchtbar schade um ihn!‘

Ich wandte mich kurz um und sagte drinnen Gute Nacht – als ich noch einmal zurückblickte, sah ich, wie Annie neben dem Sofa der Mutter hingekniet war und ihren Kopf auf die Kissen gelegt hatte. Die Mutter strich ihr sanft über das Haar, ich ging langsam nach Hause.

Es war mittlerweile spät geworden – Allan war draußen nicht zu sehen. Als ich in mein Zimmer trat, saß er am Tisch, den Kopf in die Hände vergraben, und sprach nicht.

Ich berührte ihn sanft an der Schulter.

Er fuhr erschreckt empor.

‚Wo warst du denn so lange?‘ frug ich.

‚Am Strande – mit Sinaide!‘ sagte er mit einem sonderbaren Lachen, ‚sie hat mich erst bis halb zehn Uhr warten lassen – dann ist sie endlich doch gekommen. Und dann schwärmte sie mir die ganze Zeit von dem Besuch vor, den sie gehabt hätte, wie lustig, wie unterhaltend und hübsch er wäre! Und wie ich zornig wurde und weggehen wollte, lachte sie mich aus und sagte: ‚Es ist ja alles nur Scherz – ich habe mich ja ganz abscheulich mit ihm gelangweilt!‘ ,Aber wozu dieser Scherz?‘ frug ich sie. Und weißt du, was sie da sagte? ‚Ich wollte einmal sehen, was Sie für ein Gesicht dazu machten – Sie ziehen die Augenbrauen immer so zusammen, wenn Sie sich ärgern – das steht Ihnen sehr gut – bitte, machen Sie das auch jetzt noch einmal!‘ Und wie ich sagte: ‚Sie quälen mich, wie ein grausames Kind ein hilfloses Tier quält,‘ da erwiderte sie mir: ‚Aber das braucht Sie doch nicht zu quälen – das geht Sie ja gar nichts an – Sie sind ja verlobt!‘

‚Und was sagtest du darauf?‘ frug ich ernsthaft.

‚Ich? Du wirst empört sein, Rütgers – aber ich sagte – oder besser, etwas sagte aus mir heraus: ,Und wenn ich’s nicht wäre?‘ Da antwortete sie nur ganz kaltblütig: ,Dann würde ich Sie sehr beglückwünschen – ich halte Heiraten für einen Unsinn!‘ – Gute Nacht, Rütgers – ich bin so froh, daß ich dir das alles erzählen kann – da ist mir manchmal, als wenn mein Herz nicht mehr so bleischwer wäre!‘

Er gab mir seine fieberheiße Hand und ging nach der Thür, dort blieb er noch einen Augenblick stehen. ‚Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn,‘ sagte er traurig und ging hinaus.

Ich blieb die halbe Nacht wach und schritt in schweren Gedanken in meinem Zimmer auf und ab – so ging es nicht weiter, das war mir klar!

[569] Am Tage nach dem erschütternden Auftritt mit Allan begab ich mich zum General, zu seiner Essenszeit – ich wußte, daß er da in seiner besten Laune war.

Er saß beim Dessert – Sinaide war schon vor ihm aufgestanden und fortgegangen. Ich frug nicht nach ihr, um nicht zu hören, daß sie wieder irgendwo mit Allan ihr Katz- und Mausspiel triebe.

Der alte Herr saß am Tisch – er aß spät abends, bei Lampenlicht und heruntergelassenen Gardinen. Im Glase vor ihm funkelte alter Rheinwein; er goß mir auch ein und zog mich liebenswürdig neben sich auf den Sessel, während er im Sprechen bisweilen aus der Obstschale auf dem Tisch eine oder die andere Frucht nahm.

‚Wie lange bleibt eigentlich Fräulein Sinaide noch hier?‘ frug ich nach einer Weile ziemlich unvermittelt.

Er lachte.

‚Hören Sie, das ist eine ungalante Frage – aber ich nehme sie Ihnen gar nicht übel, ich weiß, Sie mögen das Kind nicht! Sie meinen, daß sie ein herzloses Persönchen ist – zugegeben, aber warum stört Sie das? Ich habe auch nie an zu viel Herz gelitten und ich wünsche ihr den Ueberfluß gar nicht!‘

‚Er steht wohl auch nicht zu befürchten!‘ sagte ich hart.

Der General lachte wieder.

‚Nein – aber dafür hat sie eben andere Vorzüge, die sentimentaleren Dämchen abgehen – sie ist immer graziös und amüsant, sie würde auch mit einer gewissen Verve aufs Schafott steigen und sich die redlichste Mühe geben, auf dem Wege dahin ihrem Henker den Kopf zu verdrehen?‘

‚Und inzwischen ihrem Opfer!‘ sagte ich finster, ‚und das bringt mich auf den Zweck meines heutigen Besuches. Können Sie nicht dafür sorgen, daß sie den armen Jungen gehen läßt, Herr General? Können Sie es denn mit ansehen, wie sie ihn quält? Ich denke manchmal zu ihrer Rechtfertigung, daß sie gar nicht weiß, was sie thut – aber mir siedet das Blut, wenn ich es ansehen muß.‘

‚Mein lieber Freund,‘ sagte der General und schälte sich behutsam einen Pfirsich, ‚Sie sind ungerecht! Wir Menschen sind alle, wie wir sein müssen – nicht, wie wir sein sollten, oder möchten. Was verlangen Sie denn? Würden Sie einer Katze einen jungen Singvogel anvertrauen, nachdem Sie ihr vorher eine Moralpredigt über dessen Behandlung gehalten hätten, und würden Sie dann überzeugt sein, daß sie liebevoll mit ihm umgehen würde? Nein – Sie wissen ganz genau, daß sie ihm die bunten Federn, eine nach der andern, ausrupfen wird – nennen Sie sie meinetwegen Illusionen – Hoffnungen – Lebensmut – und dann wird sie ihn verspeisen und sich graziös und zierlich zusammenrollen und in die Sonne blinzeln – und denken Sie, daß sie das Gefühl haben wird, unrecht gethan zu haben? Sie folgt ihrer Natur – das ist alles, und das thun wir alle – warum giebt es Singvögel und warum Katzen?‘

Ich blickte schweigend vor mich nieder – es lag in dieser grausamen Philosophie ein Körnchen noch grausamerer Wahrheit.

‚In diesem Fall handelt es sich aber zufällig um mehr,‘ sagte ich dann. ‚Sie wissen, daß Allan verlobt ist, daß er glücklich war, ehe Fräulein Sinaide sich dazwischen stellte, und Sie wollen nicht durch ein paar nachdrückliche Worte an die junge Dame der Sache ein Ende machen? Nur ein paar Worte, Herr General – ich bitte wirklich nicht gern, und ich würde für mich nie bitten, aber der Junge ist mir lieb!‘

Der alte Herr sah zweifelhaft in das Licht der roten Lampe.

‚Sagen Sie ihr, daß sie abreisen soll!‘ fuhr ich lebhaft und dringend fort, ‚lieber heut’ als morgen!‘

Der General winkte abwehrend mit der Hand. ‚Nein, lieber Freund – nein, das können Sie nicht verlangen, dazu bin ich nun wieder zu sehr Egoist,‘ sagte er. ‚Und Sie machen sich wirklich ganz überflüssige Sorge – Sie nehmen so eine flirtation zu schwer, weil Sie ein solch ernsthafter Mustermensch sind! Lassen Sie doch den Jungen für sich selbst sorgen! Er ist drei Jahre Reiteroffizier gewesen – glauben Sie im Ernst, daß er da nie eine Herzensaffaire gehabt hat? Er wird dann später ein um so besserer Ehemann. Was fürchten Sie denn eigentlich so sehr?‘

Ich stand einen Augenblick im finstern Nachdenken – es wurde mir sehr schwer, das auszusprechen, was ich dachte, aber es mußte ja wohl sein!

‚Ja, sehen Sie denn alle nicht, daß er stirbt?‘ sagte ich endlich hart und langsam.

Der alte Herr fuhr zurück und verfärbte sich einen Augenblick.

‚Bah,‘ sagte er dann und griff wieder nach der Weinkaraffe, ‚Sie sehen zu schwarz, lieber Freund, viel zu schwarz – das liegt in Ihrem Beruf. Man stirbt an ansteckenden Krankheiten, aber nicht an Passionen und Passiönchen. Und nun bitte, stören Sie mir meine Kur nicht mit solchen aufregenden Gesprächen – machen Sie das alles mit den jungen Leuten selber ab, aber mich lassen Sie aus dem Spiel! Ich habe zu viel Tragödien und Komödien mitgespielt im Leben – ich bin jetzt nur noch Zuschauer, lieber Freund – nur noch Zuschauer! Wenn Sie erst so alt sein werden wie ich, werden Sie auch lieber im Parkett sitzen als mitspielen! Darf ich Ihnen noch einen Chartreuse anbieten? Nein? schade!‘

Ich stand auf.

‚Ich will mich Ihnen empfehlen, Herr General!‘ sagte ich kühl – weiter nichts; er machte auch keinen Versuch, mich zurückzuhalten.

Es war mittlerweile Abend geworden. Der Mond stand sanft und klar über dem Meer, ein warmer Luftstrom strich über das schlaftrunkene Land.

Auf dem kleinen Vorplatz der Villa Bella lag Sinaide im Schaukelstuhl und summte ein altfranzösisches Liedchen vor sich hin – sie sah unglaublich schön und unglaublich gleichgültig aus.

Als ich sie kurz und ernsthaft begrüßte, blickte sie auf – der Mond schien ihr gerade in die Augen, und sie hielt einen großen, dunkelroten Fächer zwischen sich und das Licht.

Ich that, als sähe ich ihre auffordernde Bewegung, ihr gegenüber Platz zu nehmen, nicht, sondern sagte nur ziemlich kurz und kalt: ‚Mein gnädiges Fräulein, ich habe eine große Bitte an Sie!‘

Sie lächelte.

‚Sie – eine Bitte? Das ist ja ein halbes Wunder? Und worin besteht sie?‘

[570] ‚Reisen Sie ab!‘ sagte ich ohne jeden Umschweif, in fast unhöflichem Ton.

Sie legte den Kopf an die Lehne ihres Sessels zurück und sah zu mir in die Höhe.

‚Wollen Sie mich los sein?‘

‚Ja!‘ sagte ich kurz.

Sie nahm eine gekränkte unschuldige Miene an, die ihr, wie alles, zu Gebot stand.

,Aber ich störe Sie doch nicht,‘ sagte sie halblaut.

‚Mich?‘ frug ich kalt und erstaunt, ,mich? nein – durchaus nicht – aber Sie stören hier doch, ja noch mehr – Sie zerstören! Verlangen Sie wirklich, daß ich Ihnen sagen soll, warum ich Sie ‚los sein‘ will, wie Sie es ausdrücken?‘

Sie lachte ihr leises, gefährliches Lachen – ihre kleinen weißen Zähne blitzten im Mondschein.

‚Sagen Sie es nur!‘

‚Nun, Sie zerreißen, Sie vernichten und verderben mit größter Seelenruhe und bei kältestem Blut das Glück und den Frieden von zwei Menschen, die ich lieb habe – und weshalb? Wollen Sie denn für sich selbst etwas damit? Nicht einmal das – nur als elendesten Zeitvertreib!‘

Sie sah wie ein gescholtenes Kind zu mir auf.

‚Aber was soll man denn im Herbst an der See machen?‘ frug sie in kläglichem Ton.

Ich hatte mich in einen Zorn hineingeredet, der mir selber über dem Kopf zusammenschlug, und ein unklares, mich empörendes Gefühl mengte sich darein, daß sie in diesem Augenblick alles dransetzte, mich auch um den Verstand zu bringen.

Ich war drauf und dran, mich in dieser Empfindung zu vergessen und heftiger zu werden, als es einer Dame gegenüber anging – ich trat hart mit dem Fuß vor ihr auf.

‚Reisen Sie!‘ sagte ich heftig, ‚ich bitte Sie!‘

Sie stand auf und sah mich mit einem ernsthaften, durchdringenden, unerklärlichen Blicke an, trat auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Arm.

‚Gut,‘ sagte sie dann, ‚ich werde reisen! Nicht, weil ich will, aber weil Sie mich darum bitten!‘

Ich schüttelte ihre Hand ab, trat an die Glasthür und sah auf die See hinaus; ‚was ist man doch für ein Jammergeschöpf!‘ dachte ich in mich hinein.

Ihr war meine Erregung nicht entgangen, in ihren Augen sprühte es von Triumph und Mutwillen.

‚Weil Sie mich darum bitten!‘ wiederholte sie, ‚es macht mir Spaß, daß Sie mich bitten. Sie können mich im Grunde nicht leiden – ich bin nicht Ihr Genre – das weiß ich.‘

‚Nein, mein gnädiges Fräulein,‘ sagte ich mit tiefem Ernst.

Sie schwieg eine ganze Weile und sah vor sich nieder. Sie war blaß und die langen, dunklen Wimpern lagen wie schwere Schatten über dem ausdrucksvollen Gesicht.

‚Also ich reise!‘ sagte sie dann. ‚Morgen – in aller Frühe schon! Sie wissen, ein Scheidender und ein Sterbender darf manches sagen. Sie haben mich in dieser Sache beeinflußt – Sie hätten es in mancher andern auch gekonnt. Und nun gehen Sie – fort – in diesem Augenblick!‘

Sie streckte die Hand gebieterisch nach der Thür aus und ich ging wie betäubt von dumpfer Verwunderung und immer im Bann desselben unklaren Gefühles, das mich während der ganzen letzten Stunden gepeinigt hatte.

Ich schritt am Strand entlang nach Hause – das Wetter hatte sich geändert und die Flut kam finster und grollend näher – so allmählich – so sicher – so unentrinnbar wie die Zeit – wie das Alter – wie das Schicksal! Ich stand eine ganze Zeit stumm und verworren und starrte ins dunkle Wasser – mir ging ein alter Vers durch den Sinn, wie solch ein poetisches Spinngewebe sich plötzlich an den Menschen hängen kann:

,Du bist so mild wie Sternenschein,
Wie das Meer so schwarz und blaß –
Mein Herz, mein ganzes Herz ist dein –
Doch auch mein ganzer Haß!‘

Ich kannte mich selbst nicht wieder an dem Abend, aber ich fühlte eine innere Befreiung – auch meinetwegen! – in dem Gedanken: ‚Sie geht fort!‘

Als ich im Seeschloß noch Licht brennen sah, ging ich eilig darauf zu. Ich sah Annie am Fenster stehn und hinausblicken – ihr liebes ernstes Gesicht war mir wie ein Talisman in dieser Stunde – ich fühlte, daß in ihr sich alles verkörperte, was für mich rein und gut und heilig war – und ich hatte mich wiedergefunden! Auf ein Zeichen von mir öffnete sie das Fenster – ich rief halblaut hinauf: ‚Sie reist morgen ab!‘

‚Das haben Sie gethan!‘ sagte sie und wandte mir ihr blasses, strahlendes Gesicht zu, ,ich danke Ihnen – vielleicht ist’s noch Zeit!‘

Ich ging nach Hause.

Allan schlief schon; er war jetzt immer so leicht ermüdet – und in der grauen Morgenfrühe weckte mich Räderrollen draußen auf den Klinkern – Sinaide hatte mir Wort gehalten.


Es war mir fast lieb, daß ich Allan am nächsten Morgen in einem leichten Fieber fand, welches mir das Recht und die Pflicht gab, ihn einen oder zwei Tage ans Zimmer zu fesseln und ihm in diesem Zustand so ganz leise und allmählich die Nachricht beizubringen, daß Sinaide fort sei.

Er nahm sie verhältnismäßig ruhiger auf, als ich erwartet hatte – es war, wie wenn er mit seiner Leistungs- und Ertragfähigkeit am Ende gewesen wäre und es jetzt förmlich wie ein Aufatmen empfände, nicht beständig in fliegender Erregung und Erwartung zu sein.

So begann für uns alle eine ruhigere Zeit, in der wir erst so recht empfanden, in welchem heißen Sturme wir gelebt hatten.

Annie war in ihrer stillen Weise um Allan besorgt wie eine Mutter um ihr schwerkrankes Kind; sie suchte ihn zu erheitern, zu zerstreuen oder zu beruhigen, je nachdem seine wechselnde Gemütsstimmung es verlangte. Und er – nicht mehr abgezogen von der beständigen, täglichen, stündlichen Erwartung und Quälerei – ,Kommt sie heut’? Bleibt sie heut’ aus?‘ – die ihn wie im Fieber von Stunde zu Stunde umgetrieben hatte, lebte allmählich auf und begann, seiner elastischen Natur getreu, sich auch äußerlich zu erholen.

Daß er das selbst empfand, und als Wohlthat empfand, ging mir daraus hervor, daß er in diesen Tagen einmal zu mir sagte: ,Weißt du, Rütgers, es wundert mich, daß noch nie jemand darauf gekommen ist, der Zeit Altäre zu bauen: sie ist doch die einzige, unsichtbare Macht, die fühlbares Erbarmen mit den Menschen hat!‘ – und ich hoffte, daß er recht behalten sollte.

Wir gingen jeder Berührung mit dem Hause des Generals aus dem Wege, und der alte Herr selbst verhalf uns dazu; er hatte die unerwartet schnelle Abreise seiner Enkelin mit Recht auf mein Conto geschrieben und mir sehr verübelt – er grüßte nur steif und kühl, wenn er einen von unserer kleinen Gesellschaft traf, und sprach mit mir nur noch das ärztlich Notwendige.

Ich machte mir weiter keine Gedanken darüber, da er mir in seiner Art und Anschauungsweise doch fremd geblieben war und immer bleiben mußte, und ich war im Grunde auch froh, nichts mehr von Sinaide zu hören – hatte ich doch an mir selbst erfahren, wie weit die Macht ging, die dieses seltsame Geschöpf ausübte, sowie sie es wollte.

Allan begann in der Zeit wieder zu malen; er lag täglich mit dem Skizzenbuch an der See und entwarf kleine wilde Stimmungsbilder, die von merkwürdiger Genialität waren. Diese Thätigkeit machte ihm Freude und griff ihn anscheinend nicht an – so ließ ich ihn dabei.

Eines Tages hatte er Annie gebeten, ihm zu einer Porträtskizze zu sitzen, wie in früheren guten Zeiten.

Ich war zufällig anwesend – wir saßen auf der Terrasse des Seeschlosses. Es war ein stiller, windloser Tag, man konnte im Freien sein. Wir plauderten alle drei, und er zeichnete. Zuerst blickte er alle Augenblicke scharf und prüfend auf sein Modell – dann immer seltener – mit der Zeit sah er gar nicht mehr auf, sondern zeichnete immer weiter mit einem seltsamen, vertieften Ausdruck im Gesicht.

Als es gar zu lange währte, stand Annie leise auf und trat hinter ihn, um ihm über die Schulter zu sehen.

,So sehe ich aber eigentlich nicht aus,‘ sagte sie anscheinend heiter – als ich nach ihr aufblickte, standen ihre Augen voll Thränen. Ich wußte wohl, wen er gezeichnet hatte!

[571] Er küßte ihr mit einem bittenden Blick die Hand und erwiderte kein Wort.

Sie schwieg auch eine ganze Weile.

‚Kannst du sie denn nicht vergessen?‘ frug sie endlich mit gepreßter Stimme.

,Nein!‘ sagte er mit einer gewissen zornigen Leidenschaftlichkeit, ,das ist es ja gerade – ich kann nicht! Ich gebe mir alle mögliche Mühe! Denkst du denn, daß es hübsch ist, so innerlich wie dürres Holz zu verbrennen?‘

Sie nahm ihm das Skizzenbuch aus der Hand und wollte das Blatt herauslösen.

,Nein!‘ sagte er heftig und rasch und griff danach.

Sie klappte das Buch schweigend zu und legte es vor ihn hin.

Er hielt ihre Hand fest und lehnte die Stirn darauf.

,Habe nur weiter Geduld mit mir!‘ sagte er halblaut, ,du hast sie ja schon so lange gehabt! Wenn ich erst wieder ganz gesund bin, überwinde ich auch alles viel leichter und es geht mir ja so viel besser!‘

Sie hatten beide meine Anwesenheit entschieden vergessen; ich stand leise auf und schickte mich an, zu gehen.

Ich hörte nur noch, wie Annie sagte: ,Ja, Allan, du mußt aber auch wollen,‘ und er erwiderte so recht aus Herzensgrund: ,Ja, ich will – ich will wirklich!‘

Als ich ein paar Schritte weit gethan hatte, kam Annie eilig hinter mir her und stand neben mir.

‚Nun?‘ frug ich sanft, als sie nur atemlos blieb und mich mit einer bangen stummen Frage ansah.

,Glauben Sie, daß das noch einmal anders wird?‘ frug sie dann; aber ehe ich etwas erwidern konnte, schüttelte sie nur den Kopf und ging zurück.

Ob dieser Tag einen wirklichen innerlichen Abschnitt dargestellt hatte – ob das göttliche Frühherbstwetter dazu beitrug – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Allan sich zu erholen und zu beruhigen begann.

Ich fand seinen Zustand so viel besser, was die äußeren Symptome betraf, daß ich mit Frau v. Redebusch ernstlich darüber zu Rate ging, ob man die Hochzeit nicht beschleunigen und die beiden in ruhigem, gefestigtem Zusammenleben dem Einfluß der Häuslichkeit überlassen sollte.

Ich warf die Frage auch Allan gegenüber hin, der mit lebhafter Befriedigung darauf einging und durch kein Wort, durch keine Miene anzudeuten schien, daß er sich nicht fest genug fühlte, um sich ganz zu binden.

Annie hatte in diesem Fall, wie in jedem andern, keinen Wunsch für sich, sondern nur für ihn – sie war mit allem einverstanden. Als wir gegen Abend auf der Seeschloßterrasse saßen, sprachen wir so ruhig, so friedlich und mit so fest umrissenen Plänen von der Zukunft, wie man das immer thut, wenn man einmal vergißt, wie wenig sie in unsern Händen liegt.

Allan wollte noch an demselben Nachmittag wegen verschiedener Förmlichkeiten und Papiere nach seinem Heimatsorte schreiben, und sowie das Wetter rauher geworden sei, sollte man abreisen. So war der allgemeine Plan, dem ich als Arzt und Freund nur zustimmen konnte, da ich diese köstlichen ersten Septembertage für meinen Patienten gern noch ausgenutzt hätte.

Er ging der eben erwähnten Schreibereien halber allein nach unserer Wohnung, und ich folgte ihm etwa eine Stunde später.

Zu meiner Ueberraschung fand ich sein Zimmer leer.

Ich weiß selbst nicht zu sagen, warum mir das, was doch oft vorkam, an diesem Abend solchen unheimlichen Eindruck machte. Ich ging mehrmals aus – am Strande entlang – nach den Dünen – und endlich kehrte ich in mein Studierzimmer zurück und suchte meine schweren Gedanken durch Arbeit zu verjagen, was mir sonst immer sehr leicht gelang.

Es war schon dunkel und ich wollte eben nach der Lampe klingeln, als die Thür ungestüm aufging und Allan vor mir stand – zerzaust vom Wind, mit dunkelglühenden Augen in dem farblosen Gesicht.

Ich sprang hastig auf.

,Was ist dir?‘ frug ich erschrocken.

Er faßte meine Hand mit eisernem Griff. ,Sie ist wieder da!‘ brachte er mühsam hervor. Dann ließ er sich langsam und schwer in einen Sessel an meinem Tisch fallen und starrte vor sich hin: ,Jetzt ist alles zu Ende!‘

,Infam!‘ sagte ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen vor mich hin – Wut und Jammer über den neuen Querstrich, den das Schicksal mit seinem schwarzen Pinsel durch unser friedliches Bild zog, raubten mir fast die Sprache.

Da er immer noch schwieg und nur von Minute zu Minute blasser wurde, faßte ich ihn heftig an der Schulter.

,Du wirst dich doch nicht fürchten?‘ frug ich nachdrücklich und fast verächtlich, als ich den Ausdruck seines Gesichtes sah.

Er lachte kurz und bitter auf.

‚Nicht? Doch! Ich fürchte mich – ganz feige – ganz gemein! Ich fürchte mich nicht bloß vor ihr selber – ich fürchte mich vor jedem, der ihr auch nur ähnlich sieht! Wenn jemand auf der Straße nur den Kopf so hält, dann geht es mir wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder! Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen, Rütgcrs – es wäre besser, ich machte ein Ende!‘

Ich schlug mit der geballten Hand auf den Tisch – ich war völlig außer mir.

,Und um dieses falsche, kalte, herzlose Geschöpf!‘ sagte ich vor mich hin.

Er faßte meine Hand und hielt sie fest. ,Aber Rütgers – da sie doch wiedergekommen ist! Warum hat sie denn das gethan? Sie muß doch dabei an mich gedacht haben! Hältst du es denn für ganz unmöglich, daß sie mich liebt?‘

,Ja!‘ sagte ich so hart, wie ich es in dem Augenblicke konnte, ,das halte ich für unmöglich, denn sie kann überhaupt nicht lieben! Gewinne heute deinen Prozeß – sei der fürstlich reiche Mann, für den du gegolten hast – dann wird sie sich vielleicht den Anschein geben, als wenn sie dich liebte. Das ist so ungefähr meine Taxe ihres Charakters – und Gott verzeihe mir, wenn ich ihr Unrecht thue!‘ Es war ein gespannter Zug in sein Gesicht gekommen.

,Denkst du wirklich, daß sie es dann thäte?’ frug er in hastigem gequälten Ton.

Ich machte mich ungeduldig los.

,Laß mich!‘ sagte ich, ,du bist nicht zurechnungsfähig – du bist kein Mann!‘

Er nickte ein paarmal schwer vor sich hin.

,Du hast recht!‘ sagte er, ,du hast leider ganz recht!‘


Es giebt Zeiten im Leben, in denen die Ereignisse über uns herstürzen wie ein entfesselter Wasserstrom, uns den Atem, die Ruhe, die Entschlußfähigkeit zu rauben suchen, daß wir von Stunde zu Stunde uns mühsam durch das Toben der Elemente durchkämpfen und dabei immer wieder aufs neue empfinden, wie wehrlos wir sind.

Es mochten wohl solche Gedanken gewesen sein, die mich gerade in diesen Tagen auf einer Wanderung über die Dünen getrieben hatten – durch die willkürlich gestalteten, zackig wilden, dicht bewachsenen Hügel, die da, von elementarer Gewalt neben- und aufeinander getürmt, so schweigsam in der Herbstsonne lagen.

Ich warf mich ins kräftig duftende Strandgras und sah in die flimmernde Luft hinaus.

Ein seltsamer, still sausender Wind war um mich her – das tiefe Gefühl friedlicher Einsamkeit kam mit seiner ganzen Gewalt über mich – ich hätte hier vergessen können, daß es noch andere Stürme giebt als die das Meer bewegen.

Ich schloß die Augen und hörte so traumverloren auf die tausend kleinen, flüsternden, surrenden, summenden Stimmen der Jnsektenwelt um mich her, die in dem Grase da ihr kleines Leben auslebte, und der es vielleicht – wer kann es wissen – ebenso wichtig, ebenso lang und – ebenso traurig erschien wie uns Menschen das unsere.

So lag ich eine ganze lange Zeit, die Sonne ging schon nieder, ein kalter Luftstrom strich über meine Stirn.

Ein Rascheln im Grase, wie von leichten Schritten, ließ mich aufblicken, ich war auf den Füßen, wie gerüstet gegen einen Feind.

[572] Sinaide stand vor mir, mit einem stillen blassen Gesicht, aus dem jede Spur ihres funkelnden schillernden Wesens wie weggelöscht schien – der schöne, übermütige Mund schwieg ernsthaft.

Die Schlange hatte sich wieder einmal gehäutet – und wie sie in der Abendsonne so vor mir stand, empfand ich, daß sie nie schöner und verwirrender gewesen war als in diesem Augenblick.

Wir sprachen beide eine ganze Weile nicht.

Endlich nahm ich das Wort – so kalt und ruhig, wie ich es konnte.

‚Warum sind Sie wiedergekommen?‘ frug ich.

Sie stand regungslos vor mir und sah mich unverwandt an, während die sonderbaren Augen wie dunkelblaue Edelsteine aus dem blassen Gesicht hervorfunkelten.

‚Warum sind Sie wiedergekommen?‘ frug ich nochmals und wich ihrem Blick nicht aus.

Sie ließ langsam – langsam den Kopf sinken.

‚Sie wissen es!‘ sagte sie fast unhörbar.

‚Nein!‘ erwiderte ich eiskalt.

Sie trat rasch einen Schritt näher.

‚Sie wissen es!‘ wiederholte sie fest und rasch, ‚lügen Sie nicht! Sehen Sie mir ins Gesicht und sagen Sie, daß Sie es nicht wissen, wenn Sie den Mut dazu haben!‘

Ihre Farbe kam und ging unaufhörlich, aber ihre Augen klammerten sich förmlich an mich an, mit einem wilden, finsteren, geheimnisvollen und schmerzlichen Lächeln.

Ich faßte ihr schmales Handgelenk mit einem so harten, unbarmherzigen Griff, als wenn ich es zerbrechen könnte.

‚Und wenn ich es weiß!‘ stieß ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, ,und wenn es um meinetwillen geschehen ist, so sage ich Ihnen, daß ich mein Herz lieber mit diesen meinen beiden Händen aus der Brust reißen und fortschleudern würde – in das Meer dort – ehe ich –‘

Ich unterbrach mich – der tobende Kampf in mir wurde wilder und wilder – er drohte mich zu ersticken und zu bewältigen! Sie stand immer noch, wie sie gestanden hatte – ein Zittern lief wie Wellengekräusel über ihre schlanke Gestalt, aber das Gesicht blieb wie versteinert in seinem sonderbaren Ausdruck.

,Sagen Sie mir nur eins!‘ begann sie dann, immer mit der seltsam sanften Stimme, die in einem so bethörenden Gegensatz zu ihrem Gesicht und zu ihrem Worte stand, ‚nur eins! Wenn das, was in den letzten Wochen hier geschah, was ich – und Sie – und wir alle hier erlebt haben – wenn das nicht geschehen wäre, wäre ich Ihnen dann gleichgültig geblieben?‘

Ich stand eine Weile stumm und starr – mir war, als wenn jemand einen blutroten Schleier immer vor meine Augen hielt und wieder fortzöge – ich wollte nichts antworten und fühlte doch, daß ich es in der nächsten Minute thun würde – und ehe ich es selbst wußte und wollte und hindern konnte, hatte ich ‚Nein!‘ geantwortet.

Und da sagte sie mit einem fremden, tiefen, glückseligen Ton, in dem trotz allem eine Leidenschaft lag, wie eine Flamme, die durch dürres Heidegras auflodert, nur ‚Gott sei Dank!‘

Und wie sie so stand, den Kopf zurückgeworfen, die Augen wie in Selbstvergessenheit emporgerichtet – um sie her, wie ein Königsmantel, die feurige wilde Glut des Abendhimmels – da fühlte ich, als wenn das Wort mit Riesenlettern vor mir geschrieben gestanden hätte, daß es hier nur eins gab – Flucht!

Ich wandte mich um und stürzte fort – am Meer entlang – und weiter und weiter – ohne Zweck – ohne Ziel – wie gejagt von einer wilden Angst, daß ich mir selbst und dem liebsten Menschen, den ich auf Erden hatte, untreu werden könnte.

Ich fand mich endlich erschöpft, wie zerbrochen und zerschlagen am entlegenen Strande wieder – ich war ganz unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, in meinem Kopf wirbelte nur das düstre Bibelwort umher: ‚Wir haben nicht mit Fleisch oder Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen und Mächten der Finsternis!‘

Wie ich nach Hause und zur Ruhe kam, das weiß ich nicht mehr – ich entsinne mich nur, wie ich den nächsten Morgen, als ich erwachte, ein Gefühl dumpfer Verwunderung hatte, daß zwischen gestern und heute nur eine Nacht lag – mir war, als müßten es ein paar Tage gewesen sein.


Zwei Tage waren seit meiner Begegnung mit Sinaide verstrichen – in der alten krankhaften Aufregung für meinen armen Freund. Er schwand förmlich hin in dieser Zeit und wenn ich nachts aufwachte, hörte ich sein dumpfes, trauriges Husten durch das Haus schallen – es zerriß mir das Herz!

Ich sah Annie nicht – ich konnte mich nicht entschließen, ihr unter die Augen zu treten, und bald sah ich auch Allan kaum!

Er wich mir mit einer Art von düsterem Trotz aus, denn ich hatte ihm heftig, so heftig wie ich empfand, gesagt, ihm bliebe jetzt als anständigem Menschen nur das eine übrig: abzureisen und der Versuchung aus dem Wege zu gehn, die – freilich ohne sein Verschulden – wieder wie ein unübersteiglicher Felsblock in seinem Wege lag und ihm freien Blick und freien Schritt hemmte. Die Folge war, daß er noch am selben Tage mit Sack und Pack ohne Abschiedswort von mir fort und in ein alleinstehendes Haus zog, das zwischen meiner Wohnung und der Villa des Generals lag – in den sogenannten „Outlander“, ein schmales, dunkles, leicht gebautes Holzhaus, das ich seiner Bauart und exponierten Lage halber für ihn gerade nicht gewählt hatte. Wie viel zu diesem Entschluß der Umstand beitrug, daß er aus den Fenstern des Outlanders die Thüren und Fenster der Villa Bella sehen und dem unseligen Feuer, das ihn verzehrte, beständig Nahrung zuführen konnte – wie viel das dabei mitsprach, ich weiß es nicht.

Ich meine immer, ich sehe ihn noch vor mir, wie er so blaß und still dort am Fenster stand, die Stirne mit den davor gefalteten Händen an die Scheiben gedrückt, und mit dem finstern, leidenschaftlichen Blick, der seine Augen kaum mehr verließ, nach dem Hause starrte, wo Sinaide ein- und ausging.

Daß die Menschen – wenige waren es noch in dieser Zeit – mit einer Art scheuer Verwunderung nach ihm hinaufblickten, wenn er dort so stand, das schien er nicht zu bemerken, jedenfalls beachtete er es nicht.

So gingen ein paar Tage hin, bis ich eines Morgens zu Frau v. Redebusch gerufen wurde, die an einem Rückfall ihres alten Leidens daniederlag. Als ich aus dem Krankenzimmer kam, fand ich Annie allein, mit einer ihr sonst fremden Hast beschäftigt, allerlei Kleinigkeiten in der Wohnung zusammenzuräumen. – Auf meinen stummen, fragenden Blick sagte sie nur mit einem müden Lächeln: ‚Verzeihen Sie die Unordnung hier – wir wollen, sobald es Mutters Gesundheit erlaubt, nach der Stadt zurück – wir haben unsere Schiffe verbrannt!‘

‚Und Allan?‘ frug ich leise.

Sie schüttelte den Kopf und brach einen Augenblick in heißes, unbesiegliches Schluchzen aus – dann faßte sie sich schnell.

,Er geht mich nichts mehr an,‘ sagte sie mit fremder Stimme, ‚ich habe ihm heute morgen geschrieben, daß ich nicht die Kraft fühlte, ihm mein Wort zu halten – es ist alles aus! Aber er soll sich keine Vorwürfe machen – ich bin selbst schuld, daß es so kam – nicht durch das, was ich gethan habe, sondern durch das, was ich bin, und das läßt sich wohl schwer ändern!‘

Und sie ging wieder an ihre traurige Arbeit, das Zimmer, das ihren zierlichen Händen seine Behaglichkeit verdankte, unwohnlich und schmucklos zu machen.

Ich verließ sie – was konnte ich ihr auch sagen? – und ging an meine Berufswege.

Es war ein unerträglich schwüler, dumpfer Tag, und dabei ein Wind, wie man ihn an der See öfter findet, der heiß und stäubend mit wildem Pfeifen daherfegt, Wolken von feinem Sand aufwirbelt und mit ihnen die ganze Länge des Strandes einhüllt – gewöhnlich ist solcher Wind der Vorgänger der Springflut und schwerer Stürme. Am Horizont lag ein kupferfarbener, blutigfinsterer Streifen unheildrohend unter einer schieferblauen Wolkenschicht – die Fischer kamen alle nach Hause und ihre braunroten Segel standen wie düstre Vögel rings auf dem Meere. Das kochte und brodelte wie ein riesiger Hexenkessel und schillerte wie ein Schlangenpanzer in einem stumpfen, widerwärtigen Grau.

Als ich nach stundenlanger Arbeit, müde und zerquält an Leib und Seele, wieder nach Hause und am Outlander vorbeikam, stand Allans Wirtin in der Thür und winkte mir sorgenvoll zu: ‚Herr Doktor, wollen Sie nicht nach unserm jungen Herrn sehen? Wissen Sie nicht, wo er ist? – wenn er sich nur nichts anthut!‘

[574] ,Warum?‘ frug ich barsch – sollten die Menschen diesen großen Jammer für ihr müßiges Gerede benutzen?

,Er hat ja heute früh einen Brief vom Gericht bekommen,‘ sagte die alte Frau schüchtern und erschreckt durch meinen Ton, ,und als er den gelesen hatte, wurde er so kreidebleich, daß ich sagte: ,Ach Gott, Sie sehen ja aus, als wenn das Haus mit Ihnen zusammenstürzte!‘ Da lachte er so sonderbar und sagte: ,Es ist auch ungefähr so – wenn der Doktor kommt, sagen Sie ihm nur, ich hätte meinen Prozeß verloren – ist das nicht spaßhaft?‘ und dabei lachte er wieder, als wenn er ganz verwirrt wäre. Mir wurde angst und bange, Herr Doktor – und jetzt ist er nach der Villa Bella zu gegangen, aber ob er dort ist, das weiß ich nicht – und der Sturm ist doch auch nichts für seinen Husten!‘

Ich ließ sie gedankenlos an mich hinreden – mir sauste und summte es vor den Ohren, daß ich nicht wußte, ob der Sturm draußen oder mein eignes, erregtes Blut diesen unheimlichen Singsang ausführte – wortlos nickte ich der verwunderten Frau zu und ging nach Hause.

Ich hatte das sichere Gefühl, er würde zu mir kommen – und wo hätte ich ihn denn suchen sollen? Bei Sinaide? Das war ja unmöglich – in welcher Eigenschaft konnte ich nach unserer letzten Unterredung das Haus ungerufen betreten, nachdem er zudem jede Einmischung meinerseits so gänzlich von der Hand gewiesen hatte?

So saß ich wartend in meinem Zimmer – es war noch früher Nachmittag, aber so düster draußen, daß es schon ganz dämmerig schien, da stand er plötzlich vor mir wie vom Sturm hereingeweht – totenblaß, ohne Atem – ohne Besinnung – mit einem so verstörten, entsetzten Ausdruck, daß ich im ersten Augenblick die Hände wie abwehrend gegen ihn ausstreckte, als sähe ich einen Geist. Erst dann faßte ich mich gewaltsam, um zu ihm zu sprechen.

Aber er kam mir zuvor.

‚Rütgers,‘ begann er mit seltsamer, tonloser, gequälter Stimme, ‚sage mir die Wahrheit – gieb mir dein Ehrenwort, daß du mir die Wahrheit sagst, wenn ich dich jetzt etwas frage!‘

Es handelt sich um Sinaide, sagte ich zu mir selbst, dann laut: ,Ja, mein Junge, ich gebe dir mein Wort – ich sage dir die Wahrheit – ich thue es immer, wenn ich es kann!‘

Er fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn und sprach wie jemand, der eben übermäßig rasch gelaufen ist, mit kleinen, zitternden Atempausen zwischen den Worten: ,Ist es wahr, Rütgers – bin ich krank? – bin ich so krank?“

Ich zog ihn liebevoll neben mich aufs Sofa – mir war, als sollte mir das Herz brechen; aber ich durfte ihn doch nicht belügen.

,Ja, mein armer, lieber Junge, du bist krank,‘ sagte ich möglichst sanft und ruhig, ,aber wer hat dir das gesagt?‘

,Sinaide!‘ erwiderte er dumpf und ließ den Kopf sinken, als wenn ihn eine Last niederbeugte.

,Das hat sie gewagt?‘ knirschte ich – mir stürzte alles Blut zum Herzen.

,Ich bat sie – ich fiel ihr zu Füßen – da sagte sie erst: ,Wenn ich doch nicht will‘ – so recht überdrüssig und ungeduldig – und dann sagte sie – ich weiß die Worte noch ganz genau, sie haben sich mir wie Glasscherben in die Seele geschnitten – sie sagte: ,Und außerdem, mein lieber Herr von Senden, sind Sie ja viel zu krank‘ – zu krank! zu allem, Rütgers, ja? zu allem? auch zum Leben?‘

Seine Augen brannten mit so verzweifelter Furcht auf meinem Gesicht, daß ich es fast nicht ertrug – ich strich ihm beschwichtigend über das Haar und sprach zu ihm wie zu einem Kinde, dem man die Gespensterangst ausredet: ,Nein, mein lieber Junge – Gott verhüte, daß du dir solche Gedanken machst – so steht es nicht!‘

Er sah mich, ruhiger werdend, an – dann nickte er ein paarmal langsam vor sich hin.

‚Ich weiß jetzt genug – du brauchst mir nichts mehr zu sagen – es ist ja vielleicht am besten so!‘ erwiderte er mit seiner seltsam klanglosen Stimme, ,laß mich jetzt ein paar Stunden allein mit mir – ich muß mir selbst aus dem Wege kommen!‘

Ich wollte ihn aufhalten oder ihm folgen – das weiß ich nicht mehr zu sagen; aber in dem Augenblick kam ein Trupp Menschen, der einen Verunglückten brachte, er war am Verbluten – ich durfte da nicht weggehen – und ich konnte Allan nicht zurückhalten – er war fort.

Nie habe ich gedankenloser, bewußtloser meine Arbeit gethan als in jenen Augenblicken – ich verband den armen Teufel da vor mir so gleichgültig, als wäre er ein Stück Holz – und dabei war es ein schwerer Fall, er hielt mich wohl eine Stunde lang auf.

Sowie ich mit gutem Gewissen fort konnte, stürzte ich aus dem Hause – ins Seeschloß. Allan war nicht da – ich schrie, den Sturm übertönend, jeden Vorübergehenden mit der Frage an, ob er ihn gesehen hätte – keiner wußte von ihm! Ich ging an den Strand – da war weit und breit kein Mensch – der heiße Sturm hatte alles in die Häuser gefegt, und wie ich mich einsam und keuchend gegen die Gewalt dieses Luftstroms am Meer entlang kämpfte, flogen mir die Wirbelwolken von spitzem Seesand so höhnisch in die Augen, als wollten sie sagen: Such’ du nur!

Schließlich kehrte ich verzweifelt um und ließ mich vom Sturme mehr tragen als ich ging – es war schon ganz finster.

Als ich nach Hause kam, umlagerte eine Menschenmenge meine Thür – man hatte mich erwartet. Sie hatten ihn unten am Strande gefunden – ohnmächtig infolge eines Blutsturzes – und jetzt war er in den Outlander getragen und auf sein Bett gelegt worden.

Er atmete noch schwach, aber er atmete doch, und ich dankte Gott dafür, obwohl ich in diesem Augenblick ihm mehr gedankt haben würde, wenn ich den leisen Ton nicht mehr vernommen hätte. Diese Nacht werde ich nie vergessen!

Der Sturm! – ich habe nie vorher und nie nachher einen gleichen erlebt – das leichte Haus schien sich unter seinem Griff zu biegen und hin und her zu schwanken! Der Sturm! Er tappte die ganze Nacht wie ein fürchterlicher blinder Riese in dem finstern Hause herum und schlug mit gewaltigen, zornigen Fäusten an die Fenster und schüttelte die Wände, daß der Sand hinter den Tapeten mit knirschendem Ton niederrieselte. Dann fuhr er wieder mit einem pfeifenden, jammernden Ton ums Haus, daß es klang wie der Schrei einer hoffnungslosen, verlornen Seele – und dabei kämpfte die ganze Nacht hindurch ein armes gequältes Menschenkind seinen stummen Kampf um Leben und Tod!

Gesprochen hatte er während dieser Stunden nicht – nur einmal gab er mir ein Zeichen, daß ich mich zu ihm herunterbeugen sollte, und sagte – eigentlich nur durch Lippenbewegungen: ,Nicht wahr, wenn du sie siehst, dann fragst du sie einmal, ob sie sich denn nie etwas aus mir gemacht hat? Es ist mir eigentlich heute alles gleichgültig – aber das frage ich mich doch immer, und deswegen kann ich nicht schlafen!‘

Ich nickte ihm zu – sprechen konnte ich nicht.

Gegen Tagesanbruch ließ der Sturm nach, aber das Meer brüllte immer noch wie ein wütendes Tier, das um sein Opfer betrogen worden ist, und schien mit jedem Augenblicke näher zu kommen. Allan fuhr mit den Händen nach dem Kopfe, wie in Verzweiflung: ,Die See soll einen Augenblick still sein!‘ flüsterte er mit seiner tonlosen Stimme, ,ich kann es nicht mehr aushalten!‘

Und dazu dies Haus, das jeden Ton, jeden Luftzug durchließ!

Ich ging einen Augenblick von ihm fort und trat vor die Thür. Der kalte, blasse Morgen lag freudlos über der ungeheuern Weite, die aus einem wüsten Gewirr tobender, schäumender Wasser zu bestehen schien – in der Ferne glimmte ein feuriges Morgenrot auf wie eine Kriegsfackel.

Ich starrte gedankenlos, erschöpft und wirr auf dies Bild – in meinem Kopfe wirbelten die Gedanken ebenso wild durcheinander wie die Wellen da unten. Wo soll er hin? Hier im Outlander konnte er nicht bleiben – noch eine solche Nacht, und der schwache Lebensfaden riß. In mein Haus, wo den ganzen Tag Menschen kamen und Menschen gingen, konnte ich ihn auch nicht nehmen – und ins Seeschloß? Zu denjenigen, denen er so weh gethan – in deren Herz er den Dolch gestoßen und umgekehrt hatte – wenn auch nicht aus Schlechtigkeit, so doch aus krankhafter, unmännlicher Schwäche? Und doch tauchte vor meinem Geist das Seeschloß wieder und wieder auf – mit seinen dicken Steinmauern und seinen großen, luftigen Zimmern – und ich sagte mir mit furchtbarem Herzweh, daß es ja aller Voraussicht nach nicht auf lange sein werde.

[575] Als der Morgen etwas weiter vorgeschritten war, so daß ich erwarten durfte, Mutter und Tochter schon wach zu finden, ging ich hinüber. Frau v. Redebusch war zum erstenmal seit ihrer Krankheit aufgestanden und saß noch matt und müde im Lehnstuhl. Annie war nicht zu sehen.

Frau v. Redebusch streckte nur die Hand entgegen. ,Ich bin noch so schwach, Herr Doktor,‘ sagte sie in ihrem klagenden Ton, ,und dabei will Annie abreisen – – sie denkt ja doch sonst immer an mich – aber sie ist wie ausgetauscht. Ganz unverständig seit ein paar Tagen – ich kenne sie gar nicht wieder!‘

Ich antwortete kurz und beruhigend und begann dann in fliegenden Worten das Geschehene zu berichten, zu erzählen, wie Allan auf den Tod läge, wie alles davon abhänge – nicht für seine Genesung, an die glaubte ich nicht – aber für die augenblickliche Erleichterung furchtbarer Stunden – daß er in eine ruhige, behagliche Umgebung käme, und ich brachte stockend und zaghaft meine Bitte vor, ihn hierher bringen lassen zu dürfen. ‚Aber können wir es Fräulein Annie zumuten?‘ schloß ich sorgenvoll.

Frau von Redebusch winkte mir mit der Hand ab.

,Das kann ich nicht sagen, Herr Doktor – mir scheint, sie hat genug gethan und ertragen um dieser unglückseligen Geschichte willen. Was ich thäte, das weiß ich – aber was sie thäte, das müssen Sie sie selbst fragen!‘

Und ich frug sie, als sie mit ihrem stillen Friedensgesicht, das sich schon wieder zu seinem alten Ausdruck durchzukämpfen begann, in die Thür trat – ich frug sie, und sie antwortete sofort, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen – sie sagte nur: ,Und warum ist er noch nicht hier?‘

Am selben Nachmittag trugen wir ihn ins Seeschloß, in eines der großen, hellen Hinterzimmer, nach Süden gelegen, in denen selbst an unruhigen Tagen das Meer nur wie aus traumhafter Ferne zu hören war, in denen es bei stillem, schönem Wetter nach Lavendel und Sonnenschein duftete und durch deren offene Fenster die Bienen und Citronenfalter surrend ein- und ausschossen.

Dort legten wir ihn zu Bett – und als ich Annie hereinrief, als sie beim Anblick seines veränderten und verstörten Gesichtes, seiner keuchenden Brust und seiner angstvollen Augen so gefaßt, so ruhig, so still blieb, sich so einfach liebevoll über ihn beugte und ihm die Hand auf die Stirn legte, als hätten sie sich vor einer Stunde erst getrennt – als der gespannte Ausdruck seiner Züge sich unter dieser Hand so sachte löste und sich in ein stilles, müdes Ruhen verwandelte – da ging ich getrost meiner Wege ich wußte ihn in guten Händen!

Der Sturm draußen hatte auch nachgelassen; er schleppte sein Gewand düsterer Wolken noch in einzelnen, großen, zerflatterndcn Fetzen am Himmel hin, zwischen denen es schon wieder leuchtend blau und sieghaft hervorglänzte. Die Sonne brach durch – und alles sah so strahlend, so frisch, so herrlich aus – die Natur kämpft ihre schwersten Kämpfe durch, ohne daß ihr ewig schönes und junges Antlitz eine Spur davonträgt, und nur wir armen Minutengeschöpfe bezahlen jeden rascheren Pulsschlag mit unseren Kräften und mit unserem Herzblut.

Ich ging zur Villa Bella. Der General und Sinaide saßen in dem offenen Vorsaal, in dem ich Allan zum erstenmal diesem – Geschöpf gegenüber gesehen hatte. Sie schenkte dem Großvater eben, als ich kam, mit ihrer ganzen kätzchenhaften Grazie den Thee ein; als sie mich sah, lächelte sie mich so unbefangen, so glückstrahlend und aufleuchtend an, als hätten wir einander nie anders gegenübergestanden.

,Nun, Herr Doktor – wo haben Sie sich denn so lange versteckt?‘ rief sie mir mit ihrer lieblichen Stimme entgegen, ,wir sind schon fast vor Sehnsucht nach Ihrem ernsthaften Gesicht gestorben – nicht wahr, Großpapa?‘

Der alte Herr, der seine Stimmungen bewußt und unbewußt immer nach den ihrigen richtete, begrüßte mich auch freundlich und wies auf einen Stuhl neben sich.

Ich dankte kurz und blieb stehen. Ich war in der ersten Minute wirklich unfähig, ein Wort hervorzubringen – ich hätte sie mit den Händen packen und fortschleudern mögen wie ein schädliches Tier, und ihre Schönheit hatte jede Macht über mich verloren! Etwas davon mochte wohl in meinen Augen zu lesen sein, als ich so vor ihr stand.

Der General erhob sich, als das Schweigen fortdauerte, verlegen, murmelte etwas von Cigarrenholen und verließ das Zimmer.

Wir beide blieben allein.

Sie trat dicht zu mir heran und sah mir von unten her in die Augen. ,Sie sind böse, weil ich Ihren Freund gestern etwas hart angelassen habe!‘ sagtn sie in ihrem einschmeichelndsten Ton, ,aber was wollen Sie denn? – es ist nicht meine Schuld – es ist mein Schicksal! Ich habe meine Puppen auch immer am dritten Weihnachtsfeiertage in die Ecke geworfen – ich war seiner so überdrüssig, er nahm es so langweilig ernsthaft!‘

Ich sah sie finster und drohend an.

,Ich habe einen Auftrag an Sie,‘ begann ich kurz und herb, ,ich soll Sie in – seinem Namen etwas fragen! Sagen Sie mir einmal: haben Sie sich nie etwas aus ihm gemacht, nie im Ernst?‘ Sie kniff einen Augenblick die Augen zusammen, als besänne sie sich. ,O ja!‘ sagte sie dann ganz unbefangen, ,so im Anfang – er ist ja so sehr hübsch – und auch sehr liebenswürdig – da habe ich ihn wirklich sehr gern gehabt – zwei Tage lang!‘

,Zwei Tage!‘ sagte ich vor mich hin, ,nun, das ist ja schon eine ganze Weile!‘

Der General kam zurück und bot mir eine Cigarre an – ich dankte – ich wartete von Augenblick zu Augenblick, ob nicht eins von den beiden fragen würde: ,Wie geht es ihm denn?‘ Als das aber nicht geschah und sie in den unbefangensten Plauderton verfielen, da berichtete ich kurz und ohne ausschmückende Redensarten, was gestern vorgefallen war – daß er einen schweren Blutsturz gehabt habe und auf den Tod läge, daß sein Leben möglicherweise nur nach Stunden oder Tagen noch zähle.

Der alte Herr – zu seiner Ehre sei es gesagt – wurde blaß und ging ein paarmal hastig im Zimmer auf und ab; er warf einen scheuen Blick auf seine Enkelin, der fast aussah, als fürchtete er sich vor ihr.

Und sie? Sie sagte: ,Ach, das ist ja sehr traurig – das thut mir wirklich sehr leid! Weißt du, Großpapa, da wollen wir doch heute nachmittag lieber einen anderen Weg fahren – nicht am Seeschloß vorbei es könnte den armen Herrn von Senden stören und es bringt einen auch so um die Stimmung!‘

,Sie sind von einer unendlichen Güte und Rücksicht, mein gnädiges Fränlein!‘ sagte ich mit schneidendem Ton und ging meiner Wege.

Als ich eben über die Schwelle getreten war, sagte ich laut vor mich hin – so laut, daß ich erschrak, denn sie mußte es fast gehört haben: ,Und um die!‘ – und damit war dieses Kapitel aus unserer Geschichte beendet.

Sie hatte Allans Straße gekrenzt wie ein Komet, der seinen prachtvollen, feurigen Schweif hinter sich her schleppt – verwüstend, wo seine Bahn geht – und dann weiter ins Blaue des Nachthimmels hineinstürmt, um wo anders wieder zu zerstören – die Natur mag ja auch solche Elemente brauchen – sonst würden sie wohl nicht da sein!

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Nach wenigen Tagen stand die Villa Bella leer – im offenen Wagen fuhren die Bewohner davon, der große gelbe Hund sprang in ungeschickten Sätzen um den Wagen herum, als sie am Seeschloß vorbeifuhren, und Sinaide lachte über ihn wie toll – das ist das letzte, was ich von ihr gesehen und gehört habe.


Allan begann sich inzwischen langsam ein wenig zu erholen – es kam ihm körperlich zu statten, daß er geistig und gemütlich wie gebrochen war, und wiederum machte seine körperliche Schwäche ihn unfähig, sich innerlich zu erregen, er lebte so hin – wenn man das ‚leben‘ nennen darf: er atmete noch, er ließ sich bewegen, Nahrung zu sich zu nehmen – zu schlafen – zu wachen – aber es war wie ein Scheindasein.

Er ging zwischen uns anderen herum wie durch eine unsichtbare Scheidewand von uns getrennt, wie das Schwerkranke so an sich haben, denen das Leben nichts mehr bietet, als daß es eben von Tag zu Tag noch gelebt sein will. Nach und nach wurde es etwas besser – er saß vor der Thür in der warmen Herbstsonne – erst regungslos – stundenlang; dann begann er mit seinem Stock ein wenig im Sande zu kritzeln – das begrüßten wir schon als einen Fortschritt.

[576] Annie war unverändert neben ihm. Die Welt begrenzte sich für sie nach wie vor in seiner Persönlichkeit, sie wollte nichts, erwartete nichts, fürchtete nichts – sie lebte eben nur vom Augenblick und für den Augenblick und war dankbar, daß Allan da war, und daß sie für ihn sorgen und denken durfte.

Er nahm auch das mit seiner todmüden Gleichgültigkeit hin und lohnte es ihr zunächst kaum durch einen Blick.

Als seine Erholung fortschritt – gegen alles Erwarten! – ließ er sich täglich von ihr an den Strand hinunterführen – die Dorfkinder sahen den beiden nach, mit jener scheuen Neugier, die der Sterbenskranke im Lebensfrohen hervorruft.

Ein Stück am Strande abwärts lag seit Jahren ein altes Wrack – halb auf dem Lande, halb in der See – Moos und Tang hatten sich darangesetzt und Seetiere krochen träge und schlüpfrig zwischen den morschen Brettern herum.

Wie oft, wenn ich aus der Praxis kam, sah ich seine gebückte Gestalt sich gegen den blassen Herbsthimmel abzeichnen, immer in derselben Stellung – ich ließ ihn zuerst ruhig dabei, weil ich ‚Gewähren lassen‘ für ihn jetzt als das beste fand.

Als er aber täglich und immer wieder dort, und immer nur dort zu finden war, da ging ich einmal zu ihm hinunter.

Es war ein warmer, klarer Oktobertag von jener wehmütigen Schönheit, wie sie der Spätherbst noch manchmal wie einen Abschiedsgruß an die Welt hat.

Allan lag heute auf einer Felldecke im sonnendurchwärmten Sande. Ich streckte mich neben ihm aus, er nickte mir freundlich und still zu; seine alte, gutherzige Liebenswürdigkeit brach jetzt wieder durch wie ein schwacher Sonnenstrahl.

Wir sprachen zuerst beide lange nicht – dann nahm ich das Wort. ,Warum sitzest du denn immer hier an dem Wrack, mein alter Kerl?‘ frug ich.

Er sah mit seinen müden, traurigen Augen zu mir auf.

,Wir verstehn uns so gut, das Wrack und ich,‘ sagte er, ,viel besser, als ich mich jetzt mit den Menschen verstehe – die wollen alle noch etwas – und hoffen etwas – und leisten etwas – das alles thun wir nicht mehr – das Wrack und ich. Sieh mal, das Schiff hier ist früher auch so mutig, so lustig in die Welt hinausgegangen – und jetzt ist es hier – es kann nicht mehr schwimmen – aber es geht auch nicht unter – manchmal scheint die Sonne darauf – und es liegt da so nutzlos und still – gerade wie ich!‘

Ich schwieg eine ganze Weile, weil ich einfach nicht sprechen konnte. ,Du mußt hier nicht so sitzen und grübeln!‘ sagte ich dann, ‚davon wirst du nicht besser!‘

Er sah ruhig zu mir auf – wie schmal, wie schmal war das Gesicht! ,Ach, Rütgers – das ist ja alles dummes Zeug; ich werde ja überhaupt nicht besser – das weißt du so gut wie ich!‘

‚Das weiß ich gar nicht!‘ sagte ich, ,du kannst, nach meiner Ueberzeugung, ein langes Leben vor dir haben, wenn du jetzt vernünftig bist.‘

Er hob mit einem erschrockenen Ausdruck wie abwehrend beide Hände gegen mich auf.

,Um Gottes willen nicht! Nur das nicht! Ein langes Leben – so ein Leben? Um jeden Atemzug kämpfen – sich einmal ein bißchen erholen – ohne Beruf – ohne Arbeit – jede Thür verschlossen, an die ich klopfe – würdest du mir das wünschen?‘

Wir schwiegen wieder beide eine ganze Zeit.

,Und wenn ich noch um eines Menschen willen da wäre,‘ fuhr er fort, immer im selben träumerischen Ton, der wie aus unerreichbarer Ferne zu klingen schien, ,wenn ich Eltern – Geschwister – irgend jemand hätte! Aber bei alledem noch so einsam – so grenzenlos einsam – keiner, der mich braucht – keiner, der mich entbehren würde – keinem nützlich und keinem nötig! Nein, auch dir nicht – sage nichts! Du würdest es dir und mir gern einreden – aber wenn du heute hörtest, Allan Senden ist – nicht mehr da‘ – er unterdrückte das Wort ‚tot‘! – ‚wenn du das heute hörtest, dann würdest du, bei aller Traurigkeit, dich doch sehr rasch mit dem Gefühl von meinem Namen abwenden: ,Es war das beste für ihn’ – und das wäre es ja auch! – Laß mich heute einmal sprechen,‘ fuhr er hastig fort, als ich etwas entgegnen wollte, ,einmal nur! Wer weiß, ob ich’s noch einmal kann – und was soll es denn schaden?‘

Er starrte eine ganze Weile auf das stille, sonnige Meer, und schwieg. ,Ich will dir etwas erzählen,‘ begann er dann wieder, ,besinnst du dich noch, daß dir in den ersten Tagen, als ich hier war, eine Rauchschwalbe mit zerknicktem Flügel gebracht wurde, die so jämmerlich am Boden kroch? Du sagtest damals: das ist einer unserer wildesten Flieger – den hat die Katze gehabt. Gegen diese Schwalbe warst du so barmherzig und legtest ihr ein Tuch mit Chloroform auf den Kopf – da lag sie so schön still – weißt du noch? Und dann nahmen wir sie mit in ein Boot weit hinaus – und warfen sie ins Meer – der Mond schien gerade so glitzerig darauf, wie sie versank! Rütgers!‘ fuhr er fort, legte mir die Hand auf den Arm und sah mit seinen großen sprechenden Augen zu mir auf, ,hast du nicht dieselbe Barmherzigkeit für mich? Ich krieche auch so mit geknickten Flügeln am Boden – mich hat auch die Katze gehabt – wenn einem Arzt einmal die Möglichkeit geboten wird, jemand so ganz heilen zu können – da sollte er doch nicht so hart sein!

Und jetzt laß mich allein!‘ fuhr er nach ein paar Augenblicken fort, ,jetzt will ich wieder ein bißchen schweigen gehen. Laß mich allein!‘

,Das thue ich nicht!‘ sagte ich rauh, um einer mich erstickenden, überwältigenden Bewegung Herr zu werden, ,du sollst hier nicht so einsam herumsitzen! Stehe auf und komm’ mit mir – ich sage dir, du wirst kräftiger werden und die Lust zum Leben wird wiederkommen – glaube mir doch – hast du mir denn nicht sonst immer geglaubt?‘

Er stand zögernd und widerwillig auf und warf noch einen fast zärtlichen Blick auf das Wrack. ,Bis morgen!‘ sagte er vor sich hin.

Wir gingen langsam, langsam am Strande zurück. Die Ebbe war eingetreten, und im weichen Sande liefen die langen krausen Linien entlang, wie sie die Wellen manchmal zurücklassen. Er blieb stehen und starrte gedankenvoll darauf nieder.

,Siehst du?‘ sagte er, ,hier hat das Meer so in den Sand geschrieben – wer weiß, was das für Geschichten sind – wenn man sie nur lesen könnte! Vielleicht sind sie ebenso traurig wie meine! Und dann wäscht die nächste Flut sie weg – und es ist alles wieder, wie es gewesen ist, und keiner hat die Geschichten gelesen und verstanden!‘


Gegen Abend – kurz, ehe Allan ins Theezimmer kam, was er jetzt wieder öfter thun konnte, suchte ich Frau von Redebusch und Annie auf. Ich erzählte ihnen von meinem Gespräch mit Allan – ich sprach vom hereinbrechenden Herbst mit seinen kürzeren Tagen und rauhen Stürmen – und auch von meiner Ueberzeugung, daß Allan, sobald es sein Zustand irgend gestatte, nach dem Süden gehen und dort für Jahre, vielleicht für immer bleiben müsse – ich hatte es ihm selbst schon gesagt.

,Aber wer soll denn mit ihm gehen?‘ fügte ich sorgenvoll hinzu, ,der arme Junge hat ja keinen Menschen auf der ganzen weiten Welt!‘

Annie hatte am offenen Fenster gesessen und still, still zugehört – ihre helle Gestalt hob sich scharf gegen das Dunkel ab; wir hatten noch kein Licht im Zimmer, und nur der blasse Mond zeichnete das schwarze Fensterkreuz auf den weißen Boden.

Jetzt stand sie auf und trat zwischen die Mutter und mich, sie nahm unsere beiden Hände, und ich wußte in demselben Augenblick, was sie thun wollte und thun würde.

,Ich werde mit ihm gehen!‘ sagte sie klar und fest und entschieden; ,so lange er gesund und glücklich und reich war, konnte ich ihn allein lassen – jetzt kann ich’s nicht mehr!‘

Und als in demselben Augenblick der müde, schleppende Schritt draußen erklang und näher kam – als Allan sachte die Thür aufklinkte und ins Zimmer trat, da ging sie ihm entgegen, so unbeirrt in ihrer reinen Unbefangenheit, als wären wir anderen gar nicht im Zimmer, als wäre sie schon so einsam mit ihm auf der Welt, wie sie’s fortan sein wollte.

,Allan,‘ sagte sie, zog ihn zu seinem Sessel und kniete neben ihm nieder, ,du bist so allein, und wenn du fortgehst, bin ich noch viel mehr allein – darf ich nicht bei dir bleiben?‘

Er schwieg eine ganze lange Weile. ‚Mein Schutzengel!‘ sagte er dann endlich fast unhörbar und ließ den Kopf auf ihre [578] Schulter sinken, ,was für ein elendes Los suchst du dir aus! Du denkst doch nicht, daß ich dich glücklich machen könnte?‘

Sie strich ihm sanft das weiche helle Haar von der Stirn.

,Als ob es darauf ankäme!‘ sagte sie mit ihrer tapferen jungen Stimme, die nur ein ganz klein wenig zitterte, ,als ob es darauf ankäme! Und was nennst du denn glücklich? Für jeden Menschen hat das Glück ein anderes Gesicht! Glücklich sein heißt für mich, bei dir sein – dir notwendig sein – dir unentbehrlich sein, und werde ich das denn nicht werden, wenn du doch niemand anders hast?‘


Und nicht viele Wochen später stand ich mit Annies Mutter an einem stillen klaren schönen Tag am Strande. Wir sahen beide dem Schiffe nach, welches das eben getraute Paar übers Meer führte – unter eine heißere Sonne, von der wir hoffen durften, daß sie dem gelähmten Falken die Flugkraft wieder beleben werde.

Das Schiff schien am Horizont zu stehen – es wurde kleiner – und verschwand – da führte ich die alte Frau langsam vom Strande zurück in ihr einsames Haus.

,So!‘ sagte ich, ,nun wollen wir beiden Alten uns miteinander trösten und uns auf die Briefe freuen, die wir bekommen werden. Wie gut für mich, daß ich Sie hier habe – ich werde Sie sehr viel beanspruchen, wir haben ja beide ein Stück von unseren Herzen da mit hinaussegeln lassen!‘

,Sie guter treuer Freund!‘ sagte die alte Frau und faßte meine Hand, ,wenn es ein Glück auf Erden oder im Himmel giebt, da muß es Ihnen werden!‘

,Nein,‘ sagte ich mit tiefstem Ernst, ,nein, nicht mir, teuerste Freundin nicht mir! Aber dem tapferen Kinde, das da seiner schweren Aufgabe entgegenzieht, und das Gott segnen möge!‘“