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Oberschlesische Zustände im Jahre 1848

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Textdaten
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Autor: Max Ring
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Titel: Oberschlesische Zustände im Jahre 1848
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 540–544
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Oberschlesische Zustände im Jahre 1848.

Ein Erinnerungsblatt von Max Ring.

Seit dem Jahre 1840 lebte ich als praktischer Arzt in Gleiwitz, dem Mittelpunkt des oberschlesischen Bergbaus und Hüttenwesens, wo ich hinlängliche Zeit und Gelegenheit fand, Land und Leute genauer kennenzulernen. Auf meinen häufigen Berufsreisen und Ausflügen in der Umgegend von Gleiwitz führte mich mein Weg durch öde Sandflächen, vorüber an schlecht oder nachlässig bestellten Feldern, an verdorrten Kartoffeläckern und düsteren, einförmigen Kiefernwäldern, durch schmutzige Dörfer, mit jämmerlichen Strohdächern auf den verfallenen Häusern, in denen der in Armut verkommene Landmann ein erbärmliches Leben führte, in beständigem Kampf mit Not und Sorge. Plötzlich aber überraschte mich das hohe Schloß eines reichen Gutsherrn oder das großartige Hüttenwerk eines angesehenen Industriellen, reizende Villen, von geschmackvollen Gärten und Anlagen umgeben. Denn in der Tiefe, unter dem dürren, unfruchtbaren Boden verborgen, ruhten die unermeßlichen Schätze der Erde, die schwarzen Diamanten der unerschöpflichen Kohlenschichten, die mächtigen Erzlager, Eisen und Zink, die den glücklichen Besitzern ein fürstliches Einkommen sicherten. Zahlreiche Bergleute in schwarzen Leinwandkitteln, mit dem Schurzfell auf dem Rücken und der Grubenlampe am Gürtel, zogen schon am frühen Morgen an mir vorüber, tauchten gleich nächtigen, bleichen Schatten auf und nieder und verschwanden wieder in der unheimlichen Tiefe, welche neben ihren Schätzen die tückischen Geister der schlagenden Wetter, die erstickenden Gase und die wilden Gewässer barg.

Nicht selten wurde meine ärztliche Hilfe für die Verunglückten in Anspruch genommen, die durch eine verderbliche Explosion, durch Einsturz des Gesteins oder den Durchbruch des Wassers zu Schaden an Leib und Leben gekommen waren. Aus dem finstern Schacht wurden die Leichen oder die mit zerschmetterten Gliedern noch lebenden Arbeiter emporgewunden, erwartet von jammernden Frauen, entsetzten Kindern, von den bleichen Genossen und Freunden, die früher oder später ein ähnliches Schicksal ereilen konnte.

Neben den niedrigen Gebäuden der Bergleute ragten die mächtigen Hüttenwerke mit ihren riesigen Schornsteinen empor. Der [542] wunderbare Eindruck wurde noch gesteigert, wenn am Abend zahllose Flammen und Flämmchen den Horizont meilenweit beleuchteten und in der Dunkelheit das blendende Schauspiel einer glänzenden Illumination hervorzauberten. Hier schlug die rote Lohe der kolossalen Hochöfen zum nächtlichen Himmel auf, gleich dem feuerspeienden Krater eines mächtigen Vulkans, aus dessen Innern das geschmolzene Eisen wie ein glühender Lavastrom hervorschoß; dort blitzten die grünen und bläulichen Lichter des kochenden Zinks wie ein buntes Feuerwerk auf, während die angezündeten Kohlenmeiler, die in Coaks verwandelt werden sollten, weithin wie brennende Dörfer und Städte in düstrer Glut dem überraschten Wanderer erschienen. Rauschende Wasserkräfte, sausende Windgebläse und riesige Dampfmaschinen arbeiteten unablässig, fachten die lodernden Flammen an, schwangen die centnerschweren Eisenhämmer, drehten die ungeheuren Walzen und Räder, welche das spröde Metall, die zähen Eisenblöcke zu dünnen Platten preßten oder zu starken Schienen streckten und schweißten, auf denen die Lokomotiven im Fluge dahinsausen.

Zwischen diesen Gruben, Hütten und Lagerplätzen bewegten sich in unabsehbaren Reihen die Karren und primitiven Fuhrwerke der sogenannten „Vekturanten“, die das Erz, die Kohlen und die gewonnenen Erzeugnisse fortschaffen und verfahren. Elende Wagen von höchster Einfachheit, mit kleinen, zottigen Pferden bespannt, schleppten sich mühsam auf den vernachlässigten Landwegen oder ausgefahrenen Chausseen fort. Ausgestreckt auf den schwerbelasteten Wagen leitete der Landmann das magere, halbverhungerte Gespann, schlafend oder halbberauscht, da das leicht verdiente Geld ebenso schnell in den überall an der Straße liegenden Schenken vertrunken und verjubelt wurde, während der Acker unbestellt oder den Frauen und Kindern zu notdürftiger Bestellung überlassen blieb und die vernachlässigte Wirtschaft notwendig zu Grunde ging.

Ueberall fand ich auf meinen Reisen reges Leben und Treiben neben Trägheit und Verkommenheit, unermeßlichen Reichtum und furchtbare Armut, glänzenden Luxus und unsägliches Elend, raffinierte Kultur und rohe Barbarei. Dieselben Gegensätze, die das ganze Land mir zeigte, spiegelten sich auch in dem Charakter der Bewohner. Wie dies so oft bei Grenzbevölkerungen zu beobachten ist, hatte die oberschlesische die Fehler und Schwächen der beiden in ihr vereinigten Rassen; die Berührung des deutschen mit dem slavischen Element hatte auf beide schädlich gewirkt und ihre Entwicklung aufgehalten.

Von Natur gutmütig und begabt, war das arme Volk jener Gegend durch Jahrhunderte dauernde Sklaverei, Unterdrückung und Vernachlässigung demoralisiert und erniedrigt. Seine Hauptfehler waren eine fast unüberwindliche Trägheit, Unwissenheit, Sorglosigkeit und grenzenloser Leichtsinn. Unter dem Druck der auf ihm lastenden Leibeigenschaft und Erbunterthänigkeit, die erst die neuere Gesetzgebung aufgehoben hatte, mußten mit der Zeit alle besseren Keime verkümmern und zu Grunde gehen.

Selbst der Segen der ihm geschenkten Freiheit, die Folgen der durch das Gesetz aufgehobenen Erbunterthänigkeit vermochten nicht, das traurige Geschick des Landmanns wesentlich zu verbessern, ja sie verschlimmerten anfänglich seine erbärmliche Lage. Bis dahin war der Gutsbesitzer wenigstens verpflichtet und interessiert, für ihn Sorge zu tragen. Er mußte ihn zur Not ernähren, ihn mit dem unentbehrlichsten Viehstand und Ackergeräten versehen und die über seinem Kopf zusammenstürzende Hütte ihm wieder aufbauen lassen.

Das Gesetz hatte den Bauer frei gemacht und auf seine eigene Kunst verwiesen. Aber unter dem vorausgegangenen langen Druck hatte er den Gebrauch derselben verloren, wie der gebrochene und eingeschnürte Fuß das Gehen verlernt, selbst wenn er wieder geheilt wird. Da der Gutsherr nach wie vor die Polizei verwaltete und durch den von ihm angestellten Justitiar die Patrimonialgerichtsbarkeit ausübte, herrschte auf dem Lande noch immer eine aller Beschreibung spottende Willkür und Rechtsunsicherheit. Die Fälle, daß Leute zu Tode geprügelt wurden, zählten damals keineswegs zu den Seltenheiten, und diese Verbrechen kamen nur ausnahmsweise zur Anzeige und führten noch seltener zur Bestrafung der Schuldigen, da die Furcht zu groß und die Herren zu mächtig waren. Ebenso stand der Bauer in den vielfachen Civilprocessen und Verhandlungen wegen der Ablösung der Zinsen und der Robot dem Grundbesitzer hilf- und ratlos gegenüber.

So erschien mir zu der Zeit, als ich noch in Oberschlesien lebte, das Volk im gewissen Sinne noch immer der weiße Sklave des Gutsbesitzers, obgleich die Leibeigenschaft und Erbunterthänigkeit schon längst aufgehoben und geschwunden war. Unter diesen Verhältnissen rückte das Jahr 1847 heran und mit ihm jene traurige Katastrophe, die berüchtigte oberschlesische Hungersnot und der damit verbundene Flecktyphus.

Die eigentümliche Lage des Landes und der Bevölkerung, die ungünstigen klimatischen Einflüsse, wiederholte Mißernten, schlechte und mangelhafte Ernährung und verkehrte oder unzureichende Maßregeln trugen dazu bei, einen Notstand hervorzurufen, wie er schrecklicher nicht gedacht werden konnte. Die Hauptschuld jedoch wurde nicht mit Unrecht dem alten Regierungssystem zugeschrieben, das alle Warnungen und Mahnungen der besser Unterrichteten nur als Zeichen des „beschränkten Unterthanenverstandes“ und liberaler Unzufriedenheit ansah und die laut um Hilfe rufende Stimme der Presse durch die bestehende Censur erstickte. Schon in den letzten Monaten des Jahres 1847 sah man die Vorboten des drohenden Unheils. Scharen von entlassenen und brotlosen Arbeitern suchten vergebens eine Beschäftigung, während Frauen und Kinder mit hohlen Wangen, in Lumpen, fast nackt, bettelnd von Dorf zu Dorf zogen und sich um den Abfall der Küchen, selbst um rohe Kartoffelschalen stritten, um ihren Hunger zu stillen. Hier und da fand man am Wege, im Walde oder auf freiem Felde die Leiche eines der Not erlegenen Unglücklichen. Infolge des Mangels und der schlechten Ernährung traten zahlreiche gastrische Fieber und Ruhren auf, aus denen sich allmählich der Typhus entwickelte, der nun schnell um sich griff. Bald lagen Tausende danieder, in einzelnen Dörfern mehr als die Hälfte der Einwohner.

So erkrankten im Kreise Pleß im Jahre 1847 nach amtlichen Berichten 19539 Personen, von denen 2292 starben, im Rybniker Kreise gab es Ortschaften, wo nur zwei oder drei Häuser von der Seuche verschont blieben; ganze Familien verfielen dem Tode, Hunderte verwaister, nackter, brotloser Kinder irrten von Dorf zu Dorf, weil sie, der Eltern beraubt, kein Obdach, keine Heimat, keine Nahrung finden konnten. Nicht selten mangelte es an Brettern zu Särgen für die Leichen, die in Lumpen gehüllt oder nackt zum Kirchhof auf Handschlitten oder Schubkarren geschleift wurden. Dabei fehlte es an menschlicher Hilfe. Schwarze Tafeln vor den Thüren der durchseuchten Hütten scheuchten das Mitleid von der Schwelle fort und verbreiteten Schrecken und Entsetzen. Die Zahl der heimischen Aerzte reichte nicht mehr hin, und viele von ihnen verfielen der Ansteckung, erkrankten und starben, während die furchtsamen Behörden sich fern hielten und ihre Pflicht versäumten. Vater und Mutter, Kinder und Säuglinge, eine ganze Generation rang ungesehen und ungehört mit dem erbarmungslosen Tode, in dumpfer Verzweiflung oder stumpfer Resignation. Nach und nach verstummten die Klagen, schwieg das Röcheln der Sterbenden, bis alles still war. Ich selbst fand bei meinem Besuche eines Dorfes in einer Hütte auf dem bloßen Fußboden, ohne Decken, zwischen fünf Kranken zwei bereits Verstorbene, die der kaum vom Typhus genesene Vater zu schwach war fortzuschaffen, während fremder Beistand nicht zu erlangen war.

Endlich erwachte die apathische Regierung aus ihrer bisherigen Unthätigkeit; zugleich weckte die furchtbare Not die schlummernde Menschenliebe, Mitleid und Erbarmen. Aus allen Teilen der Monarchie strömten Aerzte, Krankenpfleger, barmherzige Brüder und Schwestern herbei. Die wohlhabenden Gutsbesitzer der heimgesuchten Kreise eröffneten Volksküchen für die Hungernden; Geld, Nahrungsmittel und Kleidungsstücke wurden gesammelt und verteilt, für die Kranken Lazarette eingerichtet, wozu meist die nicht mehr besuchten und leerstehenden Schulstuben benutzt wurden. Die Privatwohlthätigkeit brachte die größten Opfer, und Männer wie der junge Rudolf Virchow und der Prinz Biron scheuten nicht die Gefahr der Ansteckung und selbst nicht den Tod, dem der letztere leider erlag.

Während dieser Vorgänge war in Paris jene Revolution gegen Louis Philipp ausgebrochen, deren Rückwirkung auf [543] Deutschland sich mit der Schnelligkeit des Blitzes verbreitete und bis zu unserem verlorenen Winkel erstreckte. In Wien wurde Metternich und sein schändliches System gestürzt, in Berlin auf den Barrikaden gegen das absolute Regiment, den Polizeistaat, die Unterdrückung der Volksrechte, für die Freiheit und die Einheit Deutschlands erfolgreich gekämpft. Die Nachricht von dem Siege über die damals herrschende Reaktion erfüllte alle Herzen mit einem Freudenrausch, einem Wonnetaumel. Ein Völkerfrühling schien gekommen, ein Ostermorgen der Freiheit, ein Erwachen des ganzen Volkes zu einem neuen, schöneren Leben. Auch das so schwer heimgesuchte und in der politischen Bildung zurückgebliebene Oberschlesien vernahm die frohe Botschaft mit einem jeder Beschreibung spottenden Jubel. Ich selbst war tief ergriffen und fortgerissen von der allgemeinen Bewegung.

Mit einigen gleichgesinnten Freunden eilte ich am 20. März nach dem Gleiwitzer Bahnhof, wo eine wogende Menschenmenge voll banger Erwartung stand, um Näheres über die Gerüchte von einem blutigen Straßenkampf in Berlin zu erfahren. In höchster Aufregung stürzten wir dem von Breslau kommenden Morgenzug entgegen. Hier bot sich unseren Augen ein überraschendes Schauspiel: von der dampfenden Lokomotive und sämtlichen Waggons wehten die verpönten schwarz-rot-goldnen Fahnen, alle Passagiere und selbst die Schaffner waren mit der bisher verbotenen deutschen Kokarde geschmückt. „Sieg, Sieg!“ schallte es von hundert Lippen aus allen Fenstern der Wagen, und „Sieg, Sieg!“ jauchzte die begeisterte Menge. Man ließ kaum den Passagieren so viel Zeit, um auszusteigen und in die Restauration zu treten. Hier mußten sie erzählen, und atemlos lauschten wir den Berichten von den Thaten des Volks in Berlin, wie es durch seinen Widerstand, seine Aufopferung und Tapferkeit den Absolutismus bezwungen und das verhaßte Regierungssystem gestürzt.

Diese Mitteilungen, eine Mischung von Dichtung und Wahrheit, wurden mit unbeschreiblichem Enthusiasmus aufgenommen und erhöhten noch die freudige Aufregung. Wir stimmten das bisher verbotene Lied vom Deutschen Vaterlande an und zogen dann Arm in Arm, singend, nach der Stadt zurück, wo sich die Nachricht von der siegreichen Revolution wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus verbreitete. Bald bestätigten die ausführlichen Berichte der Zeitungen, die man sich aus den Händen riß, die immer noch von einzelnen bezweifelte Kunde. Doch die Mehrzahl war von der Wahrheit überzeugt und überließ sich der maßlosesten Freude, voll Hoffnung, daß die neue Freiheit aller Not und allen Beschwerden, die man erlitten, ein Ende machen würde. Die bedrückten Herzen schlugen leichter, die Augen strahlten heller, und die Geister träumten von einer schöneren und besseren Zukunft.

Selbst die Natur schien den allgemeinen Jubel zu teilen und sich mit den glücklichen Menschen zu freuen. Nie war der Monat März so schön und warm in unserem rauhen nordischen Klima erschienen als im Jahre 1848. Die Sonne leuchtete klar und mild an dem blauen, wolkenlosen Himmel, die Erde schmückte sich mit frischem Grün wie zu einem Fest, die Obstbäume blühten, die Veilchen dufteten und die Vögel sangen um die Wette mit den frohen Menschen. Ueberall ein Keimen und Drängen, ein Knospen und Blühen, ein Leben und Schaffen in den Wäldern, auf den Feldern, in den Herzen und in den Geistern! Die ganze Welt schien über Nacht verwandelt, das Leben veredelt, alle Schranken und Hindernisse geschwunden, eine goldene Zeit gekommen. Das schwere Leid war vergessen, die böse Krankheit gewichen, und selbst der arme, bedrückte Landmann freute sich beim Anblick der jungen, hoffnungsvollen Saaten. Ein Bruderband umschlang die Herzen; Adel und Bürger, Besitzer und Proletarier reichten sich die Hände! Der Unterschied der Stände, der Rassen und Religionen schien gefallen, und jedes derartige Vorurteil erregte nur noch Spott oder Mitleid.

Doch nur zu schnell sollten diese ersten schönen Tage der jungen Freiheit schwinden, und dem beglückenden Rausche sollte ein trauriges Erwachen folgen. Bald entbrannte von neuem der Kampf der Parteien und Interessen, der Nationalitäten und Konfessionen, nur noch heftiger und leidenschaftlicher als zuvor. Obgleich die politische Bildung des Kreises nur gering war, fehlte es in der Stadt nicht an Volksversammlungen, an Rednern und Agitatoren, an konservativen und freisinnigen Elementen, die sich feindlich gegenüberstanden. Die dadurch hervorgerufene Aufregung wurde noch durch die von dem neuen Ministerium ausgeschriebenen Wahlen zu dem konstituierenden Landtag in Berlin und zu dem Deutschen Parlament in Frankfurt a. M. gesteigert. Die Parteien bildeten sich; auf der einen Seite die adligen Grundbesitzer, die reichen Industriellen, das Militär, ein großer Teil der Beamten, die katholische Geistlichkeit und die Lehrer des Gymnasiums; auf der anderen Seite der nur schwach vertretene höhere Bürgerstand, freisinnige Rechtsanwälte, Aerzte, Kaufleute, Hüttenmänner und Handwerker, die von der Revolution eine Verbesserung ihrer Lage forderten und erwarteten.

Da Urwahlen angeordnet waren, lag die Entscheidung hauptsächlich in den Stimmen des durch seine überwiegende Zahl den Ausschlag gebenden Landvolks, das sich vorläufig noch ganz passiv zu verhalten und sich um die künftige Verfassung wenig oder gar nicht zu kümmern schien. Was ging auch den oberschlesischen Bauern die Freiheit der Presse, die Abschaffung der Censur und das Versammlungsrecht an? Er dachte nur an die Befreiung von seinen Lasten, an die Verminderung seiner Abgaben, an die Aufhebung der dem Grundherrn schuldigen Ablösung, an seinen Vorteil und seine Interessen.

In der Stadt wurden Beratungen veranstaltet, Reden gehalten, Kandidaten aufgestellt und angehört. Die konservative Partei entschied sich für den Landrat des Kreises und rechnete dabei mit Sicherheit auf die Majorität des unterthänigen, der Obrigkeit bisher gehorchenden Landvolks; wogegen die Freisinnigen sich über die Kandidatur eines angesehenen und beliebten Rechtsanwalts einigten, der auch auf den Dörfern eine bedeutende Praxis besaß und die Rechte der Gemeinden wahrgenommen und mit Erfolg vertreten hatte. Beide Parteien suchten für sich die Gunst und die Stimmen der jetzt so wichtigen Bauern durch alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel zu sichern, stießen aber auf ein unter scheinbarer Ergebenheit verhülltes Mißtrauen.

Auch die so gleichgültig und indifferent sich stellenden Bauern beschäftigten sich im stillen mit den Wahlen, saßen abends bei der Branntweinflasche im „Kretscham“, ihrer Schenke, steckten die Köpfe zusammen und besprachen sich heimlich über die geeigneten Kandidaten. Das stand bei allen fest, daß sie keinen Herrn, selbst nicht den Landrat, haben wollten, sondern einen aus ihrer Mitte, der ihre Klagen und Beschwerden, ihre Wünsche und Forderungen teilte und von dem sie glaubten, daß er ihre Sache vertreten, ihre Rechte und Vorteile wahrnehmen werde. Vor allem mußte er ein geriebener Schlaukopf sein und den vornehmen Herren gewachsen.

Als ein solcher Mann erschien ihnen der Häusler Kiolbassa, ein kleiner, aber verschmitzter Bauer, der in seiner Gemeinde das große Wort führte, in allen verwickelten Angelegenheiten guten Rat wußte, verschiedene Prozesse mit der Gutsherrschaft geführt und gewonnen hatte, mit den Gesetzen und Advokatenkniffen gut Bescheid wußte und, sozusagen, mit allen Hunden gehetzt war. Außerdem war Kiolbassa im ganzen Kreise bekannt, zählte viele Freunde und Anhänger, bei denen er in hohem Ansehen wegen seiner Klugheit stand und denen er allen jetzt die größten Versprechungen machte. – In einer zu diesem Zweck veranstalteten Versammlung der Wahlmänner verpflichtete sich Kiolbassa feierlich, nur für die Interessen seiner Wähler zu stimmen, ihnen jeden möglichen Vorteil zuzuwenden, sie von allen drückenden Abgaben zu befreien und die Ansprüche der Herren mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen; worauf er fast einstimmig zum alleinigen Kandidaten für den konstituierenden Landtag ernannt wurde, während man für das Parlament in Frankfurt sich für den Premierlieutenant v. Bodien erklärte, der als Regierungskommissar während der Typhusperiode die Verteilung von Lebensmitteln und Saatkartoffeln geleitet und sich dadurch dem Landvolk vorteilhaft empfohlen hatte.

Groß war daher die Ueberraschung und Enttäuschung, als am Wahltage weder der konservative Landrat, noch der freisinnige Rechtsanwalt die Mehrheit der Stimmen erhielt, sondern der des Lesens und Schreibens unkundige Bauer Kiolbassa und der Premierlieutenant v. Bodien, letzterer ein geistreicher Lebemann, der sich weniger durch parlamentarische Tüchtigkeit als durch sein Talent, Karikaturen zu malen, auszeichnete, wodurch er die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zog [544] und von dem witzliebenden Friedrich Wilhelm IV zum Flügeladjutanten ernannt wurde. Kiolbassa aber wanderte in seinem besten Sonntagsstaat, dem langen blauen Rock mit großen Metallknöpfen und der dicken Pelzmütze, beladen mit einem Leinwandsack, in dem er vorsichtig einige große Brote, einen fetten Schinken, Würste, Käse und Buttertöpfe schleppte, nach Berlin, um als Abgeordneter an dem Verfassungswerk fleißig mitzuarbeiten. Bescheiden und bedürfnislos, mietete er in der Hauptstadt ein billiges Kämmerlein und lebte von seinen mitgebrachten Vorräten, seine Diäten als Abgeordneter sparend, da er, wie wenigstens damals vielfach behauptet wurde, seinen Wahlmännern versprochen hatte, das so zurückgelegte Geld mit ihnen brüderlich zu teilen.

Sein Umgang beschränkte sich auf einige ebenfalls auf dem Lande gewählte Kollegen von gleicher Bildung und Fähigkeit. Die Sitzungen des Landtags besuchte er mit der größten Pünktlichkeit und bemühte sich eifrig, den Verhandlungen zu folgen, was ihm bei seiner mangelhaften Kenntnis der deutschen Sprache doppelt schwer fallen mußte. Zum Glück fand er einen polnisch sprechenden Abgeordneten der linken Seite, der sich seiner freundlich annahm, ihm das gewünschte Verständnis für alle ihm dunklen Fragen beibrachte und ihn mit der freisinnigen Partei auch stimmen ließ. So geschah es, daß der würdige Kiolbassa bis zu der gewaltsamen Auflösung des konstituierenden Landtags, ohne zu wissen, was er that, seinen Sitz auf der Linken einnahm, mit ihr stimmte und für einen entschiedenen Liberalen galt. Mit dem ersparten Geld in der Tasche kehrte der würdige Abgeordnete in die Heimat zurück, wo er in einer zu diesem Zweck berufenen Versammlung seinen Rechenschaftsbericht ablegte, aber statt des erwarteten Beifalls und Triumphs nur bittere Vorwürfe, grobe Redensarten, böse Schimpfworte und sogar, wie die Fama berichtete, eine Tracht derber Schläge fand, weil er die von ihm versprochene und geforderte Teilung seiner zurückgelegten Diäten den alten Freunden und Wahlmännern des Kreises hartnäckig verweigerte. Unter solchen Verhältnissen verzichtete Kiolbassa auf jede fernere parlamentarische Thätigkeit und zog sich in die Dunkelheit des Privatlebens zurück.

So sah es im Jahre 1848 in Oberschlesien aus; die viel geschmähte und verrufene Revolution hatte jedoch trotz aller Verirrungen manche wohlthätige Veränderung herbeigeführt, gleich einem stürmischen Gewitter, das die erstickende Luft reinigt und die bösen Dünste verjagt. Die aus ihrem Schlummer aufgeschreckte Regierung bemühte sich, ihre begangenen Unterlassungssünden wieder gut zu machen; sie sorgte durch Vermehrung und Verbesserung des Schulunterrichts für die Bildung und Erziehung der Jugend und suchte durch zweckmäßige Maßregeln der Verwaltung das Volk vor fernerer Hungersnot und ihrem Gefolge von Krankheiten zu bewahren, durch eine unparteiische Rechtsprechung es vor jeder Bedrückung und Willkürherrschaft zu schützen und den Schwachen gegen die Starken beizustehen, sie suchte durch Förderung der Landeskultur und der Verkehrsmittel den Wohlstand zu heben und auch den verarmten Bauern ein besseres Los zu bereiten. Wenn auch nicht alle Wünsche erfüllt, nicht alle Forderungen befriedigt worden sind, so muß man doch den großen Fortschritt freudig anerkennen und auch für Oberschlesien eine segensreiche Zukunft erhoffen, vor allem aber darf man überzeugt sein, daß die früheren verrotteten Zustände nicht wiederkehren werden.