Zum Inhalt springen

Ein gefährliches Preisrätsel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<<
Autor: Max Schraut
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein gefährliches Preisrätsel
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1933
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Wikisource
Kurzbeschreibung:
Band 3 der Romanreihe Drei von der Feme.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[1]
Drei von der Feme
Band 3


Ein gefährliches Preisrätsel


Von
Max Schraut




Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin 16
Michaelkirchstraße 23a


[2]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16


[3]
1. Kapitel.
Ellen Clinton auf unserer Fährte.

Der kleine Pavillon im Ostwinkel des Londoner Hyde-Park, berühmt durch die wundervollen Rhododendronbüsche, die ihn farbenfroh umgeben, war an diesem dunstigen Maitage das Ziel dreier Herren, die aus verschiedener Richtung wie von ungefähr zur selben Zeit sich dem versteckten Plätzchen näherten und dann auf den Klappstühlen sich niederließen, ihre Zigaretten anzündeten und gleichgültig mit kühler Reserviertheit aneinander vorüber in den Regen hinausblickten, der in dünnen Fäden vom bleigrauen Himmel herunterrann.

Sie waren gleichmäßig diskret-vornehm gekleidet, diese eleganten Nichtstuer, und als ein Bettler die Pavillontreppe emporhumpelte, warfen sie nachlässig dem alten Manne ein paar Schillingstücke zu. – Sie hatten ein sehr feines Verständnis für echte und für erheuchelte Bedürftigkeit, und als der Greis sich mit scheuem Staunen über die reichen Gaben entfernt hatte, sagte der Jüngste von ihnen mit eigentümlich gedämpfter Stimme:

„Wir haben uns seit vorgestern nicht gesprochen. Einige Verdachtsmomente liegen wohl vor, daß Seymour [4] Flox mit dem flüchtigen Bankräuber Sylvester Blooc identisch sein mag. Bestimmtes konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Es existieren keine Fotografien von Blooc, und die Angaben über seine Person sind sehr widerspruchsvoll.“

„Jedenfalls ist es ein Schwindler“, meinte unser Freund Roger Sheffield harten Tones. „Er ist reif für die Feme, denke ich. Das Preisrätsel ist Humbug, und gerade die Minderbemittelten werden darauf hineinfallen, lieber Bick.“

Bickfort Tomsen nickte und schaute mich fragend an.

Ich war ernster gestimmt, als meine beiden treuen Helfer es ahnten.

„Ellen Clinton war heute mittag wiederum in unserer Albemarle-Street“, sagte ich nachdenklich. „Auch Mac Forster ist eine lästige Neuerscheinung. Die Familie Clinton treffen wir bestimmt im Old-Palast. Es wäre zweckmäßig, über Miß Ellens Absichten schleunigst Klarheit zu gewinnen. Leute wie wir dürfen uns nicht leisten, eine noch so geringe Gefahr unbeachtet zu lassen.“

Da sich jetzt ein paar Spaziergänger näherten, erhob ich mich und schritt ohne Gruß davon.

Unsere Zusammenkünfte außerhalb unseres Schlupfwinkels verliefen stets in derselben Weise. Selbst der Argwöhnischste hätte nie vermutet, daß diese drei Gentlemen sich kannten oder gar der berüchtigte Warner, Richter und Henker seien. –

Die Jazzkapelle des Old England-Palastes spielte einen schmissigen Tango, und Ellen Clinton schmiegte sich noch enger in die sicher führenden Arme ihres Verlobten.

Mac Forster war eine äußerst sympathische Erscheinung, und die etwas kalte Regelmäßigkeit seiner Züge, [5] aus denen ebensoviel Tatkraft wie Verschlossenheit sprachen, machten ihn nur noch interessanter.

„Mac“, flüsterte die allzeit heiter und scheinbar etwas oberflächliche Ellen ihm halb scherzend zu, „wenn ich an das Preisrätsel denke und an den ersten Gewinn, könnte ich wirklich zur Detektivin werden …!“

Die Tanzdiele in den Erdgeschoßsälen der großen, neuen Vergnügungsstätte war trotz des recht unfreundlichen Maiwetters gedrängt voll.

Mac Forster, der bei einem bekannten Rechtsanwalt angestellt war, schien durch Ellens Äußerung etwas unangenehm berührt zu sein.

„Schlage dir solche Gedanken aus dem Kopf!“, erwiderte er fast schroff. „Dieses sogenannte Preisrätsel, das doch nur ein Reklametrick des Old-Palastes ist, halte ich für unsinnig, und lediglich für einen Versuch, das Publikum auf die Drei von der Feme zu hetzen!“

„Abwarten!!“, lachte Ellen mit ihrer melodischen Stimme sehr doppeldeutig, und abermals bog Mac Forster sich zurück und betrachtete seine Verlobte eigentümlich forschend.

Der Herr, der dicht hinter dem Brautpaar trotz seiner bereits angegrauten Schläfen und trotz des grauem Spitzbartes und der würdigen Hornbrille seine Tänzerin mit vollendetem Geschick durch das Gewühl leitete, hatte sehr gute Ohren, und sowohl Ellen Clintons seltsame Bemerkung „Abwarten!!“ sowie Mac Forsters Blicke gaben ihm allerlei zu denken.

Das Brautpaar kehrte nun an den Tisch, an dem Ellens bescheidene Eltern saßen, recht schweigsam zurück, und auch der angegraute Herr brachte seine Tänzerin an ihren Platz und setzte sich an ein Tischchen, wo er mit zwei ihm anscheinend unbekannten anderen Gästen seit sieben Uhr abends gesessen hatte.

Mr. Clinton, Ellens Vater, ein durch geschäftliche [6] Fehlschläge verbitterter und auch kränklicher Mann, drängte jetzt zum Aufbruch. Er war daran gewöhnt, früh zu Bett zu gehen, und seine Frau, der man die herbe Enttäuschung über die Ungerechtigkeit des Schicksals gleichfalls ansah, warf ihrer hübschen Tochter einen bitteren Blick zu, so daß die Clintons und Mac Forster sich sehr bald entfernten.

Die drei Herren am Nebentisch zahlten gleichfalls, und ich, der seit einiger Zeit allen Grund hatte, Ellen Clinton scharf zu beobachten, – ich also, der angegraute Tänzer mit der Brille, verließ als erster den Old-Palast und holte unser Auto vom nächsten Parkplatz, nahm dann meine beiden Freunde unterwegs auf und steuerte den Wagen gen Norwood, wo wir in der Albemarle-Street 16, 17, 18 unter anderen Namen die harmlosen, soliden Junggesellen und Hausbesitzer spielten, die einander natürlich nicht kannten und nicht einmal auf der Straße grüßten.

Unsere Limousine hielt schließlich vor einer abgelegenen Garage, und eine Viertelstunde später fand in meinem Arbeitszimmer eine der gewohnten Besprechungen der Drei von der Feme statt.

„Ihr dürft nicht vergessen“, erklärte ich auf die von meinen Freunden geäußerten Bedenken hin, „daß Ellen die Privatsekretärin Hemmerfolks ist und daß sie daher wahrscheinlich über uns weit mehr weiß, als für unsere Sicherheit zuträglich sein dürfte. Ellen Clinton ist bestimmt sehr klug und nebenher eine gute Komödiantin. Dreimal traf ich sie in den letzten Tagen hier in Norwood, und da ihr Chef Hemmerfolk den vorigen Fall des „Mäusebussard“ bearbeitet hat, kam mir sofort der Verdacht, daß dieses blonde Mädchen mit den lachenden Braunaugen uns drei hier in Norwood vermutet. Gewiß, dem Kommissar Hemmerfolk ist nun die Verfolgung [7] der steckbrieflich seit Monaten gesuchten Feme abgenommen und dem in London bisher unbekannten Spezialkommissar Baaker übertragen worden, von dem selbst wir nur wissen, daß er ein ebenso eleganter wie kluger und tatkräftiger Mann sein soll. Niemand kennt seine Wohnung, im Polizeipräsidium von Scotland Yard läßt er sich nicht blicken, er hüllt seine Persönlichkeit in ein geheimnisvolles Dunkel und wird sich wohl nur mit Hemmerfolk in Verbindung gesetzt haben, also mit Ellen Clintons Brotgeber und Chef. Spezialkommissar Harry Baaker, der in Beamtenkreisen der unsichtbare Kongolöwe genannt wird, ist zweifellos ein weit gefährlicherer Gegner für uns als Hemmerfolk. Und gerade deshalb müssen wir Ellen Clinton noch mehr Beachtung schenken als bisher, sie führt bestimmt etwas im Schilde, und daß wir gezwungen sind, dagegen schleunigst Vorbeugungsmaßnahmen zu treffen, bewies mir Ellens sehr vielsagendes „Abwarten!“, das sie scheinbar scherzend ihrem ebenfalls nicht zu unterschätzenden Verlobten Mac Forster zuflüsterte …“

Plötzlich läutete es an meiner Flurtür. Es war inzwischen halb zehn geworden, und der Frühlingssturm und gelegentliche Regenschauer prasselten und rumorten recht nervenaufpeitschend gegen die Fenster.

Bick und Roger verabschiedeten sich schnell und kehrten durch die gut versteckten Türen in ihre Nachbarhäuser zurück.

Ich ging öffnen. Da ich hier in Norwood als Präparator Arthur Elsen lebte und auch als Tierheilkundiger einigen Ruf genoß, wunderte es mich nicht weiter, daß eine arme alte Hausiererin, eine Witwe namens Amalie Pellwoor, mir ihre von einem Hund gebissene Katze brachte.

Frau Pellwoor erzählte mir, während ich ihre Poussy[1] verband, so allerlei über ihren mühseligen Beruf [8] und erwähnte dabei auch, daß gestern ein junges Mädchen sie angesprochen und gefragt habe, ob hier in Norwood jemand wohne, der durch seine Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft bekannt sei.

Eine böse Ahnung stieg da in mir auf.

„Und was antworteten Sie dieser Miß Clinton?“, fragte ich trotzdem ganz unbefangen.

„Lieber Mr. Elsen, – natürlich nannte ich Ihren Namen … Ich wußte doch, daß Sie die Krankenhauskosten für die alte Smith und …“

„Schon gut, schon gut … Und haben Sie dieser Miß Clinton noch mehr Leute angegeben, die es wie ich für eine Selbstverständlichkeit erachten, Bedürftige und Kranke zu unterstützen?“

„Ja, Mr. Elsen, – mit Stolz erklärte ich, daß Ihr Nachbar in Nummer 16, der Herr …“

„Danke … danke! – Liebe Frau Pellwoor, Sie können nun gehen. – Entschuldigen Sie schon, ich habe eine sehr wichtige Verabredung in der City … – Hier haben Sie auch noch eine Kleinigkeit, damit Sie Poussy[2] pflegen können … – Keinen Dank … Gute Nacht. Ich werde Sie die Treppe hinabgeleiten und die Haustür sofort verschließen, einen Pförtner halte ich mir nicht …“

Vor der Haustür drückte mir Frau Amalie nochmals die Hand und hatte dabei Tränen in den Augen.

Sie hatte es nur gut gemeint, als sie mich gleichsam an Ellen Clinton verriet.

Kaum war sie verschwunden, als eine tief verschleierte schlanke Mädchengestalt die Straße überquerte und vor mir stehen blieb.

„Mr. Elsen?“ fragte sie kurz und energisch.

Ich gewahrte drüben unter der Laterne noch einen Mann im Wettermantel und erkannte auch ihn.

Es war Mac Forster, Ellens Verlobter.

[9] Ich wurde mir der großen Gefahr, in der wir schwebten, sofort bewußt.

Hier konnte nur äußerste Kaltblütigkeit retten, was noch zu retten war.

„Sie wünschen, Miß?“ meinte ich höflich.

„Das möchte ich Ihnen unter vier Augen mitteilen, Mr. Elsen. Ich mache Sie aber jetzt gleich darauf aufmerksam, daß drüben mein Verlobter wartet und daß ich Sir Hemmerfolk zunächst unter einem Vorwand veranlaßt habe, hier einige Detektive zu verteilen.“

„Verzeihung, – von alledem begreife ich nichts“, sagte ich halb belustigt auflachend. „Sie tun ja gerade so, als wäre ich ein Verbrecher, Miß …“

Aber Ellen Clinton erwiderte genau so bestimmt:

„Wofür ich Sie halte, werden Sie sofort hören. Ich warne Sie, – das ist alles … Darf ich nähertreten?“

„Bitte, sehr gern … Ich stelle mit Freuden Irrtümer richtig, und Sie befinden sich bestimmt irgendwie auf falscher Fährte.“

„Wir werden sehen!!“, meinte das energische Mädchen anzüglich.

Dann verschloß ich die Haustür, schritt die Treppe hinan und nötigte diese äußerst kluge, gefährliche Gegnerin in mein Arbeitszimmer.

Auf der Schwelle blieben wir überrascht stehen.

Vor meinem Schreibtisch standen zwei Polizeibeamte in Uniform. Der eine trug die Abzeichen eines Inspektors, der andere die eines Sergeanten …


[10]
2. Kapitel.
Der Reklamechef des Old-Palastes wird verhaftet.

Ellen lehnte matt und offenbar recht verzweifele an der Tür.

„Mein Gott“, flüsterte sie reuevoll, „das habe ich nicht gewollt …! Nein, – – Mr. Elsen, glauben Sie mir, ich bin hieran schuldlos, ich habe Sie belogen … Ich habe Mr. Hemmerfolk nichts mitgeteilt, es sind auch keine Detektive in der Nähe, – – ich bin sehr unglücklich darüber, daß …“

„Schweigen Sie!“, herrschte der mittelgroße stämmige Polizeiinspektor sie an. „Wer sind Sie überhaupt? Was wollten Sie bei diesem Mr. Elsen, in dem wir nun endlich einen von der Feme erwischt zu haben hoffen?“

Ellen Clinton weinte leise. Aber sie war trotzdem erstaunlich geistesgegenwärtig … „Ich wollte Mr. Elsen, der als Menschenfreund hier bekannt ist, um ein Darlehn bitten, weil mein Vater …“

Der Inspektor ließ sie gar nicht aussprechen.

„Darlehn?! Nun gut, ich glaube Ihnen … – Sergeant Goddard, bringen Sie das junge Mädchen wieder auf die Straße … – Mr. Elsen, – – strecken Sie die Hände aus, ich kann Ihnen die Handschellen nicht ersparen. – So, nun habe ich Sie sicher. Und was Sie betrifft, Miß, so rate ich Ihnen dringend, von dieser Verhaftung zu schweigen! Sie wissen wohl, daß die Verfolgung der Feme dem Spezialkommissar Baaker übertragen worden ist. Ich handele in Baakers Auftrag, und ich möchte betonen, daß der Verdacht gegen Mr. Elsen bisher nur eben ein Verdacht geblieben ist, ich habe hier [11] nichts Belastendes gefunden. Wenn Sie, Miß, auch nur ein Sterbenswörtchen verraten, könnte das für Sie die übelsten Folgen haben. – Goddard, geleiten Sie Miß …, – wie war doch Ihr Name?“

„Ellen Clinton, London-Woolwich, Packhard-Street Nummer 18 …“, erklärte Ellen plötzlich ungewöhnlich ruhigen Tones.

„… Also geleiten Sie Miß Clinton hinab und besorgen Sie ein Auto, Goddard … Etwas flink!!“

Ellen warf mir noch einen eigentümlichen Blick zu und meinte leise: „Verzeihen Sie, Mr. Elsen … Ich hoffe Ihnen für Ihre Güte danken zu können …“

Zehn Minuten später wurde ich in eine dunkle Limousine verstaut, und der Inspektor und der Sergeant nahmen aus meiner Wohnung noch vier große gefüllte Koffer mit. Goddard steuerte das Auto, und da gerade bei unserer Abfahrt ein kurzer Gewitterregen herniederging, hatte mein Abtransport keinerlei neugierige Zeugen herbeigelockt. Von Ellen und ihrem Verlobten Mac Forster war nichts mehr zu sehen.

Als der Wagen dann aber das freie, noch unbebaute Gelände jenseits West-Norwood erreichte, stoppte der Sergeant plötzlich auf der einsamen regennassen Straße, da mitten auf dem Fahrdamm eine scheinbar leblose Frauengestalt im Lichte der Scheinwerfer lag.

Der Inspektor befahl Goddard, nach der Frau sich umzutun.

„Es ist Miß Clinton!“, rief der Sergeant erstaunt, nachdem er die Frau halb aufgerichtet hatte.

In demselben Augenblick erschien neben dem Auto ein Mann, der ein seidenes Taschentuch bis zu den Augen vor das Gesicht geknotet hatte.

„Hände hoch, Inspektor!“, rief er drohend. „Öffnen Sie Mr. Elsens Handschellen, oder – – ich drücke ab!“

[12] Dem Wettermantel nach konnte es sich nur um Mac Forster handeln.

Der Polizeiinspektor mit dem struppigen Schnurrbart gehorchte widerwillig. Dann riß Forster die Tür auf, zog mich auf die Straße und floh mit mir in den buschreichen Wellington-Park hinein, der seine Westecke bis hierher an die Straße vorschickte.

Ich sah noch, daß Ellen dem Sergeanten einen so kräftigen Stoß versetzte, daß er bis in den Straßengraben taumelte, und gleich darauf konnte ich mich von meinen beiden Befreiern mit herzlichem Dank verabschieden.

„Sie haben für mich zu viel gewagt, Miß Clinton“, sagte ich, ihr die Hand drückend. „Ich bin mir keiner Schuld bewußt und werde mich daher, damit Sie keine Unannehmlichkeiten haben, wieder der Polizei stellen. In jedem Falle – – schweigen Sie!“

Ellen starrte mich ungläubig an. „Sind Sie denn nicht der berühmte „Henker mit dem Bajazzolied“, Mr. Elsen?“

„Nein, bestimmt nicht!“, konnte ich wahrheitsgemäß erwidern. – Ellen verwechselte mich mit Freund Sheffield. „Leben Sie wohl … Der Polizeiinspektor wird gleichfalls im eigenen Interesse schweigen, denn Sie, Mr. Forster, haben ihn in recht beschämender Art überrumpelt. Gehen Sie diesen Hauptweg entlang, dann finden Sie beide eine Autobushaltestelle. Nochmals meinen aufrichtigsten Dank.“

Ich kehrte durch das Buschwerk zur Straße zurück, wo die Limousine noch immer hielt.

Aber der Inspektor und der Sergeant waren merkwürdigerweise verschwunden, am Steuer saß jetzt ein gut gekleideter Herr, und im Innern rauchte ein zweiter mit etwas eckigem Gesicht gemütlich eine Zigarre.

[13] Ich stieg ein. Baronett Sheffield, der so selten lacht, meinte vergnügt:

„Olaf, das war der feinste Trick, den wir drei bisher angewandt haben. Die Geschichte klappte weit besser, als wir voraussehen konnten!“

„Allerdings, – denn Ellen und Mac sind nun von ihrem Verdacht, die Feme wohne in der Albemarle-Street, gründlich geheilt, und daß die beiden über ihr Abenteuer nichts verlauten lassen, ist genau so selbstverständlich. Ein sehr sympathisches Brautpaar, die beiden, – ich gönne ihnen von Herzen den ersten Preis des großen Rätselwettbewerbs.“

Gegen halb elf, noch bevor die Theater sich geleert hatten, stieg ein Herr im tadellosen Frackanzug und Frackmantel, dem vor der Weste ein randloses Einglas an dünner Seidenschnur hing, die Treppe zu den Kabarett-Sälen des Old-England empor, gab seine Garderobe ab und zupfte vor dem Spiegel seine Schleife zurecht.

Es war ein schlanker, fast magerer Herr mit sehr gemessenen, dennoch kraftvollen Bewegungen. Man konnte ihn seines gebräunten, frischen Gesichts wegen für einen Offizier der englischen Marine halten, zumal die etwas zugekniffenen Augen und die leichten Falten um die Mundpartie ein ungewöhnliches Maß von Energie und Kaltblütigkeit verrieten.

Diesem Herrn, der seit einiger Zeit regelmäßig um diese Stunde den Old-Palast besuchte, folgte ein zweiter, ähnlich vornehmer Gentleman, der einen Smoking trug und dessen Spitzbart und Schläfen bereits die ersten Silberfäden zeigten.

Der Herr im Frack wandte sich jetzt dem schmalen Flur zu, der die Türen der Direktionsräume des großen Vergnügungslokales enthielt, klopfte in bestimmter Art an eine dieser weißlackierten Türen und trat ein.

Das fast überladen elegant ausgestattete Büro enthielt [14] unter anderm einen sehr kostbaren Schreibtisch, hinter dem in einem wahren Prunksessel ein kleines, unscheinbares, kahlköpfiges Männchen hockte. Es war dies Mr. Seymour Flox, Generaldirektor des Old-Palastes, Millionär und Mitbesitzer eines Bankgeschäfts.

„n’ Abend, Blaag“, begrüßte er seinen Reklamechef vertraulich und deutete auf einen zweiten Sessel. „Da, – nehmen Sie sich eine Zigarre. Ich bin Nichtraucher, das wissen Sie, obwohl mir heute so etwas Nikotin zur Beruhigung meiner Nerven recht dienlich wäre. Zunächst habe ich das so schwer vermietbar gewesene oberste Stockwerk vorhin dem bewußten Ausländer glücklich und endgültig angedreht, – dort liegt der Vertrag, und der Monsieur Bellard hat sofort für drei Monate vorausgezahlt. Also eine erfreuliche Nachricht. – Die zweite ist leider um so ungemütlicher. Kurz gesagt, mein lieber Blaag: Der verwünschte „Warner“ hat mir einen seiner berüchtigten Briefe vor genau fünf Minuten durch einen Dienstmann zukommen lassen, und, – – na, lesen Sie nur selbst, Sie werden eine leichte Gänsehaut spüren, genau wie ich. Diese Feme bedeutet geradezu eine öffentliche Gefahr für jeden anständigen Geschäftsmann, und …“ – Flox, der sich jetzt in hellste Wut hineingeredet hatte, hielt mitten im Satz inne, da sein vornehmer Reklamechef äußerst belustigt auflachte.

Er klemmte sein Monokel ein, entfaltete den Bogen und überflog die getippten Zeilen:

Mr. Flox, Ihr sogenanntes Preisrätsel werden Sie sofort widerrufen und den Gästen Ihres Lokals, die bereits so leichtsinnig waren, den einen Schilling Aufgeld auf ihre Zeche zu zahlen, das Geld zurückgeben. – Dies ist ein Befehl. – Im Auftrage der Drei von der Feme: Der Warner.

Mr. Charly Blaag zuckte mitleidig die Achseln. [15] „Und das ist alles?! Das ist nichts als eine Frechheit“, meinte er noch geringschätziger.

Plötzlich jedoch veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

„Was gibt’s?!“, fragte der kahlköpfige Flox neugierig. „Sie starren das Papier ja in einer Weise an, als ob …“, – er erhob sich schnell und beugte sich weit über den Tisch.

So wurde dann auch er Zeuge, wie unter dem „Befehl“ des Warners langsam neue Schriftzeichen sichtbar wurden, und er und Blaag lasen nun mit recht gemischten Empfindungen:

„Mr. Flox, uns ist bekannt, daß Ihr Reklamechef Charley Blaag Sie stets abends halb elf besucht, da er am Tage anderweitig beschäftigt ist. Sie haben ihn auf seine tadellosen Zeugnisse hin engagiert, aber wir sind überzeugt, daß dieser Blaag niemals derselbe Mann ist, der in Paris drei große neue Lokale durch seine Geschicklichkeit in die Höhe gebracht hat. – Sie werden „Blaag“, der recht seltsame Dinge am Tage treibt, diesen Brief zu einer Zeit geben, wo unsere Nachschrift sichtbar wird, und das wollten wir. Mr. „Blaag“ wieder dürfte es interessieren, daß Sie, Seymour Flox, vor vier Jahren aus Amerika nach England zurückkehrten und mit der drüben geraubten halben Million das Bankhaus Flox gründeten. In Wahrheit heißen Sie Sylvester Blooc und sind in Newyork Bandenführer gewesen. Ihr famoser Reklamechef Charly Blaag wird ein ähnliches Früchtchen sein. – Widerrufen Sie das Preisrätsel! – Dies ist ein Befehl – Der Warner.“

Seymour Flox befeuchtete sich mit nervös zitternder Zunge die trockenen Lippen. Er versuchte es mit einem höhnischen Auflachen, aber es wurde nur ein heiseres Krächzen.

„Blaag“ meinte er haßerfüllt, „die drei Schufte, [16] die sich als Hüter wahrer Gerechtigkeit aufspielen, sind infame Lügner. Ich bin nie drüben in Amerika gewesen, ich habe mit jenem berüchtigten Sylvester Blooc nichts zu schaffen, und …“ – er schwieg plötzlich, schnellte aus dem Sessel hoch und schrie gellend: „Da – – hören Sie, – – was bedeutet das?! Es ist der Lautsprecher im Nebenzimmer!“

„Ich höre“, sagte Charly Blaag unerwartet gleichgültig. „Es ist das Bajazzolied aus der gleichnamigen italienischen Oper.“ Und er stand auf, öffnete die Tür zum Nebenzimmer und starrte in die Dunkelheit hinein. Dann schwieg der Lautsprecher ebenso plötzlich, Blaag eilte zur Flurtür, schaute den Korridor entlang, aber den Herrn im Smoking, der leise die Treppe zum obersten Stockwerk hinanstieg, konnte er nicht mehr bemerken.

Achselzuckend kehrte er zu Flox zurück. „Wissen Sie“, sagte er sehr ernst, „die Sache mit dem Preisrätsel kann uns teuer zu stehen kommen. Blasen Sie die Geschichte ab, Mr. Flox. Mit den Leuten ist nicht zu spaßen …!“

„Niemals!!“, erklärte der Chef des Old-Palastes mit unheimlicher Ruhe, die zu seiner bisherigen Angst in auffallendem Widerspruch stand. „Zunächst möchte ich von Ihnen erfahren, wer Sie nun eigentlich sind!“ Das klang wie eine Drohung, und Seymour Flox hob auch bereits den Hörer vom Tischtelefon und rief zur Hauszentrale hinab: „Schicken Sie sofort drei Detektive zu mir – sofort! Außerdem befehle ich, daß Mr. Blaag das Haus nicht verlassen darf!“


[17]
3. Kapitel.
Ich suche Sylvester Blooc, – und wen finde ich?!

Die Tür zum Vorzimmer war weit offen geblieben, und der Lautsprecher mit seinem längst fertiggestellten Nebenanschluß fing jeden Ton auf und gab ihn verstärkt in das oberste Stockwerk wieder, wo in einer der als Büro ausgestatteten Räume an einem einfachen Schreibtisch der Herr im Smoking saß, der sich als Mr. Bellard schon vorgestern bei Seymour Flox vorgestellt hatte.

Die Abhöranlage, die Freund Bick mit gewohnter Geschicklichkeit hier eingerichtet hatte, arbeitete tadellos, und ich konnte mit übergestülptem Kopfhörer genau verstehen, wie der zweifelhafte Mr. Blaag jede Auskunft über seine Person verweigerte und sich getrost abführen ließ.

Da ich nichts mehr erlauschen konnte, legte ich den Kopfhörer beiseite, entfernte die Anschlußleitung und begab mich über die Haupttreppe in die Vorhalle, ließ mir Mantel und Hut aus der Kleiderablage geben und wartete unter dem Glasvorbau des Old-Palastes etwa zehn Minuten, bis eine unscheinbare dunkle Limousine langsam vorüberrollte und weiter oben in der Straße anhielt.

Ich setzte mich neben Freund Bickfort, und der Wagen fuhr weiter. – Mein Bericht schien auch den Warner nicht recht zu befriedigen.

Die Familie Clinton, die einst in sehr guten Verhältnissen gelebt hatte, dann aber durch Schicksalsschläge [18] immer mehr verarmt war, wohnte jetzt in dem Pförtnerhäuschen einer durch Brand vernichteten Fabrik, die nicht wieder aufgebaut worden war. Schräg gegenüber hatte Ellens Verlobter Mac Forster ein Erdgeschoßzimmer gemietet.

Ich verließ unseren Wagen und schlenderte langsam an der hohen Mauer des Fabrikgeländes und an den dunklen Fenstern des Pförtnerhäuschens vorüber. Ich war heute zum dritten Mal in den letzten Tagen in der stillen Packford-Street, und ich hatte lediglich die Absicht, mich etwas sorgfältiger um Macdonald Forster zu bekümmern, der mir in vielem ein Rätsel war. Als Angestellter einer Anwaltsfirma bezog er nur ein bescheidenes Gehalt, ging trotzdem immer tadellos gekleidet und schien sein Zimmer sehr wenig zu benutzen.

Als ich nun auf der andern Straßenseite umkehrte, stieß ich auf einen uralten, buckligen Bettler, der mit einem Hausiererkasten voller Zündhölzer schlurfenden Schrittes mir entgegenkam und wehleidig um ein Almosen bat. Ich warf ihm einen Schilling in seinen Kasten, und die brüchige Stimme des Greises flüsterte plötzlich überraschend deutlich:

„Forster ist nicht daheim … Gib aber genau acht, Olaf … Es bereitet sich hier etwas vor … In der Kellerkneipe drüben sitzen zwei Leute, die ich für amerikanische Knacker halte, und ein dritter ist Forster gefolgt. Dieser hübsche Mac mit den verschlossenen Zügen gibt uns genau so viel zu raten auf wie die edlen Herren Flox und Blaag. Ich bleibe in der Nähe.“

Der Baronett Roger Sheffield entfernte sich humpelnd, und ich selbst stellte mich in die dunkle Ecke der Toreinfahrt der niedergebrannten Fabrik und bemerkte nach wenigen Minuten einen Motorradler, der eine [19] verwegene Schiebermütze und einen Lederrock trug und für kurze Zeit in der Kellerkneipe verschwand. Der Mann hatte einen krausen schwarzen Bart und eine sehr dicke, blaurote Nase, aber seine Bewegungen verrieten durchaus nicht die Schwerfälligkeit der Gewohnheitstrinker. Er und zwei ähnliche fragwürdige Gestalten betraten dann das schmale Haus, in dem Mac Forster vorn das Zimmer gemietet hatte, um in Ellens Nähe sein zu können. Offenbar benutzten die drei Nachschlüssel, und Freund Rogers Vermutung mochte wohl zutreffen, daß sie es aus irgend einem Grunde auf Mac Forsters bescheidenes Heim abgesehen hatten.

Jetzt blitzte hinter den geschlossenen Fensterladen Mac Forsters wirklich Licht auf, und das Unbegreifliche der ganzen Situation wurde noch dadurch erhöht, daß ich bei einem Blick nach links Ellen Clintons Kopf in einem Fenster des Pförtnerhäuschens bemerkte. Das Mädchen hatte einen dunklen Schal um den Kopf und die Schultern geschlungen, um nicht aufzufallen.

In demselben Moment begriff ich auch, was hier gespielt wurde, zumal die drei Einbrecher nun wie gehetzt auf die Straße stürmten und alle drei das schwere Motorrad zur eiligsten Flucht benutzten.

„Was sollten Sie bei Mac Forster?“, fragte ich den verängstigten Burschen, dessen Aussprache des Englischen sofort den Amerikaner verriet. „Wenn Sie zu lügen versuchen, ergeht es Ihnen schlecht, junger Freund. Sie haben nämlich das zweifelhafte Vergnügen, den Drei von der Feme in die Hände geraten zu sein, und wir haben unsere besonderen Methoden, Leute zur Wahrheit anzuhalten.“

Der Mensch war ein Feigling. Die Gerüchte, die über uns allgemein verbreitet waren, mochten seine Furcht ins Ungemessene steigern. Mit zitternder Stimme [20] erzählte er, daß er und seine beiden Kumpane drüben in Newyork zur Sylvester Blooc Bande gehört hätten, daß Blooc mit ihnen noch immer in Verbindung stehe, daß sie ihn aber nicht zu Gesicht bekämen. Er verkehre wie früher nur schriftlich mit ihnen. Wo er wohne, wüßten sie nicht, heute hätten sie bei Forster eindringen und dessen gesamte Papiere stehlen sollen.

Was der Mann noch weiter verriet, gab uns die Möglichkeit, Sylvester Bloocs Fährte aufzunehmen. Daß beim Aufziehen einer Schreibtischlade gleichzeitig zwei Magnesiumblitzlichter aufgeflammt waren, brauchte der Bursche gar nicht erst zu erzählen.

„Jedenfalls sind wir fotografiert worden“, fügte er angstschlotternd hinzu. „Deshalb flüchteten wir so Hals über Kopf … – – Ich bitte Sie, lassen Sie mich laufen …“, wiederholte er noch weinerlicher.

„Wenn Sie zu schweigen versprechen, ja!“, bedeutete ich ihm mit einem strengen Hinweis auf die Folgen eines Ungehorsams.

Er schwor hoch und heilig, sofort aus London zu verschwinden, und als er dann unser Auto verlassen durfte, rannte er schleunigst davon.

Zwei Stunden später, gegen drei Uhr morgens, ereigneten sich in einer der vornehmsten Straßen am Hyde-Park recht merkwürdige Dinge, die für den Uneingeweihten vollkommen unverständlich bleiben mußten.

Ein kleiner geschlossener Sportwagen mit einer Dame am Steuer hielt unweit einer Laterne, an der ein Mann lehnte, der ein kleines Paket in der Hand hatte und auf einen bestimmten Zuruf der Dame das Päckchen in den Wagen reichte.

Das kleine Auto schoß sofort davon, und als es allzu eilig um die nächste Ecke bog, streifte der rechte Kotflügel einen Herrn, der scheinbar schwer getroffen zurücktaumelte.

[21] Gleichzeitig erschien ein Schutzmann, versperrte dem Sportwagen den Weg und half der Dame, den Verletzten in das Auto zu heben. Der Polizist verzichtete darauf, Meldung zu erstatten, nachdem die leichtsinnige Autofahrerin ihm ein Papier gezeigt und versprochen hatte, den Herrn für den zerrissenen Mantel und die Verletzung zu entschädigen.

Auf diese Weise gelangte ich in das vornehme, villenartige Haus Miß Evelyn Baakers, wo das junge Mädchen alles tat, meinen bösen Nervenschock durch geeignete Mittel zu lindern.

Meine Verletzungen waren übrigens ganz geringfügiger Art, und im Grunde war es mir peinlich, diese Komödie mit Hilfe des Paketüberbringers, also Freund Rogers, und des „Polizisten“ Bickfort durchgeführt zu haben, denn Evelyn Baaker ahnte auch nicht im entferntesten, wie sehr ich in ihrem Salon übertrieb und weshalb ich mich beinahe hatte überfahren lassen.

Der Damensalon enthielt auch einen Schreibtisch, der offenbar von Evelyn viel benutzt wurde. Es war nun einmal meine Aufgabe, hier gewisse Zusammenhänge festzustellen, und so erhob ich mich flink von meinem Diwan und durchwühlte die auf der Schreibtischplatte liegenden Papiere. Ich stieß dabei auf einen vielfach korrigierten Entwurf eines Preisrätsels – des Preisrätsels, des großen Fotografiewettbewerbs!!

Ich war starr! – Zweifellos hatte die Idee für dieses „Preisrätsel“ also aus diesem vornehmen Hause am Hyde-Park ihren Ausgang genommen!!

Schleunigst legte ich mich wieder auf den Diwan zurück, und ich mußte den Zufall segnen, der mir so schnell dieses Papier in die Hände gespielt hatte.

Denn ich lag noch keine Minute als „Patient“ wieder auf dem Ruhebett, als ich durch die offenen [22] Schiebetüren in den dunklen Nebenzimmern einen Schatten wahrzunehmen glaubte, den ich nur in einem Eckspiegel sehen konnte.

Ich hatte mich nicht getäuscht.

Es war ein schlanker Mann in dunkler Hausjacke, der lautlos über die dicken Teppiche näherglitt, dann stehen blieb und mich nun beobachtete.

Ich schloß die Augen und blinzelte nur durch die Lidspalten nach dem verräterischen Spiegel hin.

Ich mußte mich zusammennehmen, um mich nicht durch eine jähe Bewegung der Überraschung zu verraten.

Der Herr dort war Charly Blaag, der Reklamechef des Old-Palastes! Er war also auch gleichzeitig der „unsichtbare“ Spezialkommissar Harry Baaker, den die Regierung sich eigens zum Zweck der Aufspürung der Feme der Drei aus den afrikanischen Kolonien herbeordert hatte und über dessen Person man nichts als die Stichworte kannte: Sehr elegant, sehr energisch, sehr verschwiegen!

Da hatte ich mich ja hier ahnungslos in die Höhle des Löwen hineingewagt, des sogenannten unsichtbaren Löwen vom Kongo, denn gerade in den englischen Kongogebieten sollte dieser Mann mit eiserner Faust gegen üble Mißstände aufgetreten sein.

Die Gestalt verschwand wieder, und dann kehrte Miß Evelyn zurück, der gegenüber ich mich Charles Bellard, französischer Kaufmann, genannt hatte.

Evelyn war jetzt von einem Küstenaraber in Dienerlivree begleitet, und dieser stämmige, große, braunschwarze[3] Bursche mit den intelligenten Zügen blieb abwartend an der Tür stehen.

Eine ungewisse Ahnung stieg da in mir auf, daß „Monsieur Bellard“, Mieter der obersten Etage des Old-Palastes, seine ganze Geistesgegenwart zusammenraffen [23] müsse, um aus dieser Löwenhöhle wieder entwischen zu können.

Hatte die ebenso schöne wie pikante Evelyn, die schon am Kongo ihren Bruder tatkräftig unterstützt haben sollte, irgendwie Verdacht geschöpft?

Schon die nächsten Minuten mußten mir Gewißheit geben.


4. Kapitel.
Die Bedeutung der Blitzlichtaufnahme.

Ich war hier ganz allein auf mich angewiesen, weder Roger Sheffield noch Bickfort Tomsen konnten ahnen, wohin ich geraten war, und mit einer fast unerträglichen Spannung sah ich der weiteren Entwicklung der Dinge entgegen.

Evelyn gab sich anscheinend vollkommen zwanglos wie bisher.

„So, Mr. Bellard“, meinte sie liebenswürdig, „eine Tasse Mokka wird Ihre Nerven am schnellsten wieder ins Gleichgewicht bringen. – Ali, reiche mir das Tablett …“

Der Araber trat gewandt näher, und Evelyn hielt mir die gefüllte Tasse hin.

Wenn unser trügerisches Spiel vorhin auf der Straße wirklich von diesem dunkelhaarigen Mädchen, das am Kongo ihren persönlichen Mut bei hundert Gelegenheiten bewiesen hatte, noch nicht durchschaut sein sollte, dann konnte es jetzt jeden Augenblick geschehen.

Denn das Paket, das ja Mac Forsters Schreibtischinhalt bergen sollte und das dort am Fenster auf einem Stuhle lag, enthielt nur alte Zeitungen.

Wir hatten in der Eile nichts Passenderes als Ersatz finden können.

[24] Öffnete Evelyn Baaker dieses Paket, so mußte es zur Katastrophe kommen, und gerade die Anwesenheit des Arabers in der schlichten Livree erschien mir als sehr übles Vorzeichen.

Zu meiner Erleichterung jedoch schickte Evelyn den Farbigen nun hinaus, setzte sich zu mir und bat mich nochmals, den Mokka nicht kalt werden zu lassen. Sie plauderte über London und kam auf Umwegen auch auf den Anlaß meines hiesigen Aufenthaltes zu sprechen. Als Monsieur Charles Bellard erklärte ich ihr freimütig, daß ich mich mit der Absicht trüge, hier eine Auskunftei größten Stils einzurichten und erwähnte auch, daß ich das oberste Stockwerk des Old England-Palastes gestern von Mr. Seymour Flox gemietet hätte.

Ich merkte, wie sie leicht stutzte. Der Name Old-Palast, in dem ihr Bruder als „Blaag“ so raffiniert das Preisrätsel gegen die Feme für seine Zwecke ausgeschrieben hatte, mußte ihr ja auffallen, und hierbei entschlüpfte ihr ungewollt eine Äußerung, die für mich außerordentlich wichtig war.

„So, – also Sie kennen Mr. Flox … Nun, ein Bekannter von mir kennt ihn gleichfalls. Welchen Eindruck haben Sie als Geschäftsmann mit Menschenkenntnis von ihm gewonnen, Mr. Bellard?“

Ich blickte Evelyn in die dunklen Augen. Es war nichts Hinterhältiges darin.

„Wenn ich ehrlich sein soll, Miß Baaker: Flox kommt mir wie ein verkappter Verbrecher vor!“

Sie nickte nachdenklich und stieß seltsamerweise einen leichten Seufzer aus.

„Denselben Eindruck empfing auch mein Bekannter …“, erwiderte sie noch zerstreuter. „Er glaubte sogar zunächst, Flox sei mit einem Amerikaner Sylvester [25] Blooc identisch … Das trifft jedoch nicht zu, wenigstens nicht ganz …“

Ich überlegte mir bei dieser eigentümlichen Unterhaltung jedes Wort. Evelyns „Bekannter“ war natürlich ihr Bruder …

„Ein sehr rabiater Herr ist dieser Flox bestimmt“, sagte ich scheinbar empört. „Vor ein paar Stunden wurde ich im Old-Palast Zeuge, wie Flox seinen Reklamechef Blaag, den genialen Erfinder des großen Preisrätsels, einfach verhaften und abführen ließ. Weshalb, weiß ich nicht.“

Evelyn lächelte unmerklich. „Ja, davon habe auch ich gehört, Mr. Bellard … – Fühlen Sie sich nun besser?“

„Oh, ich fühle mich wie neugeboren“, scherzte ich harmlos. „Ich werde Sie nun nicht weiter belästigen, Miß Baaker … Die Nacht ist bereits soweit vorgeschritten, daß auch Sie der Ruhe bedürfen. Wenn Sie nur noch die Liebenswürdigkeit hätten, mir ein Gläschen Kognak zu holen, so werde ich vollkommen imstande sein, mein Hotel allein zu erreichen.“

Sie eilte dann auch hinaus, und im Augenblick hatte ich die Vorhänge des hinter dem Schreibtisch befindlichen Fensters zurückgeschlagen und das Fenster[4] geöffnet. Ebenso flink warf ich das verdächtige Paket in die Büsche des Gartens hinab, steckte noch schnell ein paar wertvolle goldene Nippfiguren von der Schreibtischplatte zu mir, damit der Eindruck eines Diebstahls von draußen vervollständigt würde, erwartete dann Evelyn mitten im Zimmer, trank das Gläschen Kognak und ließ mich von meiner seltsamen „Zufallsbekanntschaft“ hinausgeleiten. An der Vorgartenpforte schieden wir mit herzlichem Händedruck. Eine leere Taxe kam gerade vorüber, ich rief dem Schofför „Westminster-Hotel“ zu, Evelyn winkte nochmals, und [26] Minuten später entlohnte ich die Taxe und schritt auf unsere Limousine zu, in der mich Freund Baronett mit den vielsagenden Worten empfing:

„Olaf, – ich war im Garten, ich habe das Paket Zeitungspapier mitgenommen. – Nun, wie war’s?!“

Auch Bickfort Tomsen, der Warner, lehnte sich vom Führersitz in das Innere des Wagens hinein und meinte belustigt:

„Wer war denn nun eigentlich diese dunkle Schönheit, die dich mit ihrem Sportwagen anrempelte?“

„Es war“ – ich machte absichtlich eine Kunstpause – „es war Evelyn Baaker, die Schwester des unsichtbaren Kongolöwen, unseres neuesten Verfolgers, – es war gleichzeitig die Erfinderin des großen Preisrätsels!!“

„Nicht möglich!“, rief der sonst so ungeheuer abgeklärte Baronett kopfschüttelnd. „Weißt du das mit aller Bestimmtheit?“

„Freilich, – – bitte …!!“

Und ich holte die gestohlenen fünf goldenen Figuren hervor, die alles nur Erzeugnisse altafrikanischer Herkunft und Götzenstatuetten waren.

Bick und Roger schwiegen zunächst.

Dann fragte Bickfort, ohne weiter auf diese Vorgänge einzugehen: „Und wie erklärst du dir den bei Mac Forster bestellten Einbruch?“

„Sehr einfach: Kommissar Baaker hat sich doch natürlich vor seinem Dienstantritt bei seinem Vorgänger Hemmerfolk allerlei über uns drei berichten lassen. Dabei mag er Ellen Clinton gesehen haben oder sonstwie auf sie aufmerksam geworden sein. Zweifellos ließ er sie beobachten, zweifellos muß ihm einiges über die Vorfälle auf der einsamen Straße bei Norwood, als Ellen und Mac mich „befreiten“, bekannt geworden sein. Ich betone: Einiges!! Die tatsächlichen Vorgänge [27] blieben seinen Leuten unklar. Er hoffte nun, Mac Forster könnte sich hierüber Aufzeichnungen gemacht haben. Deshalb befahl er – scheinbar tat es der berüchtigte Sylvester Blooc – den drei Amerikanern, Mac’s Schreibtisch auszuräumen. Mithin weiß Baaker, wie Sylvester Blooc seine Kreaturen benachrichtigt, aber wer Blooc ist, weiß er nicht, – genau so wenig wie wir. Immerhin ist eins gewiß: Seymour Flox, der Allmächtige des Old-Palastes, steht mit dem Newyorker Bandenführer in Verbindung. Eine Fährte haben wir also bestimmt gefunden: Sie führt über Flox zu dem großen Bankräuber Sylvester, und da dieser Bursche schon deshalb gemeingefährlich ist, weil die Hudson Bank in Newyork nach dem Einbruch in Konkurs geriet und gerade die kleinen Sparer leer ausgingen, müssen wir den Mann einmal vor die Feme bringen. – So, – – noch eine Frage, Bickfort?“

„Allerdings“, meldete sich an Stelle Bicks der Baronett. „Weshalb baute Mac Forster in seinem Zimmer die Blitzlichtanlage und die fotografische Kamera auf? Rechnete er etwa mit unserem Erscheinen?“

„Ja, das tat er bestimmt. Wozu sonst die Blitzlichtanlage?! Wozu ferner Ellen Clintons Erscheinen am Fenster?! Mac Forster und Ellen Clinton sind eben nach wie vor überzeugt, daß die Feme, der der Volksmund tausend Augen andichtet, auch meine Verhaftung, die eines scheinbar Unbeteiligten beobachtet hat, und daß die berühmten „Drei“ bei Mac Forster genau wie Baaker irrigerweise, Aufzeichnungen über diese Vorfälle vermuten werden und … verschwinden lassen wollen. – Nur so ist die Blitzlichtanlage zu erklären, – – nur!! Oder wißt ihr eine bessere Deutung?“

„Nein“, sagte der Baronett ehrlich. „Diese Deutung muß stimmen. Und das Nächstliegende ist nun, [28] daß das Brautpaar die Blitzlichtaufnahme für den Wettbewerb, also für das Preisrätsel, einreichen werden. Ich bin nur gespannt, was sie dazu als schriftliche Beweise, es handele sich um die Drei, beifügen werden. Diese schriftliche Anlage zu den Fotos muß ich unbedingt lesen und zwar rechtzeitig, – – rechtzeitig, – – ihr begreift wohl, was ich damit sagen will.“

Wir begriffen das durchaus, und die Blicke, die wir wechselten, verrieten unsere tiefinnersten Bedenken und geheimen Befürchtungen. Trotzdem blieb es bei unserem bisherigen Programm, und der folgende Tag brachte den Londonern die zweite große Überraschung im Verlauf dieser einen Woche: Die Auskunftei Bellard!!

In den Mittag- und Abendblättern erschienen Riesenanzeigen, in denen die Auskunftei Bellard, Hollborn Street 12 Personal für den Innen- und Außendienst suchte. Berücksichtigt würden nur Leute, die bereits längere Zeit erwerbslos seien, persönliche Vorstellung sei notwendig, und zwar für jede Berufsart, die in Betracht käme, getrennt.

Infolge dieser Anzeigen herrschte zwei Tage lang in der Hollborn Street vor dem Old-Palast ein geradezu lebensgefährliches Gedränge.

Und keiner, der von den Subdirektoren des Monsieur Bellard geprüft wurde, verließ die ausgedehnten Büroräume, selbst wenn er nicht eingestellt wurde, unbefriedigt. Die neue Auskunftei war großzügig genug, all diesen Hoffenden und Darbenden zumindest mit drei Schillingen für Fahrgeld und Zeitverlust beizuspringen, – kein Wunder auch, daß dabei der Old-Palast die besten Geschäfte machte, zumal ja bei einer Zeche von einem Schilling und Zuzahlung eines weiteren Schilling ein Bon ausgegeben wurde, der zur Teilnahme am Preisrätsel berechtigte, dessen Bedingungen [29] sehr einfach waren: Einsendung einer Amateurfotografie von drei Männern in denen der Einsender die „Feme“ vermutete und dazu Angabe von Zeit und Ort der Momentaufnahme[5] sowie kurzer Beweise dafür, daß es sich um die Feme handele. – Die Preisverteilung (Hauptgewinn ein völlig eingerichtetes Eigenheim von fünf Zimmern nebst Garten) würden nach drei Monaten durch ein Preisrichterkollegium stattfinden. Die Gewinne sollten denen zufallen, die am klarsten den Nachweis erbracht hätten, daß die Fotografien tatsächlich die Drei von der Feme darstellten.


5. Kapitel.
Evelyn und Ellen.

Ellen Clintons Vater gehörte mit zu den Glücklichen, die von der Firma Bellard eingestellt worden waren. Er wurde zunächst mit ganz leichten Aufträgen im Außendienst beschäftigt, so daß er viel Gelegenheit hatte, sich an der frischen Luft zu bewegen.

Die Familie Clinton war jetzt förmlich aufgelebt, Not und Sorgen waren glücklich überstanden, nur Mac Forsters Benehmen bereitete den Eltern des jungen Mädchens einige Bedenken, während Ellen die Wandlung der Dinge ziemlich kühl hinnahm. Mac war verschlossener denn je, hatte auch seine Wohnung gewechselt, ließ sich immer seltener sehen und schien es gar nicht zu bemerken, daß Ellens rasch erwachte Zuneigung zu ihm hierdurch[6] langsam erkalten mußte.

Acht Tage nach der eigentlichen Eröffnung der Auskunftei säuberte Frau Amalie Pellwoor, die gleichfalls bei der Firma Bellard eine feste Anstellung als Aufwärterin und sogar im Seitenflügel für sich und [30] ihre Poussy eine kleine Wohnung gefunden hatte, das Privatbüro Mr. Bellards, der zumeist verreist war, und unterhielt sich zu dieser späten Abendstunde wie so oft mit dem buckligen Sekretär, der ein fanatischer Radioschwärmer war und die Kopfhörer kaum einmal ablegte.

Zwischen Frau Amalie, Poussy und dem alten Samuel Sotter bestand längst eine Art besondere Freundschaft, obwohl die frühere Hausiererin den hinter seiner Tapetenwand arbeitenden Sam Sotter selten zu Gesicht bekam. Aber eine Tapetenwand gestattet auch eine Unterhaltung, ohne daß man sich sieht.

Das bejahrte, noch sehr flinke Weiblein fragte jetzt besorgt, ob Mr. Sotter sich erkältet habe. „Sie sprechen heute noch heiserer als sonst, und daß Sie mit dem Schnupfen so lange Überstunden machen, ist geradezu leichtsinnig, Mr. Sotter, genau so leichtsinnig wie Mr. Clintons Besuche bei Miß Lilian Goust, der Filmdiva. Meine Nichte ist dort Kammerzofe, und ein kränklicher Herr wie Clinton sollte nicht noch Stadtreisender spielen und …“

„Jeder hat einen Nebenverdienst, liebe Frau Pellwoor“, meinte ich scheinbar ganz uninteressiert. – In Wahrheit stellten Amaliens Andeutungen über Stuart Clinton einen weiteren Faden zu dem großen Netz dar, an dem ich so emsig arbeitete.

Die gute Amalie ahnte noch immer nicht, daß „Sotter“ nur ein Sammelname für drei verschiedene Persönlichkeiten war, die sich regelmäßig hinter der Tapetenwand ablösten.

Wir drei waren dadurch äußerst mißtrauisch geworden, daß Spezialkommissar Harry Baaker seit jener Nacht, als ich in sein Heim mich eingeschmuggelt hatte, wie vom Erdboden fortgefegt war. All unsere Versuche, seine Spur wieder aufzufinden, waren ergebnislos [31] geblieben, und schon aus diesem Grunde war Mr. Bellard so häufig abwesend. Wir fühlten uns in den Räumen der Auskunftei, die ein erster Subdirektor und Fachmann leitete, nicht mehr sicher.

Heute hatte ich als „Sotter“ hinter der Tapetenwand Dienst, und Frau Amalie, deren Mundwerk ungern stillstand, erzählte mir in einem Atem mit ihrer Sorge um meinen Schnupfen, daß Poussy[7] soeben durch das offene Fenster auf die Plattform der Feuerleiter hinausgeklettert sei. Dann hörte ich, wie sie ihre Katze zärtlich lockte, das Fenster schloß, und plötzlich auch der Lichtschalter zweimal knackte.

„Mr. Sotter …!!“ flüsterte Amalie nun dicht an der Tapetenwand … „Mr. Sotter, – – habe ich nur einen Schreck bekommen!! Der Kerl ist wieder da! Schon gestern bemerkte ich ihn … Unten im Hof steht er …“

„Ja, – der neue Wächter, Frau Pellwoor“, erwiderte ich sehr gegen meine eigene Überzeugung. „Gute Nacht, verschlafen Sie Ihre Ängste“, fügte ich scherzend hinzu.

Kaum aber hatten Amalie und Poussy[8] die Büroräume verlassen, als ich auf eine etwas eigentümliche Art meinen fensterlosen Verschlag gleichfalls verließ und mich Minuten später droben auf dem flachen Dache des Old-Palastes befand. Amalie ahnte nicht, wie wichtig mir ihre Beobachtungen waren. Ich kroch bis zur Dachrinne vorwärts und blickte in die Tiefe hinab.

Gerade am Fuße der Feuerleiter drunten im Hofe bemerkte ich tatsächlich eine Gestalt, die dort um diese Stunde nichts zu suchen hatte. Ich besaß jedoch bessere Augen als die Aufwärterin, und[9] da die Person jetzt den Kopf hob, erkannte ich zu meiner größten Verblüffung Ellen Clinton, die in einem Männeranzug [32] mit Schiebermütze steckte und die dazu noch einen prall gefüllten Rucksack trug.

Der Hofraum war bis auf einige Lieferautos leer.

Ellen schien sich erst einmal orientieren zu wollen, klomm dann aber recht flink die Feuerleiter[10] hinan und machte vor den Fenstern des Privatbüros des Mr. Flox halt, schwang sich geschickt auf einen Mauervorsprung bis zum vierten Fenster und öffnete dieses mit der Gewandtheit eines Einbrechers.

Es war der Kassenraum des Old-Palastes, in den sie eingedrungen war. – „Kassenraum“ war eine etwas großsprecherische Bezeichnung, denn Generaldirektor Flox ließ jede Nacht nach Geschäftsschluß die Geldbeträge noch zur Bank bringen, und der veraltete Geldschrank in dem „Kassenraum“ enthielt lediglich Geschäftsbücher und die zahllosen Briefe derer, die sich an dem großen Preisrätsel bisher beteiligt hatten. Gewiß, der Tresor war ein umfangreiches Ungetüm, – wir drei wußten dies am besten, und als Bickfort Tomsen, unser Spezialist ihn vor einiger Zeit ohne äußerliche Spuren dieser Eigenmächtigkeit geöffnet hatte, war dem vielseitigen jungen Absender der berüchtigten „gelblichen Briefe“ so manches an diesem Stahlschrank aufgefallen.

Jetzt schien Ellen Clinton aus noch nicht recht klaren Gründen dasselbe wie Bickfort versuchen zu wollen. Das Tun des Mädchens war mir wirklich unverständlich. Ellen wußte offenbar, daß die Wächter ihre Rundgänge erst um halb zwölf begannen und daß Mr. Seymour Flox heute Sonnabend das Wochenende auf seinem Landsitz an der Themse verbrachte. Die Zeit war also gut gewählt. Wie das junge Mädchen allerdings den Tresor allein ohne fremde Hilfe aufzuschweißen gedachte, blieb ein Rätsel.

Nachdem einige Minuten verstrichen waren, benutzte [33] ich ebenfalls die Feuerleiter, landete glücklich vor dem betreffenden Fenster und schob die Wolldecken, die Ellen innen befestigt hatte, etwas zur Seite.

Ich war gerade im richtigen Augenblick zur Stelle, denn soeben hatte Ellen ihrem Rucksack einen elektrischen Schweißapparat kleineren Formats entnommen und wollte die Anschlußschnur an einer Schaltdose befestigen, als unter einem der Bürotische, vor dem Musterkartons aufgehäuft waren, eine zweite Gestalt lautlos hervorglitt, Ellen mit einer Laterne beleuchtete und ihr gleichzeitig eine Pistole entgegenhielt.

Es war erstaunlich, wie gute Nerven Ellen besaß.

Sie schrie weder auf noch wich sie ängstlich zurück, nein, sie heftete nur ihre Augen ganz fest auf das durch eine Maske völlig verhüllte Gesicht des zweiten Mannes und sagte seltsam scharfen Tones, wenn auch nur halblaut:

„Du solltest dich schämen, Mac, daß du all meine Schritte überwachst oder überwachen läßt. Ich erkenne dich, du kannst die Larve abnehmen, ich werde niemals so töricht sein, dich für einen der Drei von der Feme zu halten. Ich glaube kaum, daß wir beide uns noch etwas zu sagen haben. Meine Liebe zu dir war einer jener Irrtümer, die jedem jungen Mädchen, das in bescheidenen Verhältnissen lebt und sich plötzlich von einem anscheinend sympathischen Manne umworben sieht, zustoßen kann. Du hast mich zu bitter enttäuscht. Du wünschtest nicht eine Bekanntschaft mit mir anzubahnen, sondern die Sekretärin Kommissar Hemmerfolks wolltest du aushorchen. Hinterher ist mir das alles klar geworden. Deine Absichten zielten von vornherein darauf ab, dir die ausgesetzte Belohnung von fünftausend Pfund für die Ergreifung der Drei von der Feme zu sichern – durch mich! – Willst du etwa [34] noch weiter Komödie spielen und leugnen, daß du Macdonald Forster bist?! Eins verrät dich trotz der viel zu weiten Handschuhe und trotz deiner Maskerade: Dein Parfüm! Du solltest damit wechseln. Du bist Mac!“

Die Person, die der enttäuschten und empörten Ellen auf zwei Schritt gegenüberstand, senkte jetzt die Waffe und erwiderte mit verstellter, dumpfer Stimme, die mich freilich nicht täuschen konnte:

„Miß Ellen, Sie befinden sich in einem bösen Irrtum. Ich bin nicht Ihr Verlobter, – daß er dasselbe Parfüm bevorzugt, ist ein Zufall. Da – sehen Sie meine Hand. Ist das die Hand Macdonald Forsters?!“

Der Fremde hatte schnell den rechten Handschuh abgestreift.

Ellen flüsterte ungläubig: „Oh, – eine Frau! Das ist eine Frauenhand! – Wer sind Sie?!“

Aber die Maskierte schüttelte energisch den Kopf.

„Mein Name tut nichts zur Sache. Trotzdem können Sie mich nach den Worten, die Sie soeben an Mac Forster zu richten glaubten, als Ihre Verbündete betrachten.“

Jetzt verstellte Evelyn Baaker, die Schwester unseres gefährlichen Gegners, der in Wahrheit „unsichtbare Kongolöwe“, ihre Stimme nicht mehr.

In herzlicher Anteilnahme ergriff Evelyn Ellens Hand. „Was wollten Sie hier? Schnell, – – wir haben nicht mehr viel Zeit … Seien Sie ehrlich! Auch ich bin es. Ich bin vor Ihnen eingeschlichen und wollte ebenfalls den Tresor öffnen, freilich nicht mit Gewalt, das ist nicht notwendig. Es geht auch ohne Ihre Einbrecherwerkzeuge, Ellen Clinton. Da, – geben Sie acht …!“

Sie trat schnell vor den Stahlschrank hin, berührte wie spielend eine der Zierrosetten neben denn Schloß, und die schwere Tür schwang geräuschlos nach außen.

[35] Ellen hatte sich vor Staunen kerzengerade aufgerichtet. Unter ihrer tief ins Gesicht gezogenen Mütze leuchteten ihre Augen vor Freude und Triumph.

Evelyn Baaker drehte sich nach ihr um und fragte nochmals in demselben warmen, freundlichen Tone:

„Nun, Kind, – was wollten Sie hier?“

Ellen senkte schnell den Kopf. Sie war verlegen, – man fühlte, wie schwer ihr das Lügen wurde.

„Ich … ich … brauche Geld!“, stammelte sie noch scheuer.

Die Schwester des berühmten Harry Baaker seufzte enttäuscht. „Schade um Sie, Ellen Clinton! Ich hätte mehr von Ihnen erwartet. Ich habe Ihnen den Weg zum Inhalt des Tresors freigemacht. Ist das Ihr Dank, Ellen?!“

Ellen lehnte halb verzweifelt an einem Aktenregal.

„Ich … darf Ihnen nicht die Wahrheit sagen“, flüsterte sie, gegen die aufsteigenden Tränen umsonst ankämpfend. „Meine Ansichten über Recht und Unrecht sind so ganz andere, als Sie sie vertreten dürften.“

Evelyn Baaker beugte sich vor und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. „Kind, geht es um die Drei von der Feme?“, fragte sie nachsichtig und liebevoll.

„Ja!“, erwiderte Stuart Clintons einziges Kind jetzt ohne Zögern.

Evelyns Hand sank herab.

„Ich fürchtete es …“, meinte sie leise. „Obwohl ich die Zusammenhänge nicht ganz verstehe …“ –

Ich verstand sie. Das genügte. Mir war plötzlich eine Offenbarung gekommen, wer der stille Kompagnon Seymour Flox war, – dieses schattenhafte Wesen, das in den Direktionsräumen des Old-Palastes immer erst nach Mitternacht wie aus dem Nichts auftauchte und mit Flox so leise Gespräche führte, daß unsere Abhöranlage zumeist versagte.


[36]
6. Kapitel.
Auf der nächtlichen Themse.

„Sie fürchteten es?!“, meinte Ellen plötzlich vollkommen verwandelt. Sie sprach mit einer Ruhe, die sogar Evelyn überraschte. „Ich fürchte nichts … Ich sorge mich nur um die Sicherheit der Drei von der Feme, denn ich kann diese Männer nicht verurteilen, die man verfolgt und hetzt und die doch nur immer im Grunde Gutes getan haben.“

Ihre Sprache klang leidenschaftlich und voll innerster Überzeugung.

Evelyn Baaker blickte still zur Seite.

„Gutes?!“, wiederholte sie zweifelnd. „Nennen Sie es gut, wenn die Drei[11] eigenmächtig Menschen verschwinden lassen?! Nennen Sie es gut, wenn diese Drei selbstherrlich mit Hilfe ihres Reichtums, denn sie sind sehr reich, das weiß man, die seltsamsten Methoden anwenden, um unter Umgehung des Rechtsweges zu strafen?!“

Ellen Clinton warf den hübschen Kopf kampflustig in den Nacken. „Ich nenne es gut“, verteidigte sie uns voller Eifer, „den Armen in aller Stille zu helfen, und das tun die Drei, – das weiß ich! Wir beide, Miß, wer Sie auch immer sein mögen, werden hierüber nie zu einer Einigung gelangen. Vorhin sagten Sie, wir hätten keine Zeit zu verlieren. Das stimmt. Ich schulde Ihnen Dank …: Der Tresor ist offen! Lassen Sie mich mein heimliches Werk vollenden. Ich … ich will nur einen der für das Preisrätsel eingelaufenen Briefe öffnen und prüfen – nur das! Hindern Sie mich nicht daran. Denn es ist mein eigener Brief, Miß. Ich will niemanden schädigen.“

[37] Evelyn Baaker nickte nur. „Bitte … Ich glaube Ihnen. Trotzdem – ich warne Sie!“

Doch Ellen Clinton hatte bereits einen der Kästen, in denen die Briefe je nach Eingang sauber geordnet in Reihen eng beieinander lagen, herausgenommen und auch sehr bald ihren Brief gefunden.

Schon beim Anblick des Umschlages stutzte sie.

Evelyn war nähergetreten.

„Was bedeutet das?!“, rief Ellen gänzlich verwirrt. „Hier steht auf der Rückseite meine Adresse, mein Name, aber meine Handschrift ist nur nachgeahmt!!“

„Öffnen Sie!“ meinte Evelyn halb befehlend. „Die Briefklappe ist nur leicht zugeklebt.“

Ellen gehorchte …

Und jetzt, als sie das Amateurbild und die beigefügte, mit Maschine geschriebene Beweisführung betrachtete und las, entfuhr ihr trotz aller Selbstbeherrschung ein leiser Schrei.

Schnell tat sie Bild und Briefblatt wieder in den Umschlag zurück, klebte ihn zu und legte den Brief mit zitternder Hand in den Kasten zurück.

Evelyn beobachtete sie unausgesetzt.

„Sie sind freudig überrascht, Miß Clinton?“, fragte sie forschend.

„Ja, – mehr als das! Ich begreife nicht, wie …“, und da schwieg sie plötzlich.

Kommissar Baakers kluge, energische Schwester meinte etwas mißtrauisch:

„Handelt es sich wirklich um das Bild und das Beischreiben, das Sie dem Old-Palast einschickten?“

„Darauf kann ich Ihnen leider nicht antworten, Miß“, erklärte Ellen so bestimmten Tones, daß Evelyn mit einem leichten Achselzucken den Tresor wieder verschloß.

Für mich war es höchste Zeit, das Feld zu räumen.

[38] Gleich darauf beobachtete ich vom Dache aus, wie beide Mädchen sich über die Feuerleiter und den Hof unangefochten entfernten, kehrte dann über den Hausboden in meinen Verschlag zurück und nahm einige gründliche Veränderungen mit mir vor.

Es war jetzt halb zwölf, und das Nachtkabarett im dritten Stock des Old-Palastes hatte gerade mit seinem Programm begonnen.

Ein Herr im Frack mit leicht angegrauten Schläfen und einer würdigen Hornbrille schlenderte durch die dicht besetzten Tischreihen und schaute dabei verschiedentlich auf seine Uhr, – er schien Bekannte zu suchen, jedoch nicht zu finden, verließ wieder den Saal und saß fünf Minuten darauf in einer dunklen Limousine.

„Du wirst noch etwas warten müssen, lieber Bick“, sagte er zu dem blondbärtigen Schofför. „Freund Roger Sheffield, unser Henker, hatte sich im Kabarett gerade erst einen Imbiß servieren lassen. Inzwischen werde ich die Vorhänge zuziehen und die Schreibmaschine hervorholen. Du mußt einen Brief an Mac Forster schreiben, einen deiner Warner-Briefe.“

„Mit Vergnügen, Mr. Charles Bellard!“, erwiderte Bick übertrieben diensteifrig. „Dieser Macdonald Forster ist ebenfalls eine der dunklen Nummern in unserem Spiel.“

„Nicht die dunkelste“, schränkte ich Bicks abfällige Kritik etwas ein.

Als der Brief fertig war, bestieg Roger Sheffield im Zylinder und Abendmantel unser Auto. – Er zeichnet sich nie durch übermäßige Liebenswürdigkeit aus, heute war er besonders schlechter Laune. „Nicht einmal zwei Stunden darf man sich im Kabarett ausschlafen!“, brummte er unwirsch. „Was zum Henker gibt’s denn?!“

[39] Bickfort Tomsen lachte. „Du solltest nie „Zum Henker“ sagen, edler Baronett. Du schon gar nicht! An allen Anschlagsäulen ist dein Ruhm abgedruckt. – Höre zu. Olaf hat mir folgenden Warner-Brief an Mac Forster diktiert:

„Mr. Macdonald Forster, die Gründe Ihres seltsamen Benehmens Ihrer Braut gegenüber sind uns zwar noch unklar. Um so bestimmter wissen wir, daß Sie ein Menschenfänger sind. Hüten Sie sich! – Dies ist ein Befehl, den Sie verstehen werden. – Der Warner.“

„Er mag den Brief verstehen, – ich verstehe ihn nicht“, meinte der stämmige Baronett mißmutig.

„Tröste dich, Roger, ich tappe genau so im Dunkeln wie du“, sagte Bickfort leise kichernd. „Olaf hat offenbar jetzt die richtige Katze am Schwanz erwischt.“

„Ja, – – Poussy!“, erklärte ich genau so belustigt. „Frau Amalies Poussy …! – – Und nun vorwärts!“ –

Um dieselbe Zeit saß Macdonald Forster, der doch nur bei einer Anwaltsfirma als einfacher Schreiber tätig war, zusammen mit mehreren sehr ernsten Herren, die recht scharfe Züge und kühle, kluge Augen hatten, in seinem zweiten und eigentlichen Heim in Park Lane und ließ mit stoischer Ruhe die Vorwürfe des Polizeipräsidenten über sich ergehen.

„Forster“, sagte der Allgewaltige von Scotland Yard unter anderem, „die Dienste, die Sie uns bisher geleistet haben, erkenne ich rückhaltslos an. Daß ein Mann wie Sie selbstlos genug ist, seinen wahren Bildungsgrad und seinen Stand derart zurückzusetzen, um der Allgemeinheit zu dienen, kann nicht hoch genug bewertet werden. Aber die letzte Sache hätte niemals geschehen dürfen. – Also auch Sie haben nicht die allergeringste Spur gefunden?“, fügte er überflüssigerweise hinzu.

[40] „Nein, – ich erklärte das schon zweimal“, erwiderte Forster kalt und mit einem eigentümlich finsteren Blick.

Der Präsident erhob sich. „Es tut mir leid, Forster“, meinte er achselzuckend. „Ich muß Ihre Vollmachten zurückziehen und widerrufen.“

„Bitte, mir nur angenehm“, meinte der also Gemaßregelte achselzuckend, und um seine Lippen zeigte sich dabei ein Ausdruck von Schmerz und Gewissenspein, der nur einem sorgfältigen Beobachter auffallen konnte.

Die Herren hatten in ihrer Erregung – denn es ging hier um sehr ernste Dinge – das wiederholte Pochen an der Flurtür überhört.

Der Mann, der in das Arbeitszimmer Zutritt begehrte, ohne von Forsters Diener in die Wohnung eingelassen zu sein, war ein uniformierter Angestellter eines Eilboten-Instituts und hatte bereits an der Tür eine Weile gehorcht. Jetzt erst wurde Forster aufmerksam und rief etwas gereizt und ungeduldig mit seiner zuweilen messerscharf klingenden Stimme ein überlautes „Herein, zum Donner!“

Der alte Bote entschuldigte sich, daß er die Herren gestört habe, überreichte Forster einen Brief und verschwand eiligst.

Auch die hohen Herren des Präsidiums verabschiedeten sich merklich kühl, und als Macdonald nun allein war, schnitt er den Briefumschlag hastig auf. – Er kannte dieses dicke, gelbliche Papier, und mehrmals überflog er mit verkniffenen Augen die sonderbare Warnung, – nein, diesen ihm durchaus verständlichen Befehl.

Forster war ein Mensch mit eisernen Nerven.

Jetzt aber betupfte er sich doch die schweißfeuchte Stirn, starrte grübelnd vor sich hin und hob dann den seltsam traurigen Blick und betrachtete sinnend das [41] Bild Ellen Clintons, das drüben auf seinem Schreibtisch stand.

Gleich darauf verschwand er in seinem Schlafzimmer, von dessen Fenstern er eine Reihe von Gärten überschauen konnte, blieb lange Zeit im Dunkeln stehen und zog sich schließlich sehr eilig um.

Er hoffte insgeheim, den wachsamen Augen der Feme doch noch zu entgehen, – – aber er täuschte sich.

Wir hatten alles getan, endlich hinter sein geheimnisvolles Treiben zu kommen, und als Forster an den Docks eine einsame Wassertreppe hinabstieg und völlig vermummt ein kleines Boot loskettete, mit dem er über den Strom ruderte, hatten wir bereits ein Motorboot entliehen und blieben abermals unbemerkt hinter ihm, hielten uns aber in weiter Entfernung und beobachteten ihn durch ein Fernglas.

Freund Bickfort war am Ufer geblieben. Wir vermieden es nach Möglichkeit, zu dreien aufzutreten, und die weiteren Ereignisse bewiesen, wie richtig wir auch diesmal gehandelt hatten.

Ich hatte längst einen armseligen Kahn mit einem Außenborder wahrgenommen, scheinbar das mit Körben gefüllte Fahrzeug eines Gemüsehändlers, und auch Freund Roger schaute wiederholt mißtrauisch hinüber.

Die Nacht war hell und sternenklar, und Mac Forster, immer noch mißtrauisch und vorsichtig, wich jetzt in großem Bogen einer Polizeibarkasse aus und nahm dann wieder die Richtung auf einen Seitenkanal, in dem zumeist größere Schleppkähne lagen und dessen Ufer von Bogenlampen stellenweise hell beleuchtet wurden, während Schiffsstauer und Arbeiter die Schleppzüge entluden.

Das Quietschen[12] der Ketten von Dampfwinden und Kränen, das Poltern und Rasseln der auf Schienen laufenden [42] kleinen Kippwagen und das Aufheulen von Dampfsirenen erklang immer lauter, immer näher.

Der Mann in dem Gemüsekahn, dessen Außenborder einen greulichen Lärm vollführte, war nun von Mac Forsters Boot kaum mehr hundert Meter entfernt.

Plötzlich sah ich in dem Gemüsekahn, in dem ein einzelner älterer Mann hockte, das Mündungsfeuer einer Maschinenpistole aufblitzen …

Schüsse waren nicht zu hören. Der Außenborder ratterte ohnedies wie ein Maschinengewehr …

Freund Roger schrie erschrocken auf.

„Olaf, – – das galt Forster!!“

Ja – es hatte Forster gegolten, und sein kleiner Nachen trieb nun mit der Mündung davon.

Mac war verschwunden.

Aber auch der Kahn des heimtückischen Schützen benahm sich sehr seltsam: Er sackte weg!! Und das ging so schnell, daß der geheimnisvolle Insasse und niederträchtige Meuchelmörder zweifellos eine Bodenklappe seines Fahrzeugs geöffnet haben mußte.

Wir beide konnten uns um den gefährlichen Burschen, der nun schwimmend entkam, nicht weiter kümmern …

Unser Motorboot hatte Besseres zu tun.

Ich wußte: Der Schütze entging uns nicht mehr!

Für mich war das Geheimnis der Persönlichkeit des stillen Kompagnons des Mr. Seymour Flox bereits so gut wie gelöst, und damit zugleich das des flüchtigen amerikanischen Bankräubers Silvester Blooc, der so ungezählte kleine Sparer um die Früchte ehrlicher Arbeit gebracht hatte.


[43]
7. Kapitel.
Ein Gefangener auf Ehrenwort.

Frau Amalie Pellwoor, die mit ihrer geliebten Poussy im Seitenflügel des Old-Palastes im Erdgeschoß zwei Stübchen bewohnte, wurde in dieser Nacht gegen halb Drei von ihrem Freunde Samuel Sotter herausgeklingelt.

Sotter, der Mann mit dem Kopfhörer aus dem Büroverschlag der Auskunftei Bellard, hatte noch einen Bekannten bei sich, der einen dritten, scheinbar kranken stützte.

Frau Amalie war sofort einverstanden, den durch „Straßenräuber“ Überfallenen insgeheim bei sich aufzunehmen, denn Mr. Sotter verstand es vortrefflich, ihr eine lange, rührende Geschichte zu erzählen, und noch niemand hatte vergebens an Amaliens gutes Herz sich gewandt. Die einstige Hausiererin hatte nun einmal eine Schwäche für „Samuel Sotter“, obwohl dieser doch nur ein Sammelbegriff für drei Personen darstellte, die stets nur sehr heiser durch die Tapetenwand Amalies Vorliebe für einen Plausch gefördert hatten. Vielleicht lagen die Dinge so, daß in Amaliens Unterbewußtsein (daß es so etwas gab, dürfte ihr fremd sein) die Vorliebe für die Drei von der Feme von Norwood, Albermarle-Street, her sich nach dem Old-Palast weiter verpflanzt hatte.

Wie dem nun auch sein mochte, Tatsache blieb, daß mein glücklicher Gedanke, den halb besinnungslosen Mac Forster, den wir in unserem Auto vom Flusse bis hierher geschafft hatten, bei Amalie unterzubringen, die allerbesten Früchte trug und daß ich, nunmehr wieder nur Sotter, der Radiobegeisterte, Macs Schußverletzungen [44] weit leichter beurteilte, als dies dem starken Blutverlust nach zunächst geschehen war. Es handelte sich um glatte Durchschüsse, die Wundränder hatten sich bereits wieder geschlossen, und nach einigen Gläschen Whisky war Forster bereits bei voller Besinnung.

„Frau Pellwoor“, sagte ich zu meiner Freundin in der Küche, „Ihr Patient hat keine Ahnung, wer ich bin. Es ist auch nicht nötig, daß er das erfährt. Erklären Sie ihm, ein paar Fremde hätten ihm beigestanden, mehr wüßten Sie nicht. Und wenn morgen ein junges Mädchen, seine Braut, ihn besuchen sollte, wundern Sie sich nicht weiter darüber, daß es jene Miß Clinton ist, – – Sie besinnen sich wohl, – dieselbe, die in Norwood nach wohltätigen Herren sich erkundigte.“

Amalie blickte mich seltsam an. In ihren lebhaften, intelligenten Augen erschien ein fast zärtlicher Schimmer. Mit freudiger Geste legte sie ihre verarbeitete Hand auf ihr Herz und flüsterte mit pfiffigem Schmunzel: „Lieber Mr. Sotter, mir kann man die Zunge herausreißen, – – ich verrate nichts, gar nichts. Ich weiß, Sie sind der sogenannte Warner der Drei von der Feme …!“

Ich schüttelte genau so pfiffig lächelnd den Kopf. „Bedaure, Frau Pellwoor, – Sie tun mir wirklich zu viel Ehre an! Hier meine Hand: Ich bin nicht der Warner! Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Aber ein so altes Männlein wie ich, – – der Gedanke ist zu komisch, – ich will Sie auch nicht weiter aufhalten, – – gute Nacht … Ein Arzt wird sehr bald erscheinen.“

Unser Abschiedshändedruck ließ in Amaliens Handfläche das unverkennbare Bild einer Zehnpfundnote zurück.

Draußen vor dem Old-Palast in der Hollborn-Street [45] war es längst still geworden. Die große Vergnügungsstätte war geschlossen, nur wenige Nachtschwärmer kamen noch vorüber, und unsere Limousine stand ganz einsam auf dem Parkplatz.

Ich stieg ein. „Amalie hatte leisen Argwohn geschöpft“, sagte ich zu meinen Freunden, die genau wußten, daß die Hauptarbeit dieser bereits entschwindenden Nacht uns erst noch erwartete. „Zum Glück konnte ich es Amalie unschwer ausreden, daß ich einer der Feme sei. Sie hielt mich für den Warner. – Lieber Bickfort, du kennst unser Ziel … Beeile dich … Wir müssen unbedingt noch vor Tagesanbruch die Sache ins Reine zu bringen.“

Zwanzig Minuten später schritten Sheffield und ich am Nordufer jenes Seitenkanals der Themse gemächlich in Arbeitertracht entlang, auf den Mac Forster mit seinem Ruderboot zugesteuert war. Der Baronett, der genau wie Bick niemals eine überflüssige Frage stellte, erklärte nach einiger Zeit, als ich verschiedene alte halbwracke Schleppkähne, die am Ufer vertäut waren, scharf gemustert hatte: „Suchst du eine bestimmte Person, Olaf?! Glaubst du, daß Mac Forster, der in Wahrheit Rechtsanwalt, sehr wohlhabend und nur aus Neigung Hilfsbeamter der Kriminalpolizei ist, hier irgendwo jemanden verbirgt?!“ – Es waren das weniger Fragen als etwas ironisch gemeinte Feststellungen.

Die blitzschnelle geistige Anpassungsfähigkeit meiner treuen beiden Helfer kannte ich seit langem. Gewiß, es sei immer wieder betont, daß jeder von uns dreien einen bestimmten Typ darstellte. Das Wertvolle hierbei war, daß wir uns gegenseitig ergänzten und zumeist auf verschiedenen Wegen zu denselben Schlußfolgerungen gelangten. Diesmal allerdings hatte es der Zufall gefügt, daß ich sowohl Freund Roger als auch Bick um ein Bedeutendes voraus war.

[46] Ich blieb stehen. „Er verbirgt jemanden, – das ist freilich nur beschränkt richtig“, erwiderte ich zerstreut.

Meine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt einem Schleppkahn, der, vollkommen wrack, an einer sumpfigen einsamen Uferstelle lag.

Keine Laufplanke führte vom Bollwerk an Land, nichts deutete darauf hin, daß sich drüben ein lebendes Wesen auf dem kläglichen, verrotteten Fahrzeug befände.

Und doch stieß mir etwas auf: Der kleine Schornstein der Heckkajüte, freilich nur ein Blechrohr, war – neu!

Sheffield, der gemächlich an seiner Zigarre sog, pfiff leise durch die Zähne. „Hm, – ich werde ein Boot besorgen, Olaf …!“

Dann waren wir an Bord, stiegen in die Heckräume hinab, und hinter einem Berg morscher Kisten fand ich noch eine Tür zu einem Verschlag mit einer Waschgelegenheit. Die Tür war durch zwei Vorhängeschlösser versperrt gewesen und dazu mit Eisenblech benagelt.

Meine Karbidlaterne erhellte die Finsternis, und außer dem Waschbecken nebst Zubehör sahen wir eine neue Matratze, auf der ein in Decken gehüllter Mann friedlich faulenzte, während auf einem Schemel neben ihm eine Lampe stand und Bücher, Zigaretten und Lebensmittel lagen.

Der Mann paßte in diese Umgebung nicht recht hinein. Er trug eine Frackweste, ein zerknittertes Oberhemd und darüber eine farbige Wollweste. An den Füßen hatte er ein Paar neue Morgenschuhe. Seine Lackstiefel und der Frack lagen auf einem zweiten Schemel.

Der grelle Lichtschein und das Geräusch unserer Dietriche in den Vorhängeschlössern hatten ihn geweckt. [47] Er blinzelte uns verschlafen an und fragte mürrisch: „Sind Sie’s, Mr. Warner?“

Warner?! – Sollte Mac Forster die Unverfrorenheit besessen haben, seinem Gefangenen gegenüber als einer von der Feme aufzutreten? – Es mußte wohl so sein.

Wir traten näher, und wie vereinbart spielten wir nun die durch diesen Fund völlig überraschten Flußdiebe.

„Na nu, Sir, was machen Sie denn hier?!“, meinte Sheffield im übelsten Englisch der verrufenen Londoner Stadtviertel.

Der Gentleman klemmte gemächlich ein Monokel ins Auge.

„Notquartier!“, entgegnete er leichthin.

„So … so …! – Na, du scheinst ja eine ganz feine Marke zu sein, old Boy“, grunzte Freund Roger scheinbar enttäuscht. „Bist wohl so einer von den Hochstaplern, die im Westen der City die Dummen fangen? Hast de wenigstens für uns arme Strompiraten ’n paar Schillinge übrig? Dann verraten wir dich nicht – Her mit’s Geld!! – Oho, ein nobler Herr! Schau an, – – fünf Pfund!! Sehr gut, – dann wollen wir nicht weiter stören, – – wir sind ehrliche Gauner, wir halten den Mund!“

Roger Sheffield trat zurück.

Der feine Gentleman konnte nur wenig von uns sehen, da meine Laterne ihn zu sehr blendete. Aber ich war mit Rogers Abwicklung der Unterhaltung nicht ganz einverstanden. Ich wollte über einen bestimmten Punkt Gewißheit erlangen.

„He, du“, sagte ich genau so im östlichen Dialekt, „hier haust wohl noch’n Freund von dir? Du warst ja eingeschlossen, Mensch!“

„Ein sehr guter Freund wohnt hier noch“, lächelte [48] der Vornehme etwas bissig. „Warner heißt er, und Taschendieb ist er …“

„Taschendieb?! Pfui Deibel!!“, meinte der Baronett verächtlich. „Wir sind anständ’je Flußdiebe! Es ist ein saures Brot … Aber Taschendieb?!“

Ich warf die Tür zu, verschloß sie wieder, häufte die Kisten davor auf, Roger half mir, und als wir am Ufer unserer Limousine zuschritten, sagte der stämmige Baronett mit dem eckigen, strengen Gesicht kopfschüttelnd:

„Es ist das erste Mal, Olaf, daß mein Hirn streikt. Was in aller Welt tut der Spezialkommissar Harry Baaker in dem elenden Loch?!“

„Haft mit Bewegungsfreiheit auf Ehrenwort, daß er nicht entfliehen will“, erwiderte ich, während wir bereits in unsere Limousine kletterten.

Bickfort Tomsen, der am Steuer saß, meinte lediglich:

„Habt ihr Evelyns Bruder gefunden? – das sollten die hohen Herren von Scotland Yard ahnen, daß Mac Forster den berühmten unsichtbaren Kongo-Löwen so fein geschnappt hat!“

„Und zwar als „Warner“, mein lieber Bick“, sagte ich nur halb scherzend, denn die weitere Entwicklung der Dinge bereitete mir Sorgen. „Baaker glaubt, er befände sich in der Gewalt der Feme. Wie Mac Forster als einzelner Mann es fertiggebracht hat, Baaker in das Wrack zu verschleppen, ist eine der vielen dunklen Fragen des Preisrätsel-Falles …“

„Und des Falles Sylvester Blooc, Bankräuber aus Newyork“, ergänzte der Baronett und zündete sich gemächlich eine Zigarette an.


[49]
8. Kapitel.
Macdonald beichtet.

Ich wußte, daß Ellen Clinton, für die ich ebensoviel Sympathie wie Mitleid empfand, in ihrer Stellung als Sekretärin Kommissar Hemmerfolks zwei Stunden Mittagspause hatte und daß ihr morgens ein einfacher Warner-Brief zugegangen war:

„Besuchen Sie heute mittag Frau Amalie Pellwoor im Seitenflügel des Old-Palastes.“

Ich fand mich daher bereits um halb Eins bei Frau Amalie als Mr. Samuel Sotter ein und plauderte leise mit ihr in der Küche. Ihrem Patienten Mac Forster ging es ausgezeichnet. Zur Zeit schlief er. Amalie, ihre unvermeidliche Poussy auf dem Schoße, erzählte mir, daß ihr der Sekretär des Mr. Seymour Flox mitgeteilt habe, heute mit der Morgenpost seien wieder achthundert Briefe für den Feme-Wettbewerb eingegangen. „Mr. Sotter, der Old-Palast macht mit der Sache ein großes Geschäft“, fügte sie unfreundlich hinzu. „Wenn die ganze Geschichte nur nicht Schwindel ist! Bedenken Sie: Erster Preis ein Eigenheim mit Garten!!“

„Jawohl“, sagte ich mit Nachdruck. „Und das Eigenheim ist von heute an sogar zu besichtigen, Frau Pellwoor. Nein, von Schwindel kann man hier nicht reden, – nicht ganz …“

Dann läutete es, und Ellen erschien.

Ich wurde so heimlich Zeuge der Begrüßung zwischen dem Brautpaar.

Ellen blieb in der Tür des Schlafstübchens stehen und preßte vor Schreck beide Hände gegen die Brust.

[50] „Mac, – – du hier?! – Was fehlt dir?“, flüsterte sie scheu und trat nur zögernd näher.

Macdonald Forster richtete sich auf und starrte seine Verlobte genau so überrascht und ungläubig an.

„Ellen, wer hat denn dich hergerufen?“, fragte er derart ablehnend und kalt, daß selbst ich mich einen Augenblick durch sein Benehmen täuschen ließ.

Das junge Mädchen hörte aus den eisigen Begrüßungsworten ebenfalls nur das heraus, was jedes feinempfindende weibliche Wesen aufs Schwerste verletzen mußte.

Sie blieb nach zwei zögernden Schritten stehen und schaute Mac lange an.

„Wenn ich gewußt hätten daß du hier anscheinend krank liegst“, sagte sie schließlich genau so kalt, „hätte ich dich nicht belästigt. Aber der „Warner“ befahl mich hierher, und wie ich über die Drei von der Feme denke, weißt du ja …“

„Leider!“, meinte Forster seltsam bedrückt. „Du denkst zu gut über die Drei … Das ist’s!“

Ellen Clinton preßte die Lippen fest aufeinander.

„Dann … dann kann ich also wieder gehen, Mac. Zwischen uns ist ja doch alles aus …!! Du liebst mich nicht mehr, das weiß ich, und ich … ich …“

Plötzlich versagte ihr die Stimme.

Ebenso plötzlich warf sie all ihren Stolz über die Kälte ihres Verlobten von sich und sank vor dem Bett in die Knie, umfing Mac Forsters Hals mit sehnsüchtigen Armen und barg ihr tränenfeuchtes Gesichtchen an seiner Brust.

Forster war unnatürlich bleich geworden.

Trotzdem streichelte er Ellen mit größter Zärtlichkeit und flüsterte wie verzweifelt:

„Wenn du ahntest, mein Liebling, in welche Gewissenskonflikte du mich gestürzt hast …!! Wenn du [51] ahntest, wie unendlich schwer es mir gefallen ist, dir gegenüber eine Entfremdung zu heucheln, die in Wahrheit gar nicht vorhanden ist. Ich liebe dich ja wie einst, my Darling, genau wie einst, und nur die Tücke des Schicksals trennt uns beide …“ Er atmete schwer, und das Folgende klang so, als ob es aus anderem Munde käme.

„Ellen, ich will und darf dich nicht länger täuschen … Ich bin nicht der, als der ich mich dir näherte. Ich bin … ein Verbrecher, Ellen, ein Mensch also, der die Feme zu fürchten hat! Mir droht das Zuchthaus, mein armes Mädel, und deshalb … gib mich frei!“

„Niemals!“

Ellen hatte sich auf den Bettrand gesetzt, hatte die Hände Macdonalds ergriffen und rief genau so leidenschaftlich wie dieses unumstößliche Niemals!: „Du, du – – ein Verbrecher! Das glaube ich nicht! Mein Herz sagt mir, daß du mich irgendwie zu täuschen suchst! Schaue mir in die Augen, Mac, und dann wiederhole die unsinnige Behauptung! – Siehst du, du senkst den Kopf …! Irgend ein Geheimnis spielt hier mit, das dich quält und das dich auch die Feme hassen läßt! – Oh, wie unrecht tust du diesen drei Männern! Auch ich muß dir etwas beichten … Erinnerst du dich noch an den Abend in Norwood, als ich Mr. Elsen besuchte und in seinem Zimmer zwei Polizeibeamte vorfand und als wir Mr. Elsen nachher befreiten? Erinnerst du dich noch an die Blitzlichtaufnahme von den drei Einbrechern in deinem Zimmer? Ich schickte das Bild auf deine Veranlassung an den Old-Palast, und du schriebst den Text dazu, die schriftliche Beweisführung. Nachher überlegte ich mir alles nochmals ganz genau und kam zu dem Ergebnis, daß Mr. Elsen doch einer der Feme gewesen sei und daß die Polizeibeamten seine Freunde waren. Und da bereute ich, daß ich die drei Männer ins Verderben bringen könnte, und … ich versuchte, in [52] den Kassenraum des Old-Palastes einzudringen und den Tresor zu öffnen … Ich drang auch ein, traf dort mit einer Unbekannten zusammen und … – – weißt du, was ich weiter noch erlebte?!“

Mac Forster sagte hastig: „Bitte, erzähle mir nichts mehr …! Ich will nichts davon wissen, nichts, gar nichts …! – Ich habe dich lieb, Ellen, und wir wollen hoffen, daß ein gütiges Geschick noch alles zum Guten wendet …“

Er zog sie ganz fest an sich, küßte sie mit aller Leidenschaft und wiederholte nur nochmals:

„Hoffen wir …!! Vielleicht unterschätzte ich die Männer der Feme. Gewiß, ich habe sie festnehmen lassen wollen, aber ihre Wohnungen in Norwood sind leer, die Häuser haben sie verkauft … – Es müssen sehr kluge Leute sein …“

Da es für mich nichts mehr von Wichtigkeit zu erfahren gab, entfernte ich mich nach kurzem Abschied von Frau Amalie, bestieg draußen mein Auto, dessen Schofför Bickfort hieß, und fuhr als Mr. Charles Bellard, Inhaber der neuen Auskunftei, nach dem Westminster-Hotel, wo ich noch immer drei Zimmer belegt hatte. –

Wenn ich hier abermals einen kurzen Einblick in unser geheimnisvolles Leben in knappen Zügen gegeben habe, so mag auch diese Probe unseres ungewöhnlichen Zusammenwirkens nur dazu dienen, allen denen die eine Tatsache leichter verständlich zu machen, daß ich, der einst in der Weltenferne einsamster Landstriche am Abenteuer im Abseits meine volle Befriedigung gefunden, auch jetzt unter so seltsamen Umständen meinem Hang für das nicht Alltägliche vollauf und vielleicht mit noch größerer innerer Berechtigung nachgehen konnte.

Wir Drei von der Feme, für die Außenwelt schon [53] fast Fabelwesen, wollten im Grunde nichts anderes als der Justiz Hilfsdienste zu leisten.

Wir verfolgten jene Art von Verbrechen, vor denen die Behörden aus leicht begreiflichen und verständlichen Gründen zurückweichen. – Und es gibt Fälle, in denen das Staatswohl über dem papiernen Rechte steht. Es gibt überehrgeizige, überschlaue Beamte, die in ihrem Eifer bisher weit über das Ziel hinausschießen.

Auch Harry Baaker, der Kongolöwe, hatte geglaubt, dem Gemeinwohl mit dem großen Preisrätsel zu dienen.

Er diente nur einem schlauen Schwindler, der wieder seinerseits vollkommen abhängig war von einem teuflisch raffinierten Verbrecher, der sich in seiner Maske vollständig sicher fühlte, – abhängig von seinem stillen Kompagnon, dem spätnächtlichen Besucher des Old-Palastes, dieser Goldgrube von Vergnügungsstätte. –

Um halb vier Uhr nachmittags erschien Mr. Bellard unerwartet in den Büroräumen der Auskunftei, wo er sich so selten blicken ließ, und befahl dann Ellens Vater, den kränklichen Mr. Stuart Clinton, in sein Privatkontor, wo hinter der Tapetenwand jetzt niemand mehr den Radiobegeisterten spielte, was Frau Amalie sicherlich sehr bedauern würde.


9. Kapitel.
Stuart Clinton erhält einen Auftrag.

„Nehmen Sie Platz, Mr. Clinton“, sage ich zu dem mageren, kaum mittelgroßen Manne, der sich in letzter Zeit infolge besserer Ernährung und durch den häufigen Aufenthalt an frischer Luft gut erholt hatte.

Heute freilich kämpfte der bescheidene Stuart Clinton [54] mit einem beginnenden Schnupfen und Husten und räusperte sich andauernd.

Clinton war ein Mann mit einem ungewöhnlich widerspruchsvollen Gesicht. Die Leidensmiene, die er zumeist zur Schau trug, stand in schroffem Gegensatz zu seiner fast kühnen Nase und der stark ausgebildeten Kinnpartie. Auch seine Augen, über denen ganz dünne Brauen wie mottenzerfressene Haarstreifen sich wölbten, wechselten sehr häufig den Ausdruck, besonders wenn Clinton sich unbeobachtet glaubte.

Ich hatte diesen verarmten Kaufmann, der einst sogar Zweiggeschäfte im Ausland unterhalten hatte, mit der Zeit sehr genau kennengelernt.

Ich durfte es daher auch wagen, ihm einen Auftrag zu erteilen, der über die Grenzen der Tätigkeit einer Auskunftei hinausging.

„Mr. Clinton, ein neuer Kunde von uns, dessen Name verschwiegen werden muß, sucht einen Verwandten, der offenbar zu erpresserischen Zwecken verschleppt worden ist“, sagte ich völlig sachlich und bot Clinton eine Zigarre an, die er in Rücksicht auf seine starke Erkältung dankend ablehnte. – Er war wirklich sehr erkältet, und anscheinend hatte er bereits leichtes Fieber.

„Die Ermittlungen sollen nun in aller Stille ausgeführt werden“, fügte ich erläuternd hinzu. „Dazu brauche ich eine Vertrauensperson. Nach den bisherigen Feststellungen dürfte sich der Verschleppte irgendwo in der Nähe von Lawenstick, der Werftarbeiterkolonie unweit des Tiburn-Seitenarmes der Themse befinden. Kennen Sie die Gegend bei den Docks?“

„Ja, Mr. Bellard. Von meiner früheren besseren Zeit her. Ich besaß ja sogar zwei Frachtdampfer.“ Er seufzte schmerzlich, und der Seufzer ging in einen hohlen, trockenen Husten über.

„Nun gut. Die Wetterwarte hat Abkühlung und [55] für die späteren Nachmittagstunden Nebel angesagt. Meine Ansicht geht dahin, daß der Verschleppte sich auf einem wracken Frachtschiff des östlichen Teiles des Tibure-Seitenarmes befindet. Glauben Sie, daß Sie in Ihrem jetzigen Zustand, denn Sie sind nicht ganz auf dem Posten, imstande sind, den Auftrag zu übernehmen?“

„Gewiß“, erklärte Stuart Clinton mit allem Nachdruck und lächelte selbstbewußt. „Ich bin vielleicht zäher, als man glaubt, und …“

Es hatte geklopft, der Vorzimmerboy trat ein und überreichte mir einen Brief. „Entschuldigen Sie, Mr. Bellard, aber der Herr hat es sehr eilig …“

Ich riß den frisch zugeklebten Umschlag auf. Er enthielt nur eine Visitenkarte:

Edward Summer,
Export, Import.
London, Oxford Street.

Auf die Rückseite war mit Bleistift gekritzelt: Bitte um sofortige Rücksprache. Hohes Honorar.“

„Mr. Summer wird in drei Minuten vorgelassen werden“, bedeutete ich dem Büroboy, der dann verschwand. Ich verabschiedete auch Clinton.

„Es bleibt also dabei … Sie nehmen die Ermittlungen heute gegen sechs Uhr auf, Mr. Clinton.“

Kaum war ich allein, als ich, durch die Karte mit der Zusage eines hohen Honorars gewarnt, eiligst die Tapetentür zum Verschlage Mr. Sotters öffnete und hier auf den Tisch stieg.

Über dem Tische war eine Lüftungsklappe angebracht, die neuerdings beträchtlich vergrößert worden war und in einem Lüftungsschacht mündete, der bis zum Dache lief. Von dieser Vergrößerung war freilich nichts zu bemerken. Das Ziergitter machte den Eindruck, [56] als ob dort kaum ein kleines Kind hindurchschlüpfen könnte.

Ich benutzte diesen nur uns dreien bekannten Weg zum Dache jetzt zum zweiten Male. In dem Schacht waren Steigeisen angebracht, es hingen dort auch Beutel mit Kleidern und anderen Dingen, und als Kommissar Hemmerfolk mit sechs Beamten mein Privatbüro betrat, offenbar auf Grund einer längst erwarteten anonymen Anzeige als Vertreter Harry Baakers, traf er im Vorraum nur einige wartende Kunden.

Mein Zimmer war leer.

Hemmerfolk nahm diesen Fehlschlag sehr gelassen hin und meinte nur zu dem ihn begleitenden Detektivinspektor:

„Ich sah das voraus … Die Feme hat ihr besonderes Spionagesystem. Dieser Bellard muß gewarnt worden sein.“

Zur selben Zeit verließ ein Arbeiter mit einem Rucksack über die Hintertreppe das Old-Palast-Gebäude und schritt, da er das Blechschild der Angestellten der Vergnügungsstätte an der Mütze trug, unangefochten an den an den Ausgängen postierten Detektiven vorüber und traf in einer stillen Nebengasse eine unauffällige Limousine, in die er eilends hineinschlüpfte. Am Steuer saß diesmal Freund Roger, während Bickfort Tomsen, der Warner, der als Edward Summer aufgetreten war, in einer Ecke lehnte.

„Olaf“, sagte er achselzuckend, „unsere feine Auskunftei ist uns fernerhin verschlossen. Du hattest wieder einmal die richtige Witterung: Der Bursche, der seinen Gemüsekahn wegsacken ließ, nachdem er Mac Forster mit einigen Kugeln bedacht hatte, hat sich für das kalte Bad in der Themse gerächt und uns angezeigt. Diesmal bist du wirklich mit knapper Not entwischt.“

„Immerhin entwischt“, brummte der ewig mißvergnügte [57] und doch so herzensgute Baronett Sheffield, der die Kasse der Feme immer wieder auffüllte, wenn es nottat.

Das Auto rollte davon, und das Spiel um Freiheit und Gerechtigkeit ging weiter. –

Hemmerfolk durchsuchte Mr. Charles Bellards Schreibtisch. Er hatte seine Sekretärin mitgebracht und ließ sie nun folgendes Stenogramm aufnehmen: „In der Mittelschieblade eine notarielle Urkunde vorgefunden, deren Inhalt besagt, daß Bellard genötigt sei, für Jahre nach Südamerika zu gehen und daß die Auskunftei in den Besitz Miß Ellen Clintons übergehen solle samt dem Stammkapital von fünftausend Pfund.“

Hemmerfolk warf Ellen einen langen Blick zu, und Ellen senkte schnell den Kopf.

„… Die Urkunde besagt weiter, daß kein Angestellter entlassen werden und daß der Fachmann und Subdirektor Mr. Wilton die Auskunftei für Miß Clinton fortführen soll … – Hm, – sehr sonderbar, aber unbedingt sehr sozial gedacht von diesem Bellard. Glauben Sie, Miß Ellen, daß er einer der Feme war?“

Ellen blickte Hemmerfolk ruhig an. „Nein, – die anonyme Anzeige war eine Lüge und sicherlich nur ein Konkurrenzmanöver.“

Hemmerfolk schwieg dazu.

Er sah ein, daß es keinen Zweck hatte, die Drei erwischen zu wollen.

Man blamierte sich nur dabei. Das wußte er am allerbesten. Er kannte die Arbeitsmethoden der Feme vom Fall „Mäusebussard“ her, und wenn er vor sich selbst ganz ehrlich sein wollte, mußte er zugeben, daß die berüchtigten Drei unbedingt das Herz auf dem rechten Fleck hatten. Wie sollte er auch nachweisen, daß „Bellard“ mit einem der drei identisch gewesen?!

Gleich darauf räumte die Polizei in aller Stille [58] den Oberstock, nachdem Hemmerfolk den Angestellten noch erklärt hatte, daß die Auskunftei wie bisher weitergeführt würde. –

An demselben Tage gegen fünf Uhr nachmittags kehrte die bekannte Filmdiva Lilian Goust von einer Aufnahme in ihr luxuriöses Heim zurück, dessen erlesenen Prunk sie hauptsächlich dem Reichtum ihres etwas sehr geheimnisvollen Freundes Mr. Smith verdankte, von dem sie im übrigen nur das eine mit Bestimmtheit wußte, daß er sich aus Sensationshunger und Abenteuerlust als Amateurdetektiv betätigte und bei ihr sehr häufig sich zu diesem Zweck maskierte.

Lilian hatte als Filmstar sehr rasch Karriere gemacht, war ein unverdorbenes, sehr natürliches Mädchen und nahm Mr. Smiths mehr väterliche Huldigungen und Verehrung in aller Arglosigkeit hin. Er hatte ihr den raschen Aufstieg ermöglicht, er war ihr seit Jahren ein scheinbar selbstloser Freund, und seinen kleinen echt englischen Spleen, verkleidet umherzulaufen, belächelte sie nur nachsichtig. Andrerseits war sie oft erstaunt, wie vollkommen sich Smith verändern konnte. Häufig erkannte sie ihn selbst nicht wieder, und genau so erging es ihr heute.

Smith erwartete sie im Salon. Nach kurzer Begrüßung wurde Lilian dann ein Mr. Belson-Lard in dringender Angelegenheit gemeldet. Sie ließ ihn in den Salon bitten.

Der Fremde war diskret-elegant gekleidet, verneigte sich knapp vor Lilian und Smith und begann sofort in gedämpftem Tone zu sprechen.

„Miß Goust, ich will mich ganz kurz fassen. Ihr Freund Smith, der Herr dort, ist ein Verbrecher, und er hat Sie nur deshalb als Künstlerin gefördert, um irgendwo einen sicheren Schlupfwinkel zu haben.“

Mit eisiger Ruhe musterte der Mann von der Feme [59] den großen Betrüger, dem Lilian so blindlings vertraute.

Aber ihr Vertrauen schwand, als dieser Mr. Smith mit bleichem Gesicht und mit allzu starker Theatralik ihr den Arm wie schützend um die Schultern legte.

Sie fühlte, daß dieser Arm zitterte und daß „Smith“ unter der Wucht der Anschuldigungen fast zusammenbrach.

Ich sprach weiter … „Miß Goust, es liegt nur in Ihrem Interesse, die Bekanntschaft mit Smith abzubrechen und auch abzuleugnen, was auch geschehen mag. Wechseln Sie sofort Ihr Hauspersonal. Hier sind dreihundert Pfund. Entlohnen Sie Ihre Leute reichlich und schützen Sie eine Auslandsreise vor … Es werden sich in kurzem Dinge ereignen, die Ihnen die Augen vollends öffnen werden. Stellen Sie sich nicht bloß, – schweigen Sie!“

Smith hüstelte und rief heiser: „Lilian, – es ist einer von diesen Schurken, die sich die Feme nennen! Ich werde dafür sorgen, daß …“, – seine Hand glitt in die Brusttasche, aber dieselbe Hand sank schnell wieder herab.

„Ich pflege immer zwei Sekunden früher als meine Gegner abzudrücken, Mr. Smith“, lächelte der elegante Belson-Lard harmlos und streichelte seine Waffe.

„Es ist richtig, Miß, ich gehöre zur Feme … Ich wollte Ihnen nur Ungelegenheiten ersparen. Das lag in unserem Programm. Werfen Sie diesen Smith hinaus – – und verraten Sie nichts! Ich habe die Ehre …“

Minuten später verließ „Smith“ sehr eilig und mit wutverzerrtem Gesicht das Haus der Diva und eilte ahnungslos an einer langsam fahrenden Limousine vorüber.

Bickfort betrachtete ihn kopfschüttelnd.

[60] „Sollte man es für möglich halten, Olaf!! Der Bursche hat plötzlich Fett angesetzt!!“

„Er wird es ebenso rasch wieder verlieren“, meinte ich doppeldeutig.

Der junge Warner lachte. „Freund Roger“, rief er unserem Schofför zu, „ist dir nun ein Licht aufgegangen?!“

„Zwei!“, erklärte der Baronett brummig. „Natürlich zwei! Die Zusammenhänge sind mir jetzt klar, obwohl der Nebel bereits die Riesenstadt einzuhüllen beginnt. Mein Gehirn ist nebelfrei. Wenn mein Bajazzolied heute erklingt, dürfte der Nebel noch dicker sein …!“


10. Kapitel.
Wie der Bankräuber starb.

Stuart Clinton hatte in einer etwas verrufenen Kneipe noch eine Stärkung zu sich genommen, bevor er nach langem Zaudern und Überlegen zum Tiburn-Kanal fuhr. Er fühlte sich krank und elend, er merkte, daß das Fieber sein Blut immer mehr erhitzte, und außerdem zerfraß ihm eine wahnwitzige Angst sein im Grunde feiges Herz.

Wenn er sein Leben rückblickend überschaute, stieß er nur auf dunkle, dunkelste Merkzeichen an seinem wirren Daseinspfade. Gewiß, er hatte an Flucht gedacht … Flucht vor denen, die ihn ganz genau kannten. Aber er wußte, daß jeder Fluchtversuch zwecklos sein würde. Immer noch wollte er sich einreden, daß seine Lage noch nicht so ganz hoffnungslos sei. Nur deshalb gedachte er auch den Auftrag zu erledigen, den ihm Mr. Bellard erteilt hatte. Vielleicht gelang es ihm doch noch, die Feme zu täuschen.

[61] Nun wanderte er unsicheren Schrittes am Kanalufer dahin und gab sich den Anschein, als ob er wirklich nach dem „Verschleppten“ suchte.

Kurz vorher hatte einer der Flußpiraten, die schon einmal den Gefangenen in dem wracken Frachtkahn besucht hatten, die Tür des Verschlages geöffnet und dem Gentleman mit der Frackweste und der Wolljacke kurz erklärt, er brauche sich an sein dem Warner gegebenes Ehrenwort nicht mehr zu halten, er sei frei …

Spezialkommissar Baaker, der lesend auf seiner Matratze gelegen hatte, sollte nicht ahnen, daß Mac Forster es gewesen, der ihn hierher gebracht hatte. Uns lag daran, Forster und Ellen unbedingt aus dem Spiel zu lassen.

Der Flußpirat ließ die Tür offen und verschwand wieder, während Baaker nach kurzem Zögern sich an Deck begab. So schnell er sich auch zunächst mit seiner ihn tief demütigenden Gefangenschaft abgefunden hatte, nachdem ein Unbekannter ihn in einer Taxe schlau betäubt hatte, – jetzt hegte er nur den einen Wunsch: Er mußte diese drei Leute aufspüren und unschädlich machen!

Plötzlich gewahrte er am Ufer trotz des Nebels eine Gestalt und rief sie an. „Hallo, – besorgen Sie ein Boot! Ich habe keine Lust, mir in dem kalten Wasser einen Schnupfen zu holen. Ein paar Freunde haben mich aus Übermut hier zurückgelassen.“

Stuart Clinton war stehen geblieben. Diese Stimme kannte er. Es war Baaker … Und wenn er sich dem allmächtigen Spezialkommissar zu Dank verpflichtete, konnten die Dinge doch noch eine günstige Wendung nehmen.

„Gut, Sir, ich hole ein Boot“, rief er zurück.

Als er dann an Deck des Schleppkahns kletterte, [62] gaukelte ihm sein fieberheißes Hirn die angenehmsten Bilder vor.

Sein unbändiger Haß gegen die Feme und gegen seinen Schwiegersohn Forster trug mit dazu bei, ihm die klare Überlegung zu rauben. Er stand dicht vor Harry Baaker und kreischte diesem, von häufigen Hustenanfällen unterbrochen, fast geifernd ins Gesicht:

„Wissen Sie auch, wer Sie hierher verschleppt hat, Mr. Baaker?! Wahrscheinlich haben Sie sich von der Feme irgendwie …“

Aber weiter kam er nicht.

Er schnellte herum … Irgendwoher aus den Nebelschwaden, die das Vorschiff einhüllten, erklangen seltsam weiche, wehmütige Ziehharmonikaklänge: Das Bajazzolied, das berüchtigte Todeslied!

Clinton riß seine Pistole heraus und stürmte wie ein Tollhäusler nach vorn und feuerte blindlings in das gelbbraune Nebelgebräu hinein …

Er stolperte über einen Lukendeckel, und unten im Kanal platschte das trübe Wasser auf. Stuart Clinton wurde bei den verzweifelten Versuchen, wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen und sich aus dem Schlamm hervorzuarbeiten, von seltsamen Visionen gepeinigt … Sein schlau durchgeführtes Doppelleben als Kaufmann in London und als Bandenführer und Einbrecher in Newyork flog wie ein blitzschnell sich abrollendes Filmband nochmals an seinem geistigen Auge vorüber … Vor vier Jahren hatte er dieses Leben einstellen müssen, da er einen unsichtbaren Verfolger hinter sich spürte. Zum Schein hatte er Armut und Not und geschäftlichen Ruin ertragen, um jede Spur zu verwischen. Aber als Mr. Smith hatte er sich bemüht, seine Verfolger irgendwie zu entdecken. Dann wurde er wieder kühner und unternehmungslustiger, gab seinem alten Komplicen Seymour Flox das Geld zur Gründung des Old-Palastes, [63] aber wenig später merkte er, daß sein eigener Schwiegersohn und auch Baaker ihn einzukreisen suchten, und dann ereignete sich das Ärgste: Die Feme trat auf den Plan, – – und er war verloren …

Als er nun endlich an die Wasseroberfläche gelangte, stieß er mit dem Kopf gegen die Bordwand des Kahns, versank von neuem, das Bewußtsein schwand ihm, und die Strömung führte einen Toten, einen Gerichteten der Themse zu. Seine Leiche wurde gefunden, und[13] so, wie die Dinge lagen, erfuhr niemand, daß Ellens […][WS 1] nur aus Liebe Harry Baaker gefangen gehalten hatte, damit Stuart Clintons Name ohne Makel bliebe.

Die Zeitungen brachten am nächsten Abend eine kurze Notiz über die Auffindung des toten Mr. Clinton. Davon, daß Harry Baaker fast eine Woche ein Gefangener des „Warners“ (angeblich) gewesen, wurde nichts veröffentlicht. Die Behörden hatten ihre Gründe, dies zu verschweigen, denn es war schlechterdings unmöglich, zuzugeben, daß Baaker und seine Schwester Evelyn die Erfinder des großen Preisrätsels gewesen waren.

Und wie stand es um dieses „Rätsel“?!

Am selben Abend hatte Seymour Flox einen gelblichen Brief erhalten, der nachher in Asche zerfiel.

Flox lief der kalte Schweiß über die Stirn, als er diesen „Befehl“ immer wieder überflog.

„Sollten Sie je verraten, wer Stuart Clinton in Wahrheit gewesen ist, werden wir auch Sie aburteilen. Verlassen Sie England sofort, nehmen Sie nur das nötigste Geld mit und übertragen Sie alle Rechte an dem Old-Palast und an den ergaunerten Summen der sozialen Fürsorge. Außerdem veröffentlichen Sie Anzeigen, daß das Preisrätsel eingestellt und die Preisverteilung der Behörde überlassen wird.“

[64] Flox gehorchte. Und als dann einige Beamte die eingegangenen Bilder der Feme prüften, stießen sie auf einen Umschlag, in dem eine Amateuraufnahme von drei Herren in Sportanzügen und ein Beischreiben lagen:

„Wir, die Drei von der Feme, bestätigen, daß Miß Clinton uns fotografiert hat und daß nur dieses Bild einwandfrei uns drei zeigt. – Die Feme: Der Warner, der Richter, der Henker.“

So hatte denn London seine neue Sensation: Tagelang wurde nur von Ellen Clinton und ihrem Verlobten Mac Forster gesprochen.

Über Stuart Clinton, den für immer begrabenen Bankräuber Sylvester Blooc, sprach niemand.

Und als Ellen und Mac Wochen später das Eigenheim, den ersten Gewinn des großen Preisrätsels, als junges Ehepaar bezogen, hatten wir Drei von der Feme längst anderswo ebenfalls einen neuen Unterschlupf gefunden … Inzwischen hatten wir auch bereits den Palast des Schwindelkonzerns so gründlich unterminiert, daß diese tolle Gründung, die in nichts mit dem Old-England vergleichbar war, urplötzlich zusammenkrachte und all die unzähligen Betrogenen uns dankbar sein mußten, sowohl ihr Geld wie noch recht fette Zinsen zurückgezahlt zu erhalten – genau wie die bei dem großen Preisrätsel leer Ausgegangenen.

Eine tolle Gründung war’s! Verbrecherische Genies standen an ihrer Spitze.

Wir brachten sie doch zu Fall und hatten noch unseren Spaß dabei …


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Hier fehlt Text in der Vorlage. Sinngemäß wohl: Verlobter und zukünftiger Ehemann Mac Forster

Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: Pussy (siehe Seite 30)
  2. Vorlage: Pussy (siehe Seite 30)
  3. Vorlage: brauschwarze
  4. Vorlage: Fensters
  5. Vorlage: Momentaufnahmee
  6. Vorlage: hindurch
  7. Vorlage: Prussy (siehe Seite 30)
  8. Vorlage: Prussy (siehe Seite 30)
  9. Vorlage: ud
  10. Vorlage: Feuerleitung
  11. Vorlage: Ddrei
  12. Vorlage: Quitschen
  13. Vorlage: eine Zeile doppelt und an dieser Stelle zwischengerutscht