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Ein Polterabend

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Autor: J. D. H. Temme
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Titel: Ein Polterabend
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 417–420
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman in 5 Teilen // Heft 27–31
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[417]
Ein Polterabend.
Von J. D. H. Temme.
Es war ein warmer Augustabend und die Luft ruhig, als wir unsern Wagen verließen. Mein Freund, der Steuerrath, führte mich um das Dorf herum, an Wiesen vorüber, nach einem Wäldchen von Fichten, Birken und einzelnen Buchen. Wir waren in Dunkelheit und Stille gegangen. Als wir in das Wäldchen hineinschritten, war es darin noch dunkeler und stiller, als es am Dorfe und an den Wiesen gewesen war. Wir konnten in dem Wäldchen hundert Schritte zurückgelegt haben. Gerade vor uns, aber noch in weiter Ferne, wurde ein schwacher, unbestimmter Lichtschimmer wahrnehmbar. In derselben Richtung vernahm das Ohr ein unbestimmtes, summendes Geräusch.

„Dort!“ sagte mein Freund, indem er mit der Hand nach Lichtschimmer und Geräusch hinwies. Ich hatte ihm nichts zu erwidern, und wir setzten unseren Weg fort, immer in gerader Richtung nach Schimmer und Geräusch. Der Schimmer wurde heller; ein weiter Raum schien von einer Menge von Lichtern erleuchtet zu werden. Das Geräusch wurde vernehmlicher; Menschenstimmen sprachen und lachten durch einander. Wir kamen den Lichtern und den Stimmen näher und immer näher und waren fast unmittelbar bei ihnen; nur noch eine hohe und dichte Hecke trennte uns von ihnen. Der Steuerrath führte mich an diese; es war eine Taxushecke.

„Bleib’ Du hier stehen,“ sagte mein Freund. „Halte Dich ganz ruhig. Ich bin in zwei Minuten wieder bei Dir.“

„Wohin willst Du?“ fragte ich ihn.

„Recognosciren.“

Er ging an der Hecke entlang, und ich verlor ihn in der Dunkelheit aus den Augen. Er war leise gegangen; nach fünf Schritten hatte ich ihn nicht mehr gehört. Ich blieb auf der Stelle stehen, an der er sich von mir getrennt hatte, und versuchte, durch die Hecke in den Garten zu blicken, den sie von dem Wäldchen und von mir trennte. Die Hecke war zu breit, der Taxus zu dicht. Ich konnte zwar eine Menge von Lichtern und Lampen unterscheiden, die überall umher standen und hingen, bald hoch, bald niedrig, wohl auf Tischen, an Spalieren, in den Bäumen; ich sah auch, wie es zwischen und unter den Lichtern sich fortwährend hin und her bewegte. Weiter konnte ich aber nichts erkennen. Menschen mußten es sein, die sich so hin und her bewegten. Ich vernahm deutlich die Stimmen, die sich unterhielten, bald laut, bald leiser sprechend, rufend, scherzend, lachend. Es war eine große, heitere, muntere, lustige Gesellschaft da. In das Reden und Lachen mischte sich das Klirren von Gläsern, Ich fühlte mich befriedigt. War mein Zweck hier überhaupt zu erreichen, in dieser munteren, lustigen Gesellschaft schien er mir um so leichter erreichbar zu sein.

Und doch wollte es mich auf einmal heiß und kalt überlaufen, als ich so recht darüber nachdachte.

Ich kam von dem Schauplatze eines Mordes und ich suchte den Mörder.

Aber, meine lieben, freundlichen Leser, hier muß ein Anderer, als der bisher zu Dir sprach, das Wort nehmen. Der Schreiber dieser Zeilen, der Dir in der „Gartenlaube“ allerdings schon so manche Geschichte aus seiner früheren Thätigkeit als Criminalrichter erzählt hat, erzählt Dir jetzt nicht aus seinem eigenen Beamtenleben, sondern er erzählt diesmal nur nach, was er von einem anderen, auch schon alten Criminalrichter aus dessen Leben erfahren hat. Und so läßt er denn seinen Gewährsmann fortfahren.

Ich horchte, um zu unterscheiden, was und worüber gesprochen wurde, aber ich konnte nur einzelne Worte auffangen. Das Gesumme der Stimmen war zu bewegt, zu vielfach durch einander gekreuzt, als daß man zusammenhängende Worte oder Sätze hätte heraushören können. Das Einzelne, was ich verstand, bezog sich eben auf die Munterkeit der Gesellschaft, auf den herrlichen Abend, auf Wein und auf Punsch und was dazu gehörte oder damit zusammenhing. Nach einer Minute verstand ich gar kein Wort mehr. Eine Tanzmusik spielte auf, ganz nahe vor mir, dicht an der Taxushecke. Ihre lauten, lustigen Töne verschlangen jeden anderen Laut umher. Mein Freund, der Steuerrath, kam zurück.

„Folge mir,“ sagte er.

„Was hast Du gefunden?“

„Einen herrlichen Platz, an dem Alles zu überschauen ist.“

Er führte mich an der Hecke entlang, in der Richtung, in der er sich vorhin entfernt hatte. Wir kamen an dem großen erleuchteten Raume vorüber, in dem sich die lustige Gesellschaft befand. An dem Ende desselben wo sich die Hecke bog, machten wir Halt. In der Biegung war ein Gitterpförtchen, durch welches man jetzt den ganzen erhellten Raum des Gartens übersehen konnte. Vor dem Pförtchen stand eine große, breite Haselnußstaude. An sie stellten wir uns. Sie verbarg uns jedem Auge jenseits des Pförtchens, ließ aber unsere Blicke durch das Pförtchen völlig frei.

Der Garten war mit Lampen glänzend erleuchtet; Alles plauderte, lachte, scherzte, tanzte und trank. Sie waren Alle so fröhlich, so munter, so lustig. Aus dem dichtesten Haufen der Scherzenden und Lachenden schlich leise und verstohlen und ängstlich ein feines, blasses Mädchen heraus. Sie war hoch aufgeputzt, mehr als die Anderen. Sie war jung und schön, aber so sehr, so schrecklich blaß in ihrer Jugend, in ihrer Schönheit und in ihrem Putze. Sie schwankte auf das Pförtchen zu, hinter dem [418] wir standen, nach einem weniger erleuchteten Flecke neben dem Pförtchen. Es war eine Laube da. Eine einzige Lampe erleuchtete sie. Zu einer Ecke der Laube saß eine ältliche Frau allein. Wir hatten sie bisher nicht bemerkt. Sie war blaß, fast so bleich wie das Mädchen, und in dem abgehärmten Gesichte zeigte sich Schmerz, Sorge, Unruhe, Angst. Das Mädchen trat in die Laube .und warf sich in die Arme der blassen, von Schmerz und Angst verzehrten Frau.

„Mutter, ich sterbe!“

Die Angeredete zitterte heftig. „Möchte ich mit Dir sterben können, mein Kind!“ schluchzte sie.

Dann preßte die Mutter krampfhaft die Tochter an sich. Beide weinten. Hinter ihnen rauschte die lustige Tanzmusik, tanzten und sprangen die fröhlichen Paare, lachte, scherzte und jubilirte Alles.

Aus dem Haufen der Jubilirenden kam wieder Jemand hervor. Es war diesmal ein noch junger Mann, vielleicht im Anfange der dreißiger Jahre, von hohem, kräftigem Körperbau, von stolzer, vornehmer Haltung. Das aristokratisch geschnittene Gesicht war wettergebräunt, dunkelglühende Augen brannten unheimlich darin. Eine sonderbare Unruhe ergriff mich plötzlich bei dem Anblicke des jungen Mannes.

„Mein Gott, den habe ich irgendwo gesehen!“ mußte ich meinem Freunde zurufen.

„Still, still,“ ermahnte der Steuerrath mit seinem leisesten Flüstern. „Er könnte uns hören, er hat Augen, von denen man glauben sollte, er könne die Nacht damit durchbohren.“

Ich schwieg. Der Steuerrath hatte Recht. Der Mann war stehen geblieben, als er sich dem Haufen entwunden hatte. Er sah sich nach allen Seiten um, als suchte er etwas. Seine Augen fielen auch in die Richtung, in der wir standen. Sie bohrten sich brennend, leuchtend in die Finsterniß hinein, die uns hinter dem Pförtchen und den Zweigen und Blättern der Nußstaude barg. Sie schienen mit ihrem Glühen und Leuchten die Finsterniß zu durchbohren, zu erhellen. Dieser Blick war es, der jene plötzliche Unruhe, der eine etwas beängstigende, aber völlig unbestimmte Erinnerung in mir geweckt hatte, eine um so beängstigendere, je unbestimmter sie war.

„Um des Himmels willen, wo habe ich den Menschen gesehen?“ mußte ich mich selbst fragen, da ich den Freund nicht mehr fragen durfte. Eine Antwort hatte ich nicht. Die Blicke des Mannes hatten sich von dem Pförtchen, hinter dem wir standen, nach der Laube neben dem Pförtchen gewandt. Auch hier hafteten sie fest. Ihr Inneres schien er wirklich durchbohrt zu haben. Er schritt mit raschen Schlitten auf sie zu. Im Eingange blieb er stehen, die Mutter und die Tochter hatten ihn nicht bemerkt. Sie hielten sich noch umfangen und weinten noch still. Sie hatten sich in der einsamen Laube wohl sicher gefühlt.

Der Mann schaute finster auf die weinenden Frauen. Er stand kaum fünf Schritte von uns, und das Licht der Lampe in der Laube fiel voll auf sein Gesicht. Das war ein stolzes, herrisches, hartes Gesicht. Und wie verzehrend und vernichtend blickten die dunklen, glühenden Augen! Er stand so dicht vor mir, daß ich jeden Zug des Gesichts erkannte, aber den Menschen erkannte ich nicht wieder. Er schritt in die Laube hinein, nach Mutter und Tochter hin.

„Ah, hier?“ sagte er.

Nur die zwei Worte sprach er, aber finster, hart, herrisch, feindlich. Der ganze Charakter des Mannes sprach aus dem Tone der zwei Worte. Hätte ich ihn noch nicht gesehen gehabt, aus diesem Tone hätte ich mir den Mann zusammensetzen müssen, mit seiner Gestalt, mit seinem Gesichte. Die Stimme war mir fremd, ich hatte sie noch nie gehört. Mutter und Tochter waren auseinander gefahren, die Tochter war aufgesprungen. Er nahte sich ihr, und ich glaubte sie zittern zu sehen.

„Darf ich bitten?“ sagte er zu ihr.

Er bot ihr seinen Arm. Sie legte ihren zitternden Arm hinein. Er sah sie darauf an.

„Ah! und auch Thränen? An ihrem Polterabend darf die Braut ihren Gästen keine Thränen zeigen.“

Ja, sie feierten einen Polterabend, und das hochaufgeputzte junge, schöne, blasse und zitternde und weinende Mädchen war die Braut. Und der hohe, stolze, vornehme, harte, herrische, finstere Mann war der Bräutigam? Er hatte die Worte wieder so hart und herrisch und befehlend gesprochen. Das Mädchen trocknete hastig ihre Thränen.

„Hast Du nicht auch ein Lächeln?“ fragte er, und seine Frage war wieder ein harter, strenger Befehl.

Aber ein Lächeln hatte die Arme nicht. Sie wollte es erzwingen, aber sie vermochte es nicht.

„Zwinge Dich!“ sagte er dennoch zu ihr.

So führte er sie aus der Laube. Sie wollte noch einen Blick auf die Mutter werfen, aber sie wagte es nicht, an der Seite und unter den Blicken des finsteren und befehlenden Mannes, der mit der Frau kein Wort gesprochen, sie nicht einmal angesehen hatte. Er führte sie zu dem Haufen der jubelnden Gäste zurück, und die Gäste jubelten lauter bei dem Erscheinen der Beiden, stießen mit den klirrenden Gläsern an und riefen, daß es weit durch den Garten und durch die dichte Taxushecke in den dunklen Wald hineinschallte: „Hoch lebe das Brautpaar! Hoch und hoch und hoch!“

Und die Gläser erklirrten von Neuem, und die Musik spielte einen rauschenden Tusch, der all das Rufen und Gläserkirren und Jubeln übertönte. Ob da die blasse Braut das Lächeln gefunden hatte, das sie in der Laube nicht hatte erzwingen können? Die Mutter in der Laube saß noch still, mit verhülltem Gesicht, da. Sie weinte wohl noch immer. Mein Freund und ich durften wieder mit einander sprechen.

„Du hast den Menschen schon früher gesehen?“ fragte er mich.

„Ich weiß es nicht.“

„Du sagtest es!“

„Ich meinte es im ersten Augenblicke, da er dort aus der Menge heraustrat. Aber ich besinne mich seitdem vergeblich auf ihn, und seine Stimme war mir völlig unbekannt. Ich mußte mich geirrt haben.“

„Du bist seit vielen Jahren Criminalrichter, vielleicht aus Deiner Amtspraxis? Du kommst mit so vielen Leuten in Berührung, an so manchen Orten.“

„Als Criminalrichter sollte ich ihn gesehen haben, meinst Du?“

„Warum nicht? Hat er mit allem seinem stolzen, vornehmen Wesen nicht auch auf Dich einen unheimlichen Eindruck gemacht?“

„Ich kann es nicht leugnen, und ich muß Dir auch zugeben, der erste Eindruck, den ein Mensch auf mich gemacht hat, hat sich mir nachher noch immer als der richtige bewährt.“

„So lassen wir den Menschen nicht aus den Augen,“ sagte mein Freund.

„Aber welche entsetzliche Verhältnisse sind das hier!“ mußte ich ihm noch bemerken.

„Gerade darum! Indeß sehen wir jetzt zu der Gesellschaft!“

„Ich bin bereit.“

„Wir müssen zu unserem Wagen zurück. Nur in ihm dürfen wir anlangen und müssen vorn am Hause vorfahren.“

Wir verließen unsern heimlichen Platz hinter der Haselnußstaude neben dem kleinen Gitterpförtchen und kehrten in das Wäldchen zurück, durch das wir gekommen waren. Hinter uns spielte lustig die Tanzmusik, klirrten fröhlich die Gläser, rief und jubelte man Hoch und Hurrah! Mir traten aus dem Dunkel nur die Bilder der bleichen, zitternden Braut und ihrer still weinenden blassen Mutter hervor, und des finstern, harten, vornehmen Bräutigams. Wir gingen still. Der Steuerrath ging voraus. Auf einmal blieb er stehen. Wir hatten kaum dreißig bis vierzig Schritte zurückgelegt.

„Da nahet sich Jemand,“ flüsterte er mir zu.

Wir standen Beide und horchten. Aus der Mitte des Waldes her näherte sich ein Schritt. Wir gingen in einem schmalen Pfade; in demselben schien der Schein heranzukommen.

„Er darf uns nicht begegnen,“ sagte mein Freund. „Gehen wir aus die Seite.“

Wir gingen leise auf die Seite und verbargen uns hinter einer Fichte. Der Schritt kam näher. Ein einzelner Mensch ging vorüber. Er ging schnell, sicher; er mußte den Weg kennen. Zehn Schritte von uns, als er vorüber war, blieb er stehen. Er war nicht weit von der Taxushecke, von dem Pförtchen, an dem wir gestanden hatten. Er stand vielleicht eine Minute; dann setzte er seinen Weg fort, nach dem Pförtchen hin; aber er ging langsam, leise, vorsichtig.

„Was mag der hier vorhaben?“ sagte der Steuerrath.

„Du kennst ihn?“ fragte ich.

„Es ist der Inspector Holm.“

„Ah, von dem Du mir erzähltest?“ [419] „Derselbe. Was schleicht der da herum? Als wenn er etwas Böses im Sinne hätte.“

Wir gingen dem Menschen nach, leise, mit unhörbaren Schritten, von Fichte zu Fichte, von Birke zu Birke uns zurückschleichend. Wir hatten ihn aus dem Gesichte verloren, aber wir hörten seinen Schritt vor uns. Als wir zehn Schritte von dem Pförtchen entfernt waren, sahen wir ihn wieder. Er stand an dem Pförtchen, hinter der Haselnußstaude, an derselben Stelle, an der wir vorhin gestanden hatten. Er lauschte auch, wie wir, zuerst nach dem hellen Schauplatz des Jubels, dann in die stille Laube gleich nebenan. Auf einmal hörten wir ihn sprechen. Er flüsterte in die Laube hinein; leise genug; wir konnten dennoch verstehen, was er sagte. Es wurde ihm geantwortet; wir konnten auch das verstehen.

„Madame!“ rief er leise in die Laube hinein. „Darf ich Sie um ein paar Worte bitten?“

„Um Gotteswillen, Holm, Sie? Was wollen Sie hier?“

Die blasse Frau, die geängstigte Mutter der Braut rief es zurück, mit einer Stimme, die den höchsten Schreck verrieth.

„Wo kann ich Sie allein sprechen, Madame?“ fragte der Inspector Holm. „Aber sofort!“ Er sprach dringlich, eilig.

„Müssen Sie mich sprechen?“ fragte die Frau.

„Gewiß, gewiß! Ich habe Nachrichten von Ihrem Sohn.“

„Von Ulrich?“ schrie die Frau auf.

„Von ihm und von Ihrem Manne.“

„Mein Gott, reden Sie. Auf der Stelle! Ich beschwöre Sie.“

„Werden wir hier nicht gestört werden?“

„Nein,“ wollte die von Neuem, die auf den Tod geängstigte Frau wohl antworten. Da wurden sie schon gestört.

„Frau Mutter –" sprach im Eingange der Laube eine Stimme.

Es war die harte, befehlende Stimme des vornehmen Bräutigams.

„Frau Mutter –! Aber ah, Sie sprechen da mit Jemandem?"

Der wiederholte Schreck hatte die arme Frau doch nicht niedergeworfen. Sie hatte sich zusammennehmen können.

„Ich? Mit wem sollte ich sprechen?“

„Ich werde es erfahren.“

Ein rascher Schritt nahete sich dem Pförtchen. Es war der Bräutigam. Er wollte die Thür aufreißen, aber sie war verschlossen. „Teufel!“ fluchte er.

Er sah über sie hinüber, aber er gewahrte nichts. Der Inspector hatte sich an der Hecke der Laube, fast unter ihr, zur Erde niedergelassen. Der fluchende Mann kehrte in die Laube zu der Frau zurück.

„Madame, ich will wissen, mit wem Sie sprachen.“

Er war zornig geworden. Aber die unglückliche Frau war nicht ganz seine Sclavin.

„Mein Herr.“ sagte sie, und sie sprach die Worte mit ruhiger, fester Würde – „ich hoffe, Sie werden einsehen, daß das nicht der Ton ist, in dem Sie mit mir zu sprechen haben. Sie werden keine Antwort von mir erhalten.“

Die Ruhe und Festigkeit der Frau hatten ihm imponirt. Welche Zwangsmittel hätte er auch gegen die Frau gehabt?

„Folgen Sie mir, Madame. Es paßt sich für die Frau des Hauses nicht, sich den Gästen zu entziehen, zumal wenn der Hausherr nicht da ist. Kommen Sie mit mir zu der Gesellschaft zurück.“

An ihrem harten und befehlenden Tone hatte seine Stimme nichts verloren. Wir hörten, wie die Frau mit ihm die Laube verließ. Gleich darauf erhob sich der Inspector Holm aus seinem Versteck an der Laube. Er ging rechts um die Gartenhecke herum, nach dem Theile des Gartens hin, wo dieser dunkel war. Als er uns nicht mehr wahrnehmen konnte, verließen auch der Steuerrath und ich unseren Versteck und schritten wieder in das Wäldchen hinein, um zu unserem Wagen zu gelangen, der uns als Gäste zu der Festlichkeit bringen sollte, von der wir bis jetzt Zuschauer gewesen waren.

„Das ist ja ein entsetzlicher Polterabend!“ mußte ich ausrufen. „Und die beiden Frauen sind allein in der Gewalt des Menschen! Der Mann, der Vater nicht da, der Sohn, der Bruder nicht! Und ohne sie das Fest? Auch wohl morgen die Hochzeit? Und welche Schreckensnachrichten fürchtete die Frau über die Abwesenden zu erfahren? Sie schrie auf, als die Namen des Gatten und Sohnes genannt wurden.“

Der Steuerrath hatte keine Antwort auf meine Fragen, und bald darauf erreichen wir unseren Wagen und fuhren zu dem Gutshofe.




Aber ich muß erzählen, was uns hingeführt hatte. Am Abend vorher hatte mir ein reitender Gensd’arm ein Schreiben der russischen Grenzbehörde überbracht. Der Gensd’arm war an der fünf Meilen entfernten Grenze stationirt. Es war schon später Abend, als er bei mir ankam. In dem Schreiben stand, daß am Morgen von patrouillirenden russischen Grenzbeamten auf russischem Gebiete, nicht weit von der Grenze, die Leiche eines ermordeten Mannes gefunden sei. Der Mord sei wahrscheinlich in der vergangenen oder vorvergangenen Nacht geschehen, der Ermordete sei unbekannt, und trage eine Kleidung, deren Schnitt und übrige Beschaffenheit in Rußland ungewöhnlich sei. Dies mit anderen Umständen leite darauf hin, daß der Mord auf preußischem Gebiete verübt sei. Die Untersuchung des stattgefundenen Verbrechens werde daher nur zu einem Resultate führen können, wenn sie, und zwar auf das Schleunigste, gemeinschaftlich von den preußischen und russischen Behörden vorgenommen werde. Man ersuche mich, zu diesem Zwecke, um sofortige Herüberkunft.

Die russische Behörde schien Recht zu haben. Ein Resultat der Untersuchung war nur von einem solchen sofortigen Zusammengehen zu erwarten. Ich traf sofort Anstalten zur Abreise nach der Grenze. Aber auch schon diesseits der Grenze mußten Nachforschungen angestellt, Ermittelungen versucht werden. Bei dem Criminalgerichte, der Kreisjustizcommission, war von einem verübten Morde nichts bekannt.

„Kennen Sie den Inhalt des Schreibens?“ fragte ich den Gensd’armen.

„Nein. Der Kosak sagte nichts darüber.“

„Sprach er nicht von einem Morde?“

„Kein Wort. Er brachte mir nur das Schreiben und gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß es so schleunig wie möglich besorgt werden müsse. Er verstand weder Deutsch noch Litthauisch, und ich verstand sein Russisch oder Kosaksch nicht.“

„Haben Sie nichts von einem Morde gehört, der an der Grenze verübt sei?“

„Gar nichts.“

„Auch nichts von Grenzexcessen?“

„Seit vierzehn Tagen nicht. Die Schmuggler hatten Unglück, da haben sie in der letzten Zeit nichts mehr gewagt.“

„Ja, ja, das ist es.“

Das war es, es war mein erster Gedanke gewesen, als ich das Schreiben gelesen hatte. An der russischen Grenze blühte damals der Schmuggelhandel, aus Preußen nach Rußland. Er blüht noch heute dort mit seinem ganzen Gefolge von Verrath, Rohheit, Gemeinheit, von Erziehung des Volkes zu allen möglichen Lastern und Verbrechen.

Der Schmuggel nach Rußland wurde im Großen getrieben. Verwegene, bewaffnete Banden schafften die Waaren über die Grenze, mit List, und wenn die List nicht ausreichte, mit Gewalt. Eine Zeit lang hatten fast Nacht für Nacht Kämpfe zwischen den Schmugglern und den russischen Grenzhusaren und Kosaken stattgefunden. Anfangs waren sie blutig gewesen, mit wechselndem Glücke. Dann war der Erfolg regelmäßig auf Seite der Schmuggler gewesen; sie hatten durch Scheinangriffe die Russen zu verlocken gewußt, so daß dort, wo der Uebergang der Waare erfolgen sollte und erfolgte, die Grenze frei war. Auf einmal hatte sich das Blatt gewendet. Den Scheinangriffen hatten die Russen nur Scheinvertheidigungen entgegengesetzt, und die Waarentransporte, die sich sicher glaubten, waren mit drei- bis viermal überlegener Macht überfallen und angegriffen worden und hatten von den Transporteuren im Stiche gelassen werden müssen. Diese hatten kaum die Grenze erreichen können, nicht selten unter Verlust von Todten und Verwundeten. Man hatte bei dem sich wiederholenden Unglück bald von Verrath gesprochen. Man konnte zuletzt nicht mehr daran zweifeln, auch daran nicht, daß der Verräther unter den Schmugglern selbst, unter den eigenen Cameraden zu suchen sei. Seit ungefähr vierzehn Tagen war darauf von den Schmugglern gar nichts unternommen, man hatte nicht das Geringste von ihnen gehört.

Wir erreichten die Grenze, ohne irgend einen Umstand zu erfahren, der mit dem Verbrechen hätte in Verbindung gebracht werden können. Die russischen Beamten erwarteten mich dort und führten uns zu der Leiche.

In einem Erlengebüsch, zwischen zwei dichten Erlen, lag die Leiche, ungefähr sechzig Schritte von dem Grenzwalle entfernt. Ein Grenzkosak, der am Mittage vorher in der Sonnenhitze einen schattigen [420] Platz gesucht, hatte sie dort zufällig gefunden. Man hatte sie liegen lassen, ganz in dem Zustande, wie sie aufgefunden war. So fand ich sie auch noch. Sie lag lang ausgestreckt da, auf dem Rücken. Sie lag in voller Bekleidung, nur die Kopfbedeckung und eine Halsbinde fehlten. An der Bekleidung war Manches zerrissen, Einzelnes offenbar absichtlich. Der Ermordete war ein junger Mann von etwa fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, von schlankem, fast zartem Körperbau, von etwas mehr als mittelmäßiger Größe, die Haare waren blond; das Gesicht war fein geschnitten, aber mager, eingefallen; man glaubte, noch im Tode zu erkennen, daß es angenehme, geistreiche, lebhafte Züge gehabt habe. So sah man die Leiche eines jungen Mannes der sogenannten besseren, vielleicht gar höheren Gesellschaft vor sich.

Seinem Aeußern nach konnte der junge Mann nicht mit den Schmugglern in Verbindung gebracht werden, es konnte kein Camerad von ihnen sein, denn die Schmuggler der Grenze bestanden nur aus dem verkommensten, zusammengelaufenen Gesindel der Grenze: das Beste waren unter ihnen ein paar heruntergekommene oder sonst zweideutige Bauernwirthe. Aber in der That schien jenem Aeußeren die Bekleidung der Leiche nicht entsprechen zu wollen. Der Ermordete trug einen ganz gewöhnlichen, groben, grauen, langen Wandrock, wie ihn die litthauischen Bauern, und zwar auf preußischer Seite, zu tragen pflegten. Allein unter dem Rocke sah man eine Weste von schwarzem Atlas und dem modernsten Schnitt, und unter der Weste wieder ein Hemd von sehr feiner Leinwand, wie der beste litthauische Bauer sie wohl noch nie getragen hat. Dann waren die Beinkleider von feinem schwarzem Tuch und ebenfalls von modernem Schnitt, und die aristokratisch schmalen Füße waren mit eleganten Stiefeln bekleidet.

Der Mord war in doppelter Weise auszuführen gesucht. Zuerst hatte der Mörder sein Opfer erwürgen wollen. Die Spuren eines fest um den Hals gewundenen Strickes zeigten sich deutlich. Der Strick fehlte. Dann war der Hirnschädel an mehreren Stellen eingeschlagen. Es mußte mit einem stumpfen Instrumente geschehen sein, mit einem Stück Holz, einem Hakenstocke oder dergleichen. Ob der Tod durch jene oder durch diese Mißhandlung herbeigeführt, konnte sich erst durch eine Section der Leiche ergeben. Der Mord war nicht an der Stelle verübt, wo die Leiche gefunden war; er war überhaupt nicht auf russischem Boden verübt. Die russischen Behörden hatten das bisher nur vermuthen können. Gewiß feststellen konnten sie es nicht, weil sie allein die preußische Grenze nicht überschreiten durften.

Jetzt, unter meiner Leitung konnte dies geschehen. Auf dem Grenzwalle war an dem verbogenen Gebüsch zu bemerken, daß Jemand quer hinübergegangen sein müsse. Eine aufgefundene Fußspur bestätigte dies. Sie hatte in gerader Richtung den Wall überschritten. So wurde sie auch jenseits, auf preußischem Gebiete weiter verfolgt. Nach hundert Schritten führte sie nach der Mordstelle.

Der Boden war auf preußischer Seite, wie auf russischer, sumpfig, feucht, gruppenweise mit Erlen bewachsen. An einzelnen Stellen war er plötzlich sandig; dort standen verkrüppelte Fichten und Erlen; auf einem der sandigen Flecke war der Mord geschehen. Der Sand war in einem Umkreise von mehreren Schuhen von Blut geröthet, wie mit Blut getränkt. An Zweigen und Blättern der nächsten Erlen waren Blutstropfen angeklebt. Sie waren bei dem gewaltsamen Zerschlagen des Hirnschädels umher und in die Höhe gespritzt. Das war auch fast Alles, was zu sehen war.

Außerdem war namentlich daraus, daß an den nächsten Fichten und Erlen, obwohl zu diesen die Blutstropfen herangespritzt waren, kein Zweig und kein Blatt verbogen war, zu entnehmen, daß zwischen dem Mörder und dem Ermordeten durchaus kein Kampf stattgefunden hatte. Daraus und aus dem Befunde an der Lelche war dann auf die Mordspur weiter zu schließen. Der Mörder hatte den Ermordeten plötzlich und unversehens überfallen, entweder indem er ihm aufgelauert hatte, oder indem er vertraulich mit ihm gegangen war. Er hatte ihn sofort durch den Ueberfall kampfunfähig gemacht; wahrscheinlich indem er eine Schlinge, einen Strick, ihm um den Hals geworfen, sie zugezogen und ihn so niedergerissen und gewürgt hatte. Um des Todes sich ganz und völlig zu vergewissern, hatte er dann noch mit dem stumpfen Instrumente den Hirnschädel eingeschlagen. Den todten Körper hatte er über die Grenze getragen. Er hatte ihn nicht an der Erde geschleppt; davon hätten sich auch in jenem sandigen und schlüpfrigen Boden Spuren finden müssen. Er hatte ihn also getragen, und daraus war ein weiterer Schluß zu ziehen. Hatte nur ein einziger Mensch das Verbrechen verübt, so mußte es ein Mensch von großer, ungewöhnlicher Körperkraft sein.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Ein Polterabend
aus: Die Gartenlaube 1863, Heft 28, S. 433–436
Fortsetzungsroman – Teil 2


[433] Auch in anderer Weise war über den Thäter nichts zu ermitteln. Freilich auch nichts, was über die Person des Ermordeten hätte Auskunft geben können. Kein Instrument wurde gefunden, kein Fetzen eines Kleidungsstückes, kein anderer fremder Gegenstand. Wie der Thäter Hut und Halsbinde, die an der Leiche fehlten, beseitigt hatte, so mußte er auch alles Andere, was auf irgend eine Spur hätte hin leiten können, mit der größten Vorsicht und Sorgfalt auf die Seite geschafft haben. So hatte es sich schon an der Bekleidung der Leiche gefunden. Die Taschen waren völlig leer; kein Tuch, kein Fetzen Papier fand sich darin. Aus dem Hemde war das Stück, in welchem ein Namenszeichen sich befunden haben mußte, herausgerissen, und es war wohl nicht zufällig geschehen.

Die Russen überließen mir die weitere Untersuchung. Erst am folgenden Tage aber sollte die Herausgabe geschehen, und da ich in Rußland – wenigstens vor der Hand – nichts mehr zu thun hatte, kehrte ich über die Grenze zurück, wollte indeß in ihrer Nähe bleiben: einmal, um nicht zur Empfangnahme der Leiche sieben Meilen hin und sieben Meilen her zu machen – so weit war mein Amtssitz entlegen –; zum Anderen konnte ich nur in der Nähe der Grenze und des Verbrechens auf Auskunft über dieses rechnen. Ich fuhr mit meiner Begleitung zu dem ersten besten Bauerndorfe auf preußischer Seite. Meinen Begleitern schärfte ich wiederholt ein, über den Mord das tiefste Stillschweigen zu beobachten und auch dann nichts von ihm zu wissen, wenn schon andere Leute von ihm wissen sollten.

Wir erreichten – eine halbe Meile aufwärts an der Grenze – ein jämmerliches Bauerndorf, einen elenden Krug. Der Tag neigte sich. Ich sah in der schrecklichen litthauischen Herberge einem schrecklichen Abend mit Tabaksqualm, saurem Bier, alten Häringen, vertrocknetem Brode entgegen. Da fuhr eine Kutsche mit zwei prächtigen Braunen an dem Kruge vor. Ich kannte sie. Ein großer, wohlgenährter Herr trat in die Krugstube. Alles an ihm zeigte gutes Essen, gutes Trinken und guten Humor. So sehen nur gutgenährte Beamte aus, und er war Steuerrath, der Steuerrath Klemann, mit mir in derselben Stadt wohnend und mein lieber Freund. Ich erschrak fast, als ich ihn hier sah.

„Freund, Du in diesem Kruge? Welches Unglück hat Dich hierher getrieben?“

„Unglück?“ sagte er. „Ich fahre ja zu einem Polterabend.“ Er war ernsthaft dabei geblieben, trotz der Antwort und seines Humors. „Aber Du? Wie kommst Du hierher?“ fragte er erstaunt, verwundert.

„Ich komme von einem Morde.“

„Hm, von Mord zu Raub, von Raub zu Diebstahl von Diebstahl wieder zu Mord, das ist ja Dein Metier.“

„Und diesmal möchte ich Dich in mein Metier mit hineinziehen.“

„Um des Himmelswillen, was haben Schlacht- und Mahlsteuer mit Mord und Todtschlag zu thun?“

„Nun, mitunter auch die. Indeß, Du hast ja auch mit Schmugglern zu thun.“

„Aber nur mit den armen Teufeln, die für Weib und Kind daheim von da drüben ein paar Loth Salz holen, das unsere Regierung so wohlfeil an die Russen verkauft, daß unsere Unterthanen noch für den halben Preis, den es hier hat, von den Russen es zurückkaufen können.“

Damals sprachen sogar die Steuerräthe in Preußen noch frisch von der Leber weg.

„Und die,“ erwiderte ich ihm, „schlagen sich untereinander nicht todt, meinst Du wohl?“

„So ungefähr meinte ich. Du kommst also von einem Todtschlagen der Schmuggler untereinander?“

Ich erzählte ihm den verübten Mord, und was ich darüber ermittelt oder eigentlich nicht ermittelt hatte. Er konnte mich vielleicht auf andere, weitere Spuren bringen. Er hatte zwar mit dem Schmuggel aus Preußen nach Rußland amtlich nichts zu schaffen; nur das armselige Einschwärzen von Salz aus Rußland nach Preußen berührte ihn, aber auch das hatte ihn das Schmuggel- und Schmugglerleben an der Grenze näher kennen gelehrt. Er konnte mir dennoch keine Spuren, keine Fingerzeige angeben. Plötzlich aber fuhr er auf und sagte, immer noch ernst. „Fahre mit mir zu dem Polterabend.“

„Was soll ich da?“

„Ich habe einen Gedanken, einen sonderbaren Gedanken.“

„Der zu dem Morde in Beziehung steht?“

„Ich weiß es nicht. Aber höre mir zu. Kennst Du einen Gutsbesitzer Bertossa?“

„Ich habe nie von ihm gehört.“

„Er ist seit vier Jahren in der Gegend und besitzt das Gut Kalwellen.“

„Hier in der Nähe?“

„Drei Meilen von hier. Du kennst es?“

„Ich war noch nie da. Es soll ein großes einträgliches Gut sein.“

„Ja, und der Besitzer hat mit der bedeutenden Landwirthschaft [434] auch eine große Branntweinbrennerei verbunden. Das führt mich oft hin. Die Branntweinkessel gehören ja mit zu meinem Metier, wie Mord und Todtschlag zu Deinem, und durch eben diese Branntweinkessel bin ich mit dem Gute und seinem Besitzer und dessen Familie bekannt geworden.“

„Er hat Familie?“

„Und namentlich eine wunderhübsche Tochter.“

„Ah, zu deren Polterabend reisest Du?“

„Zu deren Polterabend reise ich.“

„Du nanntest ihn ein Unglück!“

„Pah, wie viele glückliche Ehen kennst Du denn in der Welt? Die Deinige natürlich ausgenommen!“

„Und die Deinige! Aber Du sprachst das Wort Unglück so ernst und so eigenthümlich ernst aus.“

„Und ich hatte Recht. In der Familie Bertossa aus Kalwellen herrschen eigenthümlich ernste Verhältnisse. Man könnte sie noch wohl anders bezeichnen. Der Mann, Bertossa, kam vor vier Jahren hier an. Das Gut Kalwellen stand damals zum öffentlichen Verkaufe. Es war in inländischen und auswärtigen Zeitungen ausgeboten. Er besah es, unterhandelte mit dem Verkäufer, kaufte es und er bezahlte den Kaufpreis baar – nahe an achtzigtausend Thaler. Er mußte sehr reich sein. Er nahm das Gut in Besitz, reiste ab, um seine Familie zu holen, und kam mit ihr nach vier oder fünf Wochen zurück. Seitdem wohnen sie dort.“

„Und woher kam er?“

„Das weiß man nicht. Die Polizei mag es wissen – vielleicht auch nicht. Andere Leute sprechen bald dies, bald das.“

„Und was sprechen sie?“

„Einige sagen, er sei ein Flamländer, er komme aus Belgien; Andere wollen wissen, er sei ein Romane und komme aus dem Canton Graubünden.“

„Aber die Sprache, die Aussprache?“

„Es ist eine gebildete, eine sehr gebildete Familie. Sie sprechen Deutsch, Französisch, Italienisch. Ihr Deutsch ist ein durchaus reines.“

„Und ihre Heimathspapiere, die sie der Polizei überreicht haben mußten, woher sind die?“

„Ich weiß es nicht, wie ich Dir sagte. Aber Papiere kann man überall bekommen.“

„Du scheinst den Leuten nicht zu trauen?“

„Hm, ich bin Steuerrat, der nur an Contraventionen und Defraudationen denken darf.“

„Bei Schlacht- und Mahl- und Branntweinsteuer! Aber außerdem nur, wenn er besondere Gründe hat. Hast Du sie?“

„Hm – aber nein, nein – und doch! Aber es kommt ja Alles auf die Augen an, mit denen man sieht, und ich habe ja einmal die Steueraugen.“

„Nun, was haben Deine Steueraugen gesehen? Erzähle – von dem Mann, von der Familie.“

„Sogleich, und dann, wenn Du mich begleitest, sollst Du selbst sehen – mit Criminalaugen. Also, der Mann ist ein feiner Weltmann, am Ende der funfziger Jahre, mit Augen, die in keines anderen Menschen Auge sehen können, aber jedem anderen Menschen bis in die tiefste Tiefe seines Inneren sehen möchten. Es kommt seine Frau. Sie steht vielleicht im Anfange der funfziger Jahre. Sie ist schön gewesen. Sie ist leidend, still. Es drückt sie etwas, und – wohl nicht blos ein Aerger.“

„Sondern?“

„Ich weiß es nicht. Sie wird es schon wissen, und der liebe Gott und ihr Mann. – Aber weiter. Sie haben zwei Kinder. Einen Sohn – Ulrich heißt er – einen Burschen von einigen zwanzig Jahren, eine lebhafte, feurige, offene Natur, und doch gefällt er mir nicht.“

„Und warum nicht?“

„Ich weiß es selbst nicht. Ich kann nichts an ihm finden, was mir mißfiele. Vielleicht ärgert sich just darüber meine Steuernatur. – Das zweite Kind ist die wunderhübsche Tochter, von der ich Dir sprach, erst achtzehn Jahre alt und vielleicht schon unglücklicher, als ihre Mutter.“

„Sie hat heute ihren Polterabend?“

„Ja.“

„Und ihr Unglück?“ –

„Ist der Polterabend.“

„Erzähle.“

„In dem Hause ist seit anderthalb Jahren ein Gutsinspector, Holm heißt er, ein stiller, braver, lieber Mensch. Er und die Tochter, Rosalie, lieben sich, und sie soll morgen einen Anderen heirathen.“

„Und wen?“

„Das weiß Gott. Vor ungefähr drei Vierteljahren sah ich zum ersten Male in dem Hause einen fremden jungen Mann von etwa dreißig Jahren, vornehm, stolz, anmaßend, unausstehlich. Er war, wie der Herr im Hause, aber wie ein Herr, den Jedermann im Hause fürchtete, haßte, zu allen Teufeln wünschte und den man doch nicht los werden konnte. Warum nicht, und was es mit ihm war, und wer er war, und woher er kam, und was er wollte, und was er that, über das Alles konnte ich nichts erfahren, und habe ich eigentlich bis auf den heutigen Tag nichts erfahren können. Er wurde mir als ein Baron von Föhrenbach vorgestellt, der aus früherer Zeit mit der Familie bekannt sei. Ich sah ihn später, wenn ich da war – meine Geschäfte führen mich alle sechs Wochen hin – nur selten. Wo er war? ich kümmerte mich nicht um ihn – er schien mich eben so wenig gern zu sehen, wie ich ihn gern vermißte. Auf einmal erhielt ich vor mehreren Wochen die Anzeige der Verlobung der schönen, armen Rosalie Bertossa mit dem Baron Theobald von Föhrenbach, und vor drei Tagen die Einladung zu ihrem heutigen Polterabend. Steuerräthe pflegen gern in den Familien gesehen zu werden, weil man sie ungern in den Brennereien sieht.“

„Und zu dem Polterabend soll ich Dich begleiten? Ich bin nicht eingeladen, ich kenne Niemanden dort.“

„Du bist mein Freund. Ich habe Dich zufällig in der Nähe getroffen. Du vergingst vor Langerweile und manchem Anderen. Auf den Gütern ist man gastfrei, und was ist unter funfzig, sechszig Gästen Einer mehr?“

Das war Alles richtig.

„Aber was soll ich dort?“ mußte ich wiederholt fragen. „Was war Dein sonderbarer Gedanke? In welcher Beziehung kann Dein Polterabend zu meinem Morde stehen?“

„Es kommen zu dem Polterabend so viele Menschen aus der ganzen Gegend zusammen, Leute allerlei Standes, Gutsbesitzer, reiche Kölmer, Kaufleute, Krämer, Krugwirthe. Die sehen und hören viel, was auf zehn Meilen weit an der Grenze passirt. Und sodann, warum müssen der Ermordete und der Mörder gerade nothwendig unter den Schmugglern zu finden sein?“

„Du wolltest sie anderswo suchen?“

„In solchen Fällen muß man überall suchen, oder gar nicht.“

Er hatte Recht. Ich versäumte auf keinen Fall etwas. Erst am folgenden Tage konnte ich die Leiche von den Russen in Empfang nehmen. Bis dahin war in der Untersuchung nichts zu thun, und bis dahin war ich auch von dem Polterabend zurück. Ich fuhr in seinem Wagen allein mit ihm. Den Secretair und den Executor ließ ich zurück. Den Gendarmen wies ich an, mir nach einer Stunde zu folgen, und im Kruge zu Kalwellen auf mich zu warten. Es konnte möglich sein, daß ich seiner dort bedurfte. Wir hatten drei Stunden zu fahren. Es war längst dunkler Abend, zwischen neun und zehn Uhr, als wir im Dorfe Kalwellen ankamen.


Der Gutsgarten lehnte sich an ein kleines Wäldchen. Wir fuhren in dieses und ließen den Wagen sich dort verborgen aufstellen, er durfte nicht gesehen werden. Wir gingen durch das Wäldchen an den Garten, und sahen und hörten, was ich oben erzählt habe.

Wir kehrten zu unserem Wagen zurück und fuhren zu dem Gutshause. Wir kamen in das Haus eines reichen Mannes, der zu leben wußte. Man sah es an Allem. Ein Bedienter empfing uns beim Aussteigen aus dem Wagen, er bat uns, ihm in den Garten zu folgen, wo die Gesellschaft sei. Wir folgten ihm dahin. Der Garten glich einem Park. In einem von dem Hause entfernten Theile befand sich die Gesellschaft. Ein von Boskets umschlossener runder Platz war mit Lampen und Lichtern erhellt. Die Gäste bewegten sich dort zwanglos. Der Diener führte uns zu der Herrin des Hauses. Sie saß in einem Kreise von Frauen. Der Bräutigam hatte sie wohl dahin geführt, als er sie auf so rohe Weise aus der Laube neben dem Pförtchen abholte. Er hatte sie wohl im Auge behalten, daß sie nicht fortkonnte, um jene Nachricht von ihrem Sohne zu erhalten, der sie mit eben so viel Angst wie Sehnsucht entgegensehen mochte. Sie unterhielt sich mit den [435] Frauen. Sie konnte es, trotz Allem, was wir vorhin gesehen und gehört hatten, trotz allen Unglücks, aller Sorge, aller Angst, die ihr das Herz mochten erdrücken wollen. Aber sie war blaß zum Erschrecken. Sie war eine Dame, die ebenfalls zu leben wußte; man sah es ihrem ganzen Wesen an. So auch begrüßte sie meinen Freund.

Der Steuerrath stellte dann mich ihr vor:

„Kreisjustizrath – aus – mein alter Freund. Ich traf ihn drei Meilen von hier in einem elenden Kruge, aus dem er nur durch mich zu erlösen war. Darf ich um die Erlaubniß bitten, gnädige Frau, ihn Ihnen als Gast zuzuführen?“

„Die Herren sind mir Beide willkommen,“ antwortete sie.

Aber es war ein so sonderbar zuckender Ton, mit dem sie die wenigen Worte sprach, sie schien sie kaum beendigen zu können. Sie war bei der Nennung meines Namens plötzlich zusammengezuckt und war noch bleicher, als sie selbst unter jenen Schmerzen in der Laube gewesen war.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, gnädige Frau,“ sagte ich, „für Ihre freundliche Aufnahme eines Eindringlings, der freilich der Gewalt eines despotischen Freundes – Sie kennen ja unsern Steuerrath – folgen mußte, der ihm aber auch gern zu einem Freudenfeste und in eine liebenswürdige Familie folgte.“

Sie hatte sich während meiner Worte erholt, gefaßt. Ich hatte offen, unbefangen gesprochen. Der Ton meiner Stimme, mein rückhaltsloser Blick schienen sie beruhigt zu haben.

„Ich bedaure nur,“ sagte sie, „daß die Herren meinen Mann nicht hier finden. Er mußte heute früh unerwartet eine nicht aufzuschiebende Reise antreten, von der er noch nicht zurück ist. Ich erwarte indeß seine Rückkehr jeden Augenblick.“

Sie war doch roth geworden, wie sie das sprach. Sie hatte aber auch unterdeß – ich merkte es wohl – forschend in mein Gesicht geblickt. Sie konnte nichts darin gelesen haben. Ich war unbefangen geblieben.

„Darf ich um die Erlaubniß bitten, gnädige Frau,“ sagte ich, „dem Brautpaare meine Glückwünsche darzubringen?“

„Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie hinzuführen,“ erwiderte sie.

Sie sah sich nach den Brautleuten um. Auf einmal war sie blaß, wie eine Leiche. Ich folgte ihrem Blick. Meinen ganzen Körper durchfuhr etwas. Es war eine furchtbare, gleichsam wilde Ahnung, die mich zu Boden drücken wollte, aber sie schnellte mich heftig wieder empor. Der Blick der unglücklichen Frau und der meinige, sie hatten beide den Bräutigam getroffen, und sie trafen beide in seinen Blick, der nicht auf uns Beide, der aber auf mich gerichtet, und in diesem Augenblick nicht glühend, nicht finster, nicht durchbohrend war.

Der Baron Theobald von Föhrenbach stand wie ein plötzlich vernichteter Mensch da. Sein Gesicht war tief blaß geworden; die kräftige Gestalt war ineinander gesunken, die Augen starrten glanzlos, sie starrten nach mir, noch immer. Neben ihm stand ein Gutsbesitzer der Gegend, der mich kannte. Er hatte sich mit ihm unterhalten. Hatte ihm der Mensch gesagt, wer ich war, und hatte ihn darauf jener heftige, tödtliche Schreck erfaßt? Oder hatte er mich selbst schon früher gekannt und jetzt plötzlich wieder erkannt, und nun hatte der jähe Schreck ihn ergriffen?

Jene furchtbare, wilde Ahnung sagte es mir. Aber wer er war, ob ich ihn schon früher gesehen hatte, und wo und unter welchen Verhältnissen, das konnte auch sie mir nicht sagen, und sie blieb immer nur eine unbestimmte, in dem unbegrenzten Gebiete der Möglichkeiten und der dunkelsten Vermuthungen umherschweifende Ahnung.

Die Hausherrin hatte sich wieder gefaßt. Sie führte meinen Freund und mich zu dem Brautpaare. Die Braut war in der Nähe des Bräutigams; sie hatte sich während einer Tanzpause mit einigen jungen Mädchen unterhalten. Auch der Baren Föhrenbach hatte sich zusammengenommen. Als er uns ankommen sah, wandte er sich zu seiner Braut, nahm ihren Arm und erwartete uns so. Die Braut war noch jenes stille Bild des Leidens, das ich durch den Nußbaum und das Pförtchen gesehen hatte. Sie war in der Mitte der Gesellschast nur stärker, muthiger, milder. Der Bräutigam war ein ganz vornehmer und stolzer Mann. Finster, streng, herrisch sah er nicht wieder aus, aber desto kälter, gemessener, vornehmer. Welch’ ein Contrast, das schöne, blasse, leidende, junge Mädchen und dieser kalte, unheimliche Mann.

Die Hausfrau nannte mich ihm, den Steuerrath kannte er. Wir sagten der Braut und ihm unseren Glückwunsch. Er dankte mit einer kalten, stummen, vornehmen Verbeugung, dem Einen von uns nicht anders, als dem Anderen. Aber meine Ahnung wollte mich nicht verlassen, und auch die Hausfrau sah ich verstohlene ängstliche Blicke bald auf mich, bald auf den Mann werfen, der morgen der Gatte ihrer einzigen Tochter werden sollte. Er kümmerte sich um mich nicht weiter. Es konnte Absicht sein. Um so weniger ließ ich ihn aus den Augen. Es wurde wieder getanzt. Er nahm Theil an dem Tanze und tanzte mit der Braut.

Der Steuerrath war mit vielen der Anwesenden bekannt, wenn nicht mit den meisten. Er ließ sich mit seinen Bekannten in Gespräche ein und verfolgte dabei meine Zwecke. Er that es mit Gewandtheit, ohne irgend etwas zu verrathen, ohne nur irgend Jemanden stutzig zu machen. Sein Humor und seine Jovialität kamen ihm zu Hülfe. Wir erfuhren nichts. Ich war umsonst mit ihm gefahren, sagte ich mir.

Mitten während der Unterhaltung kam ein Diener des Hauses zu dem Steuerrath und sprach heimlich ein paar Worte zu ihm. Der Steuerrath machte eine kurze zusagende Bewegung des Kopfes. Dann trat er zu mir. „Auf ein Wort.“

„Was giebt’s?“

„Der Inspector Holm ist draußen, vor dem Hause. Er wünscht mich dort zu sprechen.“

„Und was soll mir das?“

„Ich wollte Dich bitten, mich zu begleiten. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist mir, als hätte der eine Nachricht, die nicht blos die arme Frau dort, die auch Dich interessiren könnte.“

Er konnte Recht haben. Neugierig war ich ohnehin geworden. Wir verließen die Gesellschaft, und nun sah ich, daß der unheimliche Bräutigam sich in der That sehr wohl um mich gekümmert hatte. Seine Blicke verfolgten uns, als wir uns entfernten. Ich sah die dunklen Augen, prüfend, durchbohrend, auf mich gerichtet. Wir gingen durch den Garten in das Haus und durch dasselbe in den Gutshof. Hinter einem Baume trat der Inspector Holm hervor und kam auf uns zu. Er war ein hübscher, frischer, gutmüthiger, aber entschlossen aussehender junger Mann. Er stutzte, als er mich in der Gesellschaft des Steuerrathes sah.

„Mein Freund,“ sagte der Steuerrath. Er nannte meinen Namen.

Der junge Mann stutzte noch mehr. Er wurde unruhig. Ich bemerkte durch die Dunkelheit, wie er mich zweifelnd, unentschlossen ansah. Er wandte sich an den Steuerrath.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie zu mir her bitten ließ. Ich war in großer Verlegenheit. Da sah ich hier Ihren Wagen, und nun mußte ich mich an Sie wenden.“ Er sprach eilig, dringlich.

„Und was wünschen Sie von mir, Herr Holm?“ fragte ihn der Steuerrath.

„Ich habe nur eine unbedeutende Bitte.“

„Die wäre?“

„Der Frau Bertossa zu sagen, daß ich hier sei und sie erwarte.“

„Aber, mein lieber Herr Holm,“ sagte der Steuerrath, „warum gehen Sie nicht direct zu der Frau Bertossa? Warum sind Sie überhaupt nicht in der Gesellschaft?“

„In diesen Kleidern?“ fragte er, und er lächelte schmerzlich.

Er trug bestaubte Reisekleidung.

„Aber warum diese Kleidung?“ fragte mein Freund.

Er wollte antworten, besann sich aber und antwortete etwas Anderes, als er zuerst auf der Zunge gehabt hatte.

„Ich gehöre nicht dahin,“ sagte er. „Ich gehöre überhaupt nicht mehr zum Hause.“

„Sie haben es verlassen?“

„Ich habe meinen Abschied bekommen – nein, nein, ich habe ihn genommen. Ich mußte es, freilich – doch das gehört nicht hierher.“

„Es gehört wohl hierher, lieber Herr Holm. Wer und was zwang Sie, dieses Haus zu verlassen?“

„Was? Ah, Sie wissen es. Sie waren öfter hier – Sie müssen gesehen haben –“ Er sprach mit dem tiefsten Schmerze seines Herzens.

„Ja, ja, armer Holm,“ unterbrach ihn der Steuerrath. „Ich sehe es noch, und ich sah es vorhin im Garten –“ [436]

„Still, still, Herr Steuerrath! Darum bin ich nicht hier. Es ist etwas Anderes. Aber Sie wollten noch wissen, wer mich von hier vertrieben hat, eigentlich, wer mich vertreiben wollte. Der Herr Bertossa war es nicht, auch die Frau nicht. Sie wollen mir Beide wohl, und wenn es von ihnen abgehangen hätte – Auch Ulrich war es nicht; wir waren Freunde. Aber jener Baron – Er befiehlt dem ganzen Hause und ist der Herr hier – Am Tage vor der Verlobung ging ich. Meine Liebe, meine Ehre, die Ruhe, das Leben der armen Rosalie, der Friede des Hauses, Alles, Alles forderte es von mir. Sie wissen jetzt Alles, Sie waren immer freundlich gegen mich, auch gegen Rosalien. Werden Sie mir jetzt meine Bitte erfüllen?“

„Gewiß, mein lieber Herr Holm.“

„Aber noch Eins muß ich hinzufügen. Sie müssen die Güte haben, es der Frau Bertossa allein zu sagen, und so, daß der Baron es nicht bemerkt. Er würde sie nicht gehen lassen. Darum durfte ich keinen Bedienten zu ihr schicken.“

„Seien Sie ruhig, Holm. Der Baron wird nichts gewahren, und sollte er auch, so führe ich die Frau zu Ihnen, und zwar ohne ihn.“

Dem jungen Manne schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Der Steuerrath hatte aber noch etwas auf dem Herzen, und er brachte es an, wie ein kluger Steuerbeamter, der verdient hätte, Polizei- oder Criminalbeamter zu sein.

„Noch vorher eine Frage, Herr Holm,“ sagte er gleichgültig genug, „ich habe den Herrn Bertossa nicht gesehen. Er wird doch an dem heutigen Tage nicht verreist sein?“

„Er ist nicht hier,“ sagte offen der junge Mann.

„Und auch der junge Bertossa, Ulrich, scheint nicht da zu sein.“

„Nein, nein!“ rief der Herr Holm schnell.

„Und auch von ihm wissen Sie?“

„Nein, nein,“ war die langsamere Antwort.

Der Steuerrath fragte nicht weiter. Er ehrte das Geheimniß, das nur dem jungen Manne und der unglücklichen Frau gehören mochte. Ich durfte nicht fragen, schon um mich nicht zu verrathen.

„Die Frau Bertossa soll in zehn Minuten hier bei Ihnen sein,“ versprach der Steuerrath.

Damit kehrten wir in den Garten zurück. Der Tanz, während dessen wir ihn verlassen hatten, war zu Ende. Es wurde ein kleiner Polterabendscherz aufgeführt. Es waren deren vorher schon mehrere gegeben, wie man uns erzählt hatte. Freunde und Freundinnen der Braut trugen allerliebst eine freundliche ländliche Scene vor, die auf irgend eine Begebenheit aus dem Leben der Braut Beziehung haben mochte.

Alles sah und hörte gespannt zu. Auch der Baron Föhrenbach. Vor ihm und der Braut, die an seiner Seite saß, wurde ja eigentlich das Stück aufgeführt. Die Mutter der Braut saß seitwärts von ihnen, so daß der Baron sie immer im Auge haben konnte. Dem Steuerrath war es dennoch gelungen, unbemerkt von ihm, hinter den Stuhl der Frau zu gelangen. Ich war ihm gefolgt. Er bückte sich zu ihr nieder und sprach leise zu ihr.

„Gnädige Frau, es wünscht Sie Jemand zu sprechen.“

„Wer?“ fragte sie erschrocken.

„Sie wissen es: Holm.“

„Hat er Ihnen gesagt, was er von mir will?“

„Nein.“

„Wo ist er?“

„Auf dem Hofe vor dem Hause. Befehlen Sie, daß ich Sie zu ihm führe?“

Sie sah sich scheu nach dem Baron um. Er blickte nicht nach ihr hin und hatte weder den Steuerrath noch mich gesehen.

„Ich bitte!“ sagte einwilligend die Frau zu dem Steuerrathe. Sie stand auf, trat zwei Schritte zurück, um hinter ihrer Umgebung aus dem Bereiche der Augen des Mannes zu sein, der hier befahl und der sie mit Argusaugen hütete. Er sah sie, wie sie aufstand, sah hinter ihrem Stuhle den Steuerrath, und zuckte zornig auf. Er wollte aufspringen, aber er mußte sitzen bleiben, wollte er nicht Aufsehen erregen.

Ich sollte gleich darauf nicht minder heftig erschrecken.

Die Frau war hinter ihren Stuhl zurückgetreten. Der Steuerrath bot ihr seinen Arm. Indem sie ihn nahm, warf sie noch einmal einen Blick auf die Gesellschaft zurück, wohl um zu sehen, ob ihre Entfernung bemerkt werde. Sie zuckte plötzlich auf. Ich folgte wieder ihrem Blicke. Da sah ich zuerst den Baron Föhrenbach erblassen, dann ihm gerade gegenüber einen kleinen, ältlichen, häßlichen, blassen Mann stehen, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, der im Augenblicke vorher angekommen sein mußte. Ueber seinen Anblick war der Baron erblaßt, die Frau zusammengezuckt, hatte ich mich plötzlich so heftig erschreckt.

„Mein Mann!“ sagte die Frau. Sie nahm hastig ihren Arm aus dem des Steuerraths zurück, verließ uns, ohne ein Wort weiter zu sagen, und eilte zu der Gegend, wo wir den fremden Mann gesehen hatten.

Der Fremde – er war der Hausherr, der Gatte, der Vater – stand noch ein paar Secunden ruhig, dann ging er seiner Frau entgegen, die er auf sich zukommen sah. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Auch ihn hatte ich schon früher gesehen. und ich wußte, wo ich ihn gesehen hatte, und nun wußte ich auch auf einmal, wo ich den Baron Föhrenbach gesehen hatte, und ein jäher, heftiger Schreck ergriff und durchfuhr mich.

Die kleine Gestalt des Mannes stand vor meinem Gedächtnisse, das blasse, häßliche Gesicht, die fest zusammengebissenen Lippen. Aber wie alt war der Mann geworden, in den wenigen Jahren, seitdem ich ihn gesehen hatte – wenn ich ihn wirklich gesehen hatte! Wie war sein Haar gebleicht, das damals noch rabenschwarz gewesen war! Welche tiefe Runzeln durchfurchten das Gesicht und machten es noch häßlicher, machten es häßlich zur Entstellung! Und dennoch, und wenn mir auch der Name Bertossa völlig unbekannt blieb, und wenn sich auch kein Zug in seinem Gesichte veränderte, als er mich erblickte, als er mich an der Seite seiner Frau sah, und er sah mich plötzlich und unerwartet, und er warf einen scharfen Blick auf mich – und dennoch und trotz alledem mußte er derselbe sein, den ich meinte, den ich schon früher gesehen hatte. Das Bild stand zu lebhaft in meiner Erinnerung vor mir, und es paßte, trotz Runzeln, trotz schnellen Alterns. Und wie wäre sonst er und der Baron Föhrenbach wieder hier zusammengetroffen? Und daß sie beide andere Namen führten, und daß ihre früheren Verhältnisse und Beziehungen zu einander fast geradezu umgekehrt waren, das paßte erst recht.

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Ein Polterabend
aus: Die Gartenlaube 1863, Heft 29, S. 449–452
Fortsetzungsroman – Teil 3


[449] Die Frau Bertossa war ihrem Gatten entgegengeeilt. Sie hatten sich getroffen, und sie richtete mit ängstlichem Gesicht und bebenden Lippen eine hastige Frage an ihn. Er verneinte mit einem schmerzlichen Kopfschütteln. Sie verschwanden hinter der Menge. Mein Freund und ich waren zurückgeblieben.

„Was ist Dir?“ sagte mein Freund, der nicht blos Maischbütten und Braukessel, sondern auch Menschen beobachten konnte. „Mit Dem hast Du was gehabt?“

„Nein,“ erwiderte ich.

„Aber Du kennst ihn?“

„Ja.“

„Und nun bist Du auch auf einmal über den Andern klar!“

„Kannst Du in meinem Innern lesen?“

„In Deinem Gesichte. Und da man so leicht darin lesen kann, und der Andere, der Baron dort, wahrscheinlich sehr gut zu lesen versteht, so denke ich, wir ziehen uns ein wenig zurück. – Aber da fällt mir ein, daß ich in dem Gesichte des Herrn Bertossa nichts darüber lesen konnte, daß er Dich schon gesehen habe.“

„Er kennt mich auch nicht. Ich denke es mir wenigstens.“

„Du denkst es Dir? Hm, und auch dem Baron schien es eben keine Sorge zu machen, daß er Dich und seinen künftigen Schwiegervater so nahe beisammen sah!“

„Er kann auch nicht wissen, daß ich den Herrn Bertossa kenne.“

„Und doch kanntest Du sie Beide früher in naher Beziehung zu einander?“

„In sehr naher.“

„Darf ich das Nähere erfahren?“

„Warum nicht? Ich werde zudem Deines Rathes, Deiner Hülfe bedürfen, denn hier wird schleunig gehandelt werden müssen, schon um des armen Mädchens willen dort.“

„Der Braut?“

„Sie darf seine Frau nicht werden.“

„Ah, mein braver Holm –“

„Und doch,“ mußte ich ihn unterbrechen, „was ist denn härter für das unglückliche Kind, für die arme Frau? Entgehen sie dem einen Schicksal, verfallen sie dem anderen.“

„Du sprichst in Räthseln,“ sagte der Steuerrath. „Löse sie. Erzähle.“

Wir waren in das Bosket zurückgetreten, an welchem die kleine Polterabendposse ausgeführt wurde. Die Schauspieler spielten noch immer, machten Schwänke und überboten sich in Witz und Scherz. Der Bräutigam sah finster zu. Seine glühenden Augen waren unruhig; sein Gesicht war blaß, erschlafft geworden; seine Gedanken waren anderswo. Die Braut saß wie ein armer Engel des Leidens und des Schmerzes neben ihm, und wenn man sah, wie sie zu einem Lächeln sich zwang, so sah man, wie ihr Herz weinte, und man hätte mit ihr weinen mögen.

Der Hausherr und die Hausfrau waren fortgegangen, um ihre Angst und ihre Noth auszutauschen und sich die schweren Herzen noch schwerer zu machen; mein Freund und ich standen von der Seite.

„Aber Dein armer Holm!“ sagte ich, ehe ich meine Erzählung begann. „Du wolltest in zehn Minuten wieder bei ihm sein!“

„Er wird schon warten. Vielleicht ist sie auch zu ihm gegangen; vielleicht mit ihrem Mann. Erzähle.“

Was ich ihm mitzutheilen hatte, war nicht das Große. Vor etwa vier Jahren aus einer der entferntesten Provinzen des Staats hierher versetzt, hatte ich auf meiner langen Reise von zweihundert Meilen einen Freund zu begrüßen. Es war anderthalbhundert Meilen von hier. Er war Criminalrichter, wie ich. Der Freund war nicht in seiner Wohnung. Er sei auf dem Criminalgerichte, wurde mir gesagt. So mußte ich denn zugleich das Handwerk begrüßen.

Ich ging zum Criminalgerichte. Seine Verhörstube wurde mir angewiesen. Er war darin mit Inquiriren, Verhören, beschäftigt. Mir um desto lieber. So kam ich medias in res. Ich trat unangemeldet in die Stube. Er war mit seinem Protokollführer darin und einem Manne, den er verhörte. Wir umarmten uns, ohne daß unsere Namen dabei genannt wurden. Alter Freund! damit hatten wir uns begrüßt. Es fiel mir hier vorhin wieder ein. Der Freund, der Criminalrichter, war fertig; er entließ den Mann, den er verhört hatte. Wenn man das Handwerk begrüßt, so spricht man bald von dem Handwerke.

„Hast Du Dir den Menschen angesehen, den ich da vernahm?“ fragte mich der Freund.

„Ja.“

„Ist Dir nichts an ihm aufgefallen?“

„Es war ein kleiner, häßlicher Mann, mit struppigem, schwarzem Haar, zusammengekniffenen Lippen, glühendem Gesichte.“

„Das Gesicht ist sonst blaß, sehr blaß.“

„Er war also aufgeregt?“ 

„Vom Inquiriren.“

„Er war Inquisit?“ [450] „Er war Zeuge, aber ich glaube, ein Zeuge, der als Inquisit hier stehen sollte.“ 

„Er schien den besseren Ständen anzugehören?“ 

„Er ist ein Gutsbesitzer der Gegend, der Baron – der Baron –“ 

„Teufel,“ mußte ich mich gegen den Steuerrath unterbrechen. „Da hatte ich plötzlich den Namen auf der Zunge, und auf einmal ist er wieder fort. Ich habe den ganzen Abend nach ihm gesucht, seit dem Momente, da ich den Baron Föhrenbach sah. Ich konnte ihn nicht finden. Auf einmal glaube ich ihn so eben zu haben; fort ist er wieder.“ 

„Er wird Dir wieder einfallen; erzähle weiter“ sagte der Steuerrath. 

Ich erzählte weiter, was mir der Criminalrichter, der Inquirent, erzählt hatte. 

Ein paar Meilen weit war in einem Dorfe Jahrmarkt gewesen. Es war ein für die Gegend berühmter, sehr besuchter Jahrmarkt. Am meisten fanden sich die reichen Gutsbesitzer und die manchmal nicht minder reichen Viehhändler und Fleischer von weit und breit ein. Sie kannten sich; sie standen mit einander in vielfachem Geschäfts- und Handelsverkehr; sie erledigten auf dem Jahrmarkte alte Geschäfte, schlossen neue ab, gingen neue Verbindungen ein, tranken mit einander und spielten hoch, um bedeutende Summen. So war es auch an jenem Jahrmarkte gewesen. Ein reicher Viehhändler hatte die Bank gehalten; er hatte sehr viel gewonnen. Er hatte noch mehr Geld von den Fleischern eingenommen, denen er im Laufe des Jahres verkauft, und mit denen er heute abgerechnet. Man wollte ihm zwölf- bis funfzehntausend Thaler im Ganzen nachrechnen. Er war ein paar Meilen von dem Dorfe zu Hause und war zu Pferde gekommen, ohne Gesellschaft. Er ritt auch in der Nacht, als das Spiel zu Ende war, allein wieder fort; allein, aber mit seinem Gelde, seinem eigenen und dem gewonnenen. Er war nicht zu Hause angekommen. Sein Pferd wurde am anderen Morgen im Felde umherirrend angetroffen. Man suchte nun auch nach dem Reiter und fand endlich seine Leiche – ungefähr eine Meile weit von dem Dorfe, auf dem halben Wege zwischen diesem und seiner Wohnung. Er war ermordet und aller seiner Baarschaft beraubt, aber auch nur seines baaren Geldes. 

Wer der Mörder war, ist die fast bei jedem Morde zuerst sich aufdrängende und so schwer zu beantwortende und bei so wenigen beantwortete Frage. Spuren zu ihrer Beantwortung fanden sich lange nicht. Der Selbstverrath gab sie zuletzt, wie so oft. 

Auf dem Gute des Barons – der Name will mir fremd bleiben, aber so nennen wir ihn denn bei seinem jetzigen Namen, denn dieser kleine, blasse, häßliche Herr Bertossa war es – diente ein Knecht, ein seit ein paar Jahren aus der Fremde, ich glaube aus Belgien, vagabundirend herübergekommener unheimlicher Mensch, dem alle Welt alles mögliche Schlechte zutraute, den man aber behalten, weil er der tüchtigste Arbeiter war, den man finden konnte. Ein Vierteljahr nach dem Morde war verflossen, als dieser Mensch anfing, sich dem Trunke zu ergeben und Geld zu zeigen. Eines Abends in der Betrunkenheit ließ er dann in der Schenke Aeußerungen fallen, die dringend auf den Mord an dem Viehhändler hinwiesen. Er wurde sofort verhaftet und durchsucht, und man fand noch mehrere hundert Thaler in Gold bei ihm, und eine Börse, die dem Ermordeten zugehört hatte. Er wollte anfangs von dem Morde nichts wissen, verwickelte sich aber bald in so viele Lügen und Widersprüche, daß er nicht ferner leugnen konnte. Er legte ein Geständniß des Mordes ab und gab als Mitschuldigen, oder vielmehr als Hauptschuldigen, den Inspector des Gutes an, auf dem er diente. Und dieser Inspector – auch sein Name will mir ja nicht wieder beifallen; ich weiß nicht einmal ob der Inquirent ihn mir nannte; nennen wir ihn deshalb gleichfalls bei dem Namen, den er jetzt führt – er war der Bräutigam des heutigen Polterabends, der Baron Theobald von Föhrenbach. Baron – in der That – es steht mir vor – ja, ja, es fällt mir ein, ich erinnere mich bestimmt, daß der Inquirent mir sagte, er sei von Adel; Du wirst es gleich hören; nur den Namen hat er mir nicht genannt. 

Der Knecht hatte Folgendes zugestanden und angegeben. 

Er war ebenfalls auf dem Jahrmarkte gewesen. Sein Herr hatte ihm die Erlaubniß ertheilt. Er hatte in einer Schenke getanzt. Um Mitternacht auf einmal hatte der Inspector ihn herausgerufen, war mit ihm auf die Seite gegangen und hatte ihn gefragt, ob er zwei bis dreihundert Thaler verdienen wolle. 

„Teufel, das ist viel!“ 

„Aber es kostet Blut!“ hatte der Inspector gesagt. 

„Herr, damit habe ich nichts zu thun!“ 

„Ich hätte Dich für keine feige Memme gehalten.“ 

„Herr –“ 

„Prahlen kann Jeder; tanze weiter, ich werde einen Anderen finden, der mehr Muth hat.“ 

„Herr, sprechen Sie.“ 

„Zu sprechen ist nichts, nur zu handeln. Willst Du mir folgen?“ 

Der Knecht folgte ihm. Sie verließen das Dorf und gingen querfeldein durch Wiesen, über Aecker, durch Waldungen. Der Inspector machte den Führer. Nach einer starken Stunde machten sie Halt. Sie waren an einer Landstraße, in der Nähe eines Gehölzes. Zu beiden Seiten der Straße standen Weidenbäume. An einen der Bäume stellte der Inspector den Knecht. 

„Hier bleibst Du stehen, ohne Dich zu rühren, bis es Zeit ist. In einer Viertelstunde, vielleicht auch erst in einer halben, wird ein Reiter die Straße herauf kommen, von dem Jahrmarkte her. In dem Augenblicke dann, wenn Du einen Schuß fallen hörst, springst Du auf ihn zu, fällst dem Pferde in die Zügel und, reißest den Menschen vom Pferde, wenn der Schuß ihn nicht schon heruntergeworfen hat.“ 

Der Knecht stellte sich an den Baum. Der Inspector begab sich zu einem anderen Baume, dem zweiten oberhalb dessen, an dem der Knecht stand. Sie standen eine halbe Stunde so. Es war unterdessen Alles ruhig geblieben. Nur einmal meinte der Knecht ein leises Schleichen vernommen zu haben. Es war in der Nähe des Baumes gewesen, an dem der Inspector stand. Er hatte geglaubt, der Inspector gehe vielleicht ungeduldig auf und ab. Sehen konnte er in der Finsterniß der Nacht nichts. Da war es ihm aber gewesen, als wenn er ein leises Sprechen höre, als wenn Jemand dem Inspector etwas zuflüstere und dieser eben so leise antworte. Gleich darauf hatte er aber nichts mehr gehört, und er hatte gedacht, er habe sich vielleicht geirrt. 

Wenige Minuten darauf hörte man den langsamen Schritt eines Pferdes auf der Landstraße herankommen, in der Richtung von dem Jahrmarkte her, wie der Inspector gesagt hatte. Der Reiter mußte zuerst an dem Baume vorbei, an dem der Inspector stand. Als er den Baum erreichte, fiel ein Schuß. Das Pferd machte einen Satz – setzte sich in Galopp. Der Knecht sprang ihm entgegen, fiel ihm in die Zügel und hielt es auf. Der Reiter glitt von dem Pferde, er hatte nur noch halb darauf gehangen; der Schuß hatte ihn getroffen. Der Inspector sprang herbei und warf sich über ihn her. 

„Halte das Pferd, bis ich fertig bin,“ sagte er zu dem Knechte. 

Der Knecht hielt das Pferd. Der Inspector durchsuchte die Taschen des Reiters und plünderte ihn. 

„Laß das Pferd laufen,“ sagte er zu dem Knechte, als er fertig war. 

Der Knecht ließ das Pferd laufen. 

„Hilf anfassen,“ sagte der Inspector dann zu dem Knechte. 

Sie nahmen Beide den Körper des Reiters auf, der todt war, und trugen ihn zu einem Graben, der zwanzig Schritte seitab durch eine Wiese floß, und warfen ihn in denselben. 

„Hier hast Du Dein Geld,“ sagte darauf der Inspector zu dem Knechte. Er zählte ihm dreihundert Thaler in Gold, sechzig Stück Friedrichsd’or, in die Hand. 

„Wie viel haben Sie, Herr?“ fragte ihn der Knecht. 

„Geht es Dich etwas an? – Geh’ nach Hause, aber auf dem geradesten Wege, nicht durch das Dorf zurück. Laß Dich von keinem Menschen sehen. Sieht Dich einer, so wirst Du geköpft.“ 

„Und Sie mit, Herr,“ sagte der Knecht. 

„Pah!“ lachte der Inspector. 

Sie trennten sich. Der Inspector kehrte auf die Landstraße zurück. Der Knecht nahm den geradesten Weg nach Hause durch Wiese, Acker, Gehölz. An der Hecke der Wiese, in der sie den Leichnam in den Graben geworfen hatten, blieb er stehen, sah sich um, sah aber nichts mehr, auch den Inspector nicht. Aber er glaubte wieder, unter den Bäumen der Landstraße ein leises Flüstern zu vernehmen. Dahin zurückzukehren, hatte er nicht den Muth. 

„Der Inspector,“ sagte er im Verhöre, „konnte sein Pistol wieder geladen, oder noch ein zweites bei sich haben. Es konnte dann um mich geschehen sein. Er ist ein Mensch, der zu Allem im Stande ist. Und wer wußte, wer bei ihm war?“ [451] Er kam zu Hause an. Es war gegen vier Uhr Morgens, im October noch dunkle Nacht.

„Sind der Herr und der Inspector schon zu Hause?“ fragte er die anderen Knechte.

„Schon vor Mitternacht,“ wurde ihm geantwortet.

Er verwunderte sich im Stillen, aber er fragte nicht weiter. Der Inspector sprach nie wieder mit ihm über die Sache.

Das war die Aussage des Knechtes. Gegen sich hatte er ein Geständniß abgelegt, das gegen ihn voll Beweise war; gegen den Inspector hatte er nur Bezichtigungen vorgebracht, die anderweit bewiesen werden mußten. Sie konnten freilich auch durch ein Geständniß des Inspectors bewiesen werden.

Der Inspector wurde verhaftet. Seine Sachen wurden durchsucht. Es geschah Alles mit der größten Sorgfalt und Vorsicht, aber es wurde nichts bei ihm gefunden. Es war kein Geständniß von ihm zu erhalten. Andere Beweismittel fehlten eben so vollständig. Es war ihm nicht einmal eine Unwahrheit, ein Widerspruch nachzuweisen. Er gerieth in keine Unruhe, in keine Verlegenheit, in keine Verwirrung und erklärte die Angaben des Knechtes einfach für Lügen, die ihm unbegreiflich seien. Er wurde mit dem Knechte confrontirt, blieb aber kalt, ruhig, selbst würdevoll. So war kein Beweis gegen ihn da. Er führte sogar einen Gegenbeweis, daß er der Mitschuldige des Knechts nicht sein könne. Er hatte schon um elf Uhr in der Nacht mit seinem Herrn, dem Baron, den Jahrmarkt verlassen. Sie waren zusammen gefahren, in dem Wagen des Barons, und waren kurz vor Mitternacht zu Hause angekommen. Der Kutscher, der sie gefahren hatte, bestätigte es; die Wirthshausleute im Dorfe hatten das Abfahren gesehen, die Leute im Schlosse bekundeten die Ankunft.

Ob der Knecht wirklich gelogen und einen Unschuldigen falsch bezichtigt hatte, dazu fehlte für seine Angaben der juristische Beweis; der moralischen Ueberzeugung von ihrer Wahrheit konnte der Inquirent sich nicht erwehren. Der Kutscher, die Wirthschaftsleute, die Knechte auf dem Schlosse hatten die Wahrheit bekundet. Aber der Inspector konnte sofort vom Schlosse zurückgeeilt sein und darauf noch Alles gethan haben, dessen der Knecht ihn bezichtigte. Er war dann absichtlich zum Schein zurückgekehrt, um künftig einen Abwesenheitsbeweis zu haben. Er war ein rüstiger, kräftiger, behender Mensch. Die Entfernungen waren zu sehr groß nicht. Die Uhren gehen auf dem Lande verschieden. Er konnte selbst dem Knecht, als er ihn von dem Tanzboden abrief, eine falsche Stunde angegeben haben. Das Abrufen hatte Niemand gesehen.

Der Baron mußte noch vernommen werden. Der Inquirent verschob es bis zuletzt. Er hatte seine Gründe dazu.

Mit den Vermögensumständen des Barons stand es nicht besonders. Sein Gut war verschuldet. Die Gläubiger konnten ihre Zinsen nur unregelmäßig erhalten. Er war eng verbunden mit dem Inspector, den Jedermann zu allem Schlechten für fähig hielt. Ihm selbst traute Niemand; seinem häßlichen Aeußern, seinen stets zusammengebissenen Lippen, seinem unstäten Blick entsprach sein verschlossener und doch wieder jähzorniger und zugleich wieder nachtragender, rachsüchtiger Charakter. Man wußte von allen diesen Eigenschaften Beispiele genug zu erzählen. Er hatte auf dem Jahrmarkte an der Bank des Viehhändlers gespielt und hatte viel verloren, Alles, was er bei sich hatte. Und wer war jener Mensch gewesen, mit dem, nach der Versicherung des Knechts, der Inspector zweimal so heimlich geflüstert hatte, einmal gleich vor, das zweite Mal gleich nach dem Morde? Der Mörder ging jedenfalls sicherer, wenn er genauere Nachricht von der baldigen Ankunft des Viehhändlers erhielt.

An dem Tage, da ich meinen Freund, den Inquirenten, besuchte, war die Vernehmung erfolgt. Ich traf gerade bei ihrer Beendigung in dem Verhörzimmer ein. Der Baron war in allen seinen Aussagen vollkommen klar und besonnen gewesen. Nicht die geringste Unwahrheit oder nur Unwahrscheinlichkeit in seinen Angaben, nicht der leiseste Widerspruch konnte ihm vorgeworfen werden; seine äußere Ruhe war unbeweglich, unzerstörbar geblieben. Aber wie in seinem Innern die Angst, die Angst des Todes kochen und sieden mochte, das hatte deutlich genug die wilde, glühende Hitze gezeigt, mit der das sonst ewig graue, blasse Gesicht noch übergossen war, als das Verhör zu Ende war und ich ihn sah. Er mußte in seiner inneren Aufregung kaum mich gesehen haben.

„Sie sind schuldig,“ sagte der Inquirent zu mir. „Sie sind die eigentlichen Schuldigen, der Baron und sein Inspector. Meine innere Ueberzeugung sagt es mir. Aber es fehlt der gesetzliche Beweis gegen sie, der Knecht, der Verleitete, der Mitschuldige in zweiter Linie, wird zum Tode, zum Rade verurtheilt werden, und sie, die Verführer, die eigentlichen Mörder – den Baron wird man gar nicht einmal zur Untersuchung ziehen können, den Inspector wird man vorläufig freisprechen müssen.“

Er hatte Recht.

„Hast Du noch eine Handhabe? Weißt Du noch einen Ausweg?“ fragte er mich.

Wir überlegten. Es war keine Handhabe, kein anderer Ausweg mehr da.

„Zeige mir den Inspector,“ bat ich ihn.

Er führte mich in das Gefängniß des Inspectors. Wir traten hinein, als wenn wir nur das Zimmer besichtigen wollten. Ich besah mir unterdeß den Gefangenen. Mein erster Blick auf ihn sagte mir, daß aus diesem finsteren, harten, entschlossenen und verwegenen Menschen kein weiteres Wort, als was er schon gesprochen hatte, heraus zu bekommen war. Und der Baron war vielleicht noch zäher und verschlossener.

„Gieb Dir keine Mühe weiter,“ sagte ich zu dem Inquirenten. „Laß alle Hoffnung fahren. Den Beiden wird man nach unseren vortrefflichen Gesetzen nichts anhaben können, und der Andere wird zum Tode verurtheilt werden, wenn nicht die Gnade des Königs etwas Anderes über ihn beschließt.“

Und so war es gekommen, wie mir ein halbes Jahr später mein Freund, der Inquirent, schrieb. Die Gerichte hatten erkannt, wie sie nach den Gesetzen nicht anders erkennen konnten: der Baron war gar nicht zur Untersuchung gezogen; der Inspector war vorläufig freigesprochen; der Knecht war zum Rade verurtheilt. Der König hatte die Strafe im Wege der Gnade in lebenslängliche Zuchthausstrafe verwandelt, weil bei der moralischen Ueberzeugung der Richter wie des Volkes von der Schuld wenigstens des Inspectors, das allgemeine Rechtsgesühl durch die Hinrichtung des minder Schuldigen gegenüber der Freisprechung des wahren Mörders doch zu schwer würde verletzt worden sein.

Bald nach Verkündigung des Erkenntnisses hatte übrigens der Baron sein Gut verkauft und mit seiner Familie die Gegend verlassen. Wohin er gegangen war, wußte man nicht. Einige Zeit vorher, während der Untersuchung, hatte seine Frau eine bedeutende Erbschaft gemacht. Dies war keine Vorspiegelung, die Gelder waren theilweise durch das Gericht selbst ausgezahlt worden. Der Inspector war gleichzeitig mit ihnen aus der Gegend verschwunden.

Ich habe vergessen, über die früheren Verhältnisse des Barons und des Inspectors, wie sie zu den Untersuchungsacten festgestellt waren, zu sprechen. Der Baron stammte aus der Gegend. Er gehörte einer bekannten adligen, aber verarmten Familie an, hatte in seiner Jugend die Heimath verlassen und war in fremde Kriegsdienste gegangen; nach Rom oder Neapel, meinte man. Vor etwa funfzehn Jahren war er mit Frau und zwei Kindern zurückgekehrt, und hatte das väterliche Gut übernommen. Die Frau sollte aus Italien oder aus der italienischen Schweiz sein. Der Inspector war der Sohn eines pensionirten, verkommenen Hauptmanns, der in einem kleinen Städtchen der Nachbarschaft von seiner geringen Pension ein jämmerliches Leben führte. Der Bursche war schon zu Lebzeiten des Vaters ein verwahrloster Taugenichts gewesen. Nach dessen Tode gab es keinen schlechten Streich, den er nicht ausführte. Als auch seine Mutter starb, hatte er etwas lernen müssen. Er hatte sich der Landwirthschaft gewidmet und war seit drei Jahren Inspector auf dem Gute des Barons. Der Baron und der alte Hauptmann sollten in ihrer Jugend befreundet gewesen sein.

Das war es, was ich meinem Freunde, dem Steuerrath, zu erzählen hatte.

„Und nun?“ sagte er.

„Und nen? Die beiden Verbrecher, die beiden Mörder, denen ihr Verbrechen nicht nachgewiesen werden konnte, sind hier; wir sind in ihrem Hause, wir sind ihre Gäste. In jener Gegend war ihre Ehre verloren, selbst ihre Sicherheit. Sie waren nicht ganz, nicht wegen erwiesener Unschuld frei gesprochen. Irgend ein Zufall konnte einen neuen Verdacht gegen sie hervorrufen, dieser eine neue Untersuchung, die Untersuchung doch zuletzt eine Strafe. So mußten sie fort, auch nachdem der Baron durch die Erbschaft seiner Frau ein reicher Mann geworden war. Er vergrub sich mit seinem Reichthum unter einem fremden Namen in diesem verborgenen [451] Winkel des civilisirten Lebens. Von seinem Mitschuldigen, dem Inspector, hatte er sich zugleich trennen müssen. Ihr ferneres Beisammensein hätte schon für sich allein einen neuen Verdacht, wenigstens gegen den Baron, begründen müssen. Noch mehr mußte es ihm ein Bedürfniß sein, sich des rohen, übermüthigen Burschen zu entledigen, der schon vorher – wer weiß durch welche andere gemeinsam verübte Niederträchtigkeiten? – eine Gewalt über ihn gewonnen hatte, und in dessen Hände er, in Folge jenes Verbrechens, sich ganz und gar gegeben hatte. Aber der Fluch des Verbrechens weicht nicht von dem Menschen; er verfolgt ihn überall hin und er wächst im Verfolgen lawinenartig. Jener Elende hat ihn aufgesucht, hat ihn wiedergefunden, hat sich wie ein Alp, wie das Unglück auf ihn gelegt, hat ihn und seine Familie tyrannisirt, hat sie Alle zu willenlosen Werkzeugen und zugleich Opfern seines Uebermuthes, seiner Rohheit, seiner Gemeinheit gemacht; er will morgen das arme, blasse, von Schmerz und Leiden schon halb aufgezehrte Kind an den Traualtar schleppen, damit sie ihm ganz, wie dem Moloch, geopfert werde. Welch’ ein Elend, welch’ ein Jammer! Und es ist keine Rettung, keine Hoffnung, kein Lichtstrahl in diesem Labyrinthe von Verbrechen und von Unglück, von der Strafe, die der Himmel sendet, und die auch, oft noch mehr als die weltliche Strafe, den Unschuldigen mit dem Schuldigen trifft. Und nun der Sohn, der nicht da ist, und über den sie in Schmerzen Nachrichten erwarten! Ist da nicht auch wieder eine jener Strafen der ewigen Gerechtigkeit? – Laß uns zu dem armen Holm gehen, den diese Gerechtigkeit so schwer mittrifft; vielleicht theilt er uns etwas mit.“

Wir verließen den Garten, um wieder auf den Gutshof zu gehen, auf dem der junge Mann noch warten mußte, wenn nicht unterdeß die Frau des Hauses schon zu ihm gekommen war. Unser Weg führte uns durch das Haus, in welchem uns die Hausfrau begegnete. Ihr Mann war nicht mehr bei ihr; sie war allein und sah fast verstört aus. Sie mußte eine schwere Schreckensnachricht erhalten haben. Als sie uns sah, kam sie auf uns zu.

„Sie wollten mich vorhin zu Holm führen,“ sagte sie zu dem Steuerrath. „Ich habe ihn noch nicht gesprochen. Ich war auf dem Wege zu ihm. Darf ich bitten, mich zu begleiten?“

„Auch wir waren gerade auf dem Wege zu ihm,“ sagte der Steuerrath.

Sie sah uns zweifelhaft an, besonders mich.

„Darf ich fragen, zu welchem Zweck?“ fragte sie dann den Steuerrath.

„Gnädige Frau,“ antwortete dieser, „Ihr Herr Gemahl hatte Ihnen offenbar keine angenehme Nachricht zu bringen. Da fürchtete ich, Sie hatten Holm vergessen, und wir wollten ihn bitten, noch zu warten.“

Der Steuerrath sprach die Worte theilnehmend, sorglich, wie ein Freund. Die unglückliche Frau mußte Einem leid thun. Es schien ihr leichter um das Herz zu werden. Sie faßte Muth, Vertrauen, anfangs nur noch halb.

„Mein Mann hat mir in der That keine angenehme Nachricht gebracht,“ sagte sie. „Und wenn Holm –“ Sie stockte und sah mich noch einmal zweifelhaft an. Sie konnte in meinem Gesichte nur das aufrichtigste Mitleid lesen. Aus dem ihrigen verschwand der letzte Rest des Mißtrauens. Sie mußte sich das Herz ganz erleichtern.

„0 meine Herren,“ sagte sie, „darf ich vorher ein paar Worte mit Ihnen reden? Besonders mit Ihnen, Herr Kreisjustizrath, dem Criminalrichter des Kreises? Wollen die Herren die Güte haben, mir zu folgen?“

Wir waren noch im Hause. Sie schloß ein Zimmer auf.

„Wir vermissen unseren Sohn Ulrich,“ sagte sie, nachdem wir in das Zimmer getreten waren, „unseren einzigen Sohn. Vor acht Tagen verließ er uns. Er hätte schon vor drei Tagen zurück sein müssen und ist nicht zurückgekommen; wir haben nicht die geringste Nachricht von ihm. Doch. Er ist schon seit vier Tagen von dem Ort seiner Bestimmung fort. Mit dieser Nachricht ist heute Abend mein Mann zurückgekehrt, der in unserer Angst ihm gestern nachgereist war. Ihnen, Herr Kreisjustizrath, wird so Manches angezeigt. Hätten Sie nichts vernommen, was auf ihn Bezug haben könnte?“

Mir wollte eine Centnerlast auf das Herz fallen. Sollte ich etwa den Ermordeten entdecken?

„An welche Art von Nachrichten denken Sie, gnädige Frau?“ fragte ich. „Ich bin Criminalrichter.“

„Ich weiß es,“ sagte sie. Aber sie hatte nicht den Muth, mehr zu sagen.

„In welchem Alter ist Ihr Sohn?“ mußte ich sie endlich fragen.

„Er ist fünfundzwanzig Jahre alt.“

„Wohin war Ihr Sohn gereist?“

Sie nannte eine kleine Stadt der Gegend, etwa sieben bis acht Meilen entfernt.

„Und er ist seit vier Tagen von da fort?“

„Um direct nach Hause zurückzukehren, wie er gesagt hat. Niemand hat ihn wieder gesehen.“

„War er in Geschäften hingereist?“

„Um Korn zu verkaufen. Es sind große Kornmärkte dort.“

„Und allein?“

„Allein, und zu Fuße. Es war seine Liebhaberei. Er streifte gern im Lande umher, bald hier, bald dort einen Abstecher machend.“

„Ich könnte Ihnen keine auf ihn zu beziehende Nachricht mittheilen, gnädige Frau, obwohl ich theilweise aus jener Gegend komme.“

„Aber Ihre Fragen waren so speciell, als wenn sie sich doch auf etwas bezögen.“

„Sie sollten nur meinen morgen anzustellenden Nachforschungen eine bestimmtere Richtung geben. Darf ich bitten, jetzt den Herrn Holm aufzusuchen?“

Sie war bereit, ihre eigene Unruhe trieb sie. Wir gingen zu Holm, auf den Gutshof hinaus. Er mochte nicht gerne das Haus wieder betreten wollen, aus dem er doch immerhin vertrieben war, und die Frau wollte es ihm nicht zumuthen. Er stand wartend am Ende des Hofes, hinter dem Baume, bei dem wir ihn vor einer halben Stunde verlassen hatten. Die Frau eilte auf ihn zu.

„Sie haben Nachrichten von Ulrich, Holm?“

„Nachrichten und keine Nachrichten, gnädige Frau.“

„Gute?“

„Ich weiß es nicht –“

„Es sind schlimme. Ich höre es an Ihrer Stimme. Aber was es auch sei, theilen Sie es mir mit, vollständig.“

Die Stimme, wie die Zurückhaltung des jungen Mannes, Beides ließ auf gute Nachrichten nicht schließen. Darin hatte die Frau Recht. Aber ihre Aeußerung ließ auch nicht auf einen Mord schließen, wenigstens nicht auf eine Furcht, daß ihr Sohn ermordet sei. Holm wollte noch einmal zweifelnd auf mich sehen. „Der Herr darf Alles wissen,“ sagte sie schnell. „Er muß Alles wissen. Erzählen Sie.“

„Ulrich ist schon am Sonnabend vom Kornmarkte abgereist.“

„Ich weiß es. Mein Mann hat ihm dort nachgeforscht. Haben Sie eine andere Spur von ihm?“

„Lassen Sie mich Ihnen ausführlich erzählen, gnädige Frau. Am Mittwoch, heute vor acht Tagen, war Ulrich bei mir. Sie wissen, wir waren befreundet. Er kam von Hause und brachte mir Nachrichten und Grüße von –“

Er stockte. Der Freund hatte ihm wohl Grüße, die letzten Grüße von der Schwester gebracht.

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Ein Polterabend
aus: Die Gartenlaube 1863, Heft 30, S. 465–468
Fortsetzungsroman – Teil 4


[465] Nach einer kurzen Pause fuhr der Inspector Holm in seiner Erzählung fort: „Ulrich sagte mir, daß er auf dem Wege zum Kornmarkt sei und am Montage auf seinem Rückwege wieder bei mir vorsprechen werde. Der Kornmarkt war schon am Freitag zu Ende, und ich fragte ihn, warum er da erst am Montag zurückkehre. Er wollte anfangs mit der Sprache nicht heraus. Zuletzt gestand er, er wolle – Sie müssen Alles wissen, gnädige Frau – zu der Henriette.“

„Mein Gott!“ sagte die Frau schmerzlich. „Aber erzählen Sie weiter.“

„Ich machte ihm Vorstellungen,“ erzählte Holm weiter. „Ich durfte und mußte es als Freund. Ich erinnerte ihn an seine Ehre, an seine Eltern, an seine Schwester. Es war vergeblich. Er sagte, er könne nun einmal nicht anders. Ich ließ ihn. Aber ich hatte meinen Entschluß gefaßt. Am Freitag Abend war ich in Szubin, wo die Henriette bei ihrer Mutter wohnt. So wie Ulrich kam, wollte ich ihn wieder mit mir nehmen. Ich quartierte mich in den Krug ein; auch er mußte, wenigstens zuerst, in diesem einkehren. In dem Kruge erkundigte ich mich nach der Familie des Mädchens. Sie stand nicht im besten Rufe. Die Mutter ist die Wittwe eines Grenzaufsehers, der dort stationirt gewesen war. Sie hatte schon zu Lebzeiten ihres Mannes ein leichtsinniges Leben geführt. Nach dem Tode ihres Mannes, als ihre Töchter herangewachsen und hübsch, sehr hübsch geworden waren, war ihr Haus der Sammelplatz der jungen, nichtsnutzigen Männer der Umgegend geworden, der jüngeren Grenz- und Steuerbeamten, Oekonomie- und Forsteleven, der Söhne von Gutsbesitzern etc. Die jungen Leute wurden von der verschmitzten Frau ausgeplündert; sie mußten die Familie ernähren, und die Familie lebte gut; namentlich war der Aufwand und Putz der Töchter ein großer. Die Frau hat drei Töchter. Henriette ist die jüngste und hübscheste. Ein Bekannter der Familie hatte auch einen besseren Grund in ihr zu finden gemeint. Er hatte daher die Mutter vermocht, sie aus dem Hause zu geben, und so war sie hierher, zu Ihnen, gnädige Frau, als Kammerjungfer gekommen. Aber sie war nicht besser als ihre Mutter, als ihre Schwestern. Sie suchte schon nach wenigen Monaten Ulrich in ihre Netze zu ziehen. Es gelang ihr, bei seinem eben so gutmüthigen, wie leider auch schwachen Charakter. Sie mußte fort und kehrte zu ihrer Mutter zurück. Wir hatten geglaubt, er habe sie aufgegeben, gar vergessen. Da jenes Geständniß gegen mich! Nach jenen Nachrichten, die ich im Kruge erhielt, hoffte ich, ihn um so leichter von dem Hause und der Person fernhalten zu können. Ich glaubte es um so mehr zu müssen, da ich wußte, daß er von dem Marke viel Geld mitbrachte. Aber er kam nicht, weder am Freitag Abend, noch am Sonnabend, noch am Sonntag. So lange hatte ich im Kruge gewartet. Ich ging geradezu in das Haus der Wittwe und ließ Henriette zu mir bitten. Sie kam, und ich fragte sie, ob Ulrich nicht dagewesen sei. Sie verneinte es, sie wollte nichts von ihm wissen. Ich glaubte ihr. Sie war sofort zu mir herein gekommen, sie war unbefangen, sie konnte mir klar in die Augen sehen. Auch ihre Mutter, die mich empfangen hatte, war nicht verlegen gewesen. Endlich hatte kein Mensch im Dorfe einen jungen Mann von dem Aeußeren Ulrichs gesehen. Er war also nicht da gewesen. Ich mußte jetzt um so mehr Gewißheit haben, und eilte hierher nach Kalwellen. Auch hier war er nicht gewesen und in der Marktstadt, wohin ich sofort mich fahren ließ, erfuhr ich nur, daß er seit Sonnabend, nachdem er gute Geschäfte gemacht und viel Geld eingenommen, zu Fuße weiter gereist sei. Alle meine Nachforschungen, ob er mit verdächtigen Personen verkehrt, wurden verneint. Ulrich konnte nur zwei Wege genommen haben, nach Szubin, zu Henrietten, oder nach Kalwellen, nach Hause zurück. Ich reiste zurück, frug vergebens nach ihm und folgte dem Wege nach Szubin. Man wußte hier eben so wenig von ihm. Ich ging noch einmal in die Wohnung Henriettens. Ich fragte das Mädchen wiederholt nach ihm. Es war heute Vormittag. Sie wollte ärgerlich über meine Zudringlichkeit werden. Da erzählte ich ihr, wie Ulrich zu ihr gewollt, und ich ihn nun seit sechs Tagen vergeblich suche. Auf einmal wurde sie unruhig, blaß. „Was ist Ihnen?“ fragte ich sie. „Wissen. Sie etwas?“

Der Erzähler unterbrach sich.

„Gnädige Frau, sie theilte mir eine Nachricht mit, die mich im ersten Augenblick tief erschreckte, die ich damit aber, als ich darüber nachsann, für völlig unglaublich halten mußte. Dennoch darf ich sie ihnen nicht vorenthalten.“

„Theilen Sie sie mit,“ sagte die Frau Bertossa. Die arme Frau konnte vor Angst die Worte kaum hervorpressen. Holm fuhr fort:

„Mein Gott.“ rief das Mädchen; „wenn er das wäre!“

„Wer?“ fragte ich.

„Aber es ist nicht möglich!“ sagte sie. „Wie sollte er dahin kommen?“

„Erzählen Sie, Henriette.“

„Hören Sie. Aber Ulrich kann es nicht sein. Heute war ein Grenzbeamter hier, der in der Nacht mit einem russischen [466] Grenzhusaren zusammengetroffen war. Von diesem hatte er erfahren, daß man drüben die Leiche eines ermordeten Mannes gefunden habe, der aus Preußen sein müsse. Der Beamte hatte heute Morgen mit einem bekannten Schmuggler darüber gesprochen, und dieser hatte so eigen darüber gelacht. Das war ihm hinterher aufgefallen, da schon seit länger als einer Woche das Gerede ging, die Schmuggler hätten einen Verräther unter sich, den sie noch nicht ausfindig machen könnten, den aber, wenn sie ihn ermittelten, die schwerste Rache erwarte.“

Ich war, wie gesagt, im ersten Augenblicke heftig erschrocken. Die Angst, daß Ulrich der Ermordete sei, hatte mich zwar verlassen, denn wie sollte er zu den Schmugglern und wie über die Grenze gekommen sein? Aber wo war er geblieben? Ich eilte wiederholt hierher und kam vor einer Stunde hier an. Ulrich war noch immer nicht da. Ich mußte zu Ihnen, gnädige Frau, um Ihnen zu erzählen, um weiter mit Ihnen zu berathen.“

Der Erzähler schwieg. Er war fertig, schien es wenigstens zu sein. Ich hatte seit einigen Minuten auf die Frau Bertossa nicht geachtet und blickte jetzt nach ihr hin. Ich erschrak vor ihrem Aussehen. Ihre Augen waren wie erloschen; aber durch ihr Gesicht flog eine brennende Röthe. Sie hatte sich, um nicht umzusinken, an den Baum gepreßt, neben dem wir standen. Ich sah, wie sie an dem Baume zitterte.

„Wissen Sie nichts mehr?“ fragte sie mit bebender Stimme.

Holm antwortete nicht gleich; endlich sagte er: „Gnädige Frau, wollen Sie nicht erlauben, daß der Herr Steuerrath Sie in das Haus führt? Ich habe mit dem Herrn Kreisjustizrath noch einige Worte zu sprechen, und Sie erholen sich unterdeß.“

„Also doch?“ sagte die ahnende Frau. Aber sie war einverstanden.

„Sie finden mich in meinem Zimmer“, setzte sie nur noch hinzu.

Dann ließ sie sich durch den Steuerrath in das Haus zurückführen. Holm und ich blieben allein.

„Herr Holm, Sie haben die Hauptsache noch nicht mitgetheilt!“

„Nein, Herr Kreisjustizrath. Ich konnte es der armen Mutter gegenüber nicht.“

„Aber sie ahnte.“

„Ich hatte auch noch einen andern Grund.“

„Welchen?“

„Sie werden ihn erfahren.“

„Erzählen Sie.“

„Der Baron Föhrenbach war in der Nähe von Szubin gewesen.“

Der junge Mann sprach die Worte leise, geheimnißvoll, aber gerade dadurch mit besonderem Nachdruck.

„Der Bräutigam des Fräuleins?“ fragte ich.

„Derselbe, und – Sie kennen mein Verhältniß zu diesem Hause, Herr Kreisjustizrath?“

„Der Steuerrath hat mich davon in Kenntniß gesetzt.“

„So wissen Sie auch den Grund, warum ich das Weitere der Frau Bertossa nicht mittheilen durfte. Selbst Ihnen gegenüber befinde ich mich in Verlegenheit.“

Der Steuerrath hatte mir nur Gutes von dem jungen Manne erzählt. Ich selbst kannte ihn aber nicht und mußte daher gegen ihn aus meiner Hut sein.

„Herr Holm,“ sagte ich zu ihm, „ich bitte, von diesem Augenblicke an mich nur als den Criminalrichter anzusehen, dem Sie in seiner amtlichen Eigenschaft Mittheilungen zu machen haben. – Wo war der Baron Föhrenbach gewesen?“

„In der Nähe von Szubin, unweit der russischen Grenze.“

„Wann war das gewesen?“

„Am Sonntag Abend.“

„Erzählen Sie mir das Nähere. Wer hat ihn gesehen? Hat Jemand mit ihm gesprochen?“

„Ich erzählte vorhin, daß ich Ulrich auch auf dem Wege von dem Marktorte nach Szubin nachgefolgt sei. Das war gestern. Auf dem Wege traf ich einen litthauischen Bauern, den ich kannte. Ich fragte ihn nach Ulrich und beschrieb ihm dessen Figur und Kleidung. Er hatte ihn nicht gesehen. Aber er war aufmerksam geworden.

„Dagegen habe ich einen anderen Herrn gesehen,“ sagte er, „den Du kennen wirst, Herr.“

„Und wer ist das?“

„Der fremde junge Herr auf dem Gute, auf dem Du warst.“

„Der Baron Föhrenbach?“

„So mag er bei Euch heißen.“

„Kennst Du ihn unter einem anderen Namen?“

Der Litthauer lachte leise für sich.

„Hm, Herr, ich weiß es nicht.“

„Nun, wo sahest Du ihn?“

„Am Sonntag Abend sah ich ihn. Ich kam aus dem Kruge zu Szubin. Es war schon neun Uhr; da ich mich verspätet hatte, nahm ich nicht die Landstraße, sondern einen kürzeren Weg nach Hause, näher an der Landstraße entlang. Es ist meist wüstes Haideland dort. Mitten in der Haide glaubte ich auf einmal einen Schritt zu hören. Ich blieb stehen und hatte mich nicht geirrt. Jemand schritt quer durch die Haide. Er kam von der Landstraße her und ging in gerader Richtung auf die Grenze zu. Das war mir verdächtig. Ich mußte daran denken, wie in letzter Zeit die Schmuggler so oft den Russen verrathen waren. Wer konnte am späten Abend, zwischen neun und zehn Uhr, ganz allein zu der Grenze gehen? Und was konnte der Mensch dort wollen? Ich verbarg mich hinter einigen Fichten, die neben mir standen. Der Mensch mußte dicht an mir vorüber. Es war der Herr Föhrenbach, wie er bei Euch heißt. Ich erkannte ihn deutlich. Er war ganz allein und trug nichts bei sich. Er ging schnell, immer geraden Weges nach der Grenze hin. In der Dunkelheit hatte ich ihn bald aus den Augen verloren. Auch seinen Schritt hörte ich dann nicht mehr. Ich blieb noch eine Weile stehen. Als aber Alles still blieb und ich nichts mehr sah und hörte, setzte ich meinen Weg nach Hause fort.“

Das war die Erzählung des Litthauers. Sie fiel mir erst auf, als ich heute von der Henriette über den Mord an der Grenze gehört hatte. Ich eilte darauf sofort hierher und konnte den Litthauer nicht vorher aufsuchen.“

Auch Holm endete damit seine Mittheilung. Ich hatte eine Menge von Fragen an ihn, über Allerlei.

„Sie kennen den Namen des Littauers?“

„Er heißt Joes Lubatis und wohnt jenseits Szubin. Ich kenne das Dorf, aber nicht den Namen.“

„Woher kennen Sie den Lubatis?“

„Er wohnte früher in meinem Wohnorte, ist aber schon seit mehreren Jahren näher zur Grenze gezogen.“

Ich sah dem jungen Manne an, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte.

„Warum näher zur Grenze?“ fragte ich.

Er schwankte eine Weile über seine Antwort.

„Herr Kreisjustizrath,“ sagte er dann. „Sie müssen Alles wissen. Mein Verhältniß, das ich vorhin berührte, kann mich bei Ihnen als einen Zuträger, Denuncianten erscheinen lassen. Selbst das darf mich nicht abhalten, Ihnen Alles zu sagen, sowohl was ich weiß, als was ich vermuthe. Es kann sich um die Ermittelung eines schweren Verbrechens handeln, und es kann ein großes Unglück, ein neues Verbrechen dadurch verhütet werden. Zwar auch das wieder – aber nein, ich muß sprechen.“

Der junge Mann kämpfte noch immer mit sich. Es war keine Komödie. Es war der Kampf eines wirklich edlen Herzens. Ich mußte ihm zu Hilfe kommen.

„Herr Holm,“ sagte ich ihm, „ehe Sie fortfahren, will ich Ihnen eine Mitteilung machen. Aber vorher beantworten Sie mir ein paar Fragen. Der Herr Ulrich Bertossa ist fünfundzwanzig Jahre alt, von schlanker Figur, blond, sein Gesicht etwas blaß – etwas verlebt?“

„Allerdings! Und – aber es gehört nicht hierher, und Sie haben mich noch mehr zu fragen.“

„Das habe ich. Wie war er gekleidet, als er aus dem Wege zu dem Jahrmarkte bei Ihnen war?“

„Er trug einen braunen Ueberrock und sonst schwarze Kleidung.“

„Also keinen grauen litthauischen Wandrock?“

„Nein, wie hätte er dazu kommen sollen?“

„Ich weiß es nicht. Aber ein junger Mann von dem Alter und ganz von dem Aeußeren Ihres Freundes Ulrich, nur nicht mit einem braunen Ueberrock, sondern mit einem grauen littauischen Wandrock bekleidet, ist gestern Morgen unweit der Grenze, auf russischer Seite, ermordet gefunden worden. Ich komme fast geraden Weges von der Besichtigung der Leiche. Der Mord ist in der Nacht vom Sonntag zum Montag oder vom Montag zum Dienstag [467] geschehen. Näheres über die That, den Ermordeten, den Mörder war bis jetzt völlig unbekannt. Jetzt theilen Sie mir mit, was Sie noch zu sagen hatten.“

Der junge Mann war heftig ergriffen.

„Mein Gott, mein Gott!“ rief er. „Wäre also doch mein Verdacht begründet, und keine Erfindung meiner Eifersucht? Ja, Herr Kreisjustizrath, ich hatte das befürchtet, und darum konnte ich mich so schwer überwinden, Ihnen Alles zu sagen. Jetzt darf mich nichts mehr abhalten. Der arme Ulrich! Sollte er es denn wirklich sein? – Ja, ja! Und auch der graue Wandrock paßt. O mein Gott, welch´ ein entsetzliches Verbrechen thut sich da auf! Und der Elende, der Mörder – die arme Rosalie muß an seiner Seite sitzen, soll morgen seine Frau werden –“

„Erzählen Sie,“ unterbrach ich ihn. „Wir haben nur noch Vermuthungen. Wir müssen Gewißheit, schleunige Gewißheit haben.“

„Ja, ja. Aber darf ich bitten, mir vorher eine Frage zu beantworten?“

„Fragen Sie.“

„In welcher Gegend der Grenze ist der Ermordete gefunden?“

„Starke drei Meilen von hier.“ Ich nannte ihm das nächste Dorf, in dem ich hatte übernachten wollen, in dem meine Begleiter noch waren.

„Eine Meile jenseits liegt Szubin,“ sagte er, „und etwa eine halbe Meile hinter Szubin hat der Lubatis den Baron Föhrenbach getroffen. Und nun hören Sie weiter. Sie fragten mich vorhin, warum Joes Lubatis näher zur Grenze gezogen sei. Joes Lubatis ist ein Hauptmitglied der Schmugglerbande.“

Die paar Worte machten auf einmal auch mir Alles klar, ließen auch mich auf einmal das ganze entsetzliche Verbrechen erkennen.

„Und daher kennt er den Herrn von Föhrenbach?“ fragte ich.

„Und daher kennt er ihn, und darum konnte ich nicht sogleich Ihre Frage beantworten.“

„Auch dieser Föhrenbach ist Schmuggler?“

„Er ist es. Die Anderen wissen es nicht, zeigen wenigstens nicht, daß sie es wissen. Sie dürfen es nicht zeigen. Dieser Mensch hat eine eben so unbegrenzte, wie unbegreifliche Gewalt hier im Hause –“

„Die kenne ich,“ mußte ich bemerken.

„Vor drei Vierteljahren,“ fuhr Holm fort, „kam er hier an. Auf einmal war er da. Niemand hatte ihn erwartet. Auf die ganze Familie hatte sich plötzlich eine peinliche Verlegenheit, eine schwere, drückende Angst gelagert. Das ist geblieben bis zum heutigen Tage. Von wo und wie er hergekommen war, darüber wurde niemals gesprochen. Aber ich wußte es bald. Das Auge der Eifersucht – ich darf ja offen mit Ihnen sprechen – sieht scharf. Er war als Emissair französischer und schweizerischer Uhrenfabrikanten hier, um an Ort und Stelle das Einschwärzen der Uhren nach Rußland zu bewerkstelligen. Ein Zufall hatte ihn die Familie Bertossa entdecken lassen, die er schon früher gekannt hatte. Er quartierte sich hier ein, denn er konnte von hier aus am bequemsten und am sichersten sein Geschäft leiten. Und – bedarf dieser Mord noch einer Erklärung? Die Schmuggler hatten in neuerer Zeit fortwährendes Unglück gehabt. Allgemein war der Glaube an einen Verräther verbreitet. Niemand kannte ihn; man meinte nur, er müsse entweder aus ihrer Mitte sein, oder ihnen sehr nahe stehen. Diese Umstände lieferten eine große Sicherheit für die Ausführung eines schwer zu entdeckenden Mordes. Er wurde auf ihre Rechnung geschrieben. Konnte der Leichnam gar nach drüben über die Grenze geschafft werden, so war eine Entdeckung fast gar nicht zu fürchten. Die Leiche wurde vielleicht erst nach langer Zeit gefunden. Die Russen kümmerten sich nicht viel um sie, die Behörden vielleicht gar nicht; von einem Herausgeben an die preußischen Gerichte hatte man bisher nie etwas gehört.“

Die Combinationen Holm’s lagen nahe. Ich hatte sie ebenfalls gemacht. Nur zwei Momente waren mir noch unklar.

„Welches Motiv konnte Föhrenbach zu dem Morde haben?“ mußte ich fragen.

„Er hatte ein doppeltes. Er haßte Ulrich, dieser war mein Freund und der Einzige, der sich seiner Schwester annahm, der sich bis zum letzten Augenblicke entschieden gegen ihre Verbindung mit ihm aussprach. Die Eltern mußten nachgeben, aber der Haß blieb. Das war Eins. Dann aber – nach Ulrichs Tode war Rosalie das einzige Kind, die einzige Erbin ihrer Eltern, und er war der einzige Herr hier.“

Auch diese Combinationen lagen nahe.

Aber wie sind Mörder und Ermordeter an der Mordstelle zusammengetroffen? Wie hat namentlich der Mörder sein Opfer in jene Gegend verlocken können? Denn an eine Verlockung mußte man denken. Wie hat er das zumal bei dem Hasse, der Abneigung gekonnt, die unter Beiden bestand?

Holm hatte darüber nur unbestimmte Vermuthungen.

„Ulrich war gutmüthig und leichtsinnig, und, wie alle gutmüthigen und leichtsinnigen Menschen, offenherzig und leichtgläubig. Föhrenbach kannte sein Verhältniß zu der Henriette. Er kann dieses zu einer Verlockung benutzt und zum Zwecke der Verlockung auch jene Verkleidung herbeigeführt haben, die zudem, wenn von dem Morde gesprochen wurde, dem Glauben, daß an dem Verräther der Schmuggler Rache geübt sei, um so größere Nahrung geben mußte. Es ließ sich wenigstens hören.“

Holm hatte keine weiteren Mittheilungen.

Was war jetzt weiter zu thun? Ich hatte die Frage nur als Criminalrichter. Die arme Rosalie, die unglückliche Mutter – ich durfte kaum an sie denken. Dennoch mußte etwas gethan werden, und was es auch war, es mußte sofort geschehen, eben um der Zwecke der Untersuchung willen. Vor allen Dingen war festzustellen, ob der Herr von Föhrenbach in der Nacht vom Sonntag auf Montag Kalwellen verlassen habe. Er hatte in dem Gutshause seine Wohnung. Ich mußte es im Hause erfahren. Für den Fall der Feststellung mußte ich zugleich andere Anstalten treffen.

Ich bat Holm, dem im Dorfkruge wartenden Gensd’armen den Befehl zu bringen, vor dem Eingange des Gutshofes zu halten, damit ich ihn sofort bei der Hand hätte. Er selbst möge dort bei dem Gensd’armen bleiben. Ich ging dann in das Haus zurück. in das Zimmer der Hausfrau, und traf sie dort mit ihrem Gatten und dem Steuerrath. Aus den Blicken des Steuerraths sah ich, daß sich unterdeß nichts ereignet hatte. Die Frau erwartete mich bebend. Sie hatte nicht den Muth, vielleicht nicht einmal die Kraft zu einer Frage. Der Mann saß in einem dumpfen, ängstlichen Hinbrüten auf einem Stuhle. Das Leben seines einzigen Sohnes stand in Frage; ein Verbrechen ahnte er. Mußte da nicht auch die Vergangenheit, seine Vergangenheit mit ihrer entsetzlichen Gewalt an ihn herantreten? Ja, es giebt eine Vergeltung! Er sprang auf, als ich eintrat. Aber nicht, weil er mich erkannte. Ich war und blieb ihm ein Fremder; ich sah es ihm klar an. Er hatte mich also in jenem Verhörzimmer nicht gesehen. Wie aufgeregt mußte er damals gewesen sein! Wie sehr sprach dies noch jetzt für seine damalige Schuld, wenn es nach dem Verhältnisse Föhrenbachs zu ihm noch einer Stimme für diese Schuld bedurft hätte! Die Angst um den Sohn trieb ihn empor. Ich durfte für das, was ich zunächst zu fragen hatte, keine Umwege machen. Ich wandte mich an die Frau. Sie hatte ja vorhin schon geahnt,

„Gnädige Frau, war der Herr von Föhrenbach in der Nacht vom Sonntage zum Montage zu Hause?“

Sie erschrak sichtbar bei der Frage.

„Nein,“ antwortete sie leise.

„Wissen Sie es gewiß?“

„Ganz gewiß. Er selbst wird es bestätigen. Er war zur Stadt geritten, um für mich Besorgungen zu dem heutigen Polterabend zu machen.“

„Wann war er fortgeritten?“

„Am Sonntag gleich nach Tisch.“

„Wann ist er zurückgekehrt?“

„Am Montag Mittag.“

„Wie weit ist die Stadt von hier?“

„Drei Meilen.“

„Man könnte also bequem in zwei Stunden hinreiten?“

„In anderthalb Stunden,“ sagte der Herr Bertossa.

Ich fragte die Frau weiter.

„Warum hatten Sie gerade dem Herrn Föhrenbach jene Besorgungen aufgetragen?“

„Er bat mich darum.“

„Ah –“

„Er sagte indeß, daß er selbst Geschäfte dort habe.“

„Hat er die Besorgungen ausgerichtet?“

„Vollständig. – Aber mein Sohn. mein Herr? Haben Sie weitere Nachrichten über ihn?“

Die Angst des Mutterherzens hatte ihr doch die Frage auspressen müssen. [468] „Nur Vermutungen, gnädige Frau,“ mußte ich ihr erwidern, „die ich eben darum Ihnen noch nicht mittheilen darf. Hätten Sie die Güte, mir ein Zimmer anweisen zu lassen, in dem ich ungestört verweilen kann? Ich werde Sie nachher hier wieder aufsuchen.“

Sie klingelte. Ein alter Diener erschien.

„Georg, führe Er den Herrn in das grüne Zimmer.“

Es war der alte Kutscher Georg, vor dem Holm sich hatte dürfen sehen lassen. Die andere Dienerschaft war bei dem Feste beschäftigt. Dem alten Mann durfte ich vertrauen.

„Gnädige Frau,“ bat ich die Hausfrau, „hätten Sie noch die Güte, mir den alten Georg zur Disposition zu stellen?“

„Georg, Er empfängt die Befehle des Herrn Kreisjustizraths.“

„Folgen Sie mir, Georg.“

Ich verließ mit ihm das Zimmer.

„Ist der Baron Föhrenbach noch im Garten?“

„Ja, Herr. Er war zwei Mal in das Haus gekommen, seitdem die gnädige Frau in ihrem Zimmer ist. Er fragte nach dem Herrn Holm. Als aber Niemand von dem wußte, kehrte er wieder zurück.“

Ich ging in den Garten, zu dem Festplatz. Es wurde getanzt. Der Baron Föhrenbach war da. Er tanzte nicht mit, sondern sah dem Tanze zu. Seie Braut tanzte. Die Arme! Der Herr von Föhrenbach kam mir doch verändert vor. Er sah noch finster genug aus. Aber seine Züge waren erschlafft. Er schien mehr in sich gekehrt zu sein. Ich trat zu ihm.

„Mein Herr, dürfte ich Sie bitten, mich in das Haus zu begleiten?“

Er fuhr zusammen. Aber er faßte sich eben so schnell wieder, und nun war das finstere Gesicht wieder hart und trotzig.

„Zu welchem Zweck, mein Herr?“ fragte er.

„Sie werden es erfahren.“

„Mein Herr, ich finde die Antwort eigenthümlich.“

„Sie werden auch die Gründe für diese Eigenthümlichkeit erfahren.“

„Mein Herr, Sie fordern mich in sonderbarer Weise heraus!“

„Herr von Föhrenbach, ich spreche als Beamter mit Ihnen Sie kennen mich doch?“

„Sie sind mir ja als der Herr Kreisjustizrath vorgestellt,“ sagte er vornehm.

„Ja, und als Kreisjustizrath hätte ich ein paar Fragen an Sie.“

„Sie dürfen Sie hier nicht an mich richten?“

„Ich dürfte es wohl, aber ich wünsche es nicht.“

Er hatte sich doch besonnen.

„Wohlan, so werde ich Ihren Wünschen entgegenkommen.“

Wir gingen zum Hause. Der alte Georg folgte uns. Im Hause wollte er mich zu seinem Zimmer führen.

„Darf ich bitten, mir zu folgen,“ sagte ich. „Georg, führen Sie uns in das grüne Zimmer.“

Er machte keine Einwendung weiter. Georg führte uns in das grüne Zimmer.

„Sie warten draußen,“ befahl ich ihm.

Ich war mit dem Baron Föhrenbach in dem Zimmer allein. Ich hatte noch immer nur sehr entfernte Vermutungen gegen ihn. Seine Abwesenheit zur Zeit des Verbrechens war zwar festgestellt; aber er hatte die Aufträge der Frau Bertossa besorgt, und wenn er nun jene Nacht in dem Städtchen zugebracht hätte? Wenn er gar selbst am Sonntag Abend da gewesen wäre und der Schmuggler Joes Lubatis sich in seiner Person geirrt, oder wenn dieser Holm, oder Holm mir die Unwahrheit gesagt hätte? Ich durfte ihm nichts auf den Kopf zusagen. Ich durfte ihm nicht einmal von dem Morde sprechen. Aber an etwas Anderes durfte, konnte, mußte ich am Ende anknüpfen, und riß dann der Faden nicht, so war ich gegen ihn der völlig berechtigte Inquirent auch für den Mord an der Grenze.

„Mein Herr, Ihr Name?“ fragte ich ihn.

„Sie nannten mich ja selbst schon Baron Föhrenbach,“ antwortete er.

„Haben Sie den Namen immer geführt?“

„Man hat mir nie einen andern Namen beigelegt.“

„Kennen Sie den Criminalrath Heitmann in L.?“

Ich hatte ihm den Namen meines Freundes, jenes Inquirenten genannt, der vor vier Jahren die Untersuchung wegen Ermordung des Viehhändlers gegen ihn geführt, und in dessen Gegenwart ich ihn in seinem Gefängnisse gesehen hatte. Er konnte auf die Frage vorbereitet sein; er mußte es sein, von dem Momente an, da ich das Verlangen an ihn gestellt hatte, ihn allein zu sprechen, wenngleich ich mit keiner Miene nur angedeutet hatte, daß ich ihn kenne. Die plötzliche Frage machte ihn dennoch verlegen, verwirrt. Er wechselte die Farbe, er schlug die Augen nieder.

„Den Criminalrath Heitmann?“ fragte er zögernd, wie sich besinnend.

Dies gab mir auf einmal ein Uebergewicht über ihn, das ich, diesem eben so frechen wie gewandten Menschen gegenüber, doppelt benutzen mußte.

„Mein Herr,“ sagte ich ihm auf den Kopf zu, „warum hat meine Frage Sie verwirrt gemacht?“

„Verwirrt?“ erwiderte er, indem er sich zusammenzunehmen suchte.

„Nun ja. Was anders war es, wenn Sie sich auf einen Mann und einen Namen besannen, der Ihnen seit vier Jahren keinen Augenblick aus dem Gedächtniß gekommen ist?“

Ich war in der That sein Herr geworden. Er hätte mir einfach erwidern können, er habe keine Lust gehabt und habe sie auch noch nicht, mir auf etwas zu antworten, was mich nichts angehe. Ich hatte dann, für den heutigen Abend wenigstens, ein schweres oder gar ein verlorenes Spiel gegen ihn.

„Ich konnte mich in der That nicht sogleich besinnen,“ erwiderte er.

„Sie haben sich also jetzt besonnen?“ fragte ich.

„Ja.“

Und mit dem Worte schlug ihm die helle Gluth des Zornes in das Gesicht, des Zornes gegen sich, gegen mich, daß er sich von mir hatte imponiren lassen, daß ich ihn in einer Falle gefangen hatte, die ihm eine sehr verhängnißvolle werden konnte. Das einzige Wort Ja brachte ihn zum Bewußtsein; er konnte nicht mehr zurück.

„Dann,“ fuhr ich rasch fort, „werden Sie sich auch wohl auf den Namen des Viehhändlers besinnen, wegen dessen Ermordung Sie damals in Untersuchung und Haft waren?“

„Ja,“ sagte er wieder, mit unterdrückter, aber desto mehr in ihm glühender Wut.

„Und der Mann hieß?“ fragte ich.

Ich spielte durch die Frage mit ihm. Ich mußte es, um ihm ganz mein Uebergewicht über ihn zu zeigen. Er nannte den Namen.

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Ein Polterabend
aus: Die Gartenlaube 1863, Heft 31, S. 482–484
Fortsetzungsroman – Teil 5


[481] „Und jetzt, mein Herr von Föhrenbach,“ sagte ich mit erhobener Stimme, „werden Sie sich auch des Namens erinnern, den Sie damals führten?“

Sein verhaltener Zorn brach los. Er stellte jetzt jene Frage an mich, die ich vorhin gefürchtet hatte, der ich hatte begegnen müssen, die mir jetzt nur ein Lächeln abgewinnen konnte. Er war in meiner Gewalt, ganz und gar, für jenen ersten Mord, für die Untersuchung des zweiten.

„Mein Herr,“ sagte er, „wer giebt Ihnen ein Recht zu Ihren Fragen an mich?“

„Meine Stellung als Criminalrichter, denke ich,“ sagte ich ruhig.

„Sie mögen,“ erwiderte er höhnisch, „hier Criminalrichter sein; Sie sind es nicht für Untersuchungen, die anderthalbhundert Meilen weit geführt, und zudem längst abgethan sind.“

Ich blieb ruhig, kalt.

„Sie sind da in einem doppelten Irrthume, mein Herr von Föhrenbach, denn so werde ich Sie so lange nennen, bis es Ihnen gefällig ist, mir selbst Ihren wahren Namen zu nennen. Ihr erster Irrthum ist, daß jene Untersuchung abgemacht sei. Sie wurden durch das Erkenntniß nur vorläufig freigesprochen. Das hat den Sinn, daß die Untersuchung nur vorläufig gegen Sie ruhet, bis neue Verdachtsgründe, Anzeigen, Indicien, wie wir es nennen, gegen Sie ermittelt werden. Sie kann, sie muß dann jeden Augenblick sofort wieder neu aufgenommen werden.“

Er war doch still geworden und erwiderte nichts. Aber er sah mich fragend, lauernd an. Ich fuhr mit meiner kalten Ruhe fort.

„Ihr zweiter Irrthum, Herr von Föhrenbach, war, daß jene Untersuchung mich hier nichts angehe. Wo für eine Untersuchung, sei es eine neue oder eine alte, sich Indicien herausstellen, da hat jeder Richter, der sie ermittelt, sei es in welcher Gegend des Staates [482] es wolle, nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht Alles vorzunehmen, was zur Einleitung oder Fortführung der Untersuchung auf der Stelle, für den ersten Angriff, wie wir es nennen, erforderlich ist. Sie haben mir eingeräumt, Herr von Föhrenbach, daß Sie wegen Ermordung des Fleischers in Untersuchung waren. Mir ist bekannt, daß Sie vorläufig freigesprochen sind – oder wollen Sie es leugnen?“

Er antwortete nicht.

„Wohl,“ sagte ich. „Sie sind also von jenem Morde nur vorläufig freigesprochen. Neue Indicien habe ich heute hier gesammelt. Sie sind mein Gefangener, Herr von Föhrenbach.“

Wie ihn der Schlag traf, sah ich nicht und durfte mich auch nicht mehr nach ihm umsehen. Ich mußte das, was ich einmal angefangen hatte, ohne den geringsten Aufenthalt fortführen. Ich hatte in meinem Rechte gehandelt, aber im Grunde mehr in einem formellen, als materiellen Rechte. Ich hatte Indicien gesammelt, aber sie waren nur psychologische. Ich hatte die Hoffnung, ihnen jeden Augenblick einen auch äußerlich greifbaren Grund geben zu können. Wenn ich sofort gegen den Herrn Bertossa einschritt, hier, in diesem Augenblicke – ich hätte ein schlechter Inquirent sein müssen, hätte ich nicht, falls auch nicht ein volles Geständniß der That, doch Geständnisse von Thatsachen erhalten, die von der größten Erheblichkeit waren. Allein ich konnte das nur hoffen, und ich hatte jedenfalls ein Spiel begonnen, dessen Ausgang ich nicht mit Sicherheit voraussehen konnte. Die vollste Sicherheit des Benehmens that mir da zunächst Noth.

Freilich lag noch das zweite Verbrechen, der Mord an der Grenze, vor, und für ihn hatte ich mehr als blos innerliche Vermuthungen, hatte ich erhebliche thatsächliche Verdachtsgründe, die unter allen Umständen weiter verfolgt werden mußten, und deren Verfolgung eben so große Eile, wie Vorsicht erforderte. Hier mußte der Zweck ein, wenn auch nur formell, doch immer rechtlich begründetes Mittel um so mehr heiligen, als ich es unzweifelhaft mit einem Verbrecher zu thun hatte, der seine frühere Freisprechung nur seiner ungewöhnlichen Frechheit und Verschlagenheit verdankte. So konnte ich denn, wie mein juristisches, auch mein menschliches Gewissen beruhigen. Ich ging rasch zur Thür, öffnete sie und sprach hinaus:

„Georg, draußen wartet ein Gensd’arm. Führen Sie ihn her.“

„Zu Befehl, Herr,“ sagte der Kutscher.

Dann wandte ich mich wieder um, zu dem Herrn von Föhrenbach. Ich wußte ja seinen wahren Namen noch nicht. Er stand mit blassem Gesichte da. Er hatte seine Lage erkannt, und war noch nicht mit sich einig, was er thun solle, wie er sich zu verhalten habe. Er blickte bald zweifelhaft nach mir hin, bald unschlüssig vor sich nieder. Ich ging still, schweigend, langsam in dem Zimmer umher. Ich durfte ihm nichts mehr sagen. War noch etwas von ihm heraus zu bekommen, so mußte er selbst und von selbst damit hervortreten. Und wie ich die Menschen, die verbrecherischen – von ihnen nur spricht ja ein Criminalrichter – kannte, mußte ich erwarten, daß er so hervortreten werde. Ich wartete darauf.

Ich machte mir unterdeß meinen Plan weiter fertig. Er war und wurde einfach folgender: Der Herr von Föhrenbach blieb mein Gefangener. Meinen Gefangenen konnte ich, einen Gefangenen wie ihn mußte ich, bis ich ihn in die Gefängnisse des Criminalgerichts ablieferte, unter meiner fortwährenden, unmittelbaren Aufsicht behalten. Ich konnte, ich mußte ihn also auch mit mir nach der russischen Grenze nehmen, wo mir die Leiche des Ermordeten herausgegeben werden sollte. Ich konnte unterdeß in der Nachbarschaft Erkundigungen einziehen lassen, ob Föhrenbach in der Nacht vom Sonntag zum Montag dort gewesen sei, und konnte ferner unterdeß Joes Lubatis zur Grenze bestellen lassen.

Ueber einen Punkt war ich noch zweifelhaft: was und wie sollte ich mit dem Herrn Bertossa beginnen? Der Herr von Föhrenbach unterbrach mich in meinen Gedanken darüber. Er trat an mich heran. Seine Miene war eine entschlossene.

„Mein Herr, ist es Ihr Ernst, daß Sie mich verhaften lassen wollen?“

„Gewiß. Sie sind bereits mein Gefangener.“

„Oho, mein Herr, ich glaube doch, ich bin der Stärkere von uns Beiden.“

Das war er in der That. Groß und stark gebaut, schien er nicht unbedeutende Körperkraft zu besitzen, und – es fiel mir zugleich jetzt auf – eine nicht unbedeutende Körperkraft hatte dazu gehört, den Ermordeten, der nicht an der Erde geschleppt war, von dem preußischen Gebiete in das russische hinüber zu tragen.

„Es käme darauf an, mein Herr,“ antwortete ich ihm indeß ruhig. „Uebrigens stehen mir hier gegen Sie hundert Arme zu Gebote, und für alle Fälle –“

Ich zog ein Doppelterzerol hervor, das ich auf meinen Reisen an der Grenze immer bei mir zu tragen pflegte. Auch er blieb ruhig.

„Darf ich fragen, was Sie weiter mit mir machen würden?“ fragte er.

„Würden?“ erwiderte ich. „Ich werde Sie in die Criminalgefängnisse bringen lassen.“

„Heute?“

„Sie werden noch heute Nacht die Reise antreten.“

„Es wäre eine eigenthümliche Unterbrechung des Festes.“

„Ja, so wird es sein.“

„Und, mein Herr – erlauben Sie mir noch die Frage – was wird mit dem Herrn – dem Herrn Bertossa – oder, da Sie ja auch seinen Namen kennen werden, dem Baron Grafenberg?“

Grafenberg! Baron Grafenberg! da hatte ich auf einmal den Namen, den so lange verlorenen und so angelegentlich gesuchten Namen jenes Gutsbesitzers wieder, der in der Untersuchung über den Mord des Viehhändlers als Zeuge vernommen und als Mörder verdächtig war. Und in demselben Momente hatte ich endlich auch den noch angelegentlicher, fast schmerzlich gesuchten Namen des Mannes, der als Baron Föhrenbach vor mir stand. Theobald von Freising hieß er. Ihn durfte ich nur noch nicht aussprechen, bis er selbst ihn mir nannte. Ich hatte es ihm einmal gesagt. Indeß –

„Richtig, mein Herr,“ sagte ich, „das ist der eigentliche Name des Herrn Bertossa. Würden Sie mir vielleicht jetzt auch Ihren eigentlichen Namen sagen?“

„Warum, da Sie ihn kennen?“ erwiderte er. „Wenn Ihnen jedoch ein Gefallen damit geschieht – ich heiße von Freising.“

„Auch richtig, mein Herr.“ sagte ich. „Theobald von Freising. Und nun, was Ihre Frage betrifft, so werden Sie einsehen, daß ein Inquirent auf dergleichen Fragen eben nicht antworten darf.“

„So könnte ich selbst Ihnen die Antwort geben,“ rief er rasch.

„Es würde überflüssig sein.“

„Vielleicht nicht. Mein Herr, wenn Sie mich arretiren, so müssen Sie auch den Herrn von Grafenberg verhaften.“

„Und dann?“

„Und dann, mein Herr –?“

Er hatte sich besonnen. Ein Entschluß, wie der Verzweiflung, war in ihm aufgetaucht gewesen. Er hatte ihn zurückgedrängt.

„Das Weitere wird sich finden,“ sagte er kalt.

Ich erwiderte ihm nichts. Der Gensd’arm trat ein, den ich durch den Kutscher hatte rufen lassen.

„Gensd’arm. Sie bewachen diesen Herrn. Er ist Ihr Gefangener. Sie stehen mit Ihrem Kopfe für ihn ein.“

„Zu Befehl.“

Ich verließ das Zimmer. Draußen stand der Kutscher.

„Georg, bei dem Gensd’arm fanden Sie den Herrn Holm?“

„Die Beiden standen beisammen.“

„Bringen Sie ihn sofort zu mir, unten an die Haustür. Sodann, Georg, von Allem, was Sie hier gesehen und gehört haben, erfährt kein Mensch etwas.“

„Kein Mensch, Herr!“

Er eilte fort. Ich ging ihm langsam nach, bis zur Hausthür. Nach drei Minuten war er dort mit Holm bei mir. Ich hatte zuerst für den alten Mann wieder einen Auftrag.

„Bitten Sie den Herrn Steuerrath hierher.“

Er eilte wieder fort. Dann wandte ich mich an Holm.

„Herr Holm, Joes Lubatis muß morgen früh mit dem Aufgange der Sonne in Miszlauken sein.“ So hieß das Dorf an der Grenze, in dem ich die Beamten des Criminalgerichts zurückgelassen hatte.

„Ich werde auf der Stelle zu ihm reiten, Herr Kreisjustizrath.“

„Ich wollte Sie darum bitten.“

Er war schon fort. Gleich darauf kam der Steuerrath.

„Freund, stellst Du mir Deinen Wagen zur Disposition?“

„Wohin?“

„Nach Miszlauken, wo wir uns trafen.“

„Ohne mich?“

„Für Dich habe ich eine Mission.“ [483] „Ah, ich soll Deinen Executor machen?“

„Ich wollte Dich bitten, nach dem Städtchen – zu reiten – ein Pferd wird man Dir hier schon geben, um Dich dort zu erkundigen, ob der Herr von Föhrenbach die Nacht vom Sonntag auf Montag im Gasthofe zugebracht hat. Bist Du bereit?“

„Ich reite sofort.“

„Die Nachricht bist Du so gütig, mir noch heute Nacht nach Miszlauken zu bringen.“

„Es soll geschehen. Aber Freund, was ist vorgefallen?“

„Du wirst es in Miszlauken erfahren. – Doch noch Eins. Warst Du bis jetzt bei der Familie Bertossa?“

„Ja.“

„Was machen sie?“

„Die beiden Menschen sprachen seit Deiner Entfernung kein einziges Wort.“

„Die Angst um den Sohn –“

„Es war auch noch eine andere Angst, eine größere. Ja, mein Freund, eine größere. Jenes Verbrechen – Auch die Frau muß darum wissen.“

„Und sie sind gebrochen, die beiden Menschen?“

„Völlig.“

„Und wenn ich jetzt zu ihnen träte, und zu dem Manne sagte: Herr, Sie sind der Mörder des Viehhändlers – ich würde von dem gebrochenen Manne ein Geständniß erhalten, meinst Du? Und die gebrochene Frau würde den eigenen Mann verrathen?“

„Mensch,“ fuhr mein Freund auf, „bist Du wahnsinnig oder ein Satan?“

„Ich bin ein Criminalrichter!“

Er ging in Angst neben mir auf und ab.

„Großer Gott, das ist ja ein entsetzlicher Polterabend! Und Du willst wirklich vor die armen Menschen hintreten?“

„Reite Du.“

„Ja, ja. Fort! Mich überläuft ein Grausen hier. O, mein Gott, wie oft habe ich Mühlen und Müller, und Schlachthäuser und Maischbütten verflucht! Aber ein Criminalrichter ist doch das elendeste Geschöpf!“

Er ging zu den Ställen, die an dem Gutshofe lagen, um sich ein Pferd zu holen.

Ich stand noch vor der Thür des Hauses, auf dem dunkeln Hofe, aber in dem Hause war Fenster an Fenster hell erleuchtet, und aus dem Garten ertönte die lustige Tanzmusik herüber. Ich wollte in das Haus zurückkehren, als sich über mir eins der hellerleuchteten Fenster öffnete, und durch dasselbe eine Stimme laut rief: „Luft! Luft! Ich ersticke!“

Es war die Stimme des Herrn Bertossa, des Barons von Grafenberg.

„Es ist vorbei,“ fuhr der unglückliche Mann fort. „Die Vergeltung naht! Die Strafe! Es ist ja Alles Eins.“

Eine schluchzende weibliche Stimme wurde neben ihm laut.

„Alfred, Alfred, fasse Muth!“ bat die unglückliche Frau des unglücklichen Mannes.

„Muth?“ entgegnete er, „Muth, wenn die Hölle uns aufnimmt?“

Die Frau weinte lauter. In dem Zimmer wurde eine Thür aufgerissen.

„Mutter, ich sterbe!“ rief herzzerreißend eine andere Stimme.

Ich hatte sie schon einmal gehört, wie sie dieselben Worte ausrief. Die Mutter antwortete dem Kinde nicht wieder: „Möchte ich mit Dir sterben können, mein Kind!“ Aber der Vater sagte mit der tonlosen Stimme seines gebrochenen Herzens: „Ja, sterben wir Alle!“ Mutter und Tochter weinten zusammen.

Aus dem Garten klang die Tanzmusik lauter und lustiger herüber. Jubelnde Stimmen und Gläserklirren mischten sich hinein. Auf einem kleinen Thurme des Hauses schlug die Glocke Mitternacht. Sollte ich zu den drei Menschen gehen? Die Unglücklichen konnten mir und ihrem Schicksale ja doch nicht entgehen. Ich kehrte in das Haus zurück, zu dem Zimmer, in dem ich den Herrn von Freising mit dem Gensd’armen zurückgelassen hatte.

„Folgen Sie mir mit dem Gefangenen,“ befahl ich dem Gensd’armen.

Im Gange stand der alte Kutscher Georg.

„Ich lasse mich Ihrer Herrschaft empfehlen,“ sagte ich ihm.

„Weiter habe ich nichts zu bestellen?“ fragte er.

„Sie können jetzt auch sagen, was Sie gesehen haben.“

Ich verließ mit dem Gefangenen und dem Gensd’armen das Haus. Das helle Fenster war noch geöffnet. Drinnen war es still. In dem Garten tanzten und jubilirten sie noch immer. Wir gingen zu dem Dorfkruge, um von da in dem Wagen des Steuerraths nach der russischen Grenze, nach Miszlauken, zurückzufahren.


Der Tag dämmerte, als wir in Miszlauken anlangten. Die Nacht war dunkel gewesen. Der Wagen, in dem wir fuhren, hatte kleine, trübe Glasfenster. So war die Gegend, in der wir fuhren, nicht zu erkennen gewesen. Dem Gefangenen hatte ich über das nächste Ziel unserer Reise nichts gesagt. Er konnte daher nur meinen, ich bringe ihn in die Gefängnisse des Crimmalgerichts. Er konnte also auch weiter nur an jenen, vor vier Jahren vorgefallenen Mord denken. Er hatte ruhig neben mir im Wagen gesessen der Gensd’arm ritt neben diesem. Er hatte kein Wort mit mir gesprochen, ich kein Wort mit ihm.

So kamen wir in Miszlauken an. Die erste Morgenröthe zeigte sich am Himmel, als der Kutscher an dem Kruge des Dorfes hielt und den Wagenschlag öffnete. Der Gefangene warf einen Blick durch das geöffnete Fenster. Er erkannte den Krug, er erkannte das Dorf und stutzte. Daun warf er unwillkürlich einen kurzen, fragenden Blick auf mich. Todesblässe bedeckte sein Gesicht. Miszlauken lag von der Mordstelle nur eine halbe Meile entfernt. Ich hatte mein gewagt begonnenes Spiel gewonnen.

„Steigen Sie aus,“ sagte ich zu ihm.

Die Kniee schlotterten ihm. Er war nicht im Stande, den Wagen zu verlassen.

„Gensd’arm, helfen Sie dem Gefangenen.“

Der Gensd’arm half ihm aussteigen, aber er mußte verwundert den starken, kräftigen Mann ansehen, der sich zitternd auf seinen Arm legte, und der, als er den Arm losließ, fast zusammenbrach.

Mein Spiel mußte bald gewonnen sein. Ist dem Menschen ohne moralische Kraft und ohne moralischen Muth einmal die physische Kraft und der physische Muth gebrochen, so geht es schnell ganz mit ihm zu Ende.

Holm wartete schon in dem Kruge mit dem Schmuggler Joes Lubatis auf mich. Ein Grenzkosak wartete, um mich zur Empfangnahme der Leiche über die Grenze zu führen. Der Gefangene hatte Beide nicht gesehen. Ich hatte ihn, unter Bedeckung des Gensd’armen, sofort in ein besonderes Gemach führen lassen. Ich vernahm dann zuerst den Schmuggler. Er wiederholte mir von Wort zu Wort, was er zu Holm gesagt hatte. Er hatte den „Herrn von Föhrenbach“ ganz genau erkannt.

Unterdeß war auch der Steuerrath angekommen. Er war scharf geritten. Föhrenbach – man kannte ihn ja nur noch unter dem Namen – hatte die Nacht vom Sonntag zum Montag in dem Städtchen nicht zugebracht. Am Sonntag Nachmittag war er da gewesen, und hatte mehrere Geschäfte besorgt, schnell, eilig. Gegen Abend war er wieder fortgeritten.

Auf die Leiche kam jetzt noch Alles an. War der Ermordete wirklich Ulrich Bertossa, oder Grafenberg, wie sein eigentlicher Name hieß? Ich ließ zur Grenze aufbrechen. Der Gefangene mußte sich zu dem Gerichtsactuar und mir in meinen Wagen setzen. Der Steuerrath folgte in seinem Wagen mit Holm. Beide mußten die Leiche recognosciren. Der Gensd’arm und der Kosak ritten vor den Wagen.

Der Tag war angebrochen, und der Morgen war warm und klar. Ich hatte meinen Wagen zurückschlagen lassen. Der Gefangene war fortwährend mit dem Gensd’armen allein gewesen. Er wußte nichts von dem, was unterdeß geschehen und ermittelt war. Er hatte sich zusammengenommen, aber sein Gesicht war erdfahl geblieben. Er wollte sich trotzig umsehen, als der Gensd’arm ihn vorführte. Da sah er, wie der Wagen nach der Grenze hin gerichtet war; da sah er den Kosaken. Der Trotz verschwand aus seinem Gesichte. Er konnte nur mit Mühe in den Wagen steigen.

Wir fuhren ab. Still, ohne Laut und Bewegung saß er im Wagen. Wir erreichten die Grenze und hielten an dem russischen Cordonhause. Ich ließ ihn zuerst aussteigen. Auf einmal fuhr er entsetzt auf; dann mußte er sich an dem Wagen festhalten, um nicht umzusinken. Er war vernichtet. Ich sah, was ihn vernichtend getroffen hatte. Die russischen Beamten waren schon da. Sie hatten die Leiche, die mir herausgegeben werden sollte, mit sich. Die Leiche lag, so, wie sie gefunden war, offen, auf einer [484] Tragbahre, vor dem Cordonhause. Die Russen sind eben Russen. Der Gefangene hatte sie gesehen, das todte Gesicht, den zerschlagenen Hirnschädel, die blutigen Kleider.

„Kennen Sie die Leiche?“ fragte ich ihn. Es waren die ersten Worte, welche ich seit Kalwellen zu ihm gesprochen hatte.

„Ja,“ antwortete er mit trockener, angeklebter Zunge.

„Und wer ist es?“

„Ulrich Bertossa.“

„Und wer ist der Mörder?“

Er konnte gar nicht antworten. Ich durfte dennoch den Moment nicht fahren lassen.

„Kommen Sie mit zu der Leiche.“

Er schleppte sich an meiner Seite hin.

„Wer ist der Mörder?“ fragte ich noch einmal.

Er verhüllte sein Gesicht.

„Sie sind es!“ sagte ich.

Ich durfte es nicht sagen, nach der Criminalordnung. Die Gesetze haben allerlei Vorschriften, und diese war keine schlechte. Ich mußte es dennoch sagen. Was sind alle Buchstaben der Gesetze, gegenüber dem lebendigen Rechte des einzelnen Falles!

„Mein Gott, mein Gott!“ rief er die Hände ringend.

Ich wollte, ich mußte mit dem Verhöre fortfahren. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt, und die Russen sind eben Russen. Der erste russische Beamte trat an mich heran.

„Mein Herr, darf ich bitten, die Leiche von mir in Empfang zu nehmen, und das Protokoll darüber aufzusetzen?“

„Aber, mein Herr, in diesem Augenblicke?“

„Ich bedaure, mein Herr, ich habe keinen Augenblick mehr Zeit.“

„Es ist mir jetzt unmöglich –“

„Was Ihnen jetzt nicht möglich ist, ist später mir nicht möglich. Sie nehmen jetzt die Leiche, oder Sie bekommen sie nie.“

Da war nichts weiter zu machen. Ich mußte nachgeben, das Verhör abbrechen, die Leiche übernehmen, das Protokoll darüber niederschreiben lassen. Das Alles erforderte viele Formalitäten, nahm viele Zeit fort. Den Gefangenen hatte ich unterdeß durch den Gensd’armen in das Cordonhaus führen lassen. Als ich fertig war, wollte ich ihn wieder vorführen lassen. Wir mußten über die Grenze zurück. Aber ich war unvorsichtig gewesen – der Gensd’arm freilich noch mehr. Er kam mit verstörtem Gesichte aus dem Cordonhause.

„Der Gefangene hat sich erdrosselt, Herr Kreisjusitzrath. Ich hatte auf ein paar Minuten das Cordonhaus verlassen, und hatte ihn der Aufsicht der Kosaken empfohlen. Er hatte sich in einen Winkel gelegt. Entkommen konnte er ihnen von da nicht. Da hatten sie nicht auf ihn geachtet. Als ich zurückkam, war er schon ohne Leben.“

So war es. Ich ließ noch sofort Wiederbelebungsversuche anstellen; sie blieben ohne Erfolg. Meine Untersuchung war zu Ende. Ich hatte nichts mehr zu thun, und überließ nunmehr die Leiche des Erhängten den Russen. Die Leiche des armen Ulrich übergab ich seinem Freunde Holm.

So fuhren wir über die Grenze zurück. Aber ich hatte doch noch etwas zu thun – und doch nichts mehr. Der Herr v. Grafenberg war wegen jenes vor vier Jahren verübten Mordes verdächtig geworden. Ich mußte ihn vernehmen, ich konnte nicht anders, und fuhr daher nach Kalwellen zurück. Da wurde kein Polterabend mehr gefeiert. Das Haus lag stille wie ausgestorben da. Der Garten zeigte noch wüste Spuren des gestrigen Festes. Ich fragte nach dem Hausherrn. Er sei in der Nacht verreist, hieß es. Ich ließ mich bei der Frau des Hauses melden. Sie nahm mich an, die blasse, unglückliche Frau.

„Sie suchen meinen Mann. Er ist fort; er hat Preußen, er hat den Continent verlassen und wird in diesem Augenblicke schon eingeschifft sein. Sie würden ihn vergeblich verfolgen lassen.“

Sie hatte Recht. Wir waren nicht weit von der Küste der Ostsee.

„Aber mein Sohn?“ rief sie dann.

Da trat Holm herein, das Haupt schmerzlich gebeugt.

„Ulrich ist todt!“ rief sie.

„Ja!“

Ich ging still fort. Ich hatte gar nichts mehr zu thun.

Auch die Frau hatte nach einiger Zeit Kalwellen verlassen. Die Unglückliche war dem Unglücklichen nachgereist. Ihre Tochter hatte sie vorher mit Holm trauen lassen. Es war eine stille Hochzeitsfeier gewesen, ohne Polterabend.


Noch Eins fragt mich der geneigte Leser: wie der Mörder den Ermordeten in jener Verkleidung zu der Mordstelle verlockt hatte? Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich habe eine wahre Geschichte erzählt, in welcher die Russen die Katastrophe herbeiführten, und Wahrheit und Russen runden ihre Geschichten nicht immer kunstgerecht novellistisch ab.