Ein Besuch in Bethanien
Und Alles stirbt. –
M. Ant. Niendorf.
In einem abgelegenen, stillen Theile des geräuschvollen Berlins, auf dem köpnicker Felde, wo noch innerhalb der Ringmauern Ackerbau getrieben wird und nur erst die Linien gezogen sind für die künftige Ausdehnung der Stadt, die, wie ein ewig wachsender Riese, ihre kolossalen Glieder immer weiter und weiter streckt, – dort erhebt sich auf freiem luftigen Gebiete das Krankenhaus Bethanien. Es hat seinen Namen erhalten nach jener Stätte des Orients, nahe der „Tochter Zions“, an dem Abhange eines mit Oliven besetzten Hügels, wo Lazarus durch Jesum Christum aus der Nacht des Todes erweckt wurde.
Trotz der vielen Anlagen und Bauten, welche in letzter Zeit auf den vor fünf Jahren noch unbewohnten Feldern emporwuchsen, herrscht noch fast die Ruhe des Landlebens; der verworrene Lärm der Straßen dringt nur gedämpft hierher, die Schatten der Häuser fallen erst über den großen Platz, wenn die Sonne dem Untergange nahe ist und freie frische Luft weht von der Spree und den köpnicker Haiden über die niedrigen Ringmauern. Es ist hier die geeignetste Stelle für ein Asyl leidender Menschen, welche Ruhe, Luft und Licht bedürfen.
Bethanien liegt auf einem quadratischen Raum von etwa 1400 Geviertruthen Flächeninhalt. Eine steinerne Mauer umgiebt den großen Platz, läßt aber die Vorderseite des Gebäudes frei, welche dem köpnicker Thore zugekehrt ist. Diese Front hat in der Mitte den Haupteingang, ein Portal im gothischen Style, auf jeder Seite einen spitzen, das ganze Gebäude weit überragenden Thurm. Die Länge des dreistöckigen Hauptgebäudes enthält auf jeder Seite des Portals sechs Fenster, hieran schließen sich an beiden Enden rechtwinklig die gleichen Seitenflügel, welche auf die Stadt gerichtet sind, gleiche Höhe mit der Front haben, dieselben aber um die doppelte Länge übertreffen. Wenn man die Anstalt von der Brücke des neuen Kanals betrachtet, erblickt man die Rückseite der Mittelfront mit den von drüben herüberragenden Thürmen des Portals und die mächtig langen Flügel, welche nach zwei Seiten 90 Fenster in dreifacher Reihe öffnen. Die nächste Umgebung bilden einzeln stehende Gebäude, die Wohnungen der Oberin, der Aerzte und Geistlichen enthaltend, ein Leichenhaus, welches noch nicht ganz vollendet ist, und ein großer Garten mit frisch gelegtem Rasen und jungen durch Pfähle gestützten Bäumchen, welche durch ihr gedeihliches Aussehen den künftigen Lohn für die Mühe versprechen, mit der man dem unfruchtbaren Boden erquickendes Grün und schattiges Laub abzugewinnen sucht.
Die Anstalt besteht jetzt im achten Jahre, und wurde vom Könige gegründet, welcher 50,000 Thaler zu ihrem Bau bewilligte und ihr noch fortgesetzte Unterstützungen zu Theil werden läßt; durch milde Beiträge und Stiftungen, so wie durch wiederholte Sammlungen sucht sie die Mittel zu einer größeren Wirksamkeit zu erlangen. Obgleich für 300 Kranke eingerichtet, vermag sie jetzt nur 120 aufzunehmen. Der König verfügt über 60 Krankenbetten und für die Stadt stehen 20 zur Verwendung, andere werden durch die Beisteuer der Johanniter in der Mark oder einzelner Privatpersonen unterhalten. Die Verpflegten zerfallen in drei Klassen, je nach den monatlichen Kurgeldern von 9, 15 oder 40 Thalern. – Ein großer Vortheil ist den bemittelteren Herrschaften gewährt, indem dieselben für einen jährlichen Beitrag von zwei Thalern jederzeit ihre erkrankten Dienstboten zur Heilung einliefern können.
Im Publikum hört man zuweilen die Meinung aussprechen, dieses Krankenhaus mache einen zu großen Aufwand von Raum und Geldmitteln, welcher mit den erreichten Zwecken nicht in richtigem Verhältnisse stehe. Diese Meinung erhält allerdings Begründung, wenn man die kleine Anzahl Kranker, welche in dieser großartigen und kostbaren Anstalt verpflegt werden, mit der vielmal größeren vergleicht, welche die Charité für die gleichen Mittel aufnimmt. – Eine andere Stimme noch spricht sich gegen die ganze Organisation des Instituts aus und erklärt sie für pietistisch und krypto-katholisch. Indeß wittert die streng protestantische Richtung gleich in jedem Altarbilde, in jeder buntgedünchten Kirchenwand und in jeder Ordenseinrichtung den versteckten Katholicismus, und es läßt sich vermuthen, daß Bethanien nicht mehr des pietistischen Geistes enthalte, als alles Andre, was sich heut zu Tage der [350] Duldung und Protektion zu erfreuen hat. – Übereinstimmend aber ist das öffentliche Urtheil im Lobe der trefflichen Einrichtung des Hospitals in Bezug auf Reinlichkeit, Ordnung und vor Allem auf sorgsame Pflege und Behandlung der Leidenden. Durch diese Vorzüge ist dasselbe zu einer Musterkrankenanstalt geworden, werth der Kenntnißnahme und Nachahmung.
Treten wir ein in diese Stätte der Schmerzen und Gebrechen! Scheuen wir uns nicht, einen kleinen Theil der beiden versammelt zu sehen, welche Gemeingüter unsers verweichlichten entarteten Geschlechts geworden sind, der Leiden, welche verursacht werden durch die feindlichen Eindrücke der Natur, denen wir nicht gewachsen sind, oder durch die Mängel unserer „civilisirten Barbarei“, denen wir uns nicht entziehen können! Blicken wir den Siechen in das schmerzensvolle Antlitz und lesen aus ihren Mienen die Pein der Wunden, die Klage um die gebrochene Lebensblüthe, das zähe Verlangen nach Rettung und die süße Hoffnung der Genesung, das gefaßte Verzichten auf die freundliche Gewohnheit des Daseins, die verzweifelnde Gewißheit des Todes! – Nur der Egoist geht an den Leidenden theilnahmlos vorüber; für ihn hat das Einzelwesen keinen und die Gattung den höchsten Werth. Aber er frage sich, der Egoist, wie die Gattung zu einer Bedeutung käme ohne den Werth des Individuums; er frage sich, warum er sich selber so hoch schätzt, wenn er dem Einzelwesen seine Wichtigkeit abspricht. Der Humanist hingegen achtet die Menschheit, weil er den Menschen liebt, und die Gesellschaft hat für ihn nur den Zweck des Wohlergehens aller Einzelnen. Der Humanist besucht ein Krankenhaus wie der Samariter, der sich des Klagenden erbarmt; wie der Weise, der die Wahrheit auch aus den Zügen des Sterbenden liest und aus der Betrachtung der Vergänglichkeit zu neuer Freude am Dasein erstarkt.
Wenn wir durch das Hauptportal eingetreten sind, empfängt uns eine Matrone, in einem blauen Kleide mit weißer Haube und weißem Kragen. Sie bittet uns, unsere Namen auf ein Pergamenttäfelchen zu schreiben und in einem freundlichen Stübchen die Ankunft der „Schwester“ zu erwarten.
Aller Dienst in Bethanien wird von den „Schwestern“ ausgeübt, welche gleich gekleidet sind und gleichen Rang haben. Die allgemeine Kleidung ist wie die jener Matrone, doch wird an Sonn- und Festtagen das blaue Gewand mit einem schwarzen vertauscht.
Die Zahl der Schwestern beträgt 33, fast ebenso groß ist die der „Probepflegerinnen“, welche eine einjährige Prüfungs- und Lehrzeit zu bestehen haben. Letztere, deren Alter zwischen 18 und 30 Jahren liegt, können jederzeit ausscheiden, die vereidigten Schwestern jedoch müssen ihren Austritt ein Jahr vorher ankündigen. Kürzlich hat die Schaar der Schwestern eine Gräfin von Stolberg-Wernigerode aufgenommen, welche gegenwärtig die erkrankte „Oberin“, Fräulein von Ranzow, vertritt. Die Oberin ist mit der unmittelbaren Leitung des ganzen Instituts betrauet, dessen Interessen überdies von einem Curatorium aus 20 Personen in regelmäßigen Versammlungen berathen werden. Die Beschützerin der Anstalt ist die Königin von Preußen. – Die verschiedenen Verrichtungen wechseln unter den Schwestern und bestehen in Pflege der weiblichen Patienten; Beaufsichtigung der Krankenwärter der Männerstationen; Verwaltung des Waschhauses, der Küche und Badeanstalt; Ordnung des Leinenzeuges und in auswärtigen Missionen nach andern Heilanstalten.
Nicht lange haben wir gewartet bis die Schwester, welche mit der Führung der Fremden beauftragt ist, erscheint und uns freundlich auffordert, ihr zu folgen. Sie hat eine schlanke aber kräftige Gestalt, ihre Gesichtszüge verrathen Güte und Sanftmuth, ihre Ausdrucksweise zeugt von Bildung.
Sie führte uns zuerst in die Kirche, welche die ganze Mitte der Hauptfront einnimmt, und deren innere Ausschmückung in byzantinischem Style ausgeführt ist. Ein schönes Bild des Christus und eine mittelgroße Orgel sind die Hauptzierden dieser Kirche, welche an jedem Sonntage zum öffentlichen Gottesdienste benutzt wird. Die fungirenden Geistlichen sind die Prediger Schulz und Beher.
Weiter führte uns die Schwester in die Apotheke und in das chemische Laboratorium, in welches metallene Röhren die heißen Wasserdämpfe aus einer Dampfmaschine leiten. Mit dieser Maschine wird hier Erstaunliches geleistet. Sie dient den Apothekern bei ihren chemischen Arbeiten; sie reinigt in der Waschkammer das Leinenzeug und dreht eine Vorrichtung zum Auswinden der Wäsche; durch sie werden mehrere Kachelöfen geheizt, in deren schmalen Zwischenräumen das nasse Weißzeug in wenigen Minuten getrocknet wird; sie sendet ihren Dampf in die von blanken Gefäßen schimmernde Küche und bringt binnen fünf Minuten das Wasser in acht großen Kesseln zum Sieden; und von ihr aus durchziehen eiserne Röhren die Zimmer, Krankensäle und Flure und bewirken die Heizung durch erwärmte Luft.
Nachdem uns die Führerin alle jene Gemächer des Kellergeschosses, Waschhaus, Trocknenkammer, Küche und Wäschkammer, gezeigt hat, leitet sie uns über weiche Matten, welche die Fußböden des ganzen Hauses bedecken, nach einem großen Saale, der mit seinen hohen Bogenfenstern und den Kreuzgewölben der Decke einen mittelalterlichen Anblick gewährt. In solches Gemach führen uns die gastfreundlichen Mönche, wenn wir nach ermüdender Wanderung in Italien oder im Orient eine willfährige Aufnahme in einem Kloster gefunden haben. Ein trauliches Halbdunkel erfüllt das klösterliche Zimmer, und in den Streiflichtern, welche durch die Fenster fallen, erglänzt das saubere Tischgeschirr. Es ist dies der Speisesaal der Krankenpflegerin. Wenn die freihängende Glocke über dem Portale erschallt, dann versammeln sie sich hier an den beiden langen Tafeln, die Schwestern an der einen, an der andern die Probepflegerinnen.
In einem kleineren Gemach finden wir die Einrichtung einer Schulklasse, und auch hier herrscht, trotz aller Einfachheit die höchste Eleganz. Die Bänke und das Katheder sind aus polirtem Holz; in der Mitte des Zimmers befindet sich eine Gaslampe mit einem Schirm aus weißem Milchglase. Die Tafeln und Wandkarten gehören zu den ausgezeichnetsten ihrer Art. Hier erhalten die Probepflegerinnen Unterricht in den Schulwissenschaften; die Schwestern werden hier von den drei Aerzten, den Doctoren Bartels, Wilms und Orthmann, in der Kenntniß der Krankheiten und der Krankenpflege unterwiesen.
Während wir den Corridor überschreiten, bringen vier graugekleidete Männer einen neuen Patienten in einem Tragkorbe. Die Schwester eilt herbei und unter ihrer stummen Anordnung wird der Kranke in das schon bereitete Bett gebracht, wo Pflege, Hülfe und vor Allem der linde Balsam des Trostes seiner harren. Für viele der Leidenden mag dieser Trost mehr in der sanften, theilnahmvollen Behandlung und in dem freundlichen, ermunternden Zuspruch liegen, als in den ermüdenden und abschwächenden Gebetsverrichtungen, womit man sie unablässig heimsucht.
Die Zimmer der drittten Klasse der Männerstation sind geöffnet. Auf reinlichen Betten liegen in jeder geräumigen Stube zehn Patienten. Ueberall sind die Wärter und die beaufsichtigenden Pflegerinnen zur Hand, und jeder Schmerzenslaut findet seine Erhörung. – In einem besondern Zimmer sind die kranken Knaben versammelt, welche schon so frühe dem ernsten Genius mit der gesenkten Fackel in das Auge schauen mußten; aber keiner von ihnen wird das junge Leben einbüßen. Die Nachmittagssonne, welche durch die klaren Scheiben fällt, erhöht das Roth der Wiedergenesung fast auf allen Wangen; Einzelne sitzen aufrecht im Bette und verfertigen kleine, zierliche Körbchen aus buntem Papier, ein kleiner Napier oder Omer Pascha oder sonst ein Eisenfresser der Zukunft fuchtelt sogar seine Bettdecke mit einem großen blechernen Säbel. –
Nachdem wir eine kleine Spende in die Büchse am Portal geworfen, verlassen wir Bethanien mit weichem aber zufriedenem Herzen. Es war auch ein Gefängniß, welches wir gesehen haben; aber wir fanden Menschen bereit, die Fesseln zu lindern oder zu lösen; nicht das Princip der Rache, Vergeltung und Peinigung waltete hier, sondern der Grundsatz der Liebe, des Erbarmens und der Hingebung.
Wahrlich, es gehört ein Weib dazu, die sonnigen wie die düsteren Tage, die langen Nächte, Wochen, Monate und Jahre in der Gesellschaft verunstalteter Leiber und verbitterter Seelen zuzubringen, ihnen zu Diensten zu stehen, ihrer unermüdlich zu warten und sie unverdrossen zu beruhigen. Es gehört etwas Höheres dazu, als der bestialische Schlachtenmuth des Mannes: das ist der Muth des Weibes, die Hingebung, Aufopferung, Nachsicht, Geduld, Engelsgüte, – alle die Tugenden, die wir an den Frauen täglich bewundern, wenn wir sie mit überwachten und verweinten Augen an dem Krankenbette des Mannes, oder an der Wiege des Säuglings oder am Sterbebette der Mutter sitzen sehen. – Darum hat
[351] Bethanien an den Schwestern die geeignetsten Personen zur Krankenpflege. Und wenn es gleich zu wünschen ist, daß nicht die frömmelnde Barmherzigkeit, sondern die Pflicht des Staates hinreichende Krankenhäuser für alle Leidtragenden errichte, – so möchten wir dennoch in der Leitung und Einrichtung aller solcher Staatsanstalten den herrlichen Geist der weiblichen Sanftmuth und Theilnahme nicht vermissen, den wir in Bethanien in hohem Maße angetroffen haben.