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Ein Verhängnis

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Textdaten
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Autor: Anton Pawlowitsch Tschechow
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Titel: Ein Verhängnis
Untertitel:
aus: Von Frauen und Kindern, S. 99–119
Herausgeber: Alexander Eliasberg
Auflage: 1. – 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Musarion
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Erscheinungsort: München
Übersetzer: Wladimir Czumikow
Originaltitel: Несчастье
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[99]
Ein Verhängnis

[101] Ssofja Petrowna, die Frau des Notars Lubjanzew, eine hübsche junge Frau von fünfundzwanzig Jahren, schritt mit ihrem Villennachbar, dem Rechtsanwalt Iljin, langsam den Waldweg einher. Es war fünf Uhr nachmittags. Ueber dem Weg verdichteten sich die weißen flockigen Wolken, zwischen ihnen durch schaute hier und da die blendende Bläue des Himmels. Die Wolken standen regungslos, als wären sie an den Wipfeln der hohen alten Tannen hängen geblieben. Es herrschte eine stille Schwüle.

In der Ferne wurde der Waldweg von einem nicht sehr hohen Eisenbahndamm durchschnitten, auf dem heute zu irgendeinem Zweck ein Posten mit Gewehr auf- und abging. Gleich hinterm Damm sah man eine weiße sechstürmige Kirche mit verrostetem Dach…

„Ich hatte nicht erwartet, Ihnen hier zu begegnen,“ sprach Ssofja Petrowna, zu Boden sehend, und berührte mit der Spitze des Schirmes die vorjährigen Blätter, – „und doch freue ich mich, Sie getroffen zu haben. Ich habe Ihnen ein ernstes und endgültiges Wort zu sagen. Ich bitte Sie, Iwan Michailowitsch, wenn Sie mich wirklich lieben und achten, so geben Sie Ihre Nachstellungen auf! Sie folgen mir wie ein Schatten, sehen mich immer mit so schlechten Augen an, schreiben mir merkwürdige Briefe und… und ich weiß nicht, wann das alles ein Ende nehmen wird! Wozu kann denn das alles führen, mein lieber Gott?“

[102] Iljin schwieg. Ssofja Petrowna ging einige Schritte und fuhr dann fort:

„Und diese schroffe Wandlung ist mit Ihnen in zwei bis drei Wochen vor sich gegangen nach einer fünfjährigen Bekanntschaft. Ich erkenne Sie nicht wieder, Iwan Michailowitsch!“

Ssofja Petrowna warf von der Seite einen Blick auf ihren Begleiter. Er folgte aufmerksam, mit zusammengekniffenen Augen den flockigen Wolken. Der Ausdruck seines Gesichts war boshaft, eigensinnig und zerstreut, wie bei einem Menschen, der leidet und dabei verpflichtet ist, einen Unsinn anzuhören.

„Merkwürdig, wie Sie das nicht selbst begreifen!“ fuhr Frau Lubjanzew, die Achsel zuckend, fort. – „Verstehen Sie denn nicht, daß Sie da ein sehr unschönes Spiel treiben. Ich bin verheiratet, liebe und achte meinen Mann… ich habe eine Tochter… Achten Sie denn das für nichts? Außerdem sind Ihnen, meinem alten Freunde, meine Ansichten über die Familie… über die Grundlagen der Familie überhaupt… bekannt.“

Iljin räusperte sich ärgerlich und seufzte.

„Grundlagen der Familie…“ murmelte er. – „O mein Gott!“

„Ja, ja… Ich liebe meinen Mann, ich achte ihn und schätze jedenfalls die Ruhe der Familie. Ich lasse mich eher töten, als die Ursache des Unglücks von Andrej und meiner Tochter zu werden… Und ich bitte Sie, Iwan Michailowitsch, um Gottes willen, lassen Sie mich in Ruhe. Wir wollen wie früher gute Freunde sein, und die Seufzer und Klagen, die Ihnen so wenig stehen, lassen Sie in Zukunft weg. Also [103] abgemacht! Kein Wort mehr davon. Sprechen wir von was anderem.“

Ssofja Petrowna blickte Iljin wieder von der Seite an. Iljin sah in die Höhe, war bleich und biß sich ärgerlich auf die Lippen. Frau Lubjanzew begriff nicht, worüber er sich ärgerte und empörte, aber seine Blässe rührte sie.

„Also seien Sie nicht bös, wollen wir Freunde sein…“ sagte sie freundlich. „Sind Sie einverstanden? Da haben Sie meine Hand.“

Iljin nahm ihre weiche, kleine Hand in seine, drückte sie ein wenig und preßte sie an die Lippen.

„Ich bin kein Schuljunge,“ murmelte er. – „Für mich hat ein Freundschaftsverhältnis mit der geliebten Frau keinen Reiz.“

„Genug davon! Die Sache ist entschieden und abgemacht. Da steht eine Bank, setzen wir uns…“

Frau Lubjanzews Seele war vom süßen Gefühl der Ruhe erfüllt: das Schwierigste und Peinlichste war gesagt, die qualvolle Frage war gelöst und zwar endgültig. Jetzt konnte sie wieder leichter aufatmen und Iljin gerade ins Gesicht sehen. Sie sah ihn an, und das egoistische Gefühl der Ueberlegenheit der geliebten Frau dem verliebten Manne gegenüber schmeichelte ihr. Es gefiel ihr, daß dieser starke, riesige Mann mit dem wütenden Gesicht und dem großen, schwarzen Bart, klug, gebildet und talentvoll wie er war, sich gehorsam neben sie setzte und den Kopf senkte. Zwei bis drei Minuten saßen sie schweigend.

„Nichts ist entschieden und abgemacht…“ begann Iljin. – „Sie kommen mir da mit Gemeinplätzen: ich achte und liebe meinen Mann… die Grundlagen der Familie… Alles das weiß ich auch selbst und könnte Ihnen noch [104] mehr davon sagen. Ich sage Ihnen offen und ehrlich, daß ich mein Betragen für verwerflich und unmoralisch halte. Was wollen Sie mehr? Wozu aber das wiederholen, was schon allen bekannt ist? Anstatt mir Moralpredigten zu halten, sagen Sie mir doch lieber, was ich dann tun soll?“

„Ich habe es Ihnen schon gesagt: fahren Sie fort von hier!“

„Ich – Sie wissen das ganz gut – war schon fünfmal weggefahren, und immer wieder bin ich auf halbem Wege umgekehrt! Ich kann Ihnen die Fahrkarten zeigen… Ich habe nicht die Kraft, Sie zu fliehen. Ich kämpfe, kämpfe furchtbar, aber was zum Teufel soll ich machen, wenn ich keine Energie habe und schwach und willenlos bin! Ich kann nicht gegen die Natur! Verstehn Sie mich? Ich kann es nicht! Ich will von hier fliehen, und sie zieht mich an den Rockschößen wieder zurück. Eine verdammte, niederträchtige Schwachheit!“

Iljin errötete, stand auf und ging einigemal um die Bank herum.

„Wütend bin ich, wie… wie…!“ murmelte er, die Fäuste ballend. – „Ich hasse mich selbst und verachte mich! Mein Gott, wie so ein dummer Junge mache ich einer fremden Frau den Hof, schreibe blödsinnige Briefe, erniedrige mich… a – ah!“

Iljin griff nach seinem Kopf, hustete und setzte sich.

„Und dazu noch Ihre Unaufrichtigkeit!“ fuhr er erbittert fort. „Wenn Ihnen meine Absichten mißfallen, wozu sind Sie denn hierher gekommen? Was zog Sie hierher? In meinen Briefen bat ich Sie bloß um eine kategorische Antwort, ein einfaches Ja oder Nein. Sie aber, anstatt mir [105] schlicht und einfach zu antworten, ziehen es vor, mich täglich zufällig zu treffen und mir Moralpredigten zu halten!“

Frau Lubjanzew erschrak und wurde rot. Sie empfand plötzlich jene Geniertheit und Beschämung, von der anständige Frauen befallen werden, wenn man sie unversehens nicht ganz angekleidet erblickt.

„Es ist, als ob Sie eine Intrige meinerseits vermuteten…“ stammelte sie. – „Ich habe Ihnen immer eine gerade Antwort gegeben und… und Sie heute sogar gebeten!“

„Ach, in solchen Sachen bittet man doch nicht! Hätten Sie gleich und direkt gesagt: geh’n Sie weg! so wäre ich schon lange nicht mehr hier. Aber Sie sagten es nicht! Noch keinmal haben Sie mir eine direkte Antwort gegeben. Eine sonderbare Unentschlossenheit! Bei Gott, entweder treiben Sie mit mir Ihr Spiel, oder…“

Iljin führte seine Rede nicht zu Ende und stützte seinen Kopf in die Hände. Ssofja Petrowna begann sich ihr Benehmen vom Anfang bis zum Ende ins Gedächtnis zu rufen. Sie erinnerte sich, daß sie alle diese Tage nicht nur in ihren Taten, sondern auch in ihren geheimsten Gedanken immer gegen Iljins Hofmacherei gewesen war, fühlte aber zugleich, daß an den Worten des Advokaten dennoch etwas Wahres war. Da sie aber nicht wußte, worin diese Wahrheit bestand, so verfiel sie auch auf nichts, was sie auf Iljins Klagen hätte erwidern können. Das Schweigen wurde peinlich, und so sagte sie achselzuckend:

„Ich soll also auch noch schuld sein? …“

„Ich will Ihnen Ihre Unaufrichtigkeit nicht als Schuld anrechnen. – Ich erwähnte das nur unter anderem… Ihre Unaufrichtigkeit ist natürlich und vollkommen in der [106] Ordnung. Wenn alle Leute untereinander abmachen wollten, gegeneinander aufrichtig zu sein, so würde alles zum Teufel gehn.“

Ssofja Petrowna war es jetzt nicht um Philosophie zu tun, aber froh, das Thema wechseln zu können, fragte sie:

„Wieso denn?“

„Einfach, weil nur Wilde und Tiere aufrichtig sind. Hat einmal die Zivilisation das Bedürfnis nach einem solchen Komfort, wie die Frauentugend z. B. wachgerufen, so findet hier die Aufrichtigkeit schon keinen Platz mehr… Ja…“

Iljin stieß seinen Stock ärgerlich in den Sand. Ein Steinchen flog beiseite und fiel ins hohe Gras. Der Advokat fuhr fort. Frau Lubjanzew hörte ihm zu, verstand zwar manches nicht, fand aber an seiner Sprache Gefallen. Vor allem gefiel ihr, daß ein talentvoller Mensch mit ihr, einer gewöhnlichen Frau, über „kluge Sachen“ sprach. Dann bereitete es ihr großes Vergnügen, zu beobachten, wie sein junges, bleiches, lebendiges und immer noch zorniges Gesicht sich bewegte. Wenn sie auch vieles nicht begriff, so verstand sie doch diese schöne Kühnheit des modernen Menschen, mit der er ohne Zaudern und Zögern die größten Fragen löst und die gewagtesten Konsequenzen zieht.

Sie merkte plötzlich, daß sich ihre Augen an ihm weideten, und erschrak darüber.

„Verzeihen Sie,“ sagte sie rasch, „aber ich verstehe nicht, wozu Sie über Unaufrichtigkeit sprechen? Ich wiederhole meine Bitte nochmals: sei’n Sie mir ein guter, treuer Freund! Lassen Sie mir meine Ruhe! Ich bitte Sie wirklich.“

„Gut, ich werde weiter kämpfen!“ seufzte Iljin. – „Mit Vergnügen… Aber ich glaube nicht, daß dabei was herauskommt. [107] Entweder[WS 1] schieß ich mir eine Kugel vor den Kopf, oder – oder fange an, zu trinken. Gut wird’s nicht ablaufen! Alles hat seine Grenzen, auch der Kampf gegen die Natur. Sagen Sie, wie kann man gegen den Wahnsinn kämpfen? Oder wenn man Wein getrunken hat, wie kann man da die Erregung überwinden? Was kann ich denn machen, wenn Ihr Bild mir ans Herz gewachsen ist und ohne Unterlaß, Tag und Nacht mir vor den Augen steht, wie jetzt diese Fichte? Nun sagen Sie doch, was für eine Heldentat soll ich vollbringen, um mich aus diesem ekelhaften unglücklichen Zustand zu befreien, wo alle meine Gedanken, Wünsche und Träume nicht mir, sondern irgendeinem Dämon, der in mir steckt, gehören? Ich liebe Sie, liebe Sie so sehr, daß ich ganz aus dem Geleise gekommen bin, meine Geschäfte und Angehörigen, meinen Gott verlassen habe! Noch nie im Leben habe ich so geliebt!“

Ssofja Petrowna, die einen solchen Uebergang nicht erwartet hatte, bog ihren Körper zurück und betrachtete erschrocken Iljins Gesicht. Die Tränen standen ihm in den Augen, seine Lippen bebten und über sein ganzes Gesicht war ein hungriger, flehender Ausdruck gegossen.

„Ich liebe Sie!“ stammelte er, seine Augen ihren großen erschrockenen Augen nähernd. – „Sie sind so schön! Ich leide jetzt, aber ich schwöre Ihnen, mein ganzes Leben möchte ich so sitzen, leiden und in Ihre Augen schauen. Ach… schweigen Sie, ich bitte Sie!“

Ssofja Petrowna war gleichsam überrumpelt und suchte rasch nach Worten, um Iljin zu unterbrechen. „Ich will weggehen“ beschloß sie, aber kaum hatte sie eine Bewegung gemacht, um sich zu erheben, als Iljin schon zu ihren Füßen auf den Knien lag… Er umarmte ihre Knie, blickte ihr [108] ins Gesicht und sprach leidenschaftlich, glühend und schön. Erschrocken und berauscht, hörte sie seine Worte nicht. Gerade jetzt, in diesem gefährlichen Augenblick, wo ihre Knie angenehm zuckten, wie in einem warmen Bad, suchte sie mit einer gewissen Bosheit den Sinn ihrer Gefühle zu analysieren. Sie war empört, daß ihre ganze Person, anstatt von einer protestierenden Tugend, von Schwäche, Faulheit und Leere ergriffen wurde, als wäre sie trunken. Nur in der Tiefe der Seele reizte und neckte sie heimtückisch ein entferntes Etwas: „Warum gehst du denn nicht? Das muß also so sein? Ja?“

Sich selbst analysierend, begriff sie nicht, warum sie nicht die Hand, an der sich Iljin wie ein Blutegel festgesogen hatte, zurückzog, und zu welchem Zwecke sie zugleich mit IIjin sich nach beiden Seiten umschaute, ob nicht jemand hersah? Die Fichten und Wolken standen regungslos und schauten ernst und nachdenklich drein. Auf dem Damm stand wie eine Säule der Posten und sah, wie es schien, gerade zur Bank zurück.

Laß ihn sehen! dachte Ssofja Petrowna.

„Aber… aber hören Sie!“ sagte sie endlich, mit verzweifelter Stimme. „Wozu wird das führen? Was wird daraus werden?“

„Ich weiß nicht… weiß es nicht…“ stammelte er, mit der Hand die unangenehmen Fragen abwehrend.

Man hörte den heiseren zitternden Pfiff der Lokomotive. Dieser fremde und kalte Laut der alltäglichen Prosa zwang Frau Lubjanzew, sich aufzuraffen.

„Ich habe keine Zeit… ich muß!“ sagte sie, sich rasch erhebend. „Der Zug kommt schon… Andrej ist gleich da! Er muß zu Mittag essen.“

[109] Ssofja Petrowna wandte ihr erhitztes Gesicht dem Damm zu. Zuerst kroch langsam die Lokomotive heran, dann zeigten sich die Waggons. Das war nicht, wie Frau Lubjanzew geglaubt hatte, der Vorortzug, sondern ein Güterzug. In langer Reihe, wie die Tage des Menschenlebens, zogen auf dem weißen Grund der Kirche die Waggons vorüber, und es schien, als wollten sie kein Ende nehmen!

Endlich aber war der Zug vorbei und der letzte Wagen mit den Laternen und Kondukteuren verschwand hinter den Bäumen. Ssofja Petrowna wandte sich schroff und ging, ohne Iljin anzusehen, schnell den Waldweg zurück. Sie beherrschte sich wieder. Rot vor Scham und nicht von Iljin beleidigt, nein durch ihre eigene Kleinmütigkeit, ihre eigene Schamlosigkeit, mit der sie, eine moralisch saubere Frau, es einem Fremden erlaubt hatte, ihre Knie zu umfassen, dachte sie jetzt nur daran, möglichst schnell zu ihrer Villa, zu ihrer Familie heimzukehren. Der Advokat konnte ihr kaum folgen. Als der Waldweg nach rechts einbog, kehrte sie sich so rasch nach ihm um, daß sie nur den Staub an seinen Knien sah, und winkte ihm mit der Hand, er solle sie verlassen.

Zu Hause angekommen, stand Ssofja Petrowna einige Minuten regungslos in ihrem Zimmer, bald den Tisch, bald das Fenster anstarrend…

„Ein gemeines Frauenzimmer!“ schalt sie sich selbst. – „Ein gemeines…“

Wie zum Trotz entsann sie sich aller Einzelheiten, ohne sich etwas zu verbergen, daß sie zwar alle diese Tage gegen IIjins Hofmacherei gewesen sei, daß sie sich aber doch zu einer Auseinandersetzung mit ihm hingezogen fühlte; und nicht nur das: als er zu ihren Füßen lag, da empfand sie einen ungewöhnlichen Genuß. Sie entsann sich alles dessen, ohne [110] sich zu schonen, und jetzt hätte sie sich, vor Scham erstickend, ohrfeigen mögen.

„Der arme Andrej!“ dachte sie und bemühte sich, bei der Erinnerung an ihren Mann ihrem Gesicht einen besonders zärtlichen Ausdruck zu geben. – „Warja, du mein armes Mädchen, du weißt nicht, was du für eine abscheuliche Mutter hast! Verzeiht mir, meine Lieben! Ich liebe euch so sehr… so sehr!“

Und vom Wunsche beseelt, sich selbst zu beweisen, daß sie noch eine gute Frau und Mutter war, daß die Fäulnis jene „Grundlagen“, von denen sie zu Iljin gesprochen hatte, noch nicht berührt hatte, lief Ssofja Petrowna in die Küche, und überschüttete dort die Köchin mit Vorwürfen, daß sie den Tisch für Andrej Iljitsch noch nicht gedeckt hatte. Sie suchte sich das ermüdete und hungrige Aussehen ihres Mannes vorzustellen, bemitleidete ihn laut und deckte eigenhändig sein Gedeck, was sie früher nie getan hatte. Dann fand sie ihre Tochter Warja, nahm sie auf den Schoß und umarmte sie heftig. Das Mädchen kam ihr etwas kalt und schwer vor, aber sie wollte es sich nicht eingestehen und begann ihr auseinanderzusetzen, wie gut und ehrlich und brav ihr Papa wäre.

Als aber bald darauf Andrej Iljitsch selbst ankam, begrüßte sie ihn kaum. Die Flut der gemachten Empfindungen war verschwunden, ohne ihr etwas bewiesen zu haben, und hatte nur einige Gereiztheit und Erbostheit hinterlassen. Sie saß am Fenster, litt und ärgerte sich über sich selbst. Nur im Unglück kann man begreifen, wie schwer es ist, seiner Gefühle und Gedanken Herr zu werden. Ssofja Petrowna erzählte später, daß in ihr „ein Wirrwarr war, in welchem sich zurechtzufinden ebenso schwer war, wie einen Schwarm [111] vorüberfliegender Spatzen zu zählen.“ Daraus zum Beispiel, daß sie die Ankunft ihres Mannes nicht freute, daß ihr seine Haltung beim Mittagessen mißfiel, schloß sie plötzlich, daß sie ihren Mann schon zu hassen beginne.

Andrej Iljitsch, erschöpft vor Hunger und Müdigkeit, hatte in Erwartung der Suppe sich über die Wurst hergemacht und aß gierig, laut mit den Kiefern arbeitend.

„Mein Gott!“ dachte Ssofja Petrowna, – „ich liebe und achte ihn, aber… warum kaut er so ekelhaft?“

In ihren Gedanken herrschte eine nicht geringere Unordnung wie in den Gefühlen. Frau Lubjanzew suchte, wie alle im Kampf mit unangenehmen Gedanken unerfahrenen Leute, nicht an ihr Unglück zu denken; und je mehr sie sich mühte, desto deutlicher erstand in ihrer Vorstellung Iljin, der Sand an seinen Knien, die flockigen Wolken…

„Wozu bin ich, dummes Frauenzimmer, nur heute hingegangen?“ quälte sie sich selbst. – „Und bin ich denn wirklich so, daß ich nicht für mich selbst einstehen kann?“

Die Furcht vergrößert die Gefahr. Als ihr Mann beim letzten Gang war, war sie schon ganz entschlossen, ihm alles zu erzählen, um auf diese Weise der Gefahr zu entrinnen!

„Ich muß ernsthaft mit dir sprechen, Andrej,“ begann sie nach dem Mittag, als ihr Mann Rock und Stiefel ablegte, um auszuruhen.

„Nun!“

„Fahren wir fort von hier!“

„Hm… wohin denn? In die Stadt zu ziehen, ist es noch zu früh…“

„Nein, reisen, oder… sonst was…“

„Reisen…“ brummte der Notar und streckte sich. – [112] „Ich habe auch selber daran gedacht, aber woher das Geld nehmen, und wem soll ich denn mein Bureau übergeben?“

Und nach einigem Nachdenken fügte er hinzu:

„Natürlich, du langweilst dich… Fahr, wenn du willst, allein!“

Ssofja Petrowna war im ersten Augenblick damit einverstanden. Gleich darauf kam es ihr aber in den Sinn, daß Iljin die Gelegenheit benützen würde, um mit ihr im selben Zuge, in einem Waggon zu fahren… Sie sann darüber nach und sah dabei auf ihren satten, aber immer noch müden Mann. Zufällig blieb ihr Blick auf seinen kleinen, fast weiblichen Füßen haften, und sie betrachtete seine gestreiften Socken; an den Spitzen beider Socken hing je ein Fädchen…

Hinter den herabgelassenen Stores summte, immerfort ans Fenster schlagend, eine große Hummel. Ssofja Petrowna blickte auf die Fädchen, hörte die Hummel und stellte sich vor, wie sie reisen würde… Ihr gegenüber sitzt Tag und Nacht, ohne die Augen von ihr zu wenden, Iljin, wütend über seine Schwäche und blaß vor seelischer Ueberwindung. Er nennt sich einen dummen Jungen, macht ihr Vorwürfe, reißt sich das Haar aus dem Kopf, aber sobald es dunkel wird, paßt er den Moment ab, wo die Passagiere einschlafen oder ans Büfett gehen, fällt vor ihr auf die Knie und umarmt ihre Beine, wie damals auf der Bank…

Sie wurde gewahr, daß sie träumte…

„Hör’ mal, allein fahre ich nicht!“ sagte[WS 2] sie. – „Du mußt mitkommen!“

„Phantasien, Ssofotschka!“ seufzte Lubjanzew. – „Man muß vernünftig sein und sich nur das wünschen, was möglich ist.“

[113] Wirst schon mitkommen, wenn du’s erfährst! dachte Ssofja Petrowna.

Nachdem sie einmal beschlossen hatte, auf jeden Fall zu verreisen, fühlte sie sich außer Gefahr. In ihre Gedanken kam allmählich Ordnung, sie wurde wieder fröhlich und erlaubte sich sogar, über alles nachzudenken: was ich auch denke, worüber ich auch phantasiere – fahren muß ich doch! Während der Mann schlief, wurde es allmählich Abend… Sie saß im Salon und spielte Klavier. Die Musik und hauptsächlich der Gedanke, daß sie brav gehandelt, die drohende Gefahr besiegt hatte, stimmten sie heiter. Andere Frauen, sagte ihr das beruhigte Gewissen, hätten in ihrer Lage kaum der Versuchung standgehalten, während sie vor Scham beinahe gestorben ist, gelitten hat und jetzt vor der Gefahr, die vielleicht gar nicht existiert, flieht! Ihre Tugendhaftigkeit und Entschlossenheit rührten sie so, daß sie sogar ein paarmal einen befriedigten Blick in den Spiegel warf.

Als es dunkelte, kamen Gäste. Die Herren setzten sich ins Spielzimmer, während die Damen im Salon und auf der Veranda Platz nahmen. Als letzter kam Iljin. Er war traurig, finster und schien sich nicht wohl zu fühlen. Wie er sich in eine Ecke des Diwans gesetzt hatte, so blieb er auch da den ganzen Abend sitzen. Für gewöhnlich lustig und gesprächig, schwieg er diesmal beharrlich, runzelte die Stirn und rieb sich die Augen. Wenn er auf irgendeine Frage antworten mußte, so lächelte er angestrengt, nur mit der Oberlippe, und antwortete abgerissen, ärgerlich. Einige Male versuchte er, witzig zu sein, aber seine Witze waren scharf und unverschämt. Ssofja Petrowna schien es, daß er nahe daran war, einen hysterischen Anfall zu bekommen. Erst jetzt, am Klavier sitzend, empfand sie es zum ersten Male deutlich, wie [114] trüb es diesem unglücklichen Menschen zumute war, daß er krank bis in die Seele war und nicht wußte, wohin er sollte. Ihretwegen verliert er die besten Tage seiner Jugend und seiner Karriere, gibt sein letztes Geld für die Miete der Villa aus, hat seine Mutter und seine Schwestern verlassen, und – was die Hauptsache ist – siecht im qualvollen Kampf mit sich selbst dahin. Schon aus bloßer, gewöhnlicher Menschenliebe mußte man ihm mehr Ernst und Beachtung widmen…

Sie begriff das alles so klar, daß ihr das Herz schmerzte, und wäre sie jetzt an Iljin herangetreten und hätte ihm ein „Nein“ zugerufen, so wäre eine solche Kraft in ihrer Stimme gewesen, daß man ihr unwillkürlich hätte gehorchen müssen. Aber sie stand nicht auf und sagte nichts und dachte überhaupt nicht daran. Die Kleinlichkeit und der Egoismus einer jungen Natur machten sich in ihr vielleicht nie so geltend, wie heute. Sie sah es ein, daß Iljin unglücklich war, daß er auf dem Diwan wie auf Kohlen saß, und er tat ihr leid; zugleich aber erfüllte die Gegenwart eines Menschen, der sie bis zum Schmerz liebte, ihre Seele mit Triumph, mit dem Bewußtsein der Kraft. Sie fühlte ihre Jugend, Schönheit und Unnahbarkeit, und – sie fuhr sowieso weg – und tat sich heute abend den Willen. Sie kokettierte, lachte ohne Unterlaß und sang mit besonderer Empfindung und Begeisterung. Alles belustigte sie, alles erschien ihr lächerlich. Die Erinnerung an das Ereignis auf der Bank, an den zuschauenden Posten belustigten[WS 3] sie. Die Gesten und die frechen Witze Iljins schienen ihr komisch; sogar die Nadel in seiner Krawatte, die sie früher nie bemerkt hatte, machte sie lachen. Die Nadel stellte eine kleine rote Schlange mit Aeuglein [115] aus Brillanten dar; dieses Schlänglein schien ihr so komisch, daß sie es hätte küssen mögen.

Sie sang heute nervös, mit einer herausfordernden Trunkenheit, und suchte, wie um den fremden Kummer zu reizen, die traurigsten und melancholischsten Lieder aus, in denen von verlorener Hoffnung, von der Vergangenheit, vom Alter die Rede war…

„Das Alter, es kommt immer näher und näher“ … sang sie… Und was kümmerte sie das Alter?

Es scheint mit mir doch nicht ganz richtig zu sein… dachte sie zuweilen zwischen dem Lachen und Singen.

Die Gäste verabschiedeten sich gegen zwölf Uhr. Als letzter ging Iljin. Ssofja Petrowna fand noch soviel Mut, ihn bis zur letzten Stufe der Veranda zu geleiten. Sie wollte ihm erklären, daß sie mit ihrem Manne verreisen wollte, und sehen, was diese Nachricht für einen Eindruck auf ihn machen würde.

Der Mond verbarg sich hinter den Wolken, aber es war dennoch so hell, daß sie sehen konnte, wie der Wind mit den Flügeln seines Radmantels und mit den Vorhängen der Veranda spielte. Sie sah auch, wie bleich Iljin war und wie er sich zu lächeln bemühte und dabei krampfhaft die Oberlippe verzog…

„Ssonja, mein Lieb… mein teures Weib,“ stammelte er, ohne sie zu Worte kommen zu lassen. „Meine Liebe, meine Gute!“

Im Andrang von Zärtlichkeit, mit tränenerstickter Stimme, überschüttete er sie mit Kosenamen, einer zärtlicher als der andere und sagte zu ihr jetzt schon du, wie zu seiner Frau, seiner Geliebten. Plötzlich und ganz unerwartet für sie umfaßte [116] er mit der einen Hand ihre Taille und ergriff mit der anderen ihren Ellenbogen.

„Meine Teure, mein Schatz…“ flüsterte er, indem er sie hinten auf den Nacken küßte, „sei aufrichtig, komm gleich jetzt zu mir!“

Sie entwand sich seiner Umarmung, um in Empörung und Entrüstung auszubrechen, aber aus der Empörung wurde nichts, und ihre ganze, vielgepriesene Tugend und Reinheit reichte nur dazu, eine Phrase zu stottern, die in ähnlichen Fällen die allergewöhnlichsten Frauen sagen:

„Sie sind verrückt!“

„Nein, wirklich, gehen wir!“ fuhr Iljin fort. – „Jetzt eben und damals an der Bank habe ich mich überzeugt, daß Sie, Ssonja, ebenso machtlos sind, wie ich… Auch Sie sind verloren! Sie lieben mich und schachern jetzt nutzlos mit Ihrem Gewissen…“

Als er sah, daß sie sich entfernen wollte, faßte er sie am Spitzenkragen und sprach hastig zu Ende:

„Wenn nicht heute, dann morgen – nachgeben werden Sie doch! Wozu dieses Hinausschieben? Meine teure, liebe Ssonja, das Urteil ist gesprochen, wozu seine Vollstreckung aufschieben? Wozu dieser Selbstbetrug?“

Ssofja Petrowna riß sich los und verschwand in der Tür. In den Salon zurückgekehrt, schloß sie das Klavier, blickte lange auf ein Notenheft und setzte sich. Sie konnte weder stehen noch denken… Von der Erregung und der herausfordernden Stimmung waren in ihr nur Schwäche, Faulheit und Langeweile zurückgeblieben. Das Gewissen flüsterte ihr zu, daß sie sich den Abend über schlecht und dumm aufgeführt habe, daß sie sich jetzt eben auf der Veranda habe umarmen [117] lassen und noch im Augenblick in der Taille und am Ellbogen ein gewisses Unbehagen empfinde. Im Salon war niemand, nur ein Licht brannte. Ssofja Petrowna saß auf dem runden Taburett vor dem Klavier, ohne sich zu rühren, als erwartete sie etwas. Und gleichsam, ihre äußerste Erschöpfung und die Dunkelheit benutzend, begann sich ihrer ein dumpfes unüberwindliches Begehren zu bemächtigen. Wie eine Riesenschlange umwand es ihre Seele und ihren Leib, wuchs mit jeder Sekunde und drohte nicht mehr wie früher, sondern stand vor ihr klar, in seiner ganzen Nacktheit…

Eine halbe Stunde lang saß sie, ohne sich zu rühren und den Gedanken an Iljin ganz hingegeben, dann erhob sie sich faul, und schleppte sich mühsam ins Schlafzimmer. Andrej Iljitsch lag schon im Bett. Sie setzte sich ans offene Fenster und gab sich ganz ihrem Wunsche hin. Einen „Wirrwarr“ hatte sie nicht mehr im Kopf, alle ihre Gefühle und Gedanken drängten einmütig nach einem bestimmten, klaren Ziel. Sie machte noch einen Versuch, dagegen zu kämpfen, aber gab es gleich wieder auf… Sie begriff jetzt, wie stark und unerbittlich der Feind war. Um mit ihm zu kämpfen, brauchte man Kraft und Stärke, während ihr Geburt, Erziehung und Leben nichts gegeben hatten, worauf sie sich hätte stützen können.

Unmoralisch! Abscheulich! warf sie sich selbst ihre Ohnmacht vor. – Also so eine bist du?

Ihre beleidigte Ehrbarkeit fühlte sich so empört durch diese Ohnmacht, daß sie sich selbst alle Schimpfwörter, die sie nur kannte, beilegte und sich viele beleidigende und erniedrigende Wahrheiten sagte. So sagte sie sich, daß sie eigentlich nie moralisch gewesen und nur deswegen nicht früher gefallen wäre, weil sich dazu keine Veranlassung geboten, daß der Kampf, [118] den sie den Tag über geführt, nur ein Spiel, eine Komödie gewesen wäre…

Nehmen wir auch an, daß ich gekämpft habe, dachte sie, aber was ist denn das für ein Kampf! Auch die, die sich verkaufen, kämpfen vorher und verkaufen sich doch! Ein hübscher Kampf: wie die Milch, in einem Tage geronnen! In einem Tage! –

Sie bezichtigte sich auch dessen, daß nicht ein wahres Gefühl sie aus dem Hause lockte, nicht die Persönlichkeit Iljins, sondern die Sucht nach den Empfindungen und Reizen, die sie in Zukunft erwarteten… Eine Sommerfrischlerin, „die sich amüsieren will,“ wie es deren ja viele gibt…

Hinterm Fenster auf der Straße hörte man einen Tenor singen.

Wenn ich gehen soll, so ist es jetzt Zeit! dachte Ssofja Petrowna. Das Herz klopfte ihr plötzlich mit fürchterlicher Gewalt.

„Andrej!“ schrie sie beinahe. „Hör’, wir… fahren doch? Ja?“

„Ja… Ich hab’ dir doch gesagt: fahr’ allein!“

„Aber hör’…“ sprach sie, „wenn du nicht mit mir fährst, so riskierst du, mich zu verlieren! Ich glaube, ich bin schon… verliebt!“

„In wen denn?“ fragte der Notarius.

„Das muß dir gleich sein, in wen!“ antwortete Ssofja Petrowna.

Andrej Iljitsch erhob sich, ließ die Beine herabhängen und betrachtete staunend die dunkle Gestalt seiner Frau.

„Phantasien!“ gähnte er.

Er glaubte nicht recht daran, erschrak aber doch. Nachdem er etwas nachgedacht und der Frau einige unwesentliche Fragen [119] gestellt hatte, sprach er seine Ansichten über die Familie, über die Untreue aus… sprach träge und matt einige zehn Minuten und legte sich dann wieder hin. Seine Sentenzen hatten keinen Erfolg. Es gibt in der Welt viele Ansichten, und die Hälfte von ihnen gehört Leuten, die selbst nie eine Gefahr überstanden haben!

Trotz der vorgerückten Stunde sah man draußen immer noch Leute gehen. Frau Lubjanzew nahm einen leichten Umwurf, wartete und bedachte sich noch eine Zeitlang… Sie war noch entschlossen genug, dem schlafenden Manne zuzurufen:

„Du schläfst? Ich gehe etwas an die Luft. Kommst du mit?“

Das war ihre letzte Hoffnung. Als sie keine Antwort erhielt, ging sie hinaus. Es war windig und kühl. Sie empfand weder den Wind, noch die Dunkelheit und ging immerzu. Eine unüberwindliche Gewalt trieb sie vorwärts, und es schien fast, wenn sie stehen geblieben wäre, hätte sie einen Stoß in den Rücken erhalten…

„Unmoralisch!“ murmelte sie mechanisch. „Gemein!“

Sie erstickte, verging vor Scham, fühlte nicht, wie sie vorwärts kam, aber das, was sie vorwärts trieb, war stärker als ihre Scham, als der Verstand, als die Furcht…

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Endweder
  2. Vorlage: sagt
  3. Vorlage: belustigen