Die Vierlande
Die Vierlande.
Der Fremde, der Hamburg einen Besuch abstattet, pflegt wohl dem berühmtesten Punkte der näheren Umgegend, Blankenese, einige Stunden zu schenken, im übrigen aber hegt man keine allzu optimistische Ansicht von den Reizen, die Hamburgs Umgegend etwa aufweisen könnte.
„Flaches Land, teils fruchtbar, teils nicht, mit Feldern, Bauernhäusern, Bauern – worin sollte das wohl von dem Durchschnittstypus einer norddeutschen Dorflandschaft abweichen? Blankenese – da ist doch ein Berg mit Aussicht, da ist malerische Abwechslung – aber da hinten, wo’s flach ist wie ein glattgehobelter Tisch – ja, was sollte da wohl los sein!“ So sprach zu mir ein Freund aus Süddeutschland, der in Hamburg auf Besuch war.
„Meinen Sie?“ erwiderte ich. „Schade, ich wollte Sie eigentlich gern zu einer kleinen Fahrt gerade in Blankenese entgegengesetzter Richtung bereden!“
„Schöne Rosen, meine Herren!“ redet uns plötzlich eine merkwürdige Frauensperson an, die auf der Treppenrampe eines vornehmen Hotels am Jungfernstieg dasitzt. Ein breitrandiger Strohhut mit steifen schwarzen Rückenschleifen bedeckt ihr Haupt, ein mit Goldstickerei und Silberschmuck geziertes Mieder umschließt ihre Brust, ihr dunkler Rock hat auffallende steife Glockenform. – „Eine Vierländerin,“ antworte ich auf die Frage, wer das sei. – Wir schlendern zum Hopfenmarkt, Hamburgs größtem Gemüsemarkt, am Fuße der Nikolaikirche. „Die Frauen dort,“ erkläre ich, „die ganz vergraben sind unter einer Unzahl von Körben voll lockender Gemüse und Früchte, sind auch Vierländerinnen. Jener Bauer in Kniehosen, dunklem Wams mit Silberknöpfen und stattlichem Cylinder gehört dazu. Prachtvolles Obst, nicht wahr? Diese Erdbeeren und Kirschen, diese Johannis- und Stachelbeeren – sehen Sie, auch Pfirsiche sind da. Ja, Vierlanden! In dem gesegneten Landstrich soll’s wohl gedeihen, das ist das reine Paradies! Wohl gemerkt, auch ein künstlerisch hochinteressantes Land, prachtvolle Kirchen, volkstümliche Kunst, malerische Architekturen und Landschaften!“ –
Ob es weit dahin sei, fragt mein Gast. „O nein, mit der Bahn eine halbe Stunde oder mit einem Dampfer zwei und eine halbe.“ – Ob wir nicht einmal dorthin könnten? „Ei gewiß, haben Sie denn Lust? Ja? Das ist ja herrlich, dann habe ich Sie nun auf dem Punkte, wo ich Sie haben wollte! Auf der Eisenbahnfahrt und unterwegs auf dem Marsche von der Station Bergedorf nach Kurslak erzähle ich Ihnen ein wenig im voraus von den Vierlanden.“ …
Zur Zeit Heinrichs des Löwen war’s, da kamen aus den Niederlanden, wo der Mensch gelernt hatte, dem Wasser zum Trotz aus überfluteten Sümpfen fruchtbares Land zu machen, Ansiedler in die Gegend, die wir heute Vierlanden oder die Vierlande nennen. Wo sich jetzt fruchtbare Aecker, Gemüse-, Obst- und Blumenfelder ausdehnen, sah’s dazumal bös aus. Aus dem in der Urzeit riesenbreiten Strombette der Elbe hatten sich allmählich, gebildet durch niedersinkende Schwemmstoffe des Stromes, niedere, sumpfige Inseln erhoben, die, weil sie der Flut stetig ausgesetzt blieben, unbewohnbar waren. Das war ein Terrain, das den Ankömmlingen paßte, aus dem sie durch Deichbauten, durch Entwässerung und emsigen Fleiß bei der Bebauung des Bodens das gemacht haben, was heute die Vierlande sind: ein überaus üppiges Gemüse-, Obst- und Blumenland, eine der anmutigsten Gegenden Norddeutschlands!
Stolz sagen wir Hamburger: es ist Hamburgisches Land – unsere Vorfahren haben’s, wie auch Ritzebüttel, mit den Waffen in der Hand gewonnen. 1420 hat’s Herzog Erich IV von Sachsen-Lauenburg im Frieden von Perleberg an Lübeck und Hamburg, nachdem sie seine festen Schlösser Bergedorf und Ripenburg genommen, abgetreten. Bis 1868 waren die Vierlande „beiderstädtisch“, dann kamen sie durch Kauf in Hamburgs Alleinbesitz.
– Nun flink noch etwas rein Geographisches, denn gleich sind wir da! … Das Ländchen wird im Süden und Osten von der Elbe begrenzt, im Norden stößt es an das holsteinische Geestland, im Westen an die Hamburgischen Landschaften Bill- und Ochsenwärder. Zwei im 15. Jahrhundert am oberen Ende abgedämmte Elbarme, die Dove- und Gose-Elbe, welche eine bequeme Beförderung der Landeserzeugnisse zu Schiff nach der Stadt ermöglichen, zerlegen es in drei Streifen Ein hoher Elbdeich schließt es gegen die Elbe, niederere Deiche dämmen es gegen die toten Elbarme ab. Die Deiche sind zugleich, abgesehen von ein paar Querstraßen, die einzigen fahrbaren Wege. Vier Orte enthält das Ländchen, wie sein Name sagt: Kurslak, Alten- und Neuengamme und Kirchwärder. – So, und nun kann unser Streifzug beginnen!
Merkwürdige Straßen sind es, auf denen wir einherwandeln. Hoch erheben sich die aufgeworfenen Dämme über das Land, bald, wie z. B. große Teile des Elbdeiches, nackt, baumlos, bald an der einen Seite durch hochragende Bäume gefestigt, bald durch schattige Alleen geziert. Der stärkste Deich ist natürlich der Elbdeich, der, mit großen Steinen gepanzert, namentlich im Winter durch den Anprall des oberländischen Eises, sowie im [529] Sommer durch starke Fluten den heftigsten Angriffen ausgesetzt ist. Hinter dem Deiche liegen die Häuser, die älteren unten, so daß man bequem in die Fenster hinabgucken kann, die neueren in Deichhöhe. Ein mehr oder weniger breites Vorland trennt den Fuß des Deiches vom Flusse, je nach den Windungen des letzteren.
Weit schweift der Blick vom Deich aus über das gesegnete Land hin. Was, abgesehen von der überall zu Tage tretenden Ueppigkeit des Wachstums, den Vierlanden den Charakter der Eigenart giebt, ist die stark hervortretende Gemüse-, Obst- und Blumenzucht, ganz insbesondere die letztere. Die Vierländer sind Hamburgs Hauptblumenlieferanten. Wahre Blumenfelder giebt’s hier, auf denen alle beliebten Blumen, Rosen, Maiglöckchen, Nelken, Narzissen, Levkojen, Veilchen, auch hochmoderne, wie Chrysanthemen, Gladiolen etc., gezogen werden – ja, der Ausdruck „Blumenmeer“ ist bisweilen für dieses Gartenland am Platze, ein Vergleich, der um so besser paßt, als wir in dem köstlichen Duft, den dieses Meer aushaucht, ein Gegenstück zu der kräftigen Seeluft haben.
Rose und Maiglöckchen („Maibloom“) sind die Königinnen unter den Vierländer Blumen. Außer durch den Verkauf derselben an Hamburger Blumenläden und Blumenhändler weiß der kluge Vierländer aber auch noch auf andere lohnende Weise Gewinn aus ihnen zu ziehen: die Rose präpariert er für die Zwecke des Konditors und des Rosenölfabrikanten, die jungen Schößlinge der Maiblumen im Herbste versendet er ins Ausland, nach Rußland, England, ja nach Amerika und womöglich noch weiter, damit sie dort, künstlich schnell zum Aufblühen gebracht, die Liebhaber des reizenden Blümleins erfreuen können. „Maiblume“ hat er in Anerkennung dieser Bedeutung des Blümchens auch den Dampfer getauft, der Hamburg direkt mit dem Herzen seines Ländchens verbindet. Jeder Vierländer hat zum mindesten ein paar Beete mit Maiblumen bepflanzt; auf unserem unteren Bilde S. 528 sehen wir eine Familie mit dem Sortieren der Keime beschäftigt.
Unter den Früchten nimmt die Vierländer Erdbeere den ersten Platz ein. Vierländer Erdbeeren mit Milch – mit der Verheißung dieses Genusses kann man auf einem Hamburger Kindergesicht den Ausdruck der höchsten Seligkeit hervorrufen! – Aber die Johannis-, Stachel- und Himbeeren, die Kirschen, Pflaumen, Aepfel und Birnen, Pfirsiche, Aprikosen etc. zeichnen sich nicht minder aus. Ein Ausflug in die Vierlande zur Obstblüte ist ein köstlicher Genuß – nun aber erst einer zur Obstzeit selbst, wenn Bäume und Sträucher sich unter der Last ihrer Früchte beugen! Das ist ein Vorhaben, welches der Hamburger Jugend die Aussicht auf Freuden eröffnet, die sich nur durch das Wort „Paradies“ einigermaßen andeuten lassen!
Erfreut sich das Kinderherz am Obstsegen, so bewundert die Hausfrau die weiten Gemüsefelder mit ihren Schätzen über und unter der Erde – nein, wie das alles hier steht, es ist ein wahrer Staat! Hier diese türkischen Erbsen, dort die saftigen Gurken; da ein mächtiger Kürbis, dort ein weites, mit rotem Kohl bestandenes Feld!
Ein besonderer, aber nicht häufig vorkommender Zweig der Vierländer Gärtnerei ist die Zucht medizinisch wichtiger Pflanzen für Apotheken und Droguerien. Die Viehzucht ist im Lande verhältnismäßig gering; ein Tier allerdings war in früheren Zeiten auch ein besonderer Handelsartikel der Vierländer – der Blutegel. –
Aber wir sind ja wohl blind! Da laufen wir nun schon eine ganze Weile durchs Land und reden nur von dem, was gut schmeckt oder für die wackeren Bewohner recht einträglich ist – was für Materialisten sind wir doch! Als ob das alles wäre, was unser Interesse fesselt!
Haus – Garten, Haus – Garten –, wie in einem Gedicht lange und kurze Silben abwechseln, so wechseln überall in den Vierlanden jene beiden ab. Wir wandeln, wenn wir uns immer auf dem Deiche halten, stetig durch eine gleichmäßig bewohnte Straße. Von einer Breiteausdehnung der Vierländer Dörfer ist gar keine Rede. Eine einzige lange Straße, das ist der Typus des Vierländer, wie ja jedes Marschdorfes. Nur an wenigen Stellen, z. B. bei den Kirchen, findet sich eine Häusergruppe, die an ein Dorf in landläufigem Sinne erinnert, hier giebt es auch kleine Verkaufsläden und Wirtshäuser.
Da steht so ein stattliches Vierländer Bauernhaus vor uns! Ist es nicht ein prächtiger Anblick, dieses im allgemeinen den Typus eines echt niedersächsischen Bauernhauses wiedergebende, so behäbig und ehrwürdig dreinschauende alte Haus mit dem mächtigen Strohdache und den Pferdeköpfen als Giebelschmuck?
Es sind alte Burschen unter diesen Häusern, bemooste Häupter in des Wortes verwegenster Bedeutung. Die ältesten datierten Häuser besitzt Neuengamme, das älteste von ihnen trägt die Jahreszahl 1559 in dem Hauptbalken eingeschnitzt.
Entsprechend der Eigenart des Landes, wonach das zum Hause gehörige Land hinter dem Hause liegt, kehrt das Vierländer Bauernhaus seine „Grotdör“, die große Einfahrtsthür, dem Felde zu. Die der Straße zugewandte Seite besitzt überhaupt keine Thür, wohl aber befindet sich an den beiden mächtigen Langseiten je eine aus einzeln zu öffnendem Ober- und Unterflügel bestehende „Blankendör“, s. v. w. by-langs-dör, gleichbedeutend mit Seitenthür.
Prächtige Fachwerkbauten sind’s, diese alten Häuser (vgl. die obere Abbildung S. 528). Namentlich die der Straße zugewandte Seite ist reich geschmückt. Die Querbalken sind bisweilen schön geziert mit einfachen Ornamenten, das Werk altgeübter volkstümlicher Techniken, des Kerbschnitzens und der Ausgründung, nach [530] Motiven der deutschen Renaissance, mit frommen Sprüchen plattdeutscher Mundart etc. versehen. Die aus Ziegelsteinen gemauerten Flächen sind durch Anwendung roter Steine mit weißen Fugen in verschiedenen Mustern zusammengestellt, bisweilen sind die Figuren eines Hexenbesens oder einer Windmühle darin eingefügt. Das obere Stockwerk ist gegen das untere vorgekragt, hübsch geschnitzte Konsolen stützen es. Die Fenster der alten Häuser sind sämtlich klein; wo sich größere finden, sind sie nachträglich vergrößert worden.
Bisweilen liegt zwischen Straße und Haus ein kleiner Blumenvorgarten, der auch andere als die zu Handelszwecken angebauten Blumen aufweist, darunter mehrere uralte Lieblingsblumen des Landvolks, die sog. Bauernrose, die Strohblume etc. Immer aber befindet sich neben dem Hause ein durch eine dichte, niedere Hecke abgeschlossener Gemüse- und Blumengarten, dessen Beete säuberlich mit Buchsbaum umsäumt sind. Neben der Blankendör steht gar oft auch ein Aufwaschapparat mit einem originell geformten Geschirrtrockenständer (vgl. die obere Abbildung S. 529).
Es ist ein Jammer, wenn man sieht, wie auch hier immer mehr städtische Einflüsse den alten Bauernhaustypus verdrängen und an die Stelle seiner zur Umgebung so prächtig stimmenden ernsten Schönheit die Reizlosigkeit weißgestrichener, schiefergedeckter „moderner“ Häuser tritt, die mit unverstandenen, antik oder schweizerisch sein sollenden Schnörkeleien verunziert sind!
Noch andere merkwürdige Bauten giebt’s in „Veerlann“. Da sind zunächst ein paar eigentümliche, turmartige Kornspeicher aus dem 17. Jahrhundert erhalten, sodann treffen wir merkwürdige, in ihren Umrissen an siamesische Pagoden erinnernde Heuberge mit hoch oder niedrig zu stellendem Dache – endlich sind auch die vier alten Kirchen schon äußerlich ganz interessant. Der aus Holz erbaute Glockenturm, der nur niedrig ist, steht für sich neben dem eigentlichen, aus Natursteinen erbauten, mit hohem Ziegeldach gedeckten Gotteshause; stets umgiebt den Bau ein schön gehaltener Friedhof, auf den in Kurslak ein schmuckes, eigenartiges Eingangsthor führt.
Noch eines besonderen Hauses muß gedacht werden, des „Zollenspieker“, eines alten, ziegelgedeckten, festen Hauses an der Elbe, das, unter hohen alten Bäumen gelegen, einen beliebten Ausflugspunkt der Hamburger bildet. Es ist historisch von Interesse, einmal, weil hier, wo auch die alte Straße Lüneburg–Hamburg die Elbe überschritt, von Hamburg und Lübeck der sog. Eßlinger Elbzoll erhoben wurde, zweitens, weil hier 1620 Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg einen Einfall ins Land machte, aus dem er erst nach vier Wochen durch Hamburgische Truppen vertrieben werden konnte. –
Und nun wollen wir einmal ein Vierländer Haus besuchen!
Wir treten durch die Blankendör ein – „Vadder Claas“ giebt gern seine Erlaubnis, und „Mudder“ auch. Zu unserer Rechten liegen die „grote Deel“ und die Ställe. Zu unserer Linken steht im Hintergrund an der die Wohnräume verbindenden Wand der große deutsche Herd. Verschließbar ist er durch eine mit ausgesägtem Zierwerk schön verzierte Thür, an deren Innenseite allerlei Küchengeräte hängen. Links und rechts von ihm befindet sich je eine in die Wohnräume führende Thür.
Die „Diele“, von der ein Teil auf der unteren Abbildung S. 529 dargestellt ist, zeigt noch allerlei Bemerkenswertes: mächtige Schränke aus der Renaissance- und Rokokozeit, die jedem Museum zur Zierde gereichen würden, alte Truhen, Geschirrschränke mit altem Steinzeug und Messinggeschirr, einen Tisch mit Kugelfüßen, bunte Scheiben im Fenster – ein Vorgeschmack dessen, was unser im Staatszimmer harrt. Nebenbei bemerkt, ist die anderweitige Ausstattung der Diele mit aufgehäuften Körben voller Früchte, mit Speckseiten, Schinken und Würsten, die von der Decke herabhängen, auch nicht ohne Reiz.
Nun aber – „Vadder Claas“ hat uns schon so lange genötigt – treten wir in „de Stuv“ ein, „Mudder“ nennt sie noch mit dem älteren Worte „Döns“. – „Ah!“ entringt es sich dem Munde des Fremden – „das eine Bauernstube?!“
Die Wände (vgl. obenstehende Abbildung) sind teils mit blaubemalten Kacheln belegt, zum größeren Teil aber, wie auch die Thür, getäfelt und zwar in Holzintarsia, wozu noch schöne Profilierungen, Gesimse, Holzschnitzereien u. dgl. kommen. Sterne, Blumen und Vögel bilden die Motive der in die blitzenden dunklen Holzflächen eingelegten Ornamente. Auch die Decke ist bisweilen holzgetäfelt oder aber mit Rokokostuck geschmückt. Neben der Thür ist ein Glasschrank mit altem Porzellan angebracht, daneben steht eine hohe, intarsiageschmückte Standuhr; weiterhin blicken wir in einen Alkoven, der saubere, mit schön gestickten Kissenüberzügen geschmückte Betten sehen läßt. Ein mächtiger, schöngeformter, von der Diele aus heizbarer blaubemalter Kachelofen, auf dem allerlei biblische Motive dargestellt sind, steht an der Herdwand. An der Fensterwand zieht sich eine Bank mit originellen Seitenlehnen hin; davor steht ein schöner Tisch mit Kugelfüßen. Die Fenster selbst [531] zieren schöne weiße Gardinen und blühende Pflanzen. Neben dem Ofen und hier und da in der Stube stehen außerordentlich schöne, mit Drechslerarbeit und schönen Blumenintarsien reich und doch äußerst vornehm gezierte Stühle, zu den schönsten gehörig, die es überhaupt giebt! Jene beiden besonders schönen Stühle mit Armlehnen und in schwungvoller Rokokoschreibschrift eingelegten Namenszügen sind die sogenannten „Brautstühle“, mit denen sich die Brautleute beschenken. Ebenso schön ist die über und über mit Intarsien geschmückte große Truhe, in der man die Kleider und Schmucksachen des Hauses verwahrt. Auch die Kissen auf Stuhl und Bank verdienen Beachtung; „Mudder“ holt noch ein paar Staatskissen hervor; einige sind aus bunten Tuchflecken in schönen geometrischen Mustern zusammengesetzt, andere weisen prächtige Blumenstickereien auf. – Eine „Bauernstube“ ist es, deren sich der reichste Hamburger Handelsfürst schier nicht zu schämen brauchte, wie denn in der That in vornehmen Hamburger Häusern bisweilen eine solche alte Vierländer Stube nachgebildet ist und als gemütliche Prunkstube dient!
Das Allerbeste aber ist, daß außer Ofen und Uhrwerk (ersterer entstammt der hochentwickelten Ofentöpferei Hamburgs im 18. Jahrhundert) alles im Lande selbst von bäuerlichen Künstlern hergestellt ist! Ist es nicht erstaunlich, welch feiner Geschmack und welche Eigenart insbesondere sich in all diesen Bauernkunsterzeugnissen ausprägt? Ist es nicht bedauerlich, daß all diese Kunstfertigkeit sang- und klanglos ausstirbt?
Auch die Kirchen Vierlandens zeigen einen wahren Ueberfluß eigenartiger Bauernkunstwerke. Altar und Kanzel sind zwar städtische Erzeugnisse der Barock- und Empirezeit, die Kronleuchter solche der Renaissance, die Taufbecken der Gotik – alles andere aber ist echt Vierländer Eigenkunst. Die Seiten der Sitzbänke zeigen in bunter Abwechslung prächtig geschnitzte Renaissanceornamente, Intarsien im Blumengeschmack der Vierlande, Kerbschnitzereien, derbe Blumenmalereien etc. Schöne Kissen, aus Flicken zusammengesetzt oder bestickt, liegen auf den Bänken, kleine Intarsiakästchen enthalten das Gesangbuch. Auf den Rücklehnen oder Seitenwänden der Bänke erheben sich sodann ganz eigenartige, den Vierlanden, wie’s scheint, ureigene Huthalter. Sie sind aus Eisen geschmiedet, zum Teil in den Formen der Renaissance oder des Rokoko, auch des Empire, zum Teil aber zeigen sie eigenartige, auf Grundlage der Vierländer Blumen entwickelte Ornamente. Fast ausnahmslos sind sie derb bunt bemalt. Für die Emporensitze sind einfachere Huthalter an der bisweilen blau mit goldenen Sternen bemalten Decke angebracht. Besonders wenn zur Erntezeit die Kirche mit Blumen reich geschmückt ist, vereinigen sich die hohen, barocken Altäre, die biblischen Bilder an den Brüstungen der Emporen, die Kanzel, die Kronleuchter, die bunten Bänke, die originellen Huthalter zu einem höchst malerischen, farbenreichen Gesamtbilde – und dazu denke man sich die Kirche gefüllt mit Vierländern in ihrer eigenartigen Tracht. Unser unteres Bild S. 530 zeigt das prächtige Innere der Kirche in Altengamme.
Auch die Vierländer Tracht zeugt von der Kunstbegabung des Völkchens. Der Volksschlag ist mehr stämmig untersetzt als groß; markante Züge weisen die Gesichter der Männer auf, während unter den Mädchen oft feinere Züge zu beobachten sind. Die Sprache ist ein etwas eigen gefärbtes Plattdeutsch – man sagt sogar, die Bewohner der einzelnen Kirchspiele vermöchten sich an einzelnen Besonderheiten der Sprache zu erkennen. Die Namen erinnern vielfach an holländisch-friesische: Gesche, Wöbke, Becke, Ancke, Etsche, Mette, Barber sind Mädchenvornamen, Ties, Marten, Theis, Harmen, Hencke, Heien Männervornamen.
Die Landschaften unterscheiden sich auch etwas in der Tracht, und zwar durch Farbennuancen der Strümpfe bei den Mädchen, der Wämser bei den Männern. Namentlich die Frauentracht (s. nebenstehende Abbildung) ist jedem, der Hamburg besucht hat, bekannt: der charakteristische Strohhut mit den Windmühlenflügeln ähnelnden, schwarzen steifen Schleifen, der prächtige Miederschmuck, die kurzen, gefältelten Glockenröcke u. s. w. setzen eine der eigenartigsten deutschen Volkstrachten zusammen. Wenn man in den Vierlanden einmal Gelegenheit hat, den gesamten Schmuck und die Staatsgewänder einer alten Bäuerin zu betrachten, so muß man billig staunen über die Kostbarkeit und Schönheit der Halsketten, des Brustschmucks, der Hemdspangen, der Ringe, der Schnallen u. s. f., Arbeiten von Goldschmieden im Städtchen Bergedorf oder im Lande selbst, zumeist Silberfiligran in reizvollster Ausführung. Auch die von den Bäuerinnen selbst gefertigten Gold- oder Silberstickereien des Mieders, die Buntstickerei der Schürzen zeugen von bewunderungswürdiger Kunstfertigkeit und kräftig eigenem Geschmack des Völkchens.
Die Vierländer Männertracht (s. nebenstehende Abbildung) weist außer silbernen Knöpfen an Wams und Weste, zu denen ehedem noch silberne Hutschnallen traten, keinen Schmuck auf, sieht indes trotzdem oder gerade dadurch sehr stattlich aus.
Beachtenswert ist, daß die Vierländer, obschon sie heute mit vollen Segeln in das Fahrwasser der Nachahmung städtischen Wesens steuern, äußerst stolz auf ihre heimische Kunst sind; mit großem Behagen lauschen sie dem Lobe, das man derselben zollt.
Ich glaube kaum, daß ein Fremder, der unter sachkundiger Führung einmal einen Streifzug durch unsere Vierlande macht, es bereut, seine Zeit dem eigenartigen, schönen Ländchen gewidmet zu haben – im Gegenteil, die Erinnerung an die Schönheiten der Landschaft, an die Eigenart der künstlerischen Erzeugnisse der Bevölkerung wird eine der angenehmsten Erinnerungen an Hamburg überhaupt ausmachen! – Er wird’s dann verstehen, weshalb jeder Hamburger auf die Vierlande stolz ist!