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Der Vater des Leipziger Turnwesens

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Textdaten
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Autor: Hermann Richter
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Titel: Der Vater des Leipziger Turnwesens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 484–489
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Snell, R. C.: Über Zweck und Einrichtung eines Realgymnasiums, Dresden u.a., 1834, MDZ München
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[484]
Der Vater des Leipziger Turnwesens.
Von Prof. H. E. Richter in Dresden.

Zu dem Zeitpunkt, wo aus allen deutschen Gauen Turner und Turnfreunde nach der reichen und einsichtsvollen Handels- und Universitätsstadt des Königreichs Sachsen zur Feier eines großartigen Turnfestes zusammenströmen, zu solcher Zeit geziemt es sich wohl, desjenigen Namens zu gedenken, welcher zuerst daselbst dem Turnen eine bleibende Stätte gründete, welcher einen Kreis gediegener Männer zusammenwarb, aus denen später die Bevorwortung des Turnens bei Regierung und Ständen und die Begründung des Leipziger Turnvereins hervorging, und welcher seitdem, bis heut zu Tage, mannigfach auf uneigennützigste Weise viel Zeit, viel Geld und viel Kräfte zur Förderung des praktischen Turnens wie zur wissenschaftlichen Ausbildung der Turnlehrer und Turnvereinsmitglieder gewidmet hat.

Dieser Vater des Leipziger Turnwesens ist zugleich eine Persönlichkeit, welche auch in manchen anderen Hinsichten verdienstvoll und aufopfernd für den Fortschritt eingegriffen hat. Unsere Leser kennen ihn bereits, denn – es ist „der Bock von der Gartenlaube“ das heißt der Professor der pathologischen Anatomie bei der Universität zu Leipzig, Herr Dr. Carl Ernst Bock.

Die Aufforderung unseres Keil, bei Gelegenheit des Leipziger Turnfestes Bock’s Lebensgeschichte zu erzählen, kommt mir (trotz allen Zeitmangels) nicht unlieb. Denn nur ich kann sie schreiben; nur ich stehe diesem originellen Mann seit 40 Jahren so nahe, daß ich alle seine Thaten und Unthaten nebst ihren Motiven kenne. – Wie leicht könnte mir später ein „Schlagflüßchen“ oder sonst etwas Menschliches widerfahren, das mich hinderte diese Lebensgeschichte zu schreiben! Und es wäre schade, wenn sie nicht geschrieben würde, denn sie ist ein Spiegelbild für Manchen im deutschen Volke, der zeitlebens auf falscher Fährte, auf Schleif- und Schwänzelwegen wandelte. Sie kann Tausenden von jüngeren Leuten ein lebendes Beispiel davon geben, wie am Ende der gerade Weg immer der beste ist!

Bock stammt aus Leipzig. Sein Vater war daselbst 20 Jahre lang Prosector an der anatomischen Anstalt, ein tüchtiger Anatom, takfester als mancher gelehrte Professor, aber ein reiner Empiriker. Vom niederen Chirurgen, ohne classische Vorbildung, hatte er sich durch ausdauernden Fleiß so emporgearbeitet, daß seine Vorträge zu den besuchtesten, seine zahlreichen und umfangreichen Werke zu den gesuchtesten gehörten. Und die Sucher in beiden Fällen waren alles Leute, die etwas Tüchtiges, Feststehendes, Haltbares sicher lernen wollten. Denn nur davon ist in Bock’s Schriften die Rede: nackte Anatomie, keine Physiologie, keine Phrase (damals so sehr üblich), keine Hypothese.

Bei diesem Vater nun, in den Räumen der Anatomie und frühzeitig als Gehülfe dabei, wuchs unser Carl Ernst auf. Er besuchte das städtische Gymnasium zu St. Nicolai, zu gleicher Zeit aber auch, des Zeichnens wegen, die Kunstakademie. Diese „Allotria“ (wie man sie vom Gelehrtschul-Standpunkte benennen muß) haben unseren Bock vor dem unheilvollen Einfluß jenes Lateinerthums beschützt, welches seit alten Zeiten (bis heute) die sächsischen Gelehrten- und Hochschulen beherrscht und die besten Köpfe zu unlogischen Denkern, die besten Herzen zu charakterlosen Leuten macht.

[485]

Carl Ernst Bock.

Von diesem Bildungsgange her schreibt sich aber auch jener radical-realistische Charakter, welcher unserem B. in wissenschaftlicher und anderer Hinsicht von jeher eigen ist. Beim ihm handelt es sich stets um die Sache, sehr wenig um die Form, gar nicht um romantische, ästhetische, zartfühlige Ansprüche oder Zuthaten. Es kann gar nicht anders sein. Wer von Jugend auf das wirkliche Innere des Menschen bei Leichenöffnungen beschaut, und tagtäglich die Strebungen des Menschen mit diesem unserem schließlichen unabwendbaren Endziele vergleicht, – wer mit Schädeln und Gerippen wie mit seines Gleichen umgeht und in jedem lebenden Mitmenschen nur ein unsecirtes Präparat sieht: für den giebt es (wenn er überhaupt ein denkender Mensch ist) gewiß wenig Täuschungen. Aberglaube, Gespensterfurcht, Priestertrug, Gesellschaftsheuchelei, Prüderie und Vornehmthun müssen an einem solchen wie Wasser vom Wachsteller abrinnen. Irdische Größen können ihm nicht imponiren. Wenn es einmal dahin käme, daß Jedermann schon in der Schule den Bau und die Verrichtungen des menschlichen Körpers durch eigene Anschauung am Leichnam kennen lernte, so würden wir eine Menge von Vorurtheilen, welche heutzutage noch in den Köpfen des Volkes herrschen, spurlos dahin schwinden sehen. Und zwar gewiß zum Vortheil aller Betheiligten, mit Ausnahme der Dunkelmänner und der Unterdrücker.[1]

[486] Hierzu gesellte sich bald für Carl Ernst ein zweites Bildungsmoment, wobei ich von mir reden muß. Ich war mit vielen anderen Kaufmannssöhnen auf einer vorzugsweise für Solche bestimmten Privatanstalt Leipzigs erzogen, welche in der Hauptsache schon den Charakter der jetzt sogenannten Realschulen trug, indem Rechnen, Schönschreiben, neuere Sprachen, Geschichte. Geographie, Naturwissenschaft (mit Experimenten), sogar Technologie betrieben wurden, auch für den Körper durch Exerciren, Turnspiele, Ausflüge und Reisen systematisch gesorgt wurde. Etwa 12–13 Jahr alt entschlossen sich Einige von uns zu studiren und erhielten deshalb allabendlich eine Extrastunde in Latein und Griechisch. Von denen, welche in diesen Extrastunden beisammen saßen, sind drei Professoren geworden (darunter Einer berühmter Sprach- und Alterthumsforscher), und der vierte hat es zwar nur zum Superintendenten und Kreisdirectionsbeisitzer gebracht, ist aber nur aus Zufall nicht Professor geworden, denn er war auf der Universität weitaus der Gelehrteste in Griechisch und Latein. – Drei von uns, die Gebrüder Francke und ich kamen in das Stadtgymnasium, wo Bock saß, und wurden bei unserm wenigen Latein billigerweise gering geachtet. Als wir aber uns mit voller Wucht und ungeschwächten Kräften auf die alten Sprachen warfen, so kamen wir natürlich weit rascher vorwärts, als unsere armen Mitschüler, welche von Sexta an naturwidrig mit der alten Grammatik gequält worden waren und alle Lebensfrische dabei eingebüßt hatten. Wir griffen auch das Studium ganz anders an, als sie: praktischer, realistischer. Und diese unsere Art bewirke, daß Bock sich bald und immer enger an uns anschloß. Es bildete sich auf der Schule jenes vierblätterige Kleeblatt, welches dann auf der Universität (weil der eine Francke Theolog wurde) sich in ein bis zum Ende unserer Universitätszeit zusammenhaltendes dreiblätteriges medicinisches Kleeblatt umgestaltete. Doch dürfen wir nicht verschweigen, daß auf St. Nicolai auch andere Mitschüler einen geistigen Einfluß und manche Anregung ausgeübt haben; als Bedeutendste nenne ich nur Hermann Schulze aus Delitzsch, Emil Roßmäßler aus Leipzig, Gustav Klett ebendaher (Botaniker, der mit uns excurrirte; starb frühzeitig), H. Herz. Ja, lieber Leser, solche gefährliche Leute sind auf der Leipziger Nicolaischule gebildet worden, obgleich deren Rector der loyalste Mann des gesammten Königreichs gewesen ist.

In die Zeit unseres Primanerthums fällt nun das erste Auftauchen eines freiwilligen Turnbetriebes in Sachsen. Wir waren gewohnt, alle Nachmittage in Wald und Wiese herumzustreifen und uns auf mancherlei Weise, mit Fug und Unfug zu bethätigen. Irgend Einer (ein Schüler des alten Jahn) brachte uns ein Stückchen Gerätturnen bei. Es wurde eine Reckstange angeschafft, zwischen zwei geköpfte Weiden befestigt, und zu Auf- und Umschwüngen benutzt, nach dem Gebrauch aber sorgsam im Walde versteckt. (Denn damals war nicht nur das Turnen, sondern sogar das Turngeräth polizeiwidrig!) – Gewiß war dieses heimliche Turnen am Reck sehr thöricht von uns; wir hätten den größten Schaden nehmen können. Einmal fiel Einer so derb auf den Kopf, daß er erst bewußtlos liegen blieb, dann beim Nachhausegehen irreredete. Glücklicherweise hatte er einen dicken Schädel und war einer der Dümmsten in der Schule; als ich ihn einige Jahr später wieder sah, war er ein recht netter verständiger junger Mann geworden. Der Fall auf den Kopf hat ihm also mindestens nicht geschadet.

Unser medicinisches Studium betrieben wir (das erwähnte Kleeblatt) in ähnlicher Weise, wie wir es mit dem Latein und Griechisch gemacht hatten, realistisch. Wir fingen allemal gleich mit der Sache an. Wir botanisirten schon als Schüler mit dem obengenannten Klett (dem zu Ehren ich nach seinem Tode die Frechheit hatte, als bloßer Student eine Flora von Leipzig herauszugeben); wir lernten die Pflanzen kennen, ehe wir ein botanisches Handbuch kannten. Als wir ein solches (den Wilbrand) erworben hatten, gingen wir ohne Klett in das Rosenthal und bestimmten selbst die Pflanzen des Erstfrühlings; Beides längst bevor Schwägrichen’s Collegien über Pflanzenkunde begannen. – Auf der Anatomie nisteten wir uns unter Bock’s Protection ein und begannen zu präpariren, ehe wir Anatomie gehört hatten. Und so haben wir später die Kliniken besucht, ehe wir Krankheitslehre gehört; wir haben alle Drei famulirt, ehe wir die Klinik beendet hatten. Um dergleichen möglich zu machen, dazu diente eben jenes System, mittelst dessen wir uns durch die Lateinschule geschlagen hatten. Es giebt nämlich in jeder von Menschen zubereiteten Wissenschaft gewisse Hauptsachen, welche man taktfest und in ihrer Gliederung mit 1, 2, 3, a, b, c, im Kopf haben muß, um mit fortgehen zu können. An diese krystallisirt sich dann während des Lerncursus alles Uebrige von selbst an, am besten mittelst eigener Anschauung und Praxis. Zum Einlernen dieser Grundlagen dienten uns selbstgefertigte, aus irgend einem Handbuche gezogene Excerpte, in systematischer Form, welche wir in den Taschen bei uns trugen und uns daraus während der Spaziergänge, sogar während des Badens und Schwimmens oder auf dem Grase liegend gegenseitig überhörten, bis die Sache im Kopfe festsaß. So konnten wir den Professoren stets über die Hauptsache sicher Antwort geben.

Diese Methodik hat Bock am meisten festgehalten. Ihr verdankte er seine ausgezeichneten Erfolge als Repetent und Examinator der Studenten, als Lehrer für gelehrte und ungelehrte Versammlungen, als ärztlicher und Volksschriftsteller. Selten nehme ich etwas Bock’sches in die Hand, ohne daß mir unsere ehemaligen Excerpte mit ihren dickunterstrichenen Hauptpunkten und ihren unter 1. 2. 3., a. b. c. gegliederten Unterabtheilungen unwillkürlich einfallen.

Wir waren 1831 alle Drei noch nicht fertig mit unserm Studium, als wir in’s Leben hinausgerissen wurden. Zuerst ich, den Armuth zwang, eine Famulatur bei einem Dresdner Leibarzt anzunehmen. Kurz nachher erscholl der Aufruf von Warschau her, daß deutsche Aerzte kommen sollten, um die vielen Opfer des damaligen polnischen Erhebungskrieges zu pflegen. Bock ergriff mit Feuer diese Gelegenheit, sich praktisch zu üben und Dinge zu sehen, die in den Leipziger Civilspitälern Jahre lang nicht vorkommen. Mit seinem gewaltigen Werbetalent riß er, außer dem andern Kleeblättchen Francke (später Professor der Chirurgie zu Leipzig) noch mehrere andere Studiengenossen hin. Die Facultät machte ihn ohne Disputation zum Doctor. Er bezahlte die spätere Dissertation auf eigenthümliche Weise. Während andere Aerzte nach gethaner Arbeit sich vergnügten, stand Bock im Warschauer Leichenhaus und zog Hunderte der schönsten Schneidezähne aus. Mit deren Erlös bezahlte er, zurückgekehrt, seinen Doctortitel. Denn damals gab es noch keine künstlichen Zähne. Die feinsten Damen trugen eingesetzte echte Menschenzähne, welche theuer bezahlt wurden.

Unsere Freunde wurden in Warschau sofort als Stabsärzte angestellt, und erwarben sich bald Achtung bei Vorgesetzten und Collegen. Ihre Erlebnisse daselbst verdienten eine besondere Berichterstattung; die von ihnen nach Hause geschriebenen Briefe waren sehr interessant. Einen Theil davon druckten Clarus und Radius in ihrer „Cholera-Zeitung“ ab, wodurch der berühmte Physiker Fechner veranlaßt ward, unsern Freunden öffentlich eine Huldigung auszusprechen. F. hatte nämlich unter dem Namen „Mises“ eine satirische Broschüre: „Schutzmittel für die Cholera“ geschrieben, worin er die 300 verschiedenen Meinungen von ebensoviel Aerzten mittheilt. An die Spitze stellte er die Worte von Bock und Francke: „daß sie über das Wesen der Cholera keine Ansicht zu äußern wagten“ (was noch heute das Klügste ist) – mit der Randbemerkung: „bescheidene Leute!

Die Mord- und Gräuelscenen in W. kühlten die politische Sympathie unserer Freunde bald ab. Desto eifriger ergaben sie sich ihrem ärztlichen Fach. Als den Russen Warschau übergeben worden war, wurden Bock und Francke zum Eintritt in russischen Dienst aufgefordert, den sie auch der vielen nöthigen Amputationen wegen mehrere Monate lang verwalteten.

Von dieser Warschauer Cholera-Epidemie stammt Bock’s Vorliebe für das heiße Wasser als Curmittel. Das zähe, pechartige dicke Blut der Choleraleichen leitete ihn auf den Gedanken, heißes Wasser als Verdünnungsmittel trinken zu lassen. Die Erfahrung hat auch später, bei der Leipziger Choleraepidemie, diese Behandlungsweise als eine der besseren bewährt. Später wandte sie Bock auch für andere Krankheitsfälle an, wo das Blut verdickt oder die Schleimhäute (besonders in Schlund und Magen) mit zähem, schwerablösbarem [487] Schleim überzogen sind. Er hat deshalb oft sich spottweise mit Dr. Sangrado aus Gil Blas vergleichen lassen müssen.

Nach seiner Rückkehr aus Warschau erwarb sich Bock rasch die Liebe einer gebildeten Bürgers- und Seifensieders-Tochter in Leipzig und verheirathete sich mit ihr. Ihn erwartete aber kein ruhiges Leben, sondern eine Zeit der angestrengtesten Thätigkeit, deren Wenige fähig sein dürften. Sein Vater starb plötzlich. Unserm B. fiel zum größeren Theil die Versorgung der zahlreichen Familie (neben seinem eigenen Hausstande) und die Beendigung der schriftstellerischen Werke seines Vaters zu. Letzteren ließ er bald mehrere eigene, meist anatomischen Inhalts folgen, von denen die meisten mehrmals aufgelegt sind. Viele Jahre hindurch ist B. alle Morgen um 3 Uhr aufgestanden, hat im ungeheizten Zimmer bis gegen 8 Uhr geschriftstellert und dann seine Tagesarbeit begonnen, welche besonders in Repetitorien und Examinatorien, bald auch (nachdem er sich habilitirt hatte) in eigenen Collegien bestand. Er galt bei den Studenten als der zuverlässigste Einpauker (d. h. Vorbereitender zum Examen) und trieb mit ihnen ziemlich alle Fächer der Heilkunde.

Man muß aber nicht glauben, daß Bock dabei zum gewöhnlichen Stubengelehrten geworden sei. Zwar verschmähte er schon damals das gewöhnliche Prakticiren, sogar in der Chirurgie, obgleich er für letztere besonders begabt und von zwei der besten Leipziger Chirurgen, Kohlrusch und Kuhl, als wirklicher Assistent, sogar im Jakobspital verwendet worden war. Aber sonst war er in leiblichen Dingen nichts weniger als ein Stubenhocker. Er schwamm, ritt, machte Fußreisen, avancirte in der Communalgarde zum Officier und endlich zum Bataillons-Commandanten, welcher zu Pferde die Manövers commandirte, – und zwar nicht ohne Anerkennung, sogar von Seiten des Militärs, aber auch unter allerlei Händeln, in welche ihn sein Sinn für das Recht und seine Gewohnheit, ohne Ansehen der Person Jedem seine Meinung gerade heraus zu sagen, verwickelte.

In diese Zeit nun, etwa 1832, fällt die durch Bock bewerkstelligte Einführung des Turnens im Königreich Sachsen. Zuerst für sich selbst, um den Nachtheilen des angestrengten Sitzens entgegenzuarbeiten, und um seine von Haus aus enge Brust zu erweitern (was ihm auch vortrefflich gelungen ist), errichtete Bock im Garten seines Schwiegervaters mehrere Turngeräte. Bald warb er mit dem ihm eigenen Talent zum Proselytenmachen eine Anzahl von jungen Gelehrten und anderen Personen zur Theilnahme und regelmäßigen Benutzung seines Turnplatzes, darunter manche Männer, die jetzt in Staat, Kirche, Rechtspflege, Heilkunde etc. hochstehen. Vorzugsweise zu nennen unter diesen ist Dr. Moritz Schreber (geb. in Leipzig), welcher später die Gymnastik und die gesundheitsgemäße Volkserziehung zu seiner Hauptaufgabe machte und das großartige heilgymnastische Institut begründete, welches noch heute blühend dasteht. Dieser Schreber war es dann, welcher den zweiten Schritt that und die Turnangelegenheit zuerst zur öffentlichen Erörterung brachte, indem er 1843 eine Schrift: „Das Turnen vom ärztlichen Standpunkte aus, zugleich als Staatsangelegenheit,“ veröffentlichte und der sächsischen Ständeversammlung vorlegte. Derselbe Schreber hat dann auch die deutsche Heilgymnastik, zuerst durch seine „Kinesiatrik“, in’s Leben gerufen und sich um Voksgesundheitspflege viel Verdienst erworben (auch durch Artikel in der Gartenlaube).

Nicht unerwähnt zu lassen ist, daß um dieselbe Zeit, jedenfalls noch vor 1834, auch in Dresden, und zwar im damals Blochmann’schen, jetzt Gräfl.. Vitzthum’schen Gymnasium, das Turnen systematisch durch einen tüchtigen und gescheidten Mann wieder eingeführt wurde. Dies war kein Anderer, als der jetzige Professor der Physik zu Jena, Herr Geh. Hofrat Dr. Snell, zugleich der erste Bevorworter der Realgymnasien[2]. Von Snell ging die Leitung des Turnwesens bei dieser Anstalt, und bald bei mehrern anderen, an den bekannten Turnlehrer Heusinger über, welchen wir Dresdner gewohnt sind, als unseren Turnvater zu begrüßen.

Bock war es dann auch, welcher im August 1845 unter Mitwirkung von Schreber, Professor Biedermann, Gustav Mayer a. A. den Turnverein zu Leipzig begründete und lange Jahre mit Mühen und Opfern für denselben wirkte. Diesem berühmten Leipziger Turnverein vorausgegangen war der Dresdner (Febr. 1845), welcher eine Zeit lang durch die Anzahl talentvoller, wissenschaftlicher Männer, die sich demselben widmeten, durch das von ihm begründete Journal (Steglich’s Turner), durch die Berufung des allgemeinen sächsischen Turntags, durch die Verwendung bei der Regierung, Einrichtung einer Turnlehrerschule u. s. w., an der Spitze des vaterländischen Turnwesens vorwärts ging. Nach den Maitagen 1849 aber fiel die Hegemonie von selbst und unbestritten auf den Leipziger Verein, welcher sich dieses Ehrenpostens auch bis jetzt vollkommen würdig gezeigt hat.

Bock’s Wirksamkeit für diesen Verein ist jahrelang die ausgedehnteste gewesen. Anfangs turnte er selbst mit; er beaufsichtigte den Betrieb des Turnens vom ärztlichen und vom gymnastischen Standpunkte aus; er war Mitglied des Turnraths; er führte dem Verein fortwährend Proselyten zu; er gab den Turnlehrern Unterricht in Anatomie, Physiologie und Diätetik; er hielt endlich im Verein selbst jene berühmten populären Vorträge, denen sich später ähnliche für die Voksschullehrer, dann für die gebildeten Damen Leipzigs, für eine ausgezeichnete Mädchenerziehungsanstalt und mehrere gewerbliche Bildungsvereine daselbst anschlossen. Alles das unentgeltlich, neben der eigenen anstrengenden Berufstätigkeit als Anatom, Professor, Arzt und Schriftsteller!

Soweit die turnerische Thätigkeit Bock’s. Wir fahren mit seiner Lebensgeschichte fort. Im Jahre 1839 wurde er zum außerordentlichen Professor der Medicin, 1845 zum Professor der pathologischen Anatomie ernannt, ein Zweig, welcher gerade zu dieser Zeit eine hohe Bedeutung für das gesammte Fach der Heilkunde erlangte und in immer steigendem Maße behalten hat. – Es fällt nämlich in diese Zeit jene radicale Umwälzung und Neugestaltung, welche die deutsche Heilwissenschaft und Kunst von Wien her, hauptsächlich durch den pathologischen Anatomen Rokitansky und seinen Freund Skoda, so wie durch deren zahlreiche, jetzt allenthalben berühmte Schüler in Wien und Prag erhielt (die Zeit der sogenannten neuen Wien-Prager Schule). Durch die Entdeckungen und Arbeiten, Lehren und Schriften dieser Männer wurde die deutsche Medicin auf einmal zu einer Wissenschaft der Thatsachen – statt Meinungen und Hirngespinste – und zwar so vielfach neuer und origineller Thatsachen, daß für die Aerzte und Professoren nur die Wahl übrig blieb, von Grund auf neu zu studiren, oder ins alte Eisen zu kommen. Wir wählten natürlich das Erstere. Wir gingen zusammen auf ein paar Monate nach Prag und Wien, und wiederholten diese Besuche später ab und zu. Wir verdanken ihnen die Bekanntschaft, ja Freundschaft der ausgezeichneteren Vertreter dieser Schule. Bock, dessen ganzer Lebensrichtung die Tendenz dieser Schule aufs Vollkommenste entsprach, ward natürlich ihr begeisterter und entschiedenster Anhänger. – Durch sein bald darauf erschienenes Handbuch der pathologischen Anatomie und Diagnostik, seitdem in mehreren Auflagen erschienen, trug Bock wesentlich bei, die Lehren dieser Schule in klarster faßlichster Weise über Sachsen und das übrige Deutschland zu verbreiten. Seine Leichenöffnungen im Jakobspitale, und seine dabei geübte Kunst, die Diagnose am Leichnam zu stellen, bevor er geöffnet wurde, und ohne den Verlauf der vorhergegangenen Krankheit zu kennen, galten mit Recht als Muster ärztlicher Lehrtüchtigkeit und wurden außer den Studenten noch von alten Praktikern und Professoren, wie von reisenden Aerzten eifrig besucht. Aber mit dergleichen persönlichen Erfolgen konnte einem Mann wie Bock nicht gedient sein. Die neben ihm wirkende Leipziger ärztliche Facultät bestand damals, mit wenig Ausnahmen, aus alten eingerosteten Professoren, die das Neue nicht aufnehmen konnten. Obenan der damalige Vorstand der inneren Klinik. Gegen diese kehrte sich also sofort die ganze Thätigkeit Bock’s in einer Weise, welche in kurzer Zeit zum feindseligsten Kampf ausartete.

In diesen Kampf hinein kam nun der große Streit um die Medicinalreform Sachsens, angeregt durch eine Bittschrift des Dresdner ärztlichen Vereins und durch einen ständischen Antrag auf Aufhebung der chirurgisch-medicinischen Akademie zu Dresden. Bei diesem Streit hat Bock durch sein berühmtes „Votum“, worin er allen Parteien der alten Zeit gehörig den Kopf wusch und die Homöopathie als den Gipfel des von den allen Schulen gehegten Unsinns bezeichnete, wohl die Palme davon getragen. – Endlich kam der März 1848 und machte allen diesen Häkeleien kurz ein Ende. Die Studenten traten zusammen und erklärten die alte Klinik für geschlossen. Eine Deputation derselben, von Bock begleitet, [488] kündigte diesen Beschluß dem Cultustminister von der Pfordten an und forderte ihn auf, einen Professor neuer Schule nach Leipzig zu berufen, was auch bald darauf geschah, indem der berühmte Oppolzer aus Prag (des dasigen Czechentreibens müde) den Ruf nach Leipzig annahm und dort ziemlich ein Jahr als ärztliches Wunder für Studirende und Publicum, und als intimster Freund Bock’s lebte. – In diese Zeit, während einer Ferienreise Oppolzer’s, wo ihn Bock vertreten mußte, fiel jene mörderische Choleraepidemie, wo Bock allein die ganze Spitalskrankenpflege und noch städtische Praxis dazu besorgen mußte, wobei er selbst von der Krankheit befallen wurde und ihr nur mit Mühe entging. Für diese außergewöhnliche Anstrengung, wobei Bock noch eine starke Summe Geld zugesetzt hat, indem er darauf bestand, die Choleragenesenden mit bairischem Bier zu stärken, – für diese Zeiten der Anstrengung, der Verantwortlichkeit und der persönlichen Lebensgefahr hat Bock, wie es mißliebigen Leuten ergeht, von seiner vorgesetzten Behörde nie eine Anerkennung, wie Andere in gleichem Falle, geerntet! Er hat aber auch freilich nicht danach gestrebt! Die Sache genügte ihm auch hier, wie in allen anderen Fällen. Uebrigens haben Stadtrath und Stadtverordnete seine Thäkgkeit in glänzender Weise anerkannt.

An den politischen Ereignissen der Jahre 1848–49 hat Bock weit weniger, als Manche glauben werden, Theil genommen. Seine realistische Natur mußte sich von dem vielen Ideologischen, seine nüchterne Klarheit von dem vielen Unklaren, was beigemengt war, abgestoßen fühlen. Namentlich aber behauptete er von den Führern dieser Bewegung – es klingt curios und er mag es verantworten – „sie hätten keinen Charakter und redeten anders als sie dächten.“ – Das Betrübendste für ihn war wohl meine damals erfolgte Einkerkerung und Untersuchungshaft. Er bewährte dabei den Realismus seiner Freundschaft. Als alle anderen Freunde noch von der Reaction eingeschüchtert waren, drang er schon zu mir in den Kerker, machte mir Muth, bot mir Geld und jede andere Hülfe an, schaffte mir buchhändlerische Arbeiten und endlich sogar den Redacteurposten eines großen medizinischen Journals, – Letzteres mit der Last, daß eine Anzahl mit Bock zusammengetretener Collegen die Redactionsgeschäfte so lange führen sollten, bis ich frei wäre. – Es ist nicht das einzige Mal, daß ich – und Andere – diesen realistischen Charakter der Bock’schen Freundschaft erprobt habe, – der sich in den aufopferndsten thatsächlichen Dienstleistungen bewährt, von schönen Worten aber gar nichts – oder das gerade Gegentheil hören läßt.

Nach Oppolzer’s zeitigem Abgang (er ging nach seinem geliebten Oesterreich zurück) verwaltete Bock zum zweiten Male stellvertretend die innere Klinik zu Leipzig. Er zeigte dabei, in welchem Geist er (verschieden von den meisten anderen Klinikern) ein solches Amt geführt wissen will. Es soll dabei nicht der Herr Professor durch glänzende Reden, feine Diagnosenstellung oder sonst persönlich hervortreten, sondern der Studirende soll tüchtig eingeschult werden, soll es lernen seine fünf Sinne zu brauchen, seine ganzen Geisteskräfte anzustrengen, tüchtig zu untersuchen und einen tiefen Blick in’s Innere seines Kranken zu werfen (eine gute specielle Diagnose zu machen). Daraus werde sich dann schon eine vernünftige Behandlung nach diätetischen Grundsätzen von selbst ergeben. Alles andere Curiren, aller unnöthige Arzneigebrauch sei in einer Klinik doppelt schädlich, weil es den Blick auf’s Ueberflüssige vom Nothwendigen ablenke, und weil es den jungen Arzt vor der Zeit auf den Weg führe, den das leidige Prakticiren ihn später ohnedies betreten lehre, nämlich des Zuvielcurirens. Denn – das müssen wir nur gleich gestehen – Bock hält sehr wenig von allen praktischen Aerzten, selbst mit Einschluß seines Richter und Oppolzer. Er meint, sie seien alle mehrweniger Quacksalber und nur ein Weniges besser als die Homöopathen, „das Prakticiren verderbe den Charakter.“ – Was dieser Ansicht Wahres und doch auch Einseitiges zu Grunde liegt, ist leicht zu fassen. So lange man es blos mit einer Leiche zu thun hat, oder mit grobsinnlich materiellen Zuständen und Menschen, so lange hat Bock’s Auffassung Recht. Aber die Praxis, und die private insbesondere, hat in mehr als der Hälfte aller Fälle mit geistiggemüthlichen Zuständen oder mit solcherlei lebendigen Functionsstörungen zu thun, welche dem Messer des Anatomen ganz entschlüpfen. Und auch die große Hälfte aller Mittel, unsere lateinischen Recepte nicht ausgeschlossen, die homöopathischen und fast alle berühmten Specifica oder Geheimmittel, – haben diesen psychischen Charakter, sie nützen großentheils dadurch, daß der Kranke die Beruhigung faßt: „es geschehe etwas für ihn, und es sei ein Kraut für seine Leiden gewachsen.“ – Ein Viertel oder Fünftel aller unserer Patienten besteht aus Tuberculösen (Schwindsuchtscandidaten), ein Drittel vielleicht aus Unheilbaren. Soll man sie mit dem Spruche wegschicken, daß ihnen nicht zu helfen sei und daß die Anatomie lehre, Tuberkeln lassen sich nicht zertheilen? – Nichts wäre thörichter als das. Es ist besser, man fesselt sie durch ein paar leichte Linderungsmittel an einen rationellen Arzt, dessen Rathschläge ihnen vielerlei Nutzen bringen werden; denn sie würden doch unausbleiblich zu einem anderen, vielleicht zu dem größten Charlatan laufen, der ihnen recht viel verspricht und durch seine Curversuche ihnen nur Schaden bringt (Exempla sunt odiosa.). Von solchen Standpunkten aus haben also wir, die Praktiker, Recht, wenn auch alle Philosophen des Leichenhofes uns verurtheilen. –

Begreiflich wird nun aber noch Eins, was Viele wundert. „Warum prakticirt der Bock nicht, bei dem ungeheueren Zulauf von Patienten, welche ihm seine Gartenlauben-Artikel und sein „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ (jetzt schon in 5. Auflage und in nahe an 60,000 Exemplaren verbreitet) zuführen? Warum verweist er beharrlich seit Jahren alle feste Familienpraxis an jüngere Aerzte? Warum ertheilt er blos Consultationen? Nun, er will sich eben nicht durch das Curirgewerbe den Charakter verderben lassen (wie er es nennt); er will das Recht behalten, auf alle Praktiker, und auf die homöopathischen insbesondere, allezeit zu raisonniren.

„Warum schreibt er außer den neuen Auflagen seiner wissenschaftlichen Bücher vorzugsweise gern Volksbücher und Gartenlauben-Artikel?“ Weil er der Sache dadurch am sichersten zu nützen glaubt; weil die großen Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft und Heilkunde dadurch, daß man sie unters Volk bringt, am sichersten und schnellsten gemeinnützig werden; – weil es heutzutage vor Allem die Aufgabe ist, eine gesündere, vorurtheilsfreiere, klarerdenkende, charakterfestere Bevölkerung herzustellen. Bock’s Hauptstreben in all’ seinen populären Schriften ist vor Allem das Volk über die Verhütung von Krankheiten aufzuklären; zu diesem Zwecke ward er seit Beginn der Gartenlaube (1853) ein treuer Mitarbeiter dieser Zeitschrift, die durch eben seine Artikel ein ärztlicher Rathgeber in Tausenden von Familien ward. Wie sehr Ernst es damit unserm Carl Ernst ist, das geht aus einem Umstand hervor, der Vielen neu sein wird. Das Schreiben ist ihm nämlich nicht wie Anderen (z. B. mir selbst) ein Vergnügen, sondern eine Last und Marter. Bock leidet seit Jahren, in Folge seines früheren überangestrengten Schreibens, an dem sogen. Schreibekrampf. Sobald er eine halbe Stunde schreibt, fängt sich die Hand an krampfhaft zusammenzuziehen und die Vorderarmmuskel empfindlich wehe zu thun. Unter solchen folterähnlichen Muskelschmerzen sind die meisten Gartenlauben-Artikel gefertigt; kein Wunder, wenn sie manchmal dabei etwas grimmig ausfallen. Viel mehr zu verwundern ist, daß Bock des Schreibens nicht längst überdrüssig geworden ist und sich dafür den ihm offenstehenden, weit einträglicheren und bequemeren Erwerbszweigen, besonders der chirurgisch-ärztlichen Praxis gewidmet hat.

Wir haben nur wenig über Bock’s neueste Geschichte nachzutragen. Nach dem Sieg der neuen Medicin war er eine Zeit lang hoch angeschrieben. Wie gewöhnlich kamen nach gewonnener Schlacht, und als die Sache rentabel ward, eine Menge Leute hervor, um die Früchte mit zu genießen. Viele, zum Theil hochgestellte Familien ließen ihre Söhne der neueren Heikunde huldigen und in Leipzig, Prag und Wien studiren. „Die Beamtensöhne suchten ihr Futter in den Gleisen, die Wir gefahren haben!“ – Damals war Bock eine Zeitlang Gutkind. Allein ein Charakter wie der seinige, ein Mensch der die Persönlichkeiten so gering achtet, der immer der Sache huldigt und seine Ansicht immer auf die unverblümteste Weise Jedem gerad in’s Gesicht sagt, so ein Subject harmonirt nimmer mit einer Bureaukratie, besonders in dem feinen Sachsenlande!

Im Ganzen jedoch hat Dame Büreaukratie unsern Freund immer ziemlich glimpflich behandelt, obschon er mehrere Male mit Verwarnungen und Androhungen von Entsetzung bedacht wurde. Zudem kommen wohl auf einen Feind, den Bock hat, drei gute Freunde, welche das Schlimmste von ihm abwehren. Und schließlich ist seine Stellung so, daß er bei einer Absetzung (wenn man es dahin triebe) nur gewinnen könnte; er würde sofort, und [489] sogar vielleicht zum Nutzen seines Embonpoints (siehe Abbildung) eine reichliche, praktisch-ärztliche Beschäftigung finden.

Dieses Embonpoint führt uns gleich auf den noch übrigen Theil unserer Aufgabe, nämlich die Persönlichkeit unseres Freundes. Wer dick wird, ist in der Regel ein gemüthlicher Mensch und sorgt oder ärgert sich nicht tief. Beides trifft hier zu. Die vielen Feinde Bock’s haben ihm, der schon das funfzigste Jahr hinter sich hat, noch keines seiner schönen schwarzen Haare weiß machen können! – Seine Gemüthlichkeit, sein Humor, seine unerschöpfliche Spaßhaftigkeit sind in seiner Vaterstadt allbekannt und durch die giftigsten Störungen niemals unterdrückt worden. Seine etwa angesammelte Galle macht sich immer zur gebührenden Zeit nach außen hin Luft, im Nothfall gegen die Homöopathen.

Manche Leute finden dies mit dem Charakter seiner Schriften nicht vereinbar. Ich finde im Gegentheil, daß dies ein allgemeines Gesetz ist. Die trockensten Fachmänner, Rechnungsmenschen, Juristen etc. haben gewöhnlich in ihrem Privatleben eine höchst gemüthliche oder phantastische Seite. Und so wird ein Mann, der die nüchternste Erfahrungswissenschaft, die Anatomie, betreibt und der immer nach außen hin kämpft, auch auf der anderen Seite den Bedürfnissen des Gemüths Rechnung tragen. Am angenehmsten überrascht dies manchmal die Patienten, welche Bock consultiren. Sie glauben einen schrecklich groben, rauchbärtigen Isegrimm zu finden und treten zitternd ein. Elegantes Boudoir, Epheulaube über Schreibtisch und Sopha; die seltensten Blumen (zu denen sogar Lüdicke’s Wintergarten in Dresden beitragen muß), alle neu in Blüthe; der gefürchtete Doctor selbst wohlgelockt und in der Regel (wenn die Anrede nicht albern ist) auch freundlich empfangend. Da bleiben sie dann beim Fortgehen auf der Treppe stehen und sagen: „Mein Gott, das ist ja ein ganz hübscher Mann, den habe ich mir ganz anders gedacht!“ – was dann den parterre wohnenden Lauschern von Bock’s Familie zur höchsten Ergötzlichkeit dient.

Ich will damit nicht in Abrede stellen, daß unser Freund manchmal grob und verletzend aufgetreten ist. Aber eine Mehrzahl derjenigen Geschichten, welche man in dieser Beziehung erzählt, sind erlogen oder übertrieben. Namentlich aber ist die Sage, daß Bock den Kranken ihren Tod rücksichtslos voraussage oder sie überhaupt ängstlich mache, eine Verleumdung. Ich will nur eine Geschichte mittheilen, die wirklich vorgefallen ist, und will dem Leser dann das Urtheil überlassen.

Ein alter, den Tod schrecklich fürchtender Herr ist Abends auf dem Sopha eingeschlafen, wacht auf und kann den Hals nicht bewegen. Er denkt, der Schlag habe ihn gerührt, macht (immer liegend) schrecklichen Lärm und läßt Bock aus angenehmer Gesellschaft holen. Dieser folgt denn auch der Aufforderung und findet im Hause des Kranken Alles weinend und in großem Jammer. Er tritt an’s Bett und besieht sich den Sterbenden. „Sie elender Feigling!“ ruft er plötzlich, „den Augenblick stehen Sie auf und machen, daß Sie aus der Stube kommen. Gehen Sie spazieren, Sie alter –, das ist gescheidter, wie Ihrer Familie was vorjammern!“ Bock hatte sofort erkannt, daß es ein bloßer Nacken-Rheumatismns war und der Alte folgte seinem Befehl und war fortan für immer von seiner Schlagflußfurcht curirt. – In dieser Art hat Bock mehr als Einen durch eine einzige derbe Ansprache curirt, ja zum dankbarsten Anhänger gewonnen. Diese Verfahrungsweise ist in vielen Fällen sehr gut; sie darf nur nicht zur Maxime werden.

Und damit, lieber Leser, komme ich zum Schlusse. Warum habe ich Dir dieses Lebensbild vorgeführt? Aus Cameraderie gewiß nicht; es fiel mir nicht ein dergleichen zu schreiben; ich hatte Dringendes zu arbeiten, als Freund Keil mich dazu aufforderte. Aber wenn man einmal von diesem eigenen Kauz, dem Bock, spricht, so muß man eben die Seite an ihm hervorheben, welche an ihm für das deutsche Volk die wichtigste ist. Und dies ist, mit wenig Worten gesagt, folgendes: er ist – was sich in Sachsen so schwer bildet und so selten findet – ein ganzer Mann!

  1. Man erzählte vom alten Bock eine Anekdote, die seine gänzliche Furchtlosigkeit veranschaulicht. Eines Abends hielt er eine Leiche in beiden Armen aufrecht, an welcher sein Professor R. ein feines Präparat herausarbeitete. Letzterer löscht das Licht aus. Er geht, um es wieder anzuzünden, und bittet Bock: „Die Leiche ja nicht aus den Händen zu lassen, damit nichts verderbe.“ In den Korridors des Paulinum forttappend findet er in einer Stube lustige Gesellschaft. Er muß ein Glas Grog mittrinken, muß sich einsetzen, einen Robber Whist zu spielen: seine schwache Seite! Endlich – nach einer Stunde – fällt ihm sein Profector ein! und dieser (Bock sen.) hatte während der ganzen Zeit mit der Leiche in den Armen gemüthsruhig im Finstern gewartet!
  2. K. Ch. Snell, über Zweck und Einrichtung eines Realgymnasiums. Dresden und Leipzig 1834.