Erfurter Geschichten
I. Der König von Jerusalem.
Zu Erfurt lebte vor sechshundert Jahren Einer, der hieß Herr Ulrich Hetzenbrecht, seines Zeichens aber war er ein Schneider.
Wär’ nun selbiger Herr Ulrich bei seiner Schneiderkunst geblieben, hätt’ es so weit nicht gefehlt. So aber kam ihm ganz was Anderes zu Sinn. Er nähte alle Tage weniger und versenkte seinen Geist statt der Ober- und Unterstiche in tiefsinnige Geschriften, und so der erste Morgenstrahl sprühte, fand er gar oft, was der letzte am Abend vorher gefunden – der Herr Ulrich las und studirte.
Nun wurde kein Rock und kein Wams mehr fertig, kam er ja mit einem Stück zu Ende, war es sicher zu eng oder zu weit, und wann sich die Leute beklagten, ließ sich Herr Ulrich nicht zum Feinsten heraus, schier als ob es eine Gnade und Gunst wäre, daß er der Kunden Geld annähme. Also wurden der Kunden allwöchentlich weniger, Herr Ulrich hingegen nahm stets zu an Tiefsinn und Gelehrtheit. Allgemach überkam ihn ein hohes Bewußtsein, glaubte sich derselbe zu großen Dingen berufen und erkoren, und da man das Jahr 1240 schrieb, war er schon längst aus dem Concept gekommen, ging Tag für Tag in den Straßen von Erfurt umher und glaubte dabei nichts Geringeres, als er sei der König von Jerusalem.
Nun sollt Ihr in Kurzem vernehmen, wie’s erging, allbis der Schneider zum König ward.
Welch heilig erhabenes Werk die Kreuzfahrer unternahmen und was wunderbarer Eifer Jünglinge, Männer und Greise zum Zug in’s heilige Land entflammte, das ist Jedem wohl bekannt, nicht minder, wie des Sieges Botschaft stets neue Schaaren zu gleichem Ziele fortriß – erscholl aber die Kunde von Niederlage und weiterem Drangsal der Christen, so zogen der Schaaren so viel mehre von dannen, aufopfernd Gut, Blut und Leben.
Wie nun das schon lange Zeit anwährte, kam ein Geist auch über die Kinder.
Durch ganz Sachsenland ging ein Knabe, Namens Seraph, und der sang ein Lied. Drin war verkündet, alle Ungläubigen sollten sich bekehren, und was Heiliges sie den Kreuzfahrern wieder entrissen, das sollten sie gutwillig herausgeben.
Auf des Knaben Seraph Wort und Gesang hin erfüllte sein Geist vieltausend andere Kinder, entbrannten Diese, in Land Syrien zu ziehen, verließen Vater, Mutter und Heimath und nichts vermochte, sie zurückzuhalten. Also wanderten sie betend und singend dahin und gedachten, über das Meer zu fahren. Da starben ihrer die Mehrzahl an Hunger, Durst und Ermattung. Die Wenigen aber, so sich gen Welschland schleppten und in die Schiffe gelangten, wurden des Meeres Beute. Denn die Stürme brachen in wildester Wuth herein, und was da lebte und webte, von unbändigen Wellen ward es verschlungen!
Darüber verstrichen über zweimal zehn Jahre.
Mittlerweil aber lebte Herr Ulrich in der lebesamen Stadt Erfurt, und so oft von denselben Kindern die Rede war, sagte er: „Wär’ nur ich dabei gewesen!“ Zugleich las und studirte er immer mehr, tagtäglich stieg sein innerlicher Hochmuth, wo er immer eine Prophezeihung fand, so wußte er sie auf sich zu deuten, also währte es die kürzeste Zeit, bis er felsenfest überzeugt war, er sei der rechte Mann zu großen Dingen, und so er nur die Menschen aufriefe, so thäten sie Alles, was er von ihnen verlange.
Machte sich nun einst auf, acht Tage nach Pfingsten war’s, bestieg einen erhabenen Stein und hielt eine gewaltige Rede an die Erfurter. Darin forderte er sie auf, die Waffen zu ergreifen, er selbst aber wolle sich an die Spitze stellen und sie zum Sieg gegen die Türken führen.
[348] Wie das die Leute hörten, schüttelten sie die Köpfe ungemein bedenklich. Das leuchtete Herrn Ulrich keineswegs ein und brach er in arge Drohungen aus, so daß er ganz heiser wurde und zuletzt nur noch mit den Händen focht. Da gingen die Einen lachend von dannen, die Andern verhöhnten ihn in’s Angesicht, daß ein Schneiderlein sich so großer Absicht vermesse, die aber, so ihm geneigt waren, ermahnten ihn ernstlich, von derlei Dingen abzulassen, fürhin sein Studiren aufzugeben und statt des lahmen Feldherrnstabes seine flüchtige Nadel zu schwingen.
Drüber wurde er überaus grimmig, sprang von seinem Stein darnieder, rannte spornstreichs nach Hause und warf all sein Nähzeug zum Fenster hinaus. That demnach von Stunde an keinen Stich mehr und hatte er vorher Nacht über studirt, so studirte er nunmehr Tags über desgleichen. Und weil’s ihm bei besonnenen Leuten mißglückt war, erinnerte er sich derselben Kinder, und wie und wo er Weg und Steg fand, sparte er die schönsten Worte nicht und erhitzte die jungen Gemüther.
Wie’s nun sein wollte – eh’ sich ein Mensch und Herr Ulrich selbst dessen versah, fuhr ein lustig wilder Wandergeist in die Kinder zu Erfurt, stahlen sich die eines Morgens aus den Häusern, zogen tanzend und springend zum Löberthor hinaus, dann über den Steiger hinweg und verfolgten ihren Pfad gen Arnstadt.
Da entstand ein großes Rumorn, suchte Jeder seine Kinder, und gar Mancher fand seine Nester ausgeflogen, denn ein ganzes Tausend hatte die Stadt verlassen. Alsbald wurde die Rathsglocke geläutet, die gestrengen Herren vom friedlichen Morgenimbiß aufgesprengt, kamen demnach nüchtern und sehr zornig zusammen und überlegten, was gestalter Dinge zu thun sei, darüber war aber kein Zweifel, an allem Unglück sei der Herr Ulrich schuld und habe der die Kinder davongeführt.
Rannten nun sogleich zwo Rathsherrn fort und auf Herrn Ulrich’s Behausung zu, um sich zu überzeugen, ob er da sei oder nicht.
Er war aber schon da, saß an der Hölle und war so tief in Schriften versenkt, daß er die Rathsherrn lange nicht hörte, so laut sie ihm in die Ohren riefen. Da er nun die Botschaft vernahm und sich mit Drohungen überhäuft sah, zeigte er keinerlei Furcht, richtete sich vielmehr mit verklärtem Gesicht auf und sagte: „Mich schreckt kein Kerker und mich schreckt nicht der Tod, denn ich bin nicht, wie Ihr glaubt, der Schneider Ulrich, sondern ich bin ein ganz Anderer. Also veracht’ ich all Eure Gewalt, und wolltet Ihr mich verbrennen, so stünd’ ich doch wieder lebendig auf, und das ist Alles im Geist gesprochen. Also wird mir Ruhm und Gloria, Euch aber machen die Kinder zu Schanden! Geht alsofort in Euch und ruft das Volk mit mir auf, dann ernenn’ ich Euch Beide zu Kriegshauptleuten und schlag’ Euch Beide zu Rittern!“
Als Herr Ulrich Solches gesprochen, sahen die Rathsherrn, wie es mit ihm stehe und riefen ihm zu, daß er mit seinem Leben hafte, so einem der Kinder ein Haar gekrümmt würde. Drauf versperrten sie die Thüre auf’s Beste und eilten aus das Rathhaus zurück.
In Kurzem ritten Boten aus Erfurt, die Bürger von Arnstadt zu warnen, und so viele Wägen in und um die Stadt sich fanden, die wurden alle gefordert und bespannt, um die Kinder nach Erfurt zurückzubringen.
Drüber vergingen mehrere Stunden, und überaus schwül war’s geworden. Noch viel schwüler aber in Herrn Ulrich’s Kopf.
Da er nicht zur Thüre hinaus konnte, sprang er zum Fenster hinaus, rannte an’s Löberthor und wollte den Kindern nacheilen. Die Reisigen aber ließen ihn nicht vorüber, sondern fällten grimmig ihre Speere. Also wandt’ er sich wieder stadteinwärts, die Bürger von ihrem Vorhaben abzubringen, es wurde ihm aber nicht wohl bezahlt. Gerieth er demnach in größte Wuth und Verwirrung, sprang auf einen Brunnen und donnerte unter die Menge: „Ihr seid Alle faule, unheilige Gesellen! Was wollt Ihr da sitzen zu Land Aegypten bei den Fleischtöpfen, anstatt Ihr Eure Pflicht erfüllt und gegen das Türkenvolk brauset?! Auf da und folgt mir nach, ich bin des Geistes voll und aller Kraft und Glory! Heisa, seht Ihr die verfluchten Türken, da kommen sie daher, wie die Heuschrecken, daß sich die Sonn’ verfinstert, mir nach, wollt Ihr oder wollt Ihr nicht, sonst find’t ganz Erfurt sein Untergang!“
Da nun sein Wort keinen Eingang fand, zerraufte Herr Ulrich vor Grimm Haare und Bart und rief zum Himmel: „Schick Schwefel und Pech, schick Wasser und Feuer, schick Blitz und Hagel und Sturm und Erdbeben, reiß auf Boden, fallt ein Häuser, versink ganz Erfurt!“
Unbändiges Gelächter unterbrach seiner Drohungen Strom. Etliche alte Weiblein aber schüttelten die ehrwürdigen Häupter und meinten, so viel Hohn verdiene Herr Ulrich doch nimmer. Drängten sich auch sonst Etliche um den Brunnen und stritten für den Schneiderpropheten. Dazu zog ein finsteres Gewitter heran und schon grollte und rollte der Donner daher.
Das war Wasser auf Herrn Ulrich’s Mühle. In neue Drohungen brach er aus, inzwischen donnerte und blitzte es stets heftiger, mit einem Mal fielen gar Schloßen – und die waren eben nicht klein. Nun drängte und rannte Alles lärmend von dannen, in Häuser, Hallen, Kirchen oder Bogen.
Herr Ulrich aber wich keinen Schuh breit, focht mit dem Stocke gewaltig in die Luft, denn jetzt war er ganz aus dem Concept gekommen und glaubte nicht anders, als die zahllosen Schloßen wären eben so viele Türkenpfeile und Bolzen, er selbst jedoch sei an den Mauern Jerusalems. Dazu rief er unablässig: „Heisa, Victoria, was wollt Ihr Türkenhunde, mir sollt Ihr Teufel nicht Herr werden!“
Nun hagelte es aber stets wilder und dichter und schlug ihn weidlich auf den zerrauften Kopf, daß er zuletzt die Flucht ergriff und unter die nächsten Bögen sprang. Nicht lange darauf endete das Gewitter, das hatte viel Schaden angerichtet.
Wie nun die Leute aus den Häusern kamen und sich nach allen Dingen umsahen, glaubten sie, Herr Ulrich sei vom Hagel erschlagen worden oder in den Brunnen gefallen und ertrunken.
Urplötzlich rief Einer: „Keines von Beiden, er lebt und dort sitzt er!“
Drauf wandten sich Alle um.
Da saß Herr Ulrich unter den Bögen auf einem Faß, hatte einen Strohkranz um sein Haupt gewunden, seinen Stock hielt er wie einen Scepter in der Rechten und von seinen Schultern hing ein Stück rothes Schamlott, das hatte Einer im Gedränge verloren. „Was soll das bedeuten?“ rief ihn der Nächste an. „Wir dachten schon, Ihr wärt zu Grunde gegangen!“
„Mit nichten,“ erwiederte Herr Ulrich, „ich bin nicht zu Grund gegangen und die Welt steht auch noch, weil ich Alles auf mich genommen und die verfluchten Türken alle erschlagen habe. Habt Ihr gesehen, wie die Einen davon rannten und wie die Anderen dafür mit hunderttausend Pfeil und Bolzen auf mich schossen? Das hat mir keineswegs Furcht eingejagt und habe sie Alle zum Land hinausgepeitscht!“
„Seid Ihr denn ganz von Sinnen?“ kam’s ihm entgegen. „Da sind ja keine Türken auf viel tausend Stunden!“
„Da irrt Ihr sehr!“ antwortete Herr Ulrich. „Weit fort sind sie wohl, denn sie liefen davon, so schnell sie konnten, über fünf Meilen sind sie aber nicht von dannen. Nun hab’ ich zwar viele Wunden aufzuweisen, sonderlich schlugen mir Etliche über das Haupt. Da war aber die Schlacht schon entschieden, als ich nun der König von Jerusalem bin und will seiner Zeit meinen Einzug halten.“
„Aber seht Ihr denn nicht, daß Ihr in Erfurt seid?“ rief ihn Einer an.
„Das seh’ ich wohl“ – entgegnete Herr Ulrich und gab ihm einen tüchtigen Streich über den Rücken, „wie kannst Du frecher Knecht an meiner guten Einsicht zweifeln? Freilich bin ich hier in Erfurt. Aber nur, um Euch zu prüfen! Wann Ihr nun an meine Worte glaubt, will ich Euch Böses mit Gutem lohnen und Euch zu Ehren und Aemtern verhelfen. Wo nicht, so laß ich Euch meine Gewalt empfinden und zieh in mein Reich davon.“
Da blieb kein Zweifel, wie’s mit Herrn Ulrich bestellt und beschaffen sei.
Die Erfurter machten sich auf, ihre Kinder von Arnstadt heim zu bringen – das gelang auch mit Gottes und der Bürger zu Arnstadt Hülfe.
Herr Ulrich aber ging fürder nimmer anders, denn in seinem königlichen Anzug, war aber gar mild und schweigsam geworden, so daß Mancher recht wehmüthig auf ihn sah, ihm freundlich zunickte und einen Pfennig schenkte.
Da blieb er dann immer stehen, nahm das Geschenk auch mit freundlichem Kopfnicken an und sagte: „Es kommt die Zeit, daß ich Euch’s lohne – ich aber sag’ Euch nur Eines. Es ist nichts Geringes, ein Land zu regieren, das so fern liegt, mir war wohler, da ich noch ein einfältig Schneiderlein war, denn nun ich so viel weiß und mich König von Jerusalem schreib!“