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Eismeer und Tintenfaß

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Titel: Eismeer und Tintenfaß
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 857–858
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Nachtrag: Zu „Eismeer und Tintenfaß“ Nachträgliches
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[857] Eismeer und Tintenfaß. Die Gartenlaube hat vor drei Jahren die Bildnisse der „Gründer und Führer der ersten deutschen Nordpolexpedition“ – Capitain Koldewey, Geograph Petermann, Obersteuermann Hildebrandtmitgetheilt. Die dort dargestellte Dreieinigkeit ist leider keine Wahrheit mehr; Petermann hat gegen die beiden Anderen einen öffentlichen Angriff ausgeführt, gegen welchen diese sich zur [858] Wehre stellen. Auf welcher Seite das Recht ist und der Sieg sein wird? Wir erzählen nur das Thatsächliche und überlassen es unseren Lesern, nach ihrem Urtheil Partei zu ergreifen.

Bekanntlich sind die Nordpolexpeditionen keine neue Erfindung. Schon wenige Jahre nach der Entdeckung Amerikas hat der Venetianer Cabot auf nordwestlicher Fahrt dasselbe erreicht, was seinem Landsmanne, dem Genuesen Colombo in südwestlicher Richtung gelungen war: die Entdeckung des Festlandes von Amerika. Cabot’s Söhne versuchten sogar, ebenfalls von England aus, um 1520 die erste nordwestliche Durchfahrt, die dann bis zur Gegenwart das Hauptziel aller Nordpolexpeditionen geblieben ist; sie kamen bis in die Hudsonsstraße.

Die Zahl der Nordpolfahrten von damals bis heute, durch vierthalb Jahrhunderte, ist so groß, daß ihre Geschichte ein starkes Buch bildet. Ihre einzige Ausbeute war bis jetzt eine wissenschaftlich-geographische; praktische Fingerzeige brachten sie nur für die Walfischfänger. Dagegen rückte die „Nordwestliche Durchfahrt“ ihrer Wahrscheinlichkeit nicht näher, und wie viel unschätzbare Menschenleben waren verloren gegangen von den kühnen Cortereals, deren Tod das Glück der Eskimos war, bis zur letzten Expedition der Lady Franklin, welche die unglückliche Frau nach ihrem Manne ausschickte! Als im Herbst 1852 auch diese Schiffe mit keinem andern Erfolge als der Vermuthung zurückkamen, daß mittelst starker Dampfer durch den Wellington-Canal vielleicht bis zur Behringstraße vorgedrungen werden könne, entschied die öffentliche Stimme sich für den Schluß dieser Unternehmungen.

Dies wäre wohl auch geschehen, wenn es nicht eine große Wahrheit gäbe, die ein geistreicher Mann in dem Satz aufgestellt hat: „Es ist ein psychologischer Zug, der, wie von Individuen, so auch von Nationen gilt, und der die Erringung großartiger Resultate wesentlich befördert hat: der, daß der Mensch, wenn er einmal Opfer und bedeutende Kraftanstrengungen an die Erreichung eines Ziels setzte, mit einem gewissen Eigensinn auch dann noch auf seinen Bestrebungen beharrt, nachdem sich längst herausgestellt hat, daß die Erreichung des ursprünglichen Ziels unmöglich ist.“ Dazu kommt noch, daß die letzten Nordfahrten hauptsächlich von Völkern germanischen Stammes, Engländern und Nordamerikanern, ausgeführt worden waren, und daß endlich auch in den Deutschen der alte abenteuerfrohe Unternehmungs- und Forschungstrieb erwachte und sie zu dem großen Wagniß fortriß.

Ueber jene erste deutsche Nordpolexpedition, die vom 24. Mai bis 10. October 1868 dauerte, hat die Gartenlaube in dem Eingangs genannten Artikel mit den drei Bildnissen der Unternehmer ausführlich berichtet.

Die zweite Expedition, mit trefflicher Ausrüstung zweier Schiffe, des Dampfers „Germania“ und des Seglers „Hansa“, verließ am 15. Juni 1869, im Beisein des Königs Wilhelm, Bremerhafen. Furchtbares hatten die kühnen Männer zu ertragen, sie mußten den Winter zwischen dem Eise verbringen, die „Hansa“ barst und ging unter, eine Eisscholle wurde das Rettungsfahrzeug der 34 Mann Besatzung. Aber kein Menschenleben ging verloren. Die Schiffbrüchigen kamen auf fremden Schiffen am 1. September 1870 vor Kopenhagen an, und hier traf sie der heimtückische Dänengruß: „Es ist Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, den Deutschen wird es schlecht gehen“. Glücklich nach Hamburg gelangt, feierten sie dort den Sieg von Sedan mit. Die Germania kam am 11. September in Bremerhafen an, das sie vor 453 Tagen verlassen hatte. Führer dieser Nordpolarfahrt war abermals Koldewey, der Capitain der „Germania“, Hegemann Capitain und Hildebrandt Obersteuermann der „Hansa“. Eine Beschreibung derselben in den „Vorträgen und Mittheilungen“ von Koldewey, Dr. Boergen, Dr. Copeland, R. Hildebrandt, Dr. v. Freeden, Dr. A. Pansch und Oberlieutenant Julius Payer, herausgegeben von dem „Verein für die deutsche Nordpolarfahrt zu Bremen“, ist bei D. Reimer in Berlin erschienen. Wir kommen in einer späteren Nr. näher auf die sehr interessante Schrift zurück.

Dieser neue Verlagsort eines geographischen Entdeckungsbuches ließ uns sofort den Zusammenzug dunkler Wetterwolken über dem Himmel Gothas befürchten, und richtig: das Wetter ist ausgebrochen. – Im Frühsommer dieses Jahres unternahmen der obengenannte Oberlieutenant Julius Payer und Weyprecht auf Kosten des Nordpolfonds und mit selber gesammelten Geldern von Tromsoe aus mit einer norwegischen Jacht eine „Vorexpedition“ zur Untersuchung des Meeres zwischen Spitzbergen und Nowaia Semlja, welcher im nächsten Jahr wieder eine größere Unternehmung folgen soll. Wie nun Dr. Petermann angeblich Resultate dieser Fahrt zu Angriffen gegen die gesammte Führung der zweiten Nordfahrt ausbeutete, darüber geht uns folgende Mittheilung zu:

Feuer im Eismeere! Herr Petermann, der eifrige Registrator aller geographischen Vorgänge, hat jüngst die Nachricht verbreitet von der „Entdeckung eines offenen Polarmeeres durch Payer und Weyprecht im September 1871“. Veranlassung hierzu gab das Telegramm, welches die Rückkehr der beiden Nordpolfahrer aus dem hohen Norden am 3. October nach Tromsoe wörtlich also meldete: „September. Offenes Meer von 42° bis 60° östl. L. v. Gr. über 78° n. Br. verfolgt. Größte Breite 79° n. Br. auf 43° östl. L., hier günstige Eiszustände gegen Nord, wahrscheinliche Verbindung mit Polynia gegen Ost, wahrscheinlich günstigster Nordpolweg.“ – Das wäre soweit ganz erfreulich gewesen.

Aber Herr Petermann goß auf den Freudenzucker dieser Nachricht ätzende Vitriolsäure. Er knüpfte an seine Mittheilung auch „die unerquicklichsten Differenzen“, die schon bei der zweiten deutschen Nordpol-Expedition durch die Verschiedenheit der Ansichten zwischen Capitain Koldewey und ihm entstanden waren, und that dies mit herausfordernder verletzender Suffisance. Wie zu erwarten, hat Koldewey diese Insinuationen seemännisch derb zurückgewiesen („Hansa“ Nr. 22, 23), und wurde dabei nachdrücklich, wenn auch maßvoll, von Dr. Boergen secundirt.

Seitdem Petermann’s mit großer Zuversicht tracirter Weg zum Nordpol an der Ostküste Grönlands sich nach äußersten Anstrengungen der ersten deutschen Nordpolfahrt als nicht prakticabel erwiesen, verlegt er ihn ostwärts von Spitzbergen, während Koldewey wie Osborn ihn im Westen von Grönland suchen. Das ist aber gegen das Dogma seiner Infallibilität. Immer und immer kommt er darauf zurück, daß Koldewey mit einem Dampfer nur bis 75“ 31‘ N. vorgedrungen, während andere Seefahrer hier oder dort mit viel ungenügenderen Schiffen höhere Breiten erreicht hätten. Will man aber Vergleichungen zwischen den Leistungen der einzelnen arktischen Seefahrer machen, so ist es durchaus unrichtig, nur die erreichten Breiten nebeneinander zu stellen, weil sich dieselben auf ganz verschiedene Localitäten beziehen, wo ganz verschiedene Eisverhältnisse obwalten mochten; man muß vielmehr die im Eise selbst zurückgelegten Distanzen vergleichen. Sichtlich um Koldewey’s Leistungen herabzusetzen, legt Petermann der nur vermutheten Wahrscheinlichkeit der beiden Seefahrer schon eine Bestimmtheit bei, die der anspruchslosen vorsichtigen Wahrheitsliebe der wackern Seemänner ursprünglich fremd gewesen zu sein scheint. Ein später veröffentlichter Bericht Payer’s an den „Verein für Geographie und Statistik“ zu Frankfurt am Main, abgedruckt in der Nr. 297, am 26. October, in der „Kölnischen Zeitung“, hält mit Anlehnen an Petermann’s Ansicht über den geeignetsten Weg, um in „das Herz des Polarbassins“ vorzudringen, die Behauptung aufrecht, daß ihre Erfahrungen die Existenz eines ausgedehnten offenen Meeres im Norden Nowaja Semljas nachgewiesen hätten.

Dem entgegen erklären englische, deutsche und schwedische Naturforscher und Seefahrer die Unmöglichkeit der Erreichung des Pols auf einem Schiffe und das Nichtvorhandensein eines sogenannten offenen Polarmeeres für wissenschaftlich erwiesen.

Wie dem auch sei, die Gehässigkeit des Streites ist zu beklagen, denn dergleichen Vorgänge können nur geeignet sein, den Eifer für deutsche Nordpolfahrten abzukühlen und zu ernster Erwägung zu leiten, ob denn die verhoffte wissenschaftliche Ausbeute derselben in entsprechendem Verhältniß stehe zu dem Einsatz an Gut und Menschenleben. Die Aufsuchung des magnetischen Pols, der nordwestlichen Durchfahrt, so lange man dieselbe prakticabel glaubte, waren einst doch preiswürdigere Probleme, als die, um welche es sich nunmehr handelt. Wie aber muß uns vollends Herrn Petermann’s Eifer im Interesse der Ehre deutscher Wissenschaft erscheinen, wenn man erfährt, wie hoch der Mann seine Thätigkeit dafür zu schätzen weiß! Während er „die wahrhaft opulente und luxuriöse Ausrüstung“ der Schiffe der zweiten Expedition wahrhaft bejammert, eine Ausrüstung, die allein es möglich gemacht hat, daß Capitain Hegemann mit der ganzen Mannschaft der verlorenen „Hansa“ die unerhörte Fahrt auf einer Eisscholle unter den furchtbarsten Schrecknissen glücklich beendete und die Besatzung der „Germania“ während des arktischen Winters und unter den ungeheuren Anstrengungen und Strapazen der Schlittenreise gesund und frisch erhalten ward – einen „Luxus“, der meistentheils in Geschenken aus Bremen und den Rheingegenden bestand –, hat er selbst, der Herr Dr. Petermann, für seine Arbeit, für Polarreisen vom warmen Ofen aus zu agitiren, also „für seine Bemühungen um die beiden deutschen Polar-Expeditionen sich dreitausend Thaler, sage dreitausend Thaler, aus dem nationalen Fonds gut schreiben lassen“. Ist es nicht, als wäre von einem modernen „Gründungsproject“ die Rede? –

Soweit unser Gewährsmann. Die letztere Angabe ist zuerst von Koldewey, S. 193 der „Hansa“ dieses Jahres, aufgestellt. Ob sie bereits eine Widerlegung erfahren hat, ist uns unbekannt.