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Ein Mann (Roman)

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Autor: Hermann Heiberg
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Titel: Ein Mann
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15–21, S. 453–463, 485–492, 517–527, 549–560, 596–605, 624–636, 660–669
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman
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[453]

Ein Mann.

Roman von Hermann Heiberg.
1.

In seinem schönen Haus am Schwanenweg in Kiel saß der Kaufmann John Ericius und sah die eingegangene Morgenpost durch. Der Gehilfe, der sie ihm überbracht hatte, stand an der Thür, seiner Befehle harrend. Er mußte die Briefe, nachdem der Geschäftsherr sie eröffnet, gelesen und mit den ihm nothwendig scheinenden Bemerkungen versehen hatte, in das am Hafen gelegene Comptoir der Firma bringen, wo sie die weitere, geschäftsmäßige Erledigung fanden. So geschah es jeden Tag. Nur die kritzelnde Feder des Alten unterbrach die lautlose Stille. Etwas Athembeschwerendes durchwehte den Raum, gefördert durch die schweren Möbel und dichten Vorhänge, die übergroße Ordnung und die gleichsam starrköpfige Gediegenheit aller vorhandenen Gegenstände.

In dem breiten Gesicht des Schreibenden mit dem runden, eigensinnigen Kinn und den kalten, den Dingen auf den Grund gehenden Augen war nur der Verstand ausgeprägt. In dieser Stunde war er der ausschließliche Herrscher, dem sich alles, was etwa von weicheren Gemüthsregungen in der Brust des Mannes schlummern mochte, bedingungslos unterordnete.

[454] John Ericius war der reichste Mann in Kiel, wohl einer der reichsten im ganzen Norden. Sein Vermögen konnte sich mit dem der Millionäre messen, die in Hamburg ihre Privatpaläste an der Alster und Elbe besaßen. Er war auch Mitglied des Magistrats, Vorsitzender einer großen Anzahl von Vereinen und machte ein großes und vielbeneidetes Haus.

Aber so liebenswürdig er als Wirth sein konnte, so kurz und bündig zeigte er sich im Geschäftsverkehr.

„Ich will das und das von Dir, dafür bezahle ich Dich. Thust Du dagegen Deine Pflicht, so giebt’s zwar keine artigen Mienen und kein Lob, aber Du hast die Anwartschaft, bei mir vorwärts zu kommen. Bist Du aber eine taube Nuß, so werfe ich Dich einfach weg!“ So lauteten seine Grundsätze.

„Hier, Ratlef!“ rief an dem heutigen Tage Herr Ericius, erhob das starrköpfige Haupt mit den strengen Zügen, schob die durchgesehenen Briefe in die Mappe und hielt sie dem eilfertig sich nähernden jungen Mann hin. „Wenn Herr Richard Tromholt heut vormittag ins Comptoir kommt, lasse ich ihn bitten, sich sofort hierher zu begeben. Es war verabredet, daß ich um elf Uhr im Bureau am Hafen sein sollte, und daß wir uns dort sprechen wollten. Ich wünsche ihn aber hier zu empfangen. Verstanden?“

Der Gehilfe entfernte sich, und John Ericius vertiefte sich wieder in seine Geschäfte, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schienen.

Er hatte sich vor nunmehr zwanzig Jahren mit einer Dame aus altem Adelsgeschlecht verheirathet, die ihn, den älteren Mann, nicht nur um seines schon damals bedeutenden Vermögens willen, sondern aus wirklicher Neigung den vielen andern Bewerbern, die ihre eigenartige Schönheit anlockte, vorgezogen hatte, und noch heute in ihrem vierzigsten Jahr war Frau Susanne Ericius, geborene Gräfin von Tolk, eine Erscheinung, deren Anblick Männerherzen in eine unruhige Bewegung zu versetzen imstande war.

Von den beiden Töchtern, die dieser Ehe entsproßten, war die ältere, Susanne, äußerlich das verjüngte Ebenbild der Mutter, die jüngere, Dina, noch ein halbes Kind, in dem sich Schönheit und Anmuth knospend zu regen begannen.

Der vielbeschäftigte Kaufmann hatte für die Erziehung seiner Kinder wenig Zeit übrig, ja er, der kurz und gemessen in seinen Geschäftsräumen schaltete, vor dessen Strenge die Angestellten zitterten, war im häuslichen Verkehr von einer gewissen Schwäche gegen die Wünsche und Launen seiner Kinder, deren Erziehung im übrigen von der Mutter musterhaft geleitet wurde, nicht ganz freizusprechen. Insbesondere kam diese Nachgiebigkeit Susannen gegenüber in einer für die Entwickelung dieses außerordentlich selbständig angelegten Charakters nicht vortheilhaften Weise zur Geltung. Aber eben die Eigenschaften, die sie von ihm selbst geerbt hatte, und denen er so große Erfolge verdankte, machten sie zu seinem Liebling, den zu verwöhnen ihm eine förmliche Erholung war. Es gab keinen Wunsch, den er ihr nicht erfüllte, keine Absonderlichkeit, die er an ihr nicht entschuldigte, sogar gut fand, und die männliche Entschiedenheit ihres Wesens, weder durch bittere Erfahrungen noch durch die reifere Ueberlegung des Alters gelenkt und gebändigt, neigte nur zu sehr zum Außergewöhnlichen; ein Ueberschuß von Kraftgefühl, dem der enge Kreis von anregender Geselligkeit und häuslicher Beschäftigung lange nicht genügte, machte sich in allerlei Vergnügungen nach Männerart, in Reiten, Fahren, Segeln und Jagen Luft. Besonders den letzteren Sport betrieb Susanne mit Leidenschaft.

Ein Stündchen nach Ratlefs Entfernung meldete der Diener den Ingenieur Herrn Richard Tromholt.

„Ah, Sie! Schon da? Ganz gut! Bitte!“ stieß John Ericius ohne besondere Höflichkeitsbezeigungen kurz heraus und wies, fast ein wenig herablassend den Kopf neigend, auf einen Stuhl. Aber ehe noch Richard Tromholt, ein junger Mann von vornehmer Haltung und ernsten, gescheiten Gesichtszügen, seiner artigen, wenn auch etwas steifen Verbeugung irgend was hinzufügen konnte, fuhr John Ericius fort:

„Ich bat Sie, hierher zu kommen, Herr Tromholt, da ich wegen einer unerwarteten geschäftlichen Veranlassung in einer Stunde verreisen muß und mir die Zeit durch das Hin und Her zu sehr verkürzen würde. Ich bleibe mehrere Tage, vielleicht eine Woche fort, möchte aber nicht, daß Sie Ihre Abreise verschieben. Ich denke, wir sind ja auch mit allem so weit in Ordnung. Es würden nur noch zwei Punkte zu erörtern sein: die Länge der Zeit, zu der wir uns gegenseitig verpflichten wollen, und die Gewinnbetheiligung, die Ihnen nach Ihrem Schreiben“ – hier suchte John Ericius etwas hastig in den Papieren herum, die auf dem Tische lagen, und überflog das bald gefundene Schriftstück – „nicht hoch genug erscheint. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, – oder halt – lesen wir noch einmal den Anstellungsvertrag durch! – Also Paragraph eins –“

Bei der geschäftlichen Verhandlung, die nun zwischen den beiden begann, handelte es sich um einen weitläufigen Gutsbesitz, den Herr Ericius seit längerer Zeit an den Grenzen Nordschleswigs erworben hatte, und dessen Leitung zum Zweck einer großartigeren Ausbeutung er dem ihm von den verschiedensten Seiten empfohlenen Mann anzuvertrauen gesonnen war.

Zu dem Besitz, der den Gesammtnamen „Limforden“ führte, gehörten außer dem gleichnamigen Hauptgute das von großen Torfmooren umgebene Vorwerk „Trollheide“, ferner verschiedene Seen und ein ausgedehntes Waldgebiet. Auf Trollheide war die Torfstecherei fabrikmäßig in größtem Stil geplant. Die Seen sollten nach einem neuen System trocken gelegt und in den Forsten Holzschneidereien eingerichtet werden, alles nach den Vorschlägen des Herrn Richard Tromholt und den von ihm ausgearbeiteten Plänen. Auch sollte dieser mit dem Titel eines Direktors die Oberleitung der ganzen unter dem Namen „Ericiussche Werke in Limforden“ ins Handelsregister eingetragenen Anlage übernehmen.

Das alles war längst besprochen und führte zu keinen weiteren Erörterungen. Anders war es mit den Gehaltsbedingungen und dem Gewinnantheil des neuen Direktors, worüber sich, da die beiden Herren doch etwas verschiedene Standpunkte vertraten, eine längere und von seiten des Herrn Ericius etwas schroff und heftig geführte Verhandlung entspann. Die Ruhe und Festigkeit, mit welcher der junge Ingenieur seine Sache vertrat, ohne sich durch die oft beinahe verletzende Schroffheit des Kaufmanns im geringsten beirren zu lassen, machten nicht weniger Eindruck auf Ericius als die umfassenden geschäftlichen Kenntnisse, die er bei der Begründung seiner Ansprüche an den Tag legte.

„Das ist mein Mann,“ dachte Ericius vergnügt bei sich, allein es war nicht seine Art, so rasch nachzugeben und seine Zufriedenheit merken zu lassen. Immer wieder suchte er die Gründe Tromholts zu bekämpfen und zu erschüttern, endlich jedoch mußte er sich überzeugen, daß er in ihm seinen Mann gefunden habe. Man stand eben im Begriff, eine vollständige Einigung zu erzielen, als die Verhandlungen plötzlich unterbrochen wurden.

Die Thür zu dem Geschäftszimmer wurde stürmisch geöffnet, und auf die herrische Frage des Kaufmanns: „Wer stört uns? Ich bin für niemand zu sprechen!“ antwortete eine fröhlich unbefangene Stimme: „Ich, Papa, ich!“ und ins Zimmer trat hastigen Schrittes, und ohne sich um das Verbot zu kümmern, Fräulein Susanne Ericius. Eine Jagdflinte in der Hand, das Haar in Unordnung, die Wangen geröthet und die Augen blitzend, war sie eine packende Erscheinung und weckte in Richard Tromholt ein unruhig heißes, ihm bisher unbekanntes Gefühl von Interesse und Bewunderung. Eine leichte Röthe überflog auch Susannens schönes Gesicht bei dem Anblick des Fremden, aber in demselben Augenblick – war es Verlegenheit oder Achtlosigkeit – entglitt die Flinte ihrer Hand. Rasch sprang Tromholt hinzu, um die Waffe mit den Händen aufzufangen – jedoch im Nu entlud sich durch einen nicht aufgeklärten Zufall der noch im Lauf steckende Schuß und traf Tromholt, der sich unter einem schier wahnsinnigen Schmerzensschrei nach den Augen griff, ins Angesicht. Markerschütternde Töne drangen durch das Haus und vermischten sich mit den Lauten des Schreckens aus dem Munde Susannens und ihres entsetzt emporschnellenden Vaters.




2.

Die Abendsonne durchglühte die Heide, über die zwei Personen, ein Mann und eine Frau, langsam dahinschritten. Der Horizont brannte in einem düster rothen Licht, das von der gegen den Abendschatten kämpfenden Helle des früh am Himmel aufgestiegenen Mondes in seltsam ergreifender Schönheit abstach. Mit seinem metallischen Glanze durchleuchtete er die Gegend, soweit das Auge reichte: die Felder, Moore, Wiesen und endlos langen [455] Heidestrecken, die, gleichsam in stummer Schwermuth versunken, dalagen.

Nun zog eine Schar Krähen durch die Luft gen Westen, um bald hinter einem mit langen, kahlen Stämmen emporstrebenden Walde zu verschwinden. Eine traumhafte Stille ringsum, bis plötzlich auf einer neben dem Heidewege liegenden, von Knicken einsam und dunkel eingeschlossenen Wiese ein kohlschwarzer Hund ein lautes Gebell erhob und wie toll einem unsichtbaren Gegenstande nachjagte. Und dann ein lauter, die Abendruhe unheimlich unterbrechender schriller Pfiff. Das Thier hielt in seinem Lauf inne, spitzte die Ohren und verharrte unschlüssig.

„Pfeife noch einmal, Richard!“ ließ sich die Stimme einer Frau vernehmen.

Der Mann an ihrer Seite that, wie sie wünschte. Der Hund aber setzte sich, statt dem Rufe zu folgen, von neuem in Bewegung und verschwand wie ein immer kleiner werdender dunkler Schatten in der Gegend des Gehöftes, zu dem auch die beiden Spaziergänger, Richard Tromholt und seine Schwester, ihre Schritte lenkten.

Ueber dem Abhang einer hell beleuchteten Wiese erhoben sich auf weißsandigem Grunde schlankgewachsene, düstere Tannen, die wie drohende Wächter vor der hinter dem Gehöft nach Westen sich ausdehnenden, endlosen Torfheide emporragten, und etwas weiter zur Linken – ein Vorwurf für einen Maler – spielte eben das Mondlicht auf einer Moorlache mit stahlweißen, unbewegten Lichtern.

Nach einer viertelstündigen Wanderung gelangten die Fußgänger an einen allmählich aufsteigenden Weg. Als sie die Höhe erreicht hatten, hemmte nichts mehr die weite Fernsicht. Sie blieben, unwillkürlich gebannt von dem Eindruck, der sich ihnen bot, stehen und ließen die Augen umherschweifen.

Vor ihnen ein Thalgrund, zur Linken endlose Flächen, die mit Hunderttausenden dem Boden abgewonnener Torfabschnitte bedeckt waren. Durch diese Moorflächen zogen sich zahllose, mit Wasser angefüllte Gräben und von dem Monde beschienene, kleine, glitzernde Seen, die sich von der schwarzen Erdfarbe schroff abzeichneten. Einzelnes verkümmertes Gesträuch tauchte hier und dort auf; daneben aber, und so weit das Auge reichte, sah man nur mit Heidekraut besetzten, noch der Bearbeitung wartenden Moorgrund.

Im Thal zur Rechten lag, umgeben von beackerten, grauen, braunen und violett schimmernden Aeckern und vom Herbst noch wenig berührten Wiesen, der Gutshof Trollheide, dessen weiß angestrichenes Hauptgebäude unter schwarzen Tannen, dunklen Buchen und Eichen geisterhaft hervorschaute.

In meilenweitem Umkreise nach Nord, Süd, Ost und West war’s neben einigen Bauernkaten die einzige menschliche Ansiedelung.

Weit ab von der großen, belebten Welt befand sich dieses zu Limforden gehörige Gütchen mit seinen Moorstrichen, und Monate konnten vergehen, bevor einmal ein fremder Mensch in die Gegend kam. Das Hauptgut Limforden lag fast eine halbe Tagereise entfernt von Trollheide und war dagegen von einer strotzenden Fruchtbarkeit. Herrliche Wiesen, Aecker, Waldungen und Seen wechselten miteinander ab, und die Austrocknung dieser letzteren hatte Richard Tromholt vor nun fast drei Jahren auf Grund seines Vertrages mit Ericius in Angriff genommen.

Seit sechs Wochen befand sich der Direktor auf Trollheide, um nach dem Rechten zu sehen und für die unter Aufsicht eines bewährten Beamten stehenden Torfstecharbeiten neue zweckmäßige Anordnungen zu treffen.

Der Direktor nahm seinen Aufenthalt das Jahr über theils hier, theils auf Limforden. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend war er unausgesetzt thätig und hatte während der drei Jahre nicht ein einziges Mal den Ort seines Schaffens länger als auf wenige Tage verlassen. Nie wichen Ernst, Ruhe und Besonnenheit von ihm, obgleich fast kein Tag verging, an dem nicht unter den nach vielen Hunderten zählenden Arbeitern eine Widerwärtigkeit zu schlichten war.

Arbeit, nur Arbeit! Und nach der Arbeit ein einsames Ausruhen bis zum wiederbeginnenden Tageslicht.

Wohl mancher wäre in dieser freudelosen, fast jeder geistigen Anregung entbehrenden Abgeschiedenheit zum schwermüthigen Grübler geworden, aber Tromholt besaß einen Willen, der alles überwand.

Nicht einmal seine Schwester Bianca von Gunar hatte er gerufen. Sie aber war gekommen, weil sie fühlte, daß er nur aus Rücksicht eine Einladung an sie unterlassen habe. 00

Endlich gelangten die Geschwister durch ein weitgeöffnetes, eisernes Gitterthor auf den Gutshof. Der Weg dahin führte durch Wiesen, der Hof war umgeben von einem reichen, kunstvoll gearbeiteten Gitter, und bevor man an das unter den hohen Parkbäumen hervorlugende Herrenhaus gelangte, schritt man durch zierlich gehaltene Gartenanlagen und ging vorüber an den weitläufigen Wirthschaftsgebäuden und Arbeitshäusern.

Das Gutsgebäude glich einem englischen Landhaus; gefällige, helle Farben und nette Ausschmückung verliehen ihm einen vornehmen Anstrich.

Die Geschwister begaben sich in das Haus. Bevor sie sich aber im Speisegemach zum Abendessen niederließen, traten sie noch einmal aus dem Gartenzimmer und warfen einen Blick in den Park.

Vor ihnen lag thalabwärts ein breiter, weit sich hinziehender Rasen, der von alten, mächtigen Tannen wie von hohen, dunklen Wänden umschlossen war.

Am Ausgang des Parks aber breitete sich eine große, vom Abendthau benetzte Wiese aus, die, vom Monde beschienen, wie eine silberglitzernde Eisfläche neben dem Schwarz der Fichten erschien.

Das einfache Mahl, zu welchem Tromholt und seine Schwester sich hierauf niedersetzten, verlief wortlos. Nachdem es beendet war, und der Diener die Speisen abgetragen hatte, lehnte sich Bianca, eine große, schlankgewachsene Frau von kaum achtundzwanzig Jahren mit einer eigenthümlich bleichen, aber keineswegs ungesunden Gesichtsfarbe und großen, schwarzen Augen, in ihren Sessel zurück und schaute stumm auf ihren Bruder. Er hatte es sich in seinem zur Seite gerückten Stuhl bequem gemacht und saß, nachdenklich und langsam den Rauch einer Cigarre von sich stoßend, da.

Richard Tromholt besaß eine gewaltige Erscheinung, seine Haltung war vornehm, die breite Brust verrieth ungewöhnliche Kraft, und das Auge blickte ernst und milde zugleich aus dem dunklen Gesicht. Freilich nur das eine; das andere hatte er damals durch die Unvorsichtigkeit von Susanne Ericius verloren.

Er war der einzige Sohn eines Hamburger Staatsbeamten. Sein Vater hatte in der Hansastadt den Posten eines Syndikus innegehabt, war aber schon im fünfzigsten Jahre gestorben. Auch seine Mutter, eine geborene Venezuelanerin, hatte Tromholt, der ursprünglich Kaufmann gewesen und dann sich für die Ingenieurwissenschaft entschieden hatte, früh verloren.

Seine Schwester Bianca war späterhin zu Verwandten nach Thüringen gegangen, hatte dort ihren Gatten, den Major von Gunar, kennengelernt, war aber schon nach fünfjähriger Ehe Witwe geworden. –

Es blieb lange still in dem Gemach. Endlich brach Bianca das Schweigen und sagte:

„Wie alt bist Du eigentlich, Richard?“

„Neunundzwanzig Jahre.“

„Schon neunundzwanzig? Da müßtest Du eigentlich ans Heirathen denken.“

Tromholt schüttelte den Kopf. „Bei den Zielen, die ich mir gesteckt habe, kann ich daran nicht denken.“

„Wie Du redest! Willst Du hier denn Dein Lebenlang vereinsamen? Wie denkst Du eigentlich über Deine Zukunft? Schon gestern fragte ich Dich, und Du gabst mir keine Antwort.“

„Ich will zehn Jahre hier bleiben,“ erwiderte Tromholt, die Worte langsam betonend. „Drei davon sind verflossen. Dann muß ich so viel verdient haben, daß ich mein eigener Herr, daß ich unabhängig bin. und dann – dann –“

„Dann?“

„Ach, was weiß ich!“ stieß Richard ein wenig rauh heraus.

„Mein Richard!“ mahnte Bianca mit milder Güte und einem unbeschreiblich herzlichen Ausdruck in den Zügen.

Nun hob er den düster gesenkten Blick, und ihre Augen trafen sich mit einem Strahl inniger Zuneigung.

„Du sagtest, Bianca? Verzeih, ich war mit meinen Gedanken abwesend.“ –

„Ja, Richard! Es ist etwas, das Dich drückt! Willst Du Dich mir nicht anvertrauen?“

[458] Tromholt bewegte den Kopf wie ein Mensch, der sich lange nach einer Aussprache gesehnt hat.

„Gut denn! Höre!“ sagte er.

Bianca setzte sich aufrecht in ihrem Stuhl und winkte dem Diener Ole, der eben die Fensterladen geschlossen und das Feuer im Kamin geschürt hatte, sich zu entfernen. „So, lieber Richard, nun sind wir ganz ungestört.“

„Du weißt – als damals das Unglück geschehen war,“ – hob Richard Tromholt an, – „bestand der alte Ericius darauf, daß ich in seinem Hause bleiben und dort gepflegt werden sollte. Es blieb auch wohl zunächst nichts anderes übrig; aber auch meine späteren Einwendungen scheiterten an seinem Widerspruch und noch mehr an dem seiner Tochter Susanne, die ich bei jener traurigen Gelegenheit zum ersten Male gesehen hatte. Eine liebevollere Pflege, als sie mir dort im Hause wurde, hätte mir selbst von Dir nicht werden können.

Susanne selbst sah ich nur selten, obwohl sie sich täglich nach meinem Befinden erkundigen ließ. Wenn sie persönlich bei mir erschien, so geschah es nur auf ganz kurze Zeit, immer in großer Toilette. Sie sagte dann etwa folgendes: ,Wie geht’s Ihnen, mein lieber Herr Tromholt? Ich bitte jeden Tag den Himmel, daß er Sie gesund machen möge! Besser? O, das macht mich sehr glücklich. Ich will mich Ihnen heute zeigen. Finden Sie, daß mir diese Robe gut steht? Ich denke mir, daß Sie einen besonders guten Geschmack besitzen. Daß Sie gut, sehr gut sind und schlechten, unvorsichtigen Menschen nichts nachtragen, habe ich ja genügend erfahren. Und daß ich Sie nicht so oft besuche, wie ich gerne möchte, daran ist meine Mutter schuld. Sie findet, daß es sich nicht paßt. Sie wissen doch, Herr Tromholt, daß wir in einer Welt leben, in der das Natürliche, Vernünftige stets in der Aschenbrödelecke stehen muß.’

Diese Ungezwungenheit und dieser Freimuth der Sprache machten einen großen Eindruck auf mich, wenn ich auch sonst Susanne Ericius zu den Oberflächlichen zählen zu müssen glaubte, bis – bis” Tromholt brach ab.

„Nun, Richard?“ knüpfte Bianca nach einer kurzen Pause rücksichtsvollen Schweigens an.

„Wenige Tage bevor ich von dem Arzte entlassen werden sollte, trat sie wiederum eines Mittags in mein Zimmer und sagte: ,Ich höre von dem Doktor, Herr Tromholt, daß Ihre Reise unmittelbar bevorsteht. Da drängt es mich, Ihnen noch einmal zu sagen, wie mich das Geschehene schmerzt, und nochmals von Ihnen zu hören, daß Sie mir meine Unvorsichtigkeit nicht nachtragen.‘

‚Sie wissen es doch, mein Fräulein. Habe ich Ihnen je auch nur durch eine Miene einen Vorwurf gemacht –‘ Sie unterbrach mich.

,Nein, Sie suchten mich sogar zu trösten! Sie vertauschten in Ihrem Edelmuth die Rollen; kein Mensch konnte großmüthiger handeln. Und da dem so ist, wollte ich Ihnen erklären, daß mir kein Gegendienst, kein Opfer für Sie zu groß ist. Vermag ich irgend etwas für Sie zu thun, so sagen Sie es mir! Keinen Augenblick werde ich zaudern, selbst dem höchsten Anspruch nach Umfang meiner Kräfte gerecht zu werden.‘

Ich kann Dir nicht sagen, was da in meinem Herzen vorging, welche Wünsche in meiner Brust aufstiegen, aber ich bezwang mich und sagte nach kurzem Zögern:

,Sicher sind Sie sich der Tragweite Ihres Angebots nicht bewußt, mein Fräulein! Wenn ich Sie wirklich beim Wort hielte?‘

‚Sie zweifeln?‘ rief das schöne Mädchen stürmisch und mit leuchtenden Augen. ,Ich bitte, stellen Sie mich auf die Probe!‘

Diese Worte, der Ausdruck, mit dem sie gesprochen wurden, vollendeten die Täuschung, der ich mich in diesem Augenblick hingab, und drängten mich zu einem Entschluß.

,Wohlan!‘ rief ich und griff nach ihrer Rechten ,Werden Sie mein Weib!‘

Aber kaum hatte ich gesprochen, als Susanne Ericius, wie von einem Schlage berührt, den Kopf zurückwarf und ihre großen Augen mit einem Ausdruck höchsten Schreckens auf mich richtete.

Auch rang sie vergeblich nach Worten. Ich sah, sie liebte mich nicht, aber in ihrem Inneren ging ein gewaltiger Kampf vor sich. Ich senkte den Kopf und sagte:

‚Ihr Schweigen, Ihr Staunen ist Antwort genug. Richard Tromholt giebt Ihnen Ihr Wort zurück; verzeihen Sie ihm, daß er so zu Ihnen zu sprechen wagte!‘

Nun aber richtete sie sich empor. In ihr Gesicht trat ein Ausdruck edler Entschlossenheit, den ich nie vergessen werde, und mit ausdrucksvoller Betonung sagte sie: ‚Ich schwöre hier, daß ich Ihr Weib werden will, wenn Sie Ihren Wunsch wiederholen. Ich werde Sie lieben lernen, denn ich achte wohl niemand höher auf der Welt als Sie. Aus Achtung entsteht Liebe, sie ist der Urgrund des höchsten menschlichen Gefühls. Nun entscheiden Sie, Herr Richard Tromholt!‘

Ich sah, wie sie vor der Entscheidung bebte, aber ich sah auch, daß es ihr heiliger Ernst war mit ihren Worten. Und da - da -“

„Und da?” drängte Bianca, als ihr Bruder den Kopf sinken ließ und schwieg.

„Nun ja, Du weißt ja, was ich entgegnen mußte. Ich erwiderte: ,Ich verzichte, Susanne Ericius. Es sei denn, daß Sie eines Tages zu mir kommen und mir sagen: Ja, jetzt liebe ich Dich!‘ Und weiter: ‚Ich selbst werde nie eine andere lieben, Sie aber sind frei.‘

Sie erwiderte nichts, sondern ließ sich langsam in einen Stuhl gleiten und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür, und ihre Schwester Dina trat ein.

Dieser Zwischenfall trennte uns. Am Nachmittag desselben Tages erhielt ich von Susanne einen Brief. Es standen nur die Worte darin:

,Innigen Dank, mein edler, unvergleichlicher Freund! Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nun auch noch diesen großen Schmerz bereitete. S. E.‘

Das war das Ende!“ schloß Tromholt.

„Und Du liebst sie, liebst sie noch und hast nie wieder von ihr gehört?“ fragte Bianca, tief erregt von ihres Bruders Erzählung.

Tromholt beantwortete nur den letzten Theil der Frage. „Doch,“ sagte er, „heute.“

„Heute? – Und was?“

„Dieses hier,“ entgegnete Tromholt mit gepreßter Stimme, indem er aus der Seitentasche seines Rocks einen Brief hervorzog und ihr hinreichte. „Lies!“

Sie griff eifrig nach dem Gebotenen und entfaltete es.

„Die Verlobung unserer ältesten Tochter Susanne mit dem kaiserlichen Lieutenant zur See, Herrn Grafen Leo von Utzlar, beehren wir uns hierdurch anzuzeigen.

John Ericius und Frau,
geb. Gräfin von Tolk.«

„A – h!“ rief Bianca langgezogen.

Tromholt aber bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ein leiser Ton entrang sich seiner Brust, während sich die Hand seiner Schwester in zärtlicher Theilnahme auf sein Haupt legte.

*               *
*

In der Nacht nach dieser Unterredung wurde Richard Tromholt durch einen Lärm auf dem Gutshofe geweckt. Rasch sprang er aus dem Bett, kleidete sich nothdürftig an, öffnete vorsichtig die Fenster seines nach dem Hof liegenden Schlafgemaches und spähte hinaus.

In demselben Augenblicke floh eine weibliche Gestalt bis an die Mauer des Hauses und suchte sich hier in dem Dunkel zu verstecken. Als sie aber den vorgebeugten Körper des Direktors bemerkte, tastete sie zitternd nach seiner Hand und flüsterte: „Um Gotteswillen, schützen Sie mich, Herr!“

„Was ist?“ forschte Tromholt leise und hielt die dargebotene Rechte fest.

„Peter Jeppe – der Däne – er ist betrunken und zerrte mich auf dem Flur an sich. – Wir saßen noch spät beim Spinnen, und dann wollte ich ins Wirthschaftsgebäude hinübergehen. – Ich lief von ihm fort, – er hinter mir her, packte mich. Ich riß mich los und schrie. Nun fiel er – ich weiß nicht, ob er liegen geblieben ist. – Ich fürchte mich. O Herr! Lassen Sie mich ins Herrenhaus oder geleiten Sie mich zurück!“

{PRZU}} [459] „Ja, bleibe hier stehen, rühre Dich nicht. Ich komme mit einer Laterne – gleich – und führe Dich.“

Nach diesen Worten trat Richard rasch zurück, und das bebende Mädchen schob sich in das Dunkel einer nahestehenden Kastanie.

Als Tromholt bald darauf aus dem Hause heraustrat, sah er Peter Jeppe, einen starken Menschen mit rothen Haaren, der sich bereits wiederholt durch seine Rohheiten bemerkbar gemacht hatte, an der Mauer entlang schleichen.

Mit raschen Schritten war Richard an seiner Seite, und im nächsten Augenblick saß seine nervige Hand dem Burschen im Nacken.

„Elender, bist Du schon wieder betrunken und stellst den Mädchen nach? Ich will Dich lehren, Ruhe halten. – Komm nur hervor, Grete, er soll Dir nichts anhaben.“

Damit stieß Tromholt den plötzlich Ernüchterten, der sich zähneknirschend unter seiner Faust duckte, vor sich her, bis sie eines der Arbeitshäuser erreicht hatten. Hier zog er die Glocke, und bald darauf erschien der Aufseher mit erschrockener Miene in der Thür.

„Hier! Sperren Sie den Menschen in sein Zimmer ein!“ befahl Tromholt. „Morgen früh um acht Uhr soll er ins Comptoir kommen, da werde ich das Weitere bestimmen.“

Der Mann nickte, und Peter Jeppe folgte, einen drohenden Blick auf Grete werfend, dem Aufseher ins Haus. Richard aber brachte das noch vor Furcht zitternde Geschöpf nach dem Frauengebäude. Nach Art dieser Leute nickte sie nur leicht, bog sich knicksend herab und verschwand, ohne ein Wort zu sagen.

Eben wollte auch Richard sein Lager wieder aufsuchen, als abermals ein lauter Lärm ihn nach dem jüngst verlassenen Arbeiterhaus zurückführte. Er sah schon von fern Peter Jeppe und den Aufseher in einem wilden Handgemenge. Der letztere wehrte sich wie verzweifelt, aber der rothe Däne war ihm über und bearbeitete ihn mit den Fäusten. Als jedoch Richard hinzusprang und ihn fassen wollte, ließ er sein Opfer plötzlich los und entfloh. Am Staket wandte er sich noch einmal um und schrie mit heiserer Stimme:

„Paßt auf! Wenn Euch der rothe Hahn auf dem Dache sitzt, wißt Ihr, wer’s gewesen ist!“

Inzwischen hatte sich der Aufseher, Clas Oelschläger, wieder erhoben und war hinkend und sich das Blut von der Stirne wischend, auf seinen Herrn zugetreten.

„Er überfiel mich im Flur,“ hub er, bevor noch Richard fragen konnte, an, „preßte mich gegen die Wand und drohte, mich zu tödten, wenn ich ihn einsperre. Als ich auf Ihren Befehl verwies, packte er mich um den Leib, warf mich auf die Erde und nahm dann Reißaus. Nun eilte ich ihm nach und faßte ihn an der Kehle. Er aber gewann die Oberhand, stieß mich vor die Brust und – –“

„Ja, ja, ich sah, Clas!“ unterbrach Richard des Keuchenden Rede und legte die Hand besänftigend auf seine Schultern. „Hoffentlich hat er Dir nichts zerschlagen. Leg Dich nieder! Morgen sprechen wir weiter. Wir werden überlegen, wie wir ihn unschädlich machen. Es soll gleich in der Frühe einer zum Hardesvogt nach Limforden, damit die Gendarmerie benachrichtigt wird.“ –

Als sich Richard und Bianca am folgenden Morgen beim Frühstück zusammenfanden, forschte Frau von Gunar ängstlich nach den Vorgängen der Nacht und gab, als ihr Bruder berichtete, ihrer Besorgniß Ausdruck. Tromholt aber schüttelte leichthin den Kopf.

„Ach, das ist nichts. Die da drohen, sind nicht zu fürchten,“ entgegnete er. „Auch wird ihm schon morgen die Landpolizei auf den Fersen sein. Für die Nacht werde ich Wächter ausstellen, auch die Hunde sollen losgemacht werden – – Aber was ist das?“ unterbrach er seine Rede, als sein Blick auf die Aufschrift eines Briefs fiel, den ihm der eintretende Diener überreichte. Der Inhalt des Schreibens lautete:

„Herrn Direktor Richard Tromholt,

Trollheide.

Ich beabsichtige, am fünften mit meiner ganzen Familie für die Dauer von vierzehn Tagen in Limforden einzutreffen, möchte Sie daher ersuchen, Ihre Inspektion in Trollheide zu unterbrechen und an diesem Tage zurück zu sein. In meiner Begleitung wird sich meine Frau, meine Tochter Susanne und Graf Utzlar, mein künftiger Schwiegersohn, befinden. Hauptsächtich wegen des letzteren habe ich mich zu der Reise entschlossen. Näheres darüber mündlich.

Hochachtend
John Ericius.“

Richard verharrte lange unbeweglich bevor er das Wort nahm. „Nun hatte ich mir ein so herrliches Zusammenleben mit Dir ausgemalt, Bianca,“ stieß er endlich heraus und erhob den Blick zu seiner ihn gespannt beobachtenden Schwester. „Jetzt ist auch diese Hoffnung zerstört!“

„Was ist denn? Was ist, mein lieber Richard?“ drängte Bianca.

„Hier! Lies!“ entgegnete der Mann und schob seiner Schwester das Schreiben hinüber. Ein Ausruf der Befremdung drang auch aus ihrem Munde: „Was hat das zu bedeuten, Richard? Wie rätselhaft ist der Schluß! Und – wie peinlich für Dich, mit – ihr – ihr zusammenzutreffen! Findest Du es zart, daß sie dieser Reise zugestimmt hat?“

„Viele Fragen auf einmal,“ murmelte Tromholt etwas schroff. Aber dann gleich wieder liebenswürdig einlenkend, fuhr er fort: „Ja, räthselhaft, und nichts konnte mir ungelegener kommen. Was Du aber von Susanne gesagt hast, – einmal müssen wir uns doch wieder gegenübertreten, früher oder später. Auch ist eine lange Zeit vergangen seit damals – fast drei Jahre, da verwischt sich manches – –.“

Tromholt sprach nicht weiter, er erhob sich, trat ans Fenster und schaute mit zerstreuten Blicken hinaus ins Freie.

Ein Stündchen später wanderte Richard durch das Gut, sah in die Arbeitshäuser, hörte die Berichte der Beamten und ritt nachher in Begleitung seiner Schwester auf die Torfmoore.

Hundertunddreißig Arbeiter waren hier beschäftigt. Maschinen stampften. Eben wurden riesige Flußkähne beladen, die stromabwärts bis ans Meer fuhren, wo ihr Inhalt von Dampfschiffen weiter befördert wurde.

Die Beinkeider hoch aufgestreift, standen die Leute meistens im Wasser und arbeiteten; an vielen Orten ließ sich die Schicht wie Lehm abgraben, und es war erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit die Geübteren mit den scharfen Spaten vorwärts kamen. Die Dampfmaschinen pumpten das Wasser da, wo es bei der Arbeit hinderte, aus den Tümpeln und Lachen, und in Oefen, die wie große Ziegelbrennereien aussahen, wurden die Torfstücke zu Hunderttausenden getrocknet. Heideland, – Torfmoor, soweit man zu sehen vermochte. Kein Strauch, kein Baum! Ein Todtenlager! Aber darauf thätige Menschen, die aus den erstarrten Gebilden doch wieder das Material zogen, um prasselnde Flammen zu wecken. Mit vielen Arbeitern sprach Richard Tromholt. Sein Gedächtniß war erstaunlich, seine Güte und Fürsorge für jeden dieselbe.

Bevor die Geschwister ihren Weg zurücknahmen, trat ein alter Mann mit einem langen, stark gekräuselten Bart und Haaren, die ihm unter der haubenartigen Mütze bis auf die Schultern herabfielen, auf Richard Tromholt zu und sagte. „Erlauben Sie, Herr Direktor, daß ich morgen mit dem Frachtboot nach Mückern fahre? Sie wissen, meine Tochter Ingeborg hält Hochzeit. Ich kehre übermorgen mit dem leeren Kahn, den Jonas Pries führt, zurück.“

Richard besann sich einen Augenblick, dann entgegnete er:

„Ja, natürlich, Peter Elbe! Und wenn’s Euch recht ist, wollen wir zusammen fahren. Ich möchte das Fest mitfeiern.“

„Wie? Sie wollen? Welche Ehre, Herr Direktor!“

„Ja, und auch meine Schwester wird, wenn Ihr’s erlaubt, sich anschließen,“ ergänzte Tromholt, den Dank abwehrend, und nickte dem Alten freundlich zu. „Sorgt, daß alles hübsch glatt ist, wenn wir einsteigen. Punkt neun Uhr fahren wir ab. Nicht wahr, dann geht das Boot?“

„Jawohl, jawohl, Herr Direktor!“ rief der Alte, dessen Gesicht strahlte, den sich entfernenden Geschwistern nach.

Als sie zurückritten, sagte Richard zu Bianca: „Es ist Dir doch recht, daß wir den kleinen Ausflug machen? Du wirst Freude an der schönen Stromfahrt haben. Drei kleine Stunden sind wir unterwegs, Mückern liegt an einer tief in das Land einschneidenden Bucht der Nordsee. Es ist ein reizendes, keines Städtchen, und die Familie des Bräutigams und die Freunde des Alten, der mein bester und zuverlässigster Beamter ist, werden Dir gefallen. Der Schwiegersohn ist Seemann, er fährt auf seinem eigenen Schiff. Die Tochter von Peter ist ein ungewöhnlich [460] hübsches Mädchen. Sie hat eine gute Erziehung genossen und war längere Zeit als Wirthschafterin hier auf dem Gute thätig. Wenn jemals ein weibliches Wesen mir neben Susanne Ericius hätte eine Neigung einflößen können, so wäre sie es gewesen.“ -

Am nächsten Morgen ritten die Geschwister an den kleinen Hafenplatz, wo Peter Elbe wartend dastand. Er hatte über seinen schwarzen, langen Festrock eine Seemannsjacke gezogen und half ihnen beim Einsteigen in das große Stromboot. Sie fuhren wohl eine Stunde durch die Heide. ohne daß sich außer einigen Wandervögeln etwas Lebendiges sehen ließ. Es lag ein blauverschwommener Nebel über der Landschaft, der, wie Richard erklärte, von dem Rauch eines meilenweit sich erstreckenden Heidebrandes herrühren mußte. Dem mit Schlinggewächsen und Moosen überwucherten Grund des Strombetts entstieg ein scharfer erdiger, aber nicht unangenehmer Duft, sobald sich die Ruder einmal tiefer einsenkten. Dann und wann begegneten sie leeren Fahrzeugen, die den Weg zu den Ericiusschen Werken zurücknahmen Die Ruderknechte, die blau und weiß gestreifte Hemden und, wie Peter Elbe, haubenartige Mützen auf dem Kopf trugen, grüßten ehrerbietig. Bisweilen rief Richard ein fragendes Wort hinüber, und die Antwort erfolgte in dem Plattdänisch, das jene sprachen.

Später ward das Bild der Landschaft freundlicher. Herbstschmetterlinge und Libellen schwebten über der Ebene, und die Sonne, die an Kraft gewonnen hatte, warf wundervolle Lichter über das weite Gefilde.

Endlich langten die Reisenden in Mückern an. An dem Hafen standen schwatzende Schiffsknechte, Arbeiter, alte Leute, Seevolk, meist in Hemdärmeln. Hier und dort ward ein Schiff ausgeladen, Ketten rasselten, der Pfiff einer Dampfpfeife ertönte, dunkler Rauch wälzte sich aus den Schornsteinen. Theer- und Seegeruch erfüllte die Luft; überall eilfertiges Leben. Mückern hatte lange Straßen mit schmucken, kleinen Häusern. In allen Fenstern standen Blumen, und fast vor jedem Haus befand sich eine Bank. Wohlhabenheit machte sich bemerkbar, wohin man sah, und große Sauberkeit erfreute das Auge.

Als Richard mit seiner Begleiterin das Haus des Kapitäns Larsen, des Bräutigams, erreicht hatte, wurden sie von diesem, seiner Braut und seiner Mutter, einer alten Frau, die eine Männermütze auf dem Kopf trug, aufs herzlichste empfangen. Der Bräutigam war ein starker, untersetzter Bursch, dem die Uniform eines Kapitäns nicht übel zu Gesicht stand. Seine wetterharten Züge hatten eine unverkennbare Aehnlichkeit mit denen seiner Mutter, doch fehlte ihnen der Ausdruck treuherziger Güte, der aus den dunklen Augen der Alten sprach und vereint mit dem silbergrauen Haar die Härten ihrer eigenartigen, fast männlichen Erscheinung angenehm ausglich.

Ein geradezu überraschendes Bild aber bot Peter Elbes Tochter, die schon seit geraumer Zeit hier bei der Alten wohnte. Bei ungewöhnlicher Größe und schlankem Wuchs entbehrte ihre Erscheinung doch nicht der Anmuth, und ihre Züge hatten einen überaus edlen Charakter. Sie schien indessen mit ihrem Herzen wenig bei der bevorstehenden Hochzeit zu sein und begegnete ihrem Bräutigam mit so gezwungener Freundlichkeit, daß es Bianca auffiel und sie ihren Bruder nicht ohne Besorgniß darauf aufmerksam machte.

Richard hatte sich eben den Danksagungen für ein reiches Geschenk, das er mitgebracht hatte, entwunden und gab seiner Freude über das zierliche Häuschen Ausdruck. Eine tadellose Sauberkeit herrschte in den kajütenartig niedrigen, aber hellen Zimmern. Bunte Tassen standen auf Schränken und Kommoden, deren glatte Flächen die blankgeputzten Messinggriffe wiederspiegelten, und von dem Braun der getäfelten Wände, des gebohnten Fußbodens und der alten, durch den Gebrauch dunkelblitzenden Möbel hoben sich die schneeweiß bemalten Paneele unter den blumenbesetzten Fensterbänken reizvoll ab.

Nachdem alle Platz genommen, ward ein reichliches Frühstück aufgetragen, zu dem die Männer einen hellen Branntwein tranken. Das Hauptmahl sollte erst später nach der kirchlichen Trauung im sogenannten „Schifferhaus“, einer öffentlichen Herberge, stattfinden.

„Es ist zu klein bei mir -“ erklärte die Alte, indem sie wohlgefällig mit der Hand über ihre braunseidene Schürze strich. „Und ich hab’ ja ein paar Schilling. Da kommt’s nicht drauf an.“

Nach einer kleinen Stunde, die in munterem Gespräch verfloß und namentlich durch Peter Elbes frohe Laune gewürzt ward, erhob sich die Braut, um sich anzukleiden, und auch der Kapitän entfernte sich für einige Zeit, nachdem er noch die Gäste in einen kleinen, schmucken, hinter dem Hause gelegenen Garten geleitet hatte. Während die Zurückbleibenen dort plaudernd auf- und abschritten, - etwa ein halbes Stündchen mochte verflossen sein, - kam das Hausmädchen in höchster Aufregung herbeigelaufen und fragte die Alte, ob sie nicht wisse, wo Fräulein Ingeborg sei.

Diese Frage erweckte zunächst keine Besorgnis; als aber das Mädchen wiederholte, die Braut sei Verschwunden, man suche sie vergebens im Haus und in der Nachbarschaft, da ergriff die Alte und ihre Gäste eine große Unruhe. Bianca wechselte mit ihrem Bruder einen überraschten und erschreckten Blick, und eben, als sie alle sich ins Haus begeben wollten, stürzte ihnen Larsen, bleich vor Erregung, mit einem Zettel in der Hand, entgegen. Ein Unbekannter, knirschte er, habe ihn soeben überbracht. Und mit bebender Stimme wiederholte den entsetzt aufhorchenden Gästen Larsen das Geschriebene, dass lautete:

„Ich habe Mückern verlassen. Ich kann Dir nicht angehören. Verfolge mich nicht, es wäre vergeblich!

J. E.“


3.

Richard und Bianca waren nach Trollheide zurückgekehrt. Der alte Peter hatte auf der Rückfahrt dagesessen wie ein Steinbild, unbeweglich und in sich gekehrt, und nur ab und zu mit trostlos finsterem Blick die Augen auf die öden, weiten Heideflächen gerichtet, an denen sie mit schnellem Ruderschlag vorüberfuhren.

Jedem Zuspruch war er ausgewichen. Es sei diese Verbindung sein Herzenswunsch gewesen, hatte er wimmernd hervorgestoßen. Nun sei alles todt. Was aus seiner Tochter werden solle, die allein in die Welt hinausgegangen sei? Vielleicht würde er sie nie wiedersehen! Und die Schande! Mit welchen Worten würden die Leute in Mückern in Zukunft von ihr reden!

So hatte es denn Richard aufgeben müssen, den Alten zu trösten, zumal er mit seinen eigenen Sorgen genug zu thun hatte.

Peter Jeppe war, wie ihm bei seiner Rückkehr berichtet wurde, von den Gendarmen zwar nicht eingefangen worden, doch hatten sie seine Spur in der Umgegend entdeckt und hofften, ihn demnächst dingfest zu machen. Dass beruhigte Richard zunächst, doch bestand er darauf, daß seine Schwester ihn begleite, als er zwei Tage später, dem Wunsch des Herrn Ericius, entsprechend, nach Limforden übersiedelte. Mancherlei Bedenken, die sich namentlich auf das Zusammenleben mit der Familie Ericius bezogen, hatten in Bianca den Wunsch rege gemacht, in Trollheide zu bleiben und dort die Rückkehr ihres Bruders abzuwarten Als ihr Richard jedoch erklärte, daß er in seinem eigenen Haus wohne und sie als sein Gast dort von den Ericius völlig unabhängig sei, gab sie ihren Widerstand nicht nur auf, sondern richtete sich auch, dem Wunsch ihres Bruders entsprechend, darauf ein, die ganze noch übrige Zeit ihres Besuchs auf dem herrlich gelegenen Hauptgut zuzubringen und nicht wieder nach Trollheide zurückzukehren.

Die Geschwister hatten, da der Herbst noch immer milde, fast sommerlich warm war, in einem offenen Wagen Platz genommen. Ein eigener Zauber war über der scheinbar so unveränderlichen und doch so wechselnde Bilder bietenden Landschaft ausgebreitet. Eine solch traumvergessene Stille lag über der weiten, von dem blauüberschleierten Horizont begrenzten Ebene, so wundervoll waren die Farben, ein so wunschloses Genügen schien die Erde und die auf ihr lebenden Geschöpfe zu durchdringen, und ein solcher Friede erfüllte zufolgedessen ihre Seele, daß in Bianca fast das Verlangen aufstieg, nie wieder in die große Stadt zurückzukehren, sondern in dem Umgange mit der Natur die künftige Daseinsbefriedigung zu suchen.

Am Spätnachmittag langten Richard und Bianca in Limforden an. Schon während der letzten Wegstunde hatte sich der Charakter des Landes allmählich verändert, überraschend jedoch trat ihnen dieser Wechsel erst jetzt, da sie die Grenze des Gutes erreicht hatten, entgegen. Eine von Ueppigkeit strotzende Natur löste die unfruchtbaren Flächen ab. Was Limforden so eigenartig schön machte, waren die überall von Buchen- und Eichenwald umgebenen ungewöhnlich großen Wiesenabschnitte. Die Gebüsche auf den sie einfriedigenden Wällen waren im Lauf der Jahrhunderte allmählich zu Bäumen herangewachsen, deren stolz und kraftvoll emporstrebende Stämme diese weitläufigen Flächen wie im Dienst der Ruhe und der Schönheit bestellte Wächter umstanden. Je näher sie dem Gutshof kamen, desto mehr wuchs Biancas Entzücken.

[462] Wie ein von der großen, geräuschvollen Welt abgeschiedener und noch in dem seligen Behagen des Friedens und ungetrübten Glückes ruhender Erdenfleck erschien diese Gegend dem Auge.

In imposanter Stattlichkeit erhob sich im Hintergrund eines großen, von weitläufigen Wirthschaftsgebäuden flankierten Hofs das aus grünen Parkanlagen auftauchende Herrenhaus, ein altes, schloßartiges Gebäude, einst der Stammsitz der gräflichen Familie Tolk, von der es Ericius seiner diesem Geschlecht zugehörigen Gattin zuliebe erworben hatte.

Das Haus des Direktors befand sich unter mächtigen Kastanienbäumen versteckt neben dem des Oberinspektors, eines Herrn von Alten, inmitten eines hübschen, kleinen Gartens.

Hunde bellten, neugierige Mädchen und Knechte erschienen in den Thoren der Scheunen und Ställe, vorübergehende Arbeiter zogen die Mützen, die eben zum Melken abfahrenden Dirnen, nebeneinander sitzend auf offenen Wagen, unter denen blankgeputzte Milcheimer schaukelten, grüßten mit kurzer Kopfneigung, und endlich hielt der Wagen vor dem Haus des Direktors. Ole, Tromholts Diener, sprang hinab, in der Thür erschien Marieken, die alte Wirthschafterin, und Richard führte seine Schwester in die für sie im ersten Stockwerk hergerichteten Gemächer.

Während sie sich’s dort bequem machte, suchte er seine eigene, im Erdgeschoß liegende Wohnung auf. Aber er glaubte seinem Auge nicht trauen zu sollen, als er beim Eintritt – Ingeborg, die Tochter von Peter Elbe, vor sich sah.

„Sie, Sie, Fräulein Ingeborg?“ rief er, seinem ungemessenen Erstaunen Ausdruck verleihend.

„Ja, ich! Verzeihung, Herr Direktor!“ erwiderte das schöne Mädchen, mit flehenden Augen zu ihm aufblickend, und wäre vor ihm ins Knie gesunken, hätte er sie nicht daran gehindert.

„Weiß jemand außer der Alten, daß Sie hier im Hause sind?“ fragte Richard, rasch die Sachlage überdenkend.

„Ich hoffe nicht!“ entgegnete Ingeborg. „Ich kam gestern nacht auf Umwegen hierher, weckte Marieken und sagte ihr alles.“

„Sie haben also nicht, wie angenommen wurde, das Dampfschiff benutzt?“

„Nein, Herr Direktor! Ich wünschte nur, Larsen von meiner Spur abzulenken.“

Einen Augenblick schwieg Richard Tromholt, dann sagte er, voll warmherziger Theilnahme in Ingeborgs Zügen forschend: „Sie lieben den Kapitän nicht?“

„Nein, ich hasse ihn!“ stieß das Mädchen hervor.

„Wäre es aber dann nicht richtiger gewesen, Sie hätten ihn und die Ihrigen von Ihrem Entschluß früher in Kenntniß gesetzt? Haben Sie nicht bedacht, welch furchtbaren Herzenskummer Sie Ihrem Vater durch Ihre Flucht bereiten würden?“

„Ach, – ja – mein Vater, mein guter, alter Vater!“ flüsterte Ingeborg, indem sie stöhnend das Haupt sinken ließ.

Ihr Schmerz that Richard weh, darum gelangte er, auf weitere Aufklärung verzichtend, zu einer schnellen Entscheidung.

„Jeden Augenblick,“ sagte er, sie beruhigend, „können meine Schwester, der Oberinspektor und andere Leute vom Gute hier eintreten. Wir wollen deshalb zunächst nur ins Auge fassen, was jetzt für Sie zu thun ist, und das Vergangene auf sich beruhen lassen. Ich werde für Sie eintreten, Ingeborg, auch wenn ich die Gründe Ihrer Handlungsweise nicht kenne. Wollen Sie sich ganz meiner Führung überlassen?“

Ihr stummer Blick sagte ihm, wie sie ihm für sein Vertrauen dankte, und wie sie’s erwidern wollte. Ja, mehr noch als Dank und Vertrauen sprach aus diesem Blick, etwas, das Richard nicht verstand oder nicht verstehen wollte.

„Wohlan,“ sagte er, „dann reisen Sie noch heute von hier fort, und zwar nach Hamburg, und begeben sich in das Haus meiner Schwester, der Frau von Gunar, die in einigen Wochen dahin zurückkehrt. Daß es Ihnen an nichts fehlen wird, dafür werde ich sorgen. Später werden wir weiter sehen. Vielleicht können Sie bei ihr bleiben, ich hoffe es. Sonst aber müssen wir uns nach einem Hause umschauen, in dem Sie Beschäftigung und Erwerb finden. Ist’s recht so, Fräulein Ingeborg?“

Ohne Antwort zu geben, beugte sich das Mädchen tief zu Tromholt herab und drückte die Lippen auf seine abwehrenden Hände.

„Noch eins zu meiner Beruhigung,“ fuhr er, sie sanft emporrichtend, fort: „Ist er schlecht, kein Ehrenmann, der Kapitän?“

„Falsch ist er und roh! Ich wußt’ es längst und wußte auch, daß ich nie die seine werden könne. Aber die Furcht vor seiner Rache, die Scham und die Sorge um meinen Vater, der ihm so zugethan war, lähmten mir den Muth, zu sprechen. Da vergaß ich alles andere und that, was Sie wissen.“

Die Erinnerung überstandener Qual machte Ingeborg, aufs neue erzittern. „Armes Kind!“ sagte Richard, indem er ihr mit der Hand über den Scheitel strich. „Aber nun gehen Sie zur alten Marieken, niemand sonst darf Sie hier sehen. Inzwischen spreche ich mit meiner Schwester, besorge alles Nöthige, und den Abend noch können Sie abreisen. Leben Sie wohl, vergessen Sie das Vergangene und blicken Sie vertrauensvoll in die Zukunft!“

Er drückte ihr die Hand, dann entfernte sie sich nach einem langen Blick auf Richard durch eine Hinterthür, während dieser zu seiner Schwester emporstieg. –

*               *
*

Bianca war, wie Richard auch nicht anders vorausgesetzt hatte, einverstanden, Ingeborg bei sich aufzunehmen. Die letztere hatte Limforden bereits verlassen, und Tromholt – es war gegen Mittag des folgenden Tages – bereitete sich vor, Herrn Ericius und dessen Familie zu empfangen.

Eine prächtig geschmückte Ehrenpforte war errichtet worden; allerlei sonstige Empfangseinrichtungen zu treffen, hatten sich die drei obersten Verwaltungsbeamten ebenfalls nicht nehmen lassen. Da zu Limforden ein großes Kirchdorf gehörte, so waren auch der Pastor, die Lehrer, die Schulkinder und viele Dorfbewohner erschienen und hatten am Thoreingang sich aufgestellt.

Aber als Richard kurz vor dem erwarteten Eintreffen der Herrschaften mit Bianca über den Hof schritt, kam ihm Alten, mit dem er in einem besonders vertraulichen Verhältniß stand, unter allen Anzeichen größter Bestürzung entgegen, hielt ein Papier in der Hand und zeigte dem durch seine Haltung beunruhigten Tromholt den Inhalt einer eben eingetroffenen Depesche:

„Gutsverwaltung Limforden. Mein Mann plötzlich verschieden. Reise vorläufig verschoben. Weiteres schriftlich.
Frau John Ericius.“ 

Diese Nachricht traf Richard wie ein vernichtender Schlag; für Minuten stand er wie gelähmt; das warf all’ seine Pläne übern Haufen. Was sollte nun aus dem begonnenen Werke werden? Was aus ihm selbst?

Am Nachmittag, nachdem die erste Bestürzung sich gelegt hatte und alle zu der Empfangsfeierlichkeit Herbeigeeilten zu ihren Beschäftigungen zurückgekehrt waren, wanderte Richard, um die quälenden Gedanken loszuwerden, mit seiner Schwester hinaus an die Seen, deren Trockenlegung nicht mehr fern war. Hunderte von Arbeitern waren auch hier beschäftigt. Die Dampfpumpen schöpften das Wasser aus und leiteten es in die Abzugskanäle, die ganze Gegend hallte wieder vom Lärm ihrer Thätigkeit. Auf dem Rückweg besuchten die Geschwister gleichzeitig die Holzschneidereien, die Richard als sein erstes, eigenstes Werk besonders am Herzen lagen. Auch hier herrschte ein unruhig bewegtes Leben. Das schnurrte und stöhnte und stampfte und pustete – die Musik der Arbeit!

Wie lange noch? dachte Richard. Ja, die Pflicht, die Arbeit, die waren’s, die ihn aufrecht gehalten hatten bei jeder Sorge und die das Weh in seiner Brust übertäubt hatten. Und nun, was nun? Bald würde es vielleicht still sein hier, todtenstill – hier und überall, nur nicht in seinem Herzen. –

Die schwermüthigsten Gedanken bewegten Tromholt, und Biancas liebevolles Zureden vermochte nicht, sie zu zerstreuen. Voll der trübsten Ahnungen kam er nach Haus. Er verbrachte eine schlaflose Nacht, und als er am nächsten Morgen unter den verschiedenen Schreiben, welche ihm die Post gebracht hatte, auch eines mit dem Poststempel „Kiel“ und den Schriftzügen der Frau Ericius auf der Adresse vorfand, glaubte er seine schlimmsten Besorgnisse erfüllt. Mit einer Art dumpfer Entsagung löste er das schwarze Trauersiegel und las den Inhalt:

Geehrter Herr Direktor Tromholt!

Nach Empfang dieser Zeilen bitte ich Sie, sofort abzureisen und auch diejenigen Herren, die meinem Mann das letzte Geleit geben wollen, zu bitten, unverzüglich aufzubrechen. Für Sie privatim und zunächst im engsten Vertrauen füge ich hinzu, daß [463] in dem Testament meines verstorbenen Gatten Bestimmungen getroffen sind, die von großer Bedeutung für Sie, aber auch für mich sind.

Darüber mich mit Ihnen bei Ihrer Hieherkunft persönlich ausführlicher zu besprechen, ist natürlich gleichzeitig mein Wunsch und verstärkt die Bitte, daß Sie meinem Rufe gütigst Folge leisten mögen. Ergebenst 
Susanne Ericius  
geb. Gräfin von Tolk." 

Noch während sich Richard mit seiner Schwester über den muthmaßlichen Inhalt der letzten Willensbestimmungen des verstorbenen Herrn Ericius unterhielt, ließ sich Herr von Alten, der Oberinspektor, bei ihnen melden.

Alten war ein unverheiratheter Mann von etwa fünfunddreißig Jahren mit einem großen, starkgebauten Kopf, einigen Schmarren über der Backe, forschenden, etwas Leuchtendes in sich bergenden Augen und einem kräftigen blonden Bart. In seinen Bewegungen lag Ruhe, aber er besaß einen sehr beweglichen Geist, der ihn verführte, häufig abfällige Urtheile über Personen und Verhältnisse zu fällen. Seine Laune und arbeitsthätige Unverdrossenheit waren sprichwörtlich. Immer sah man ihn mit seiner kurzen Pfeife zu Fuß oder zu Pferde unterwegs, und wie Richard Tromholt schien er einen gegen jeden Eindruck von außen gestählten Körper zu besitzen.

„Ich störe nicht, gnädigste Baronin? Und auch Sie nicht, lieber Tromholt? Ich wollte mich noch mit Ihnen wegen unserer Abreise besprechen, da ich ausgerechnet habe, daß wir gegebenen Falles schon am Spätnachmittage in Kiel eintreffen können. Ich lasse dann morgen früh um fünf Uhr anspannen." –

Richard war damit einverstanden. Während sie noch die Abfahrtszeit der Züge studirten, wurde er in einer häuslichen Angelegenheit von Marieken, der alten Haushälterin, abberufen, und Alten blieb allein mit Bianca. Eine leichte Verlegenheit beherrschte für die ersten Augenblicke beide, dann sagte Alten, von dem früheren Thema abspringend, gleichsam als ob es ihn dränge, einem Gedanken, der ihn lange beschäftigt hatte, endlich Ausdruck zu geben: „Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin, daß Sie sich entschlossen haben, noch einige Wochen, hoffentlich“ – hier verneigte er sich lächelnd – „den Herbst und ein Stück des Winters in Limforden zu bleiben. Es ist trostlos, wenn man mit sich selbst ganz allein umgehen muß.“

„Ich sollte meinen, daß eine, wie ich höre, so ausgezeichnete Gesellschaft einen nie ermüden könnte. Das beweist eine unzufriedene Natur!“ scherzte Bianca und rückte sich bequem in ihrem Schaukelstuhl zurecht.

Alten schmunzelte, dann sagte er: „Sie irren, meine gnädige Baronin. Ich bin langweilig wie ein altes Theebrett, wenn ich mir selbst Besuche mache. Ich habe freilich Ihren vortrefflichen Herrn Bruder, aber er schließt sich doch auch bisweilen völlig ab und ist dann unnahbar, ganz abgesehen davon, daß ihn das Geschäft oft Wochen lang fern hält. Nein, nein! Es ist ein ungemessenes Glück, daß Sie unsere belebende Sonne werden wollen, jetzt, hoffentlich noch oft, vielleicht für immer! Das heißt, wer weiß, ob die Erben des seligen Herrn Ericius uns nicht sämmtlich das Ausweisungsdekret zustellen. Davor schützt uns auch die Anwesenheit der schönsten und liebenswürdigsten Frau nicht.“

Bianca lachte, aber sie wehrte ab; sie nahm solche Artigkeiten nicht ernsthaft.

„Im Gegentheil,“ erwiderte sie, „ich bin die Unterhaltungsbedürftige, und wenn ich mich entschließe, eine Zeit lang hier zu bleiben, so geschieht es in der selbstsüchtigen Erwartung, daß ich mich hier besser unterhalte als in Hamburg, meinem einsamen Witwensitz, und daß die Herren das Ihrige dazu beitragen, mich wieder lachen zu lehren.“

„Würde ich außerordentlich gern übernehmen!“ scherzte Alten. „Aber jetzt, jetzt, meine Gnädige, an dem Grabe des Herrn Ericius solche Gedanken auch nur fassen, ist einer frommen Seele unmöglich.“

„Aufrichtig, dieser Spott gefällt mir nicht!“ wandte Bianca kopfschüttelnd ein. „Herr Ericius war doch Ihr Vorgesetzter, ein tüchtiger Mann und –“

„Wohl, meine Gnädige, das letzte ist wahr! Aber bedingt das denn Liebe?“

„Nein, aber – Pietät, ein pietätvolles Gedächtniß. Ueber Todte soll man nur Gutes sagen.“

„Hm! – hm!“ stieß Alten heraus. „Wir wollen einmal ganz unbefangen sprechen, nicht als angelernte Kulturmenschen, die sich meistens etwas vorgaukeln, sondern als ehrliche Naturkinder. Der verstorbene Herr John Ericius war mir über die Maßen zuwider. Er ging einher und trat auf, als ob er über die Welt zu herrschen habe. Ich bin überzeugt, wenn der liebe Gott einmal zu uns herniederstiege, er würde bescheidener auftreten. Alle Menschen sah Herr Ericius eigentlich als seine Diener an, legte dabei im allgemeinen verzweifelt wenig Lebensart an den Tag und glaubte, wenn er zahle, zahle, zahle, seinen verdammten Mammon hinwerfe, daß er dann der beste und vortrefflichste unter den Sterblichen sei. Natürlich! Solche Art Menschen werden angestaunt und bewundert, weil die Welt sich nur allzugern beherrschen und knechten läßt, weil die Menschen meist ohne Spur von eigenem Rückgrat umherlaufen und deshalb vor Erstaunen darüber, daß andere ein solches besitzen, ehrerbietigst mit der Nase den Boden berühren.“

„Nun ja!“ warf Bianca ein. – „Das ist doch auch etwas. Sie gestehen selbst zu, daß der Verstorbene ein Rückgrat besaß, das heißt, daß er ein Mann war. Fordert das nicht zum Respekt heraus?“

„Diesen habe ich ihm nie verweigert, meine gnädige Baronin. Bitte, unterscheiden Sie wohl! Ich sagte nur, er sei mir zuwider gewesen und ich könne deshalb über seinen Tod keine Thränen vergießen, ich wolle nicht etwas heucheln, was nicht in mir sei. – Und ferner: ein Mann kann fest, gerecht, ernst, besonnen und weise sein, aber er braucht nicht zu verleugnen, daß er ein Mensch ist. Sehen Sie Ihren Bruder Richard an! Der ist ein Mann, das Ideal eines Mannes!“

Biancas Augen leuchteten. Es war ihr eigenster Gedanke, dem Alten mit diesem Urtheil über ihren Bruder Ausdruck verlieh; und ein Mann, eln starker, zielbewußter Mann war auch Alten bei all seiner zur Schau getragenen Weltverachtung.

Eben trat Tromholt wieder ins Gemach und das Gespräch ward unterbrochen. Aber Richards Mienen waren nicht heiter.

„Schon wieder eine Unglücksbotschaft,“ sagte er; „der rothe Jeppe spukt hier in der Gegend, und die Gendarmen können ihn nicht erwischen; es scheint, daß er irgendwo einen Schlupfwinkel gefunden hat. Nach Trollheide hat er einen Brandbrief geschickt, und am Ende führt er seine Drohung doch noch aus, wenn man ihm nicht scharf auf die Finger sieht. Vielleicht hat er’s gar auf Limforden abgesehen und sucht nur unsere Wachsamkeit zu täuschen und abzulenken. Ich weiß wirklich nicht, ob ich Dich hier lassen darf, Bianca, so allein, wenn wir nach Kiel reisen.“

„Oho, Richard!“ widersprach Bianca, „Du traust mir doch sehr wenig Muth zu!“

„Für alle Fälle könnte ich ja hier bleiben!“ warf Herr von Alten eifrig ein. „Unter den Leidtragenden bin ich zudem entbehrlich.“

„Nein, Alten, Sie müssen sich anschließen, das erfordert der Anstand und Ihr eigenes Interesse,“ entgegnete ihm Tromholt ernst. „Aber wir könnten – –“

„Etwa eine Leibgarde für mich errichten, Kanonen aufpflanzen und den großen Belagerungszustand über das Gut aussprechen?“ unterbrach ihn scherzend Bianca. „Nein, meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre Besorgniß um mein Leben, aber ich bin groß genug, mich selbst zu schützen, und die schlechte Meinung, die Sie von meinem Muth zu haben scheinen, macht es mir geradezu zur Pflicht, Ihnen das Gegentheil zu beweisen. Reisen Sie glücklich und kehren Sie mit guten Nachrichten wieder, ich halte inzwischen den Platz – oder,“ fügte sie nach einer Pause nicht ohne einen leisen Anflug von Koketterie hinzu, „ich reise mit, um nie wiederzukommen.“

„Alles, nur das nicht!“ rief Alten in einem Ton, der zwischen Scherz und Ernst schwankte, „da fügen wir uns lieber Ihrem Willen!“

„Schön!“ stimmte jetzt auch Richard, seine Besorgnisse unterdrückend, zu. „Wir werden ja überdies kaum länger als zwei Tage ausbleiben.“

Dann entfernte er sich mit Alten, um insgeheim doch einige Vorkehrungen für Biancas Sicherheit zu treffen.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 16, S. 485–492
[485]
4.

Im Arbeitszimmer des verstorbenen John Ericius saßen sich die Witwe und Richard Tromholt gegenüber wie zwei Menschen, von denen der eine gebeugt und des Rathes bedürftig, und der andere in ehrlichem Eifer bemüht ist, einen solchen nach bester Einsicht zu ertheilen.

Kurz vorher hatte Richard Tromholt auf Wunsch der Witwe das Testament durchgelesen und hatte nun auch die ihn selbst betreffende Stelle des letzten Willens kennen gelernt.

Der Verstorbene hatte ihm darin das glänzendste Zeugniß seines Vertrauens ausgestellt, indem er ihm die Ordnung seines Nachlasses im Verein mit dem langjährigen Prokuristen des Hauses, einem Herrn Karl Acht, übertrug und es der Entscheidung dieser beiden Generalbevollmächtigten anheimstellte, ob das Geschäft in Kiel veräußert oder für Rechnung der Familie weitergeführt werden sollte. Bezüglich der Limfordener Werke war diese Entscheidung sogar Richard allein überlassen.

Wie es von dem gewiegten Geschäftsmann nicht anders zu erwarten gewesen, waren für jeden Fall die genaueren Bedingungen vorgesehen.

Obwohl das Benehmen der Witwe Richard keinen Zweifel darüber ließ, daß sie sich diesen Bestimmungen nicht etwa nur zwangsweise, sondern mit demselben Vertrauen, das ihr verstorbener Mann ihm bezeigt hatte, unterwarf, ja daß sie in ihrer dermaligen hilflosen Lage auf ihn als auf ihre treueste, festeste Stütze blickte, mußte er sich angesichts der großen Verantwortung, die es zu übernehmen galt, doch eine Bedenkzeit erbitten, ehe er sich für das eine oder das andere entschied.

Bezüglich Limfordens zwar stand Tromholts Entschluß, wenn irgend möglich den Betrieb der dortigen Werke fortzusetzen, fest; was jedoch die Kieler Firma betraf, so schwankte er noch, und jedenfalls mußte er seine endgültige Entscheidung von einer genauen Einsicht in die Geschäftsbücher und einer Rücksprache mit Herrn Acht, seinem Mitbevollmächtigten, abhängig machen. Diesen verhinderte [486] ein Unwohlsein, der heutigen Verhandlung persönlich beizuwohnen. So konnte Richard der Witwe zunächst nur seine Wünsche und Hoffnungen, sowie sein redliches Bestreben ausdrücken, alles, was in seiner Kraft stehe, zu deren Erfüllung beizutragen.

Sie dankte ihm dafür in bewegter Weise, und da hiermit der geschäftliche Theil des Gesprächs für heute erledigt war und er auch seinem persönlichen Mitgefühl bereits Ausdruck verliehen hatte, stand Richard im Begriff, sich zu verabschieden, als Frau Ericius in bittender, vertraulicher Art ihre Hand auf seinen Arm legte. „Noch eins, Herr Tromholt,“ sagte sie, und man sah ihr an, daß es ihr nicht leicht wurde, den Gegenstand, auf den jetzt die Rede kommen sollte, zu berühren. „Etwas, das mein verstorbener Mann bei der Niederschreibung seines letzten Willens nicht mehr zu berücksichtigen vermochte, obwohl es ihn im Geist viel beschäftigt hat und auch der Grund unserer beabsichtigten Reise nach Limforden war – es betrifft den Bräutigam meiner Tochter Susanne, meinen künftigen Schwiegersohn, den Grafen Utzlar.“ – Bei der Nennung dieses Namens zuckte Tromholt unwillkürlich zusammen, aber wieder legte sich die Hand der Witwe besänftigend auf seinen Arm, als ob sie ihm durch diese Bewegung Abbitte leisten wollte für den Schmerz, den ihre Worte ihm bereiten mußten.

„Graf Utzlar hatte die Absicht und hat sie noch, von der Marine auszuscheiden, seinen Wohnsitz in Limforden zu nehmen und sich an der wirthschaftlichen Leitung des Guts zu betheiligen. Wie denken Sie darüber, Herr Tromholt? Es ist die Mutter, die Sie fragt.“

Tromholt schwieg eine Weile. Trotz der letzten Worte weckte das Mitgefühl mit Blitzesschnelle eine Reihe so trüber und bitterer Vorstellungen in ihm, daß er nicht gleich darauf antworten konnte. Es lag nicht in seiner Art, zuerst an sich selbst zu denken. Er sah zunächst die Stellung Altens, seines Mitarbeiters und Freundes, aufs schwerste bedroht, wenn der Graf sich in die Gutsverwaltung mischte, und dann – dann erst dachte er an die Qual, die es ihm selbst bereiten würde, so in ihrer, in Susannens Nähe leben, sie täglich sehen, Zeuge ihres Glückes und des Glückes jenes Mannes sein zu müssen, den sie ihm vorgezogen hatte. Es ging schier über seine Kraft, und doch kämpfte er gegen diese Schwäche, schämte er sich eines Gefühls der Eifersucht, das in ihm aufgestiegen war.

Es konnte Frau Ericius, die angstvoll seiner Antwort harrte, nicht verborgen bleiben, wie sich seine Stirne bei diesen Gedanken verfinsterte. „Er liebt sie noch,“ sagte sie sich, „aber er wird sich beherrschen.“

Und wie schwer es ihm ward, verrieth der Ton seiner Stimme. Sie hatte einen fremden, heiseren Klang, als er erwiderte: „Es ist mir ja unmöglich, gnädige Frau, ein Urtheil darüber abzugeben, ob Ihr künftiger Herr Schwiegersohn die für eine solche Thätigkeit erforderlichen Eigenschaften besitzt. Ohne mir an seinen Fähigkeiten den geringsten Zweifel zu erlauben, glaube ich doch bemerken zu müssen, daß die Bewirthschaftung eines so ausgedehnten Landbesitzes wie Limforden einen Mann erfordert, der vor keiner Anstrengung zurückscheut und mit der nöthigen Entschiedenheit des Charakters eine Kenntniß der Geschäfte verbindet, wie sie sich eben nur durch längeres theoretisches und praktisches Vorstudium erwerben läßt. Einen solchen Mann besitzen wir in Herrn von Alten. Daß dieser sich einer Einmischung, deren innere Berechtigung nicht klar am Tag liegt, willig fügen werde, muß ich, wie ich ihn kenne, bezweifeln. Andrerseits ist er aber ein so treuer, eifriger und zielbewußter Beamter, daß ich seinen Verlust, noch dazu im gegenwärtigen Augenblick, schwer beklagen würde.“

„Ich weiß, ich weiß,“ fiel hier Frau Ericius ein, „und mein seliger Gatte wußte es. Deshalb standen ihm Altens Verdienste höher als gewisse Zuträgereien von anderer Seite, und es würde weder seinen, noch meinen Ansichten entsprechen, wenn man Alten aus seiner Stellung verdrängen wollte. Auch mir wäre es lieber gewesen, mein künftiger Schwiegersohn wäre in seiner Stellung verblieben, allein der Dienst zur See ist mit Reisen oft von Jahresdauer verbunden, und ich kann es weder ihm, noch Susannen verdenken, wenn ihnen solche Aussicht für die Ehe wenig erfreulich scheint.“ Sichtbar lastete eine schwere Sorge auf dem Gemüth der Sprecherin, wieder berührte sie Tromholts Arm, als sie in weichem, fast bittendem Ton fortfuhr:

„Herr Tromholt, da wir, wie ich hoffe, nunmehr Verbündete fürs Leben sein werden, gewähren Sie mir eine Bitte, wie ich sie nur allein an Sie zu stellen wage, und die Ihnen zugleich beweisen möge, wie weit mein Vertrauen, meine Hochschätzung für Sie geht. Ich glaube nicht, daß Graf Utzlar die Eigenschaften, von denen Sie sprachen, besitzt, eine trübe Ahnung sagt mir das Gegentheil. Wachen Sie über ihm, Herr Tromholt, verhüten Sie, daß er, wenn er dort ist, was ich nicht hindern kann, seinen Vorsatz durchführt und einen Einfluß zu gewinnen strebt, der schädlich sein kann. Beugen Sie Zerwürfnissen vor, lassen Sie sich selbst nicht in Ihren Entschlüssen beirren und denken Sie, was Sie thun, daß Sie es für mich – für meine Kinder thun. – Wollen Sie? – Dank! Dank! – Leben Sie wohl!“

Sie entfernte sich rasch, ohne Weiteres abzuwarten; bestätigte ihr doch sein Händedruck die Erfüllung ihrer Bitte. Richard Tromholt aber stand in tiefster Bewegung da. Es war die schwerste Aufgabe, die ihm je zugemuthet worden. War sie nicht zu schwer, selbst für seine Mannesschultern? – Doch nicht daran dachte er jetzt, als er sich von der ersten Bestürzung einigermaßen erholt hatte. Ein Gefühl schmerzlicher Enttäuschung kam über ihn, daß ihn Susanne verschmäht hatte um eines Mannes willen, dem ihre Mutter jetzt schon mißtraute, und eine dumpfe Ahnung, daß sie ihn verschmäht haben könnte um einen, der ihrer nicht werth war, der das Herrliche, das ihm das Glück in den Schoß warf, nicht einmal zu schätzen wußte! –

Das erzählte Gespräch fand am Tage nach der Beerdigung des Herrn John Ericius statt, bei der Tromholt den Grafen nur flüchtig gesehen und von ihm den Eindruck eines Kavaliers empfangen hatte.

Ein Wiedersehen von tiefster Bedeutung stand ihm am folgenden Tag bevor, dasjenige mit Susanne. Drei Jahre waren vergangen, seit sie sich zuletzt gegenübergestanden hatten, drei Jahre aufreibender Arbeit, eine lange Zeit, und doch nicht lang genug, um zu vergessen.

Mit seiner ganzen Willenskraft hatte sich Tromholt gerüstet, als er den Gang nach der Villa am Schwanenweg, wo er heute mit den übrigen Trauergästen speisen sollte, antrat; mit Gewalt hatte er alle Erinnerungen, die sich ihm aufdrängten, zurückgewiesen, und als er nun in den Salon trat und Susanne, sich von ihrem Bräutigam trennend, lebhaft auf ihn zuschritt und seine Hand ergriff, da wich alles Blut aus seinen Wangen und strömte beklemmend nach dem Herzen. Sie war noch schöner geworden, aber auch ernster, gemessener fand er sie, als sie nun auf ihn zutrat, die Hand ausstreckte und mit einem gleichsam Verzeihung suchenden Blick und fast demüthig die ersten Sätze an ihn richtete.

Starke Befangenheit zitterte durch ihre Begrüßungsworte: „Eine schmerzliche Veranlassung ist es, die uns zusammenführt. Ich weiß, was Sie meinem Vater waren, wie er Sie schätzte und wie Sie sein Vertrauen verdienten. Ich danke Ihnen in unser aller Namen für die treuen Dienste, die Sie ihm geleistet haben und seinen Hinterbliebenen noch leisten wollen. Er war ein Mann der Pflicht wie Sie. Darf ich hoffen, daß Sie in der Erfüllung dieser Pflicht dieselbe Befriedigung gefunden haben wie er? Darf ich hoffen, daß es Ihnen stets wohl ergangen ist, daß Sie – –“

Sie stockte, das Wort „glücklich“ wollte nicht über ihre Lippen. Nein, er war nicht glücklich, sie sah es. Auch Richard schwieg, und die Pause wäre für beide Theile zu peinlich geworden, wenn nicht in diesem Augenblick Susannens Schwester Dina und Graf Utzlar hinzugetreten wären, um auch ihrerseits den Gast zu begrüßen. Mit anmuthigem Eifer wandte sich Susanne an ihren Bräutigam, um ihm Herrn Tromholt vorzustellen, aber der Graf unterbrach sie mit der Bemerkung, daß er die Bekanntschaft des Herrn Direktors – er betonte das Wort – schon gemacht habe. Dann sprach er mit diesem einige Worte in dem höflichen, aber kühlen Ton, in dem große Herren mit ihren Untergebenen zu verkehren pflegen.

Da sich jetzt auch weitere Gäste hinzudrängten und der Diener gleichzeitig meldete, daß das Essen aufgetragen sei, nahm Susanne den Arm ihres Bräutigams, und Tromholt suchte die Herrin des Hauses auf, an deren Seite er Platz zu nehmen hatte. Herrn von Alten fiel Dina zu, er hatte nicht mehr Zeit gefunden, mit Tromholt ein Wort zu wechseln.

Das Mahl verlief mit jenem Ernst, den die Veranlassung bedingte. Richard, obwohl er sich lebhaft mit der Hausfrau unterhielt, beobachtete heimlich das Brautpaar. Der Graf war von zuvorkommendster Liebenswürdigkeit Susannen gegenüber, und sie [487] lauschte mit Hingebung seinen ihr mit einer gewissen leichtfertigen Galanterie zugeflüsterten Worten.

Es war kein Zweifel, sie liebte ihn.

Als am Abend dieses Tages Alten abreiste und Tromholt, den die Geschäfte noch einige Tage in Kiel zurückhielten, ihm das Geleite zur Bahn gab, sagte der erstere: „Nun, wie gefällt Ihnen der Graf, Tromholt?“

„Ich habe nach keinen bestimmten Eindruck von ihm,“ erwiderte Tromholt ausweichend. „Seine Art ist weltmännisch, und er scheint nicht ohne Verstand zu sein.“

„Na, das wäre doch etwas,“ spottete Alten. „Aber wenn das nicht ein Erzlump ist, will ich nicht Alten heißen! Haben Sie den lauernden Zug in seinem Auge nicht bemerkt? Und diese herablassende Art, mit uns zu verkehren? Gefährlich ist der Bursch, verlassen Sie sich auf mich! Der wird uns noch lehren, wer Herr und wer Diener ist! Uebrigens, ist es denn richtig, daß er nach Limforden ziehen und den Marinedienst verlassen will? Eine entsetzliche Aussicht!“

Richard schwankte, ob er Alten schon jetzt nähere Mittheilung über sein Gespräch mit der Witwe und über die testamentarischen Bestimmungen des verstorbenen Ericius machen sollte. Er entschloß sich nach einigem Zögern, auch Biancas wegen, dazu, ihm wenigstens das Nothwendigste zu unterbreiten. Nachdem dies geschehen war, warnte er Alten vor Unvorsichtigkeiten, zu denen ihn sein heftiges Wesen nur allzuleicht hinreißen könnte. „Wir beide,“ sagte Tromholt, indem er dem Scheidenden, der ihm nicht ohne Bewegung zugehört hatte, die Hand drückte, „müssen jetzt fester denn je zusammenhalten, alles hängt davon ab. Zähmen Sie Ihre Spottlust, Alten! Wir werden beide davon Gewinn haben! Wir müssen fortan wie Brüder zusammenhalten!“

„Ich schlage ein,“ rief Alten mit leuchtenden Blicken. „Und damit ich den Titel verdiene, Tromholt, auf daß wir wirklich wie Brüder verbunden seien, was sagen Sie dazu, wenn ich Ihre Schwester heirathe? Vorausgesetzt natürlich, daß sie mich nimmt!“

Tromholt lachte ausweichend. „Sie sind unverbesserlich, lieber Freund. Leben Sie wohl und grüßen Sie mir Bianca! Ich komme bald nach.“

In diesem Augenblicke setzte sich der Zug in Bewegung und Alten konnte einer gewissen Enttäuschung nicht Herr werden, daß Tromholt seine wenn auch halb im Scherz gesprochenen, aber eigentlich anders gemeinten Worte nicht ernsthafter aufgenommen hatte.




5.

Etwa um dieselbe Zeit, während das Vorstehende sich in Kiel am Schwanenweg zutrug, schritt ein Mann, der unverkennbar dem Seemannsstand angehörte, über die Adolfbrücke in Hamburg. Es war der Kapitän Larsen aus Mückern, der mit seinem Schiff nach der Hansastadt gekommen war und eben einen Ladung nach Batavia angenommen hatte.

Als er sich zu den Arkaden wandte, um dort in einem nah dem Wasser liegenden Biertunnel einen Trunk zu sich zu nehmen, wurde sein Blick plötzlich durch eine weibliche Erscheinung gefesselt. Er stutzte, weil er seinen Augen nicht trauen zu dürfen glaubte, und blieb mit dem Ausdruck höchster Spannung stehen. Aus einem in den Arkaden liegenden Laden trat ein junges Mädchen heraus und nahm, ohne sich umzuschauen, ihre Schritte gegen den Jungfernstieg.

Larsen eilte ihr so schnell, wie er vermochte, nach, ging, als er in ihre Nähe gelangt war, scheinbar ohne sie zu beachten, vorüber, forschte aber genau in ihrem Angesicht, wandte sich dann plötzlich um und rief mit erregter Stimme: „Du! Du! Ingeborg Elbe!“

Von Entsetzen ergriffen eilte Ingeborg vorwärts, und nur der eine Gedanke beherrschte sie, auf welche Weise es ihr gelingen könne, sich aus dieser unerwarteten, furchtbaren Gefahr zu befreien.

Aber es lag nicht in Larsens Absicht, freiwillig sich wieder entgehen zu lassen, was ihm der Zufall so unerwartet in die Arme getrieben hatte.

„Ich verlange, daß Du mir Rede stehst!“ zischte er, nachdem er sie wieder eingeholt hatte. Und um sie zu täuschen und kein Aufsehen zu erregen, setzte er mit schmeichelnder Haltung und Miene hinzu: „Komm! Drüben am Jungfernstieg ist eine Bank! Ich will Dich ja nur sprechen, und was auch das Ende sei: ob Du mit mir gehst oder Deinem Worte untreu wirst, das Du mir gegeben hast.“

Aber Ingeborg Elbe antwortete nicht; in raschem Lauf und immer geradeaus blickend, setzte sie ihren Weg fort, und jetzt so stürmisch und mit so ausgesprochener Angst, daß die Blicke der Vorübergehenden sich auf sie richteten.

„Geh langsam, mach kein Aufsehen!“ – flüsterte Larsen, noch immer sich beherrschend. Und „antworte! Einer Antwort bin ich doch wohl werth?“ fügte er, schon erregter, hinzu, als sie noch immer that, als sei er Luft für sie.

„Nochmals! Antworte!“ schrie der Mann endlich außer sich vor Wuth. „Keinen Schritt weiche ich von Dir, bevor Du mir nicht Rede gestanden hast!“

In diesem Augenblick hatten sie den dem neuen Wall gegenüberliegenden Halteplatz der Dampfschiffe erreicht, die nach der Uhlenhorst fahren, und ohne Besinnen, nur dem Trieb ihrer Angst gehorchend, flüchtete Ingeborg auf das eben sich zur Abfahrt rüstende Boot.

Larsen schwankte einen Augenblick, ob er ihr folgen sollte, dann that er’s, und da er einsah, daß er mit Gewalt nichts über sie vermochte, trat er mit verstellter Miene dicht an sie heran und sagte in mildem, unterwürfigem Ton: „Ingeborg! Ich bitte Dich bei unserer einstigen Liebe, antworte nur auf meine einzige Frage: Weshalb bist Du entflohen? Was that ich Dir? – – Verzeih, daß ich so hart auf Dich einsprach! Es war doch nur die Aufregung, der Zorn über Deine Kälte. Du weißt, was Du mir angethan hast! – Nun, Ingeborg?“ –

In dem Gesicht des Mädchens rührte sich keine Muskel. Wie vordem, den Blick geradeaus gerichtet, floh sie aus die andere Seite des Boots, wo schon einige Leute standen. Es fehlten nur wenige Minuten zur Abfahrtzeit.

Wieder zauderte Larsen, da er sah, daß einige junge Männer, denen sein Benehmen aufgefallen war, sich neben Ingeborg stellten.

Allein sein Zorn, sein durch ihren Trotz nur noch gesteigertes Begehren überwog alle Vorsicht, und eben, als das Zeichen zur Abfahrt ertönte, trat er aufs neue auf sie zu.

Sein Gesicht glühte, die Adern auf seiner Stirn waren hoch angeschwollen und das blitzende Auge war blutunterlaufen wie das eines wilden Thieres. Er sah aus wie einer, dem kein Mittel zu schlecht ist, um sein Ziel zu erreichen.

Scheu wichen die jungen Leute zur Seite, und „Komm mit mir!“ befahl er Ingeborg aufs neue.

Aber da, als die Matrosen die Brücke schon weggezogen hatten und das Boot, dessen Maschine sich langsam in Gang setzte, abstießen, faßte sie einen verzweifelten Entschluß. Mit einem Sprung war sie auf der Brüstung und, ehe die Matrosen und der ihr nacheilende Larsen es verhindern konnten, drüben auf dem Landungssteg.

Larsen wollte ihr folgen, aber die Matrosen hielten ihn auf, und, zähneknirschend vor Wuth und Enttäuschung, blickte er der rasch Dahingehenden nach. – –

*               *
*

Als Ingeborg nach einer Stunde auf Umwegen das Haus der Baronin erreichte, war sie noch so erregt, daß ihr die Glieder bebten. Auf dem ganzen Weg glaubte sie sich von Larsen verfolgt, und sie war durch das Vorgefallene so eingeschüchtert, daß sie mehrere Tage lang nicht wagte, die Wohnung zu verlassen. Sie wußte, ihr früherer Verlobter werde alles aufbieten, ihren Aufenthalt in Erfahrung zu bringen.

Ingeborg Elbe und Klaus Larsen kannten sich seit ihrer Kindheit, die sie beide in Mückern, wo ihre Eltern als Nachbarn und gute Freunde lebten, verbracht hatten. Etwa um dieselbe Zeit hatte Ingeborg die Mutter, Klaus seinen Vater verloren, und wie das freundschaftliche Verhältniß zwischen dem alten Peter Elbe und der Witwe Larsen durch diesen beiderseitigen Verlust nur noch mehr gefestigt wurde, so betrachteten sie auch ihre Kinder mehr und mehr als zueinander gehörig trotz der großen, sich früh äußernden Verschiedenheit ihrer Anlagen. Ingeborg war ein ernstes, schüchternes Kind, Klaus ein derber, gewaltthätiger Junge, und wenn jene auch ohne mütterliche Leitung der angeborenen Richtung ihres Charakters treu blieb, so war der Mangel einer strengen väterlichen Zucht für diesen von den schädlichsten Folgen. Früh hatte sich Klaus Larsen daran gewöhnt, [488] den Beschützer der kleinen Ingeborg Elbe zu spielen, er vertrat mit kräftiger Faust ihre Partei, wo immer es unter den Kindern Zank und Streit gab, und Ingeborg ließ sich das gern gefallen, ja, es schmeichelte ihrer Kindeseitelkeit, den starken, muthigen Burschen zum Ritter zu haben. Allein aus dem Recht des Beschützers, das sie ihm einräumte, leitete er schon früh auch ein künftiges Besitzrecht her.

Schon als die Kinder noch zusammen spielten, dachten die Alten, wenn sie des Abends auf der Bank saßen: „Aus den beiden muß einmal ein Paar werden!“ Bald aber dachten sie’s nicht nur, sondern sie sagten sich’s, und mit der Zeit wurde es zu einem bindenden Vertrag zwischen ihnen, an dem sie mit der ganzen Zähigkeit ihres Alters und Standes festhielten, blind gegen alle Hindernisse, die sich ihrem gemeinsamen Wunsch etwa in den Weg stellen mochten.

So standen die Dinge, als Klaus Larsen seine erste Seereise antrat. Um diese Zeit erkrankte eine Verwandte von Ingeborgs Mutter, welche in Kopenhagen lebte, und erbat sich Ingeborgs Besuch zu ihrer Pflege und Gesellschaft, wogegen der alte Elbe nichts einzuwenden hatte. Der erst nur auf kurze Zeit berechnete Besuch verlängerte sich, Ingeborg verbrachte mehrere Jahre im Haus der Tante, wie man jene in der Familie nannte, und erhielt dort eine Erziehung, die weit über ihren Stand hinausging.

Gleichzeitig mit Larsen kehrte sie nach Mückern zurück, blühend und kraftvoll in ihrer äußeren Erscheinung und mit Lebensanschauungen, die von denen in ihrem Vaterhaus wesentlich abwichen, wenn auch die Liebe zu ihrem Vater und ihr kindlicher Gehorsam nicht darunter gelitten hatten. Nur diesen Gefühlen der Pietät verdankte es Larsen, daß sie jetzt, dem Drängen der beiden Alten mehr als Larsens stürmischer Werbung nachgebend, seine Braut wurde.

Indessen er sich zu einer zweiten Reise anschickte, ging sie, gleichsam zur Vorbereitung für ihren künftigen Beruf, nach Limforden zur Aushilfe bei der Wirthschaft und dort sah sie zum ersten Male Richard Tromholt. Sie sah ihn und liebte ihn. Nun erst erkannte sie die Kluft, die sie von Larsen trennte, allein es war ihr Verhängniß, das sie diesem nur um so sicherer in die Arme trieb. An eine Erwiderung jenes Gefühls, dessen überwältigender Stärke sie sich selbst erst nach und nach bewußt wurde, von seiten Tromholts wagte sie nicht zu denken. Mit dem scharfen Blick aller Liebenden hatte sie rasch erkannt, daß sein Herz einer anderen gehöre, aber auch abgesehen davon stand er in ihren Augen viel zu hoch über ihr, als daß sie je hoffen konnte, die Seine zu werden. Die achtungsvolle Güte, mit der er ihr begegnete, vermehrte unter solchen Umständen nur ihre Seelenqual, ihr Stolz gebot ihr, zu fliehen vor dem, zu dem ihr Herz sie hinzog, und als nun, gerade da dieser Kampf widerstrebender Gefühle am heftigsten tobte, ein Brief von Mückern eintraf, der ihr Larsens Rückkehr nach bestandenem Steuermannsexamen meldete und sie schleunigst dorthin rief, da jener nun ein eigenes Schiff erworben hatte und der Hochzeit kein Hinderniß mehr im Weg stand, da hielt sie dies für einen Wink der Vorsehung, dem sie gehorchen mußte, und reiste entschlossen, wenn auch mit angstvollen Empfindungen von Limforden ab. Der innere Kampf hatte ihre Kraft erschöpft, und mit einer Art stumpfsinniger Ergebenheit ließ sie die Ereignisse ihren Lauf nehmen.

Allein sie hatte sich doch zuviel zugetraut. Larsen, dessen brutal sinnliche Natur jetzt, da er dem Ziel seiner Wünsche so nahe stand, erst ganz unverhüllt hervortrat, empörte sie durch seine aufdringliche Zärtlichkeit um so mehr, als immer noch das Bild Tromholts vor ihrer Seele schwebte.

Da geschah es, daß Ingeborg, als sie eines Abends spät vom Besuch einer Freundin heimkehrte und ihr Weg sie durch eine in die Hauptstraße von Mückern einmündende Lindenallee führte, die unfreiwillige Zeugin einer Scene wurde, die sie mit Grausen und Abscheu erfüllte. Aus einer Laube an dem von Gärten begrenzten Weg drang nämlich ein lebhaft geführtes Flüstergespräch an ihr Ohr und veranlaßte sie, da sie deutlich ihres Bräutigams Stimme unterschied, einen Augenblick stillzustehen. Sie vernahm, daß Larsen einer anderen, in der sie an der Stimme eine längst auf leichtsinnige Wege gerathene Schulfreundin erkannte, zärtliche Liebesworte zuflüsterte und sie der Fortsetzung des früher begonnenen Liebeshandels versicherte, auch wenn Ingeborg sein Weib werde.

Sie hörte nichts weiter, ein Schauder erfaßte sie vor der Verdorbenheit des Menschen, dem sie in wenigen Tagen angehören sollte, und sie irrte einen Theil der Nacht planlos am Meeresstrand umher, entschlossen, eher zu sterben, als das über sich ergehen zu lassen. Der Gedanke an ihren Vater allein hielt sie noch von der Ausführung solchen Entschlusses zurück. Als aber die Ereignisse unaufhaltsam ihren Lauf nahmen, der Tag der Hochzeit herankam und mit ihm Tromholt, da, im letzten Augenblick, wo sie sich zu dem Kirchgang schmücken sollte, bäumte sich ihre beleidigte Weiblichkeit auf und bestimmte sie, alle anderen Gefühle zurückdrängend, zur Flucht.

Wohin aber sollte sie sich wenden, um der Verfolgung zu entgehen? In ihrer namenlosen Verwirrung, ihrer völligen Hilflosigkeit sah sie außer dem Tod nur ein Asyl: bei Tromholt! Er würde sie beschützen, das wußte sie, und er würde sie auch verstehen und entschuldigen, wenn sie ihm alles gestand. Alles? Nein, alles durfte sie ihm nicht gestehen, aber doch die Gründe ihrer Losreißung von Larsen. Er allein auf der Welt noch konnte ihr helfen, und so flüchtete sie sich denn, alle anderen Bedenken niederkämpfend, zu ihm. –

Inzwischen hatte Larsen, anstatt, wie es vor seiner Begegnung mit Ingeborg seine Absicht gewesen war, Hamburg am nächsten Tage wieder zu verlassen, nicht geruht, bis es ihm gelungen war, die verlorene Spur des Mädchens wieder ausfindig zu machen.

Am sechsten Tage nach der erwähnten Begegnung brachte die Post einen Brief, der Ingeborg in eine neue furchtbare Aufregung versetzte:

„Ich liege im Hotel zum Englischen Hause in der Admiralitätsstraße hoffnungslos, vom Arzte aufgegeben, darnieder. Aus Mitleid besuche mich, damit ich Dich noch einmal vor meinem Ende sehe!

Klaus Larsen.“

Mehrere Stunden verflossen, ehe sich Ingeborg zu einem Entschluß aufzuraffen vermochte. Endlich siegte das Mitleid und sie entschied sich zum Gehen. –

In Limforden war inzwischen ein Schreiben aus Kiel eingelaufen, in dem Frau Ericius neben anderen nicht unwichtigen Dingen mitgetheilt hatte, daß Graf Utzlar sich endgültig entschlossen habe, künftig in Limforden seinen Wohnsitz zu nehmen, und daß die Hochzeit, sobald dies schicklicherweise mit den traurigen Vorfällen zu vereinbaren sei, stattfinden werde. Da Utzlar schon in wenigen Tagen seinen Austritt aus der Marine bewirkt haben würde, habe sich das Brautpaar entschieden, nach dem Gute zu reisen, um sich seine künftigen Wohnräume anzusehen und eine Uebersicht zu gewinnen, was etwa an Mobiliar und sonstigen Einrichtungsgegenständen anzuschaffen sein werde. Gleich mit dem Frühlingsanfang solle dann die Uebersiedelung stattfinden, und Frau Ericius bitte sämmtliche Betheiligte, ihrer Tochter und Utzlar möglichst in allem Vorschub zu leisten. Im übrigen erwarte sie Richard baldmöglichst in Kiel behufs weiterer Rücksprache.

„Also die ganze Generalität wird ihr Standquartier hier beziehen! Na, das wird ja fortan ein paradiesisches Leben werden!“ – stieß Alten heraus. „Ich sehe schon alles vor mir! Der Graf wünscht dies und wünscht das, der Graf ist schlechter Laune, der Graf findet, glaubt, meint, erwartet, befiehlt – kurz, der Graf wird die Tarantel unseres Daseins werden, und wir werden jeden Tag die Zeitungen studieren, ob etwa ein Nachtwächterposten in Buxtehude oder anderwärts in der bunten Welt frei geworden ist. – Und Sie, Tromholt, werden natürlich ganz ruhig bleiben! Aber passen Sie auf, zuletzt werden auch Sie den Spaten ins Moor stoßen, drüben die Dampfventile pfeifen lassen, welche Melodie sie wollen, und rufen: ‚Ich danke, ich danke, ich danke! Sucht euch das Lastthier eurer Launen anderswo!‘ – Wahrhaftig, wenn mir der alte Besserwisser Ericius nicht gar so zuwider gewesen wäre, jetzt könnte ich beten, daß er wieder auferstehen möge –“

Alten stockte plötzlich und musterte mit einer Mischung von Ernst und Humor die Züge Biancas, die bei den berathschlagenden Männern saß. Dann fuhr er in seiner lebhaften Weise fort: „Ah, meine gnädige Frau, Sie schelten wieder! Ja, Sie schelten! Ich seh’s an Ihren unmutig zuckenden Nasenflügeln, die sich immer im Halbtakt bewegen, wenn ich einen nach Ihrer Ansicht strafwürdigen Einfall habe! Aber ich kann nicht dafür. Kupfer kann ich nicht für Gold erklären. Und fragen Sie nur Seine Hochwohlgeboren Herrn Direktor Richard Tromholt, ob er sich der kommenden Dinge freut!“

Richard und Bianca lachten, aber ehe sie antworten konnten, ward von der alten Marieken eine Depesche für den ersteren gebracht. Dieselbe kam aus Hamburg und lautete in dänischer Sprache:

„Kommen Sie, ich beschwöre Sie, sofort Hotel Englischer [490] Hof. Larsen hier, Hält mich gefangen, will mich mit aufs Schiff schleppen. Ingeborg.“ 

Richard sprang auf. „Auch das noch!“ rief er, und den andern die Depesche übergebend, eilte er hinaus, um mit seinem Diener Ole das Nähere wegen seiner schleunigen Abreise zu besprechen.

Am nächsten Morgen fuhr Richard Tromholt trotz gerade dringlicher Geschäfte ab und empfahl seine Schwester der Fürsorge Altens. –

Zwischen diesen beiden hatte sich ein sehr warmes Verhältniß entwickelt. Ihre Vertraulichkeit wuchs durch das öftere Zusammensein, sie ergänzten sich gegenseitig, und der Wunsch, einander ganz anzugehören, lag für beide nahe, und doch wagte sich keines mit seinen Gedanken heraus.

Bianca erwartete das befreiende Wort von Alten, und da dieser, der sich in seiner Stellung nicht mehr sicher fühlte und vermögenslos war, sich über allgemeine Andeutungen, die er zur Vorsicht noch meist in ein scherzhaftes Gewand kleidete, nicht hinaustraute, so blieb sie, wenn sie auch an seiner Neigung nicht zweifeln konnte, doch unsicher über deren innere Wahrheit.

Als sie am folgenden Tage, nachdem Alten seine Geschäfte erledigt hatte, beim Mittagessen beisammen saßen, sagte Bianea: „Fast hätte ich’s vergessen! Es war schon lange mein Wunsch, einmal das Innere des Herrenhauses drüben in Augenschein zu nehmen. Ist das möglich?“

Alten bejahte bereitwillig. „Wenn’s Ihnen genehm ist, gehen wir nach dem Kaffee hinüber. Ich schicke gleich zum Kastellan, daß er die Fenster öffnet, damit Sie nicht von der dumpfen Luft beschwert werden.“

„Ich danke! Ist etwas Sehenswertes darin?“

„Na, nicht allzuviel! Der Besitz gehörte ursprünglich der Familie Tolk, die ihn an Herrn Ericius mit allem, was drum und dran war, verkaufte.“

„Ah! Dann gelüstet’s mich doppelt, hineinzugucken,“ erklärte Bianca lebhaft. „Für solche alte Familiensitze habe ich eine ungemessene Schwärmerei. Wenn ich Geld hätte, würde ich mir einen solchen Besitz kaufen. – Sagen Sie übrigens, Herr von Alten, giebt’s hier gar keine Nachbarn? Mit wem wollen die Utzlars denn überhaupt verkehren?“

„Gewiß! Allerdings! Im nächsten Umkreise nach Osten und Norden befinden sich sehr schöne Güter. Da wohnen die Grafen Estrupp und Kollund, die Familien von Eyben und von Schelbe und ganz in unserer Nähe auf seinem prachtvollen Schloß der jetzt eben von seinen Reisen zurückgekehrte Graf Esbern-Snarre. Ihn kennenzulernen, würde Sie jedenfalls interessieren. Ein nicht gewöhnlicher Mensch und liebenswürdiger Egoist! Lassen Sie sich von Ihrem Herrn Bruder vom Grafen Esbern-Snarre erzählen! Er kennt ihn sehr genau. Ich sah ihn bis jetzt nur zweimal flüchtig.“

Bianca bewegte halb zustimmend, halb abwehrend den Kopf. „Die Tage meines Hierbleibens sind gezählt,“ erwiderte sie. „Wenn Richard wieder eintrifft, muß ich mich doch endlich zur Heimreise rüsten.“

„Wie, Sie denken wirklich daran?“ rief Alten ehrlich erschrocken. „Nein, nein, das darf nicht geschehen, ich – –“ er stockte, blieb eine Weile stumm und nachdenklich und schloß dann im früheren Ton: „Zunächst also werden Sie das alte Schloß besichtigen. Es fehlt natürlich, wie man das von einem so alten Erbsitz erwarten kann, auch nicht an einem Hausgeist. Passen Sie auf, daß er Sie nicht festhält!“

„Das wird ja immer interessanter,“ lachte Bianca.

Das Limforder Herrenhaus war ein nicht nach einem einheitlichen Plan aufgeführter Bau, sondern stellte sich als eine im Laufe der Jahrhunderte vielfach veränderte und erweiterte und jedes rechten äußeren und inneren Zusammenhanges entbehrende Gruppe von Gebäuden dar. Es war mehr alterthümlich als schön, und in ersterer Beziehung fesselte der ringsum eingeschlossene große Schloßhof, der einen kunstvoll in Sandstein ausgemeißelten Brunnen und eine ganz eigenartig ausgestattete Kapelle besaß, über deren Eingang sich das alte Tolksche Wappen befand.

Als Alten und Bianca im Mittelbau, dem sogenannten corps de logis, die steinerne Doppeltreppe emporstiegen, staunte die letztere über die schönen Verhältnisse des Treppenhauses, die hohen, mit Stuck bedeckten Wände und Deckengewölbe.

„Ah! Das ist ja königlich“ rief sie.

„Ja wohl,“ spottete Alten, „aber wer hat etwas davon? Die schönen Räume stehen öde und verlassen, und ob Graf Utzlar gerade der Mann ist, sie mit neuem Leben zu erfüllen, scheint mir doch sehr zweifelhaft. Die alten Ritter sind todt, es riecht nach Moder überall. Sehen Sie zum Beispiel hier!“ – und er führte sie durch mehrere, mit alterthümlichem Hausrath spärlich ausgestattete Zimmer, in denen vergilbte Familienbilder hingen – „da hängen sie, die edlen Grafen und ihre hochgeborenen Damen!“

Zuletzt traten sie in einen oval gebauten Saal mit hoher gewölbter, und bemalter Decke, von der ein verstäubter, messingner Kronleuchter herniederhing. Das übrige Mobiliar bestand aus zwei Stühlen mit altem geflickten Seidenüberzug, die sich an den beiden entferntesten Punkten der Ellipse gegenüberstanden.

„Hier wohnt der Schloßgeist,“ scherzte Alten. „Bitte, nehmen Sie gefälligst auf jenem Stuhl Platz, ich werde mich auf diesen verfügen, und nun beugen Sie sich tief herab, legen Sie Ihr Ohr an die Wand und horchen Sie, was er Ihnen sagt! Es soll, wie die Sage geht, von tiefer Bedeutung sein, und die Hauptsache ist, daß Sie ihm richtig antworten, wär’s selbst mit seinen eigenen Worten. Sie brauchen Ihre Antwort nur gegen die Wand zu flüstern, das Echo trägt sie weiter, denn es ist der Echosaal, in dem wir uns befinden. Das Echo trügt nie! Glauben Sie ihm unbedingt, es ist die Stimme des Geistes!“

Und nun stellte sich Alten wie ein Beschwörer hin, streckte die Arme zur Decke empor und sprach mit feierlichem Tone: „Erhabener Geist, der Du in diesen Räumen thronst, in die Herzen der Menschen siehst und ihnen durch die Wand Dein Orakel verkündest, erhöre uns, sei uns gnädig!“

Bianca, sehr belustigt durch diese Einleitung, hatte schon ihren Platz eingenommen, und Alten eilte zu dem seinigen.

„Sind Sie bereit, gnädige Frau?“ fragte er.

„Ja,“ erwiderte sie.

„Und auch in der nothwendigen feierlichen Stimmung?“

„Gewiß!“

Es entstand eine Pause.

Eine eigenthümliche Stimmung kam über Bianca von Gunar. Dieser hallenartige, abgeschlossene, mit einer eigenthümlich dumpfwarmen Luft erfüllte Raum, in den eben die Spätsonne ihre letzten Strahlen warf, gab ihr ein Gefühl des Alleinseins und erfüllte sie zugleich mit einer seltsam unbestimmten Sehnsucht.

Gedanken an die Trennung von Limforden, die ihr bevorstand, der für sie stets einsame Aufenthalt in Hamburg, die Zukunft, die Erinnerung an die angenehmen Stunden, die sie mit Alten in diesen Wochen verlebt hatte, beschäftigten ihr Inneres und machten sie weich und liebebedürftig.

„Mit Verlaub, Frau Baronin!“ rief Alten. „Hat er noch nicht gesprochen?“

„Kein Wort.“

„Und hören Sie auch deutlich?“

„Sehr gut!“

„Also jetzt, am besten wär’s, Sie wiederholten gleich die Worte!“

Bianca lauschte, es klang erst wie ein Brausen durch die Wand, und dann vernahm sie deutlich die Worte:

„Bianca von Gunar, ich liebe Sie.“

Ihr Herz pochte, doch zwang sie sich zu einem Scherz. „Der Geist?“ rief sie hinüber. „Wie seltsam! Lieben denn Geister?“

„Nicht der Geist,“ klang es zurück. „Ich liebe Dich! Ich liebe Dich!“

Hierauf blieb alles still.

„Gegen die Wand müssen Sie die Antwort flüstern.“ ermunterte Alten drängend.

Er horchte schier athemlos, aber alles blieb still.

„Haben Sie noch nichts gehört?“ fragte er wieder, und „Sie wollen nicht hören!“ setzte er mit weicher Stimme hinzu.

Eine Fliege summte durch den Saal, Alten hörte das leise Schwirren ihrer Flügel, bis es verklang, und jetzt ging ein Sausen durch die Wand, und endlich ihre Stimme, die das Echo ihm zutrug:

„Kann die Wand von Liebe sprechen?
Hart und fühllos ist ihr Stein;
Aus dem Herzen muß es brechen,
Soll es wahre Liebe sein.“

Altens Züge hellten sich auf, und während ein seliges Erwarten in seine Augen trat, gab er nach kurzem Besinnen zurück:

„Nein, mein Mund sprach diese Worte,
Und die Wand sprach sie nur nach,
Und da er des Herzens Pforte,
War es Wahrheit, was er sprach!“

[491] Eine Weile blieb drüben alles still, dann klang es von neuem an das Ohr des athemlos Horchenden:

„Nicht im flücht’gen Echospiele
Thut sich wahre Liebe kund,
Kühnen Flugs stürmt sie zum Ziele,
Keinen Mittler braucht ihr Mund.“

„Wirklich?“ rief Alten stürmisch, und selige Freude blitzte aus seinen Zügen. Am liebsten wäre er gleich aufgesprungen und zu ihr hinübergestürmt, allein er bezwang sich. Halb Kleinmuth, bald der Wunsch, das anmuthige Spiel noch eine Weile fortzusetzen, trieb ihn, die folgenden Worte wieder an die Wand zu richten:

„Lieb’, die sich mit Kühnheit brüstet,
Kam zu Fall oft dicht am Ziel –“

aber da stockte er, die Reime waren ihm ausgegangen. Schlagfertig antwortete die Stimme drüben:

„Wen’s nach ihrem Glück gelüstet,
Fragt nach der Gefahr nicht viel.“

Jetzt vermochte sich Alten nicht länger zu beherrschen. Aufspringend wandte er sich um.

Da stand Bianca von Gunar am entgegensetzten Ende des Saales, und auch sie hatte ihr schönes, glückstrahlendes, von tiefer Röthe übergossenes Antlitz ihm zugewandt, ihr Athem ging heiß, ihr Körper zitterte vor verhaltener Erregung; und durch den einsamen Saal fluthete das Abendlicht und wob eine Glorie um ihre Gestalt.

Mit wenigen Schritten war er bei ihr, er wollte sich vor ihr niederlassen, aber sie zog ihn zu sich empor. „Ich liebe Dich,“ klang es fast gleichzeitig von seinen und von ihren Lippen, und mit einem Glücksschrei zog er sie in seine Arme.




6.

Reichlich vierzehn Tage nach dem Vorerzählten kehrte Richard Tromholt nach Limforden zurück. Nur ein Brief war währenddessen zwischen ihm und den Zurückgebliebenen gewechselt worden. Bianca hatte Richard ihre Verlobung angezeigt, und der letztere in der Entgegnung seiner unverhohlenen Freude Ausdruck verliehen.

„Was ich alles Unerfreuliches erlebt habe, werde ich Euch mündlich mittheilen,“ hatte er hinzugefügt, „Ihr werdet bei meinem Bericht glauben, daß ich Euch den Inhalt eines Romans erzähle.“

Diese Mittheilungen hatten die Verlobten in die größte Spannung versetzt und machten es begreiflich, daß sie es kaum erwarten konnten, den mündlichen Bericht Richards zu hören, der jetzt seiner Schwester und Alten gegenübersaß.

„Wie ich Euch schon andeutete,“ begann er, „hatten sich kurz vor Ericius’ Tode starke Geschäftsverluste eingestellt, die auch wohl nicht zum wenigsten dazu beigetragen haben, des Kranken Zustand zu verschlimmern. Frau Ericius wußte davon nichts und erfuhr erst die Thatsachen aus meinem Munde bei Gelegenheit meiner ersten Anwesenheit in Kiel.

Aber damit ist nur über einen kleinen Theil des Geschehenen berichtet. Es war mir bei meinen Besprechungen mit Acht, einem anscheinend ruhigen und ehrbaren Manne, schon sehr verdächtig, daß er die von mir verlangte Nachzählung der Barmittel in Geld und Papieren zu verzögern suchte. Einmal hatte er die Schlüssel nicht zur Hand, und am folgenden Tage, als wir den von ihm angefertigten Abschluß nochmals durchgingen und ich hinwarf, ich könnte den Abschluß nur unterzeichnen, wenn ich selbst in die Barbestände Einsicht genommen hätte, suchte er abermals Ausflüchte.

Endlich gab er, sichtlich schwankend, nach und öffnete den Eisenwandschrank. Ich begab mich nun an die Durchsicht, fand auch alles, wie es verzeichnet war, und wollte ihm schon meinen Argwohn abbitten, sein eigenthümliches Wesen auf seinen körperlichen Zustand oder auf eine bedeutungslose Sonderbarkeit schieben, als ich endlich an die überschriebenen Packete kam, in denen sich die Bestände an Werthpapieren befinden sollten.

Acht holte diese Bündel hervor und warf leicht hin, ich wolle wohl nicht jedes einzelne durchzählen. Der Bestand sei genau auf den Umschlägen verzeichnet.

Einen Augenblick besann ich mich, weil ich ihm kein Mißtrauen zeigen wollte, dann aber, mich meiner Verantwortlichkeit erinnernd, bestand ich auf einer genauen Prüfung.

Während ich eins der Packete aufschnürte, entfernte sich Acht mit den Worten: ‚Verzeihen Sie, bitte, einen Augenblick, ich bin gleich zurück!‘

Ich nickte zerstreut und mit einem ‚Bitte, lassen Sie sich durchaus nicht stören!‘ begab ich mich an die Untersuchung.“

Tromholt machte eine Pause und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, und dann hörten die in athemloser Spannung ihm Zuhörenden die folgenden dumpf hervorgestoßenen Sätze:

„Man hat Acht seitdem nicht wiedergesehen. Man meint, daß er sich das Leben genommen hat. In den Packeten aber fand ich nichts weiter als werthloses Papier, und Frau Ericius besitzt heute außer der Herrschaft Limforden – wohl soviel wie nichts!“

„Mensch, Sie scherzen!“ – „Richard, um Gotteswillen!“ drang es zu gleicher Zeit aus dem Munde Altens und Biancas.

„Ja, ja!“ bestätigte Richard Tromholt. „Die Firma muß liquidirt werden, und nur wenn wir besonderes Glück haben, kann jeder zu dem Seinen kommen! Aber für Limforden fehlt das Betriebskapital, und da die begonnenen Unternehmungen eben erst Erträge abzuwerfen beginnen, so ist Frau Ericius jedenfalls in einer bedenklichen Lage und wird möglicherweise nur unter großen Einschränkungen leben können.“

Tromholt hielt inne, und eine längere Pause trat ein, während der jedes seinen Gedanken nachhing.

Alten und Bianca dachten auch an das von ihnen unter so gehobenen Erwartungen eingegangene und nun vielleicht aussichtslos sich gestaltende Bündniß ihrer Herzen. Altens gegenwärtige Lebensstellung war möglicherweise in Frage gestellt, denn es blieb zweifelhaft, ob Limforden nicht verkauft werden mußte.

Endlich nahm Alten das Wort und sagte mit schwerer Stimme: „Was meinen Sie, was nun werden soll, Tromholt?“

„Ja, lieber Freund,“ entgegnete Tromholt, erhob sich und ließ die beim Nachsinnen unwillkürlich emporgezogenen Schultern herabfallen, als ob sie durch einen Druck von oben herabgepreßt würden, „ich weiß es zur Stunde selbst nicht. Sie können sich ja denken, wie viele Gedanken auf mich einstürmen und wie schwer es ist, das Für und Wider abzuwägen. Wir haben es mit vier verwöhnten und erwerbsunfähigen Personen zu thun, der Witwe, den zwei Kindern und dem Grafen Utzlar, der unglücklicherweise schon seinen Abschied genommen hat und den starke Einbildungen bezüglich Limfordens beherrschen. Wenn hier die Werke nicht wären, würde ich vielleicht versuchen, das Kieler Geschäft für die Familie fortzusetzen. Aber ohne Acht, der, bis er zum Spekulanten und Diebe ward, ein ausgezeichneter Kaufmann war, traue ich mich doch nicht, allein eine mir so fern liegende Sache zu übernehmen. Ich müßte auch Geld und Kredit anschaffen, und diese brauchen wir für Limforden dringend.

Geht alles gut, so können die Werke eine neue Silberader für die Ericiussche Familie werden, aber viele, viele Jahre sind nöthig, zumal da eigene Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen. Limforden mit allem, was drum und dran hängt, zu verkaufen, ist ein dritter Plan, aber vielleicht fast der schlechteste im jetzigen Augenblicke. Ich weiß es nicht!

Dabei liegen die Dinge so, daß gegenwärtig nicht einmal das Nothwendigste vorhanden ist. Die Familie hat Ansprüche, das Schloß soll hergerichtet werden, da Utzlar in vier Monaten heirathen will –“

Hier unterbrach Alten Tromholts Rede. „Schloß einrichten? Heirathen? Sind die Leute wahnsinnig?“ rief er, stockte jedoch plötzlich, seines eigenen Liebesglückes gedenkend.

Tromholt aber sagte nichts und ließ sich in einer dunkleren Ecke des Gemaches nieder.

„Mein armer, lieber Bruder!“ stieß Bianca in tiefem Mitgefühl heraus und trat Richard näher. Ihre Hand legte sich auf seine Schulter und blieb darauf ruhen.

Richard wehrte ihr mit sanfter Bewegung und trat wieder an den Tisch zurück. „Ich habe Euch noch nicht von Hamburg berichtet,“ sagte er, sich aufraffend. „Nicht minder traurig ist, was ich dort erlebte. Ich erzwang mir den Eintritt in das Innere des Hotels, in dem der Schurke, der Larsen, Ingeborg Elbe buchstäblich gefangen hielt. Unter dem Vorgeben, er liege im Sterben und wolle sie nur noch einmal sehen, hatte er sie dorthin gelockt, ihr dann aber gleich erklärt, er werde sie mit aufs Schiff nach Batavia nehmen.

[492] Dem Hotelbesitzer und den Angestellten hatte er vorgespiegelt, sie sei seine Schwester und wahnsinnig. Man möge auf ihre Reden nicht hören und, falls sie Lärm während seiner Abwesenheit mache, darauf nicht achten. Seine biedere, Vertrauen erweckende Miene und Sprache hatten den Besitzer getäuscht, und so fand ich denn das arme Geschöpf, das einen der Kellner bestochen hatte, das Telegramm an mich abzusenden, in einem geradezu unbeschreiblichen Zustande.

In derselben Stunde nahm ich sie mit und schrieb auf einen Briefbogen, den ich in einen Umschlag steckte. ,Ich, Richard Tromholt von Limforden, nahm Fräulein Ingeborg Elbe in meinen Schutz und warne Sie, das Mädchen in irgend einer Weise ferner zu belästigen. Sollten Sie meiner Mahnung keine Folge leisten, so werde ich die Gerichte um Hilfe anrufen und behalte mir vor, dieses auch noch zu thun, wenn Sie von Ihrer Reise zurückkehren.’“

„Und ist sie wieder in meiner Wohnung?“ fragte Bianca, die diesem neuen Bericht mit wahrer Angst zugehört hatte. Auch Allen sprach auf Tromholt ein und forschte voll Theilnahme nach den Vorgängen.

„Nein! Ich habe Ingeborg zu Frau Ericius gebracht, dieser alles mitgetheilt und als einen Beweis ihrer Freundschaft gefordert, daß sie das Mädchen wie eine Hausgenossin aufnimmt, bis ich auch über sie einen Entschluß gefaßt haben werde. Natürlich schien Graf Utzlar diese Sache sehr überflüssig zu finden und legte kein großes Wohlgefallen über mein Ersuchen an den Tag.“

„Ja, ja! Dieser Graf Utzlar!“ stieß Alten heraus. „Ich könnte diesem hochmüthigen, pomadisirten Fuchs den Hals umdrehen, so verhaßt ist er mir. Eins nur begreife ich nicht: wie konnte sich ein Mädchen wie Susanne Ericius in einen solchen Menschen verlieben!“

Bianca winkte ihrem Verlobten zu, nicht weiter zu reden; sie wußte, wie ihr Bruder unter der dadurch wieder geweckten Erinnerung litt.

Aber Richard sagte mit einem traurigen, zustimmenden Blick:

„Sie haben recht, Freund! – Ich sah auch schon zweimal Thränen in ihren lieben, schönen Augen, deren Anblick mich unsagbar schmerzte – – –“

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 17, S. 517–527

[517] Auf der Treppe seines Schlosses Snarre stand in der Frühe Graf Tycho Esbern-Snarre und schaute hinab auf den Gutshof, von dem eben Arbeitswagen, Gutsknechte und Mägde sich in Bewegung setzten. Fast überall, wohin das Auge sich wandte, war Thätigkeit; Arbeitspferde mit widerstrebend schleppendem Gang wurden aus dem Stall gezogen, eine Heerde Schafe setzte sich eben, von einem Schäferhunde zu Paaren getrieben, in Bewegung, Kühe, die ein Hirtenbube mit lautem Peitschenknall lenkte, folgten. Brüllen und Meckern der Thiere durcheinander, Bewegung und Leben, bis alles der Ordnung sich gefügt hatte und zuletzt nur ein weißer Spitzhund, seinen Empfindungen durch absatzweises Bellen Ausdruck verleihend, mitten auf dem Hofe stehen blieb.

„Morten! Morten!“ rief der Graf, ins Schloß zurücktretend, und ein alter Mann mit kahlem, unbeweglichem Gesicht, aber trotz der strengen Züge mit freundlichen Augen und ehrerbietiger Miene trat in eine große, von der Frühsonne beschienene Halle, brachte auf einer silbernen Platte eine dampfende Kaffeekanne von demselben Metall und begab sich mit einem „Zu Befehl, Herr Graf!“ an den Frühstückstisch, an dem er die letzten Anordnungen traf.

Graf Snarre, ein Mann von zierlichem Wuchs mit einem blonden Henri quatre und einem sehr aristokratischen Aeußern, das auch in der Kleidung zum Ausdruck gelangte, nahm Platz und durchschnitt mit einer gewissen langsamen Umständlichkeit ein Stück Landbrot, ließ sich von Morten den heißen, feinen aromatischen Duft ausströmenden Kaffee einschenken und griff dann nach Eiern, die in einer goldverzierten Schüssel auf grobkörnigem Salz lagen. Während er die Schale eines derselben mit einem Löffel zerschlug, sagte er: „Was giebt’s Neues, Morten?“ – und „Nun, was giebt’s Neues, seitdem ich fort war?“ wiederholte er, als jener nicht gleich antwortete.

„Viel und wenig, Herr Graf!“ erwiderte Morten und drehte nach seiner Gewohnheit den Hals mit rascher Bewegung zur Seite. Es machte den Eindruck, als ob ihn ein schmerzliches Nervenzucken dazu veranlasse. Vielleicht war’s wirklich so.

„Gestern hörte ich, daß die neuen Herrschaften auf Limforden eingetroffen seien, Graf Utzlar mit seiner jungen Frau.“

„So! so! Und was sonst?“

„Ich wüßte nichts, Herr Graf.“

„Gut also, dann gehe! Vorher bringe mir aber noch Feldstock und Handschuhe und Cigarren aus der großen Kiste, die auf meinem Schreibtisch steht!“

Nach diesen Worten neigte Graf Snarre leicht den Kopf und griff nach der eben von einem anderen Diener gebrachten Zeitung, in die er sich vertiefte, während er den Rest des Frühstücks zu sich nahm.

Als Graf Snarre eine halbe Stunde später auf seinem gewohnten Morgenspaziergang eben das Weichbild des Gutshofes überschritten hatte, hörte er Pferdetrappeln und sah, als er das Auge erhob, Richard Tromholt vor sich.

[518] „Ah, Herr Direktor Tromholt! Willkommen auf Snarre! Und so früh? Was verschafft mir die Ehre, denn ich darf wohl annehmen, daß Sie mich besuchen wollen?“

Tromholt neigte zustimmend den Kopf. „Allerdings, Herr Graf, ich wollte mir die Erlaubniß nehmen, Ihnen aufzuwarten! Aber ich sehe, daß ich augenblicklich störe. Ich bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten! Mit Ihrer Genehmigung reite ich aufs Gut und warte, bis Sie Zeit für mich haben.“

„Wohl, ganz recht!“ gab Graf Snarre zurück. „Aber nur insofern, als meine Rappen mit dem Ihrigen nicht Schritt halten können und der schon so heiß ist, daß es besser scheint, Sie bleiben im bisherigen Tempo! Ich folge Ihnen unmittelbar! Also, ich bitte, auf Wiedersehen in einer Viertelstunde!“

Nach diesen Worten winkte er ihm freundlich mit der Hand, und Tromholt setzte sein Pferd wieder in Trab.

Eine Stunde später saßen sich Graf Snarre und Richard gegenüber, und es war nur natürlich, daß der inzwischen bekannt gewordenen veränderten Verhältnisse der Ericiusschen Familie und des jungen Ehepaars in erster Linie gedacht ward.

„Ich hörte jüngst bei meiner Anwesenheit in Kiel von Ihrem tathkräftigen und erfolgreichen Eingreifen, lieber Direktor! Vom Himmel ist der Familie ein Mann wie Sie gekommen. Nun, und wie steht alles? Limforden wird nicht verkauft? Sie arbeiten weiter, und – die ganze Familie wird nach dem Gute ziehen?“

„Zunächst nur Graf Utzlar mit seiner Gemahlin, die schon eingetroffen sind,“ entgegnete Richard. „Später hat Frau Ericius die Absicht, zu folgen. Sie gedenkt den schönen Besitz in Kiel zu verkaufen, und es ist recht so!“

„Und sonst bleibt alles, wie’s war? Wie geht’s Herrn von Alten? Ich hörte, daß er sich mit Ihrer Frau Schwester verlobt hat, und sage Ihnen meinen besten Glückwunsch. Bleibt er auf Limforden?“

Richard zuckte die Achseln. „Eigentlich komme ich seinetwegen, aber ohne sein Wissen, Herr Graf. Ich sehe voraus, daß seines Aufenthalts dort nicht mehr lange sein wird unter den neuen Verhältnissen. Und kurz und gut: ich wollte mir die Anfrage erlauben, ob Sie nicht für Alten eine Stellung hätten.“

Graf Snarre dachte einen Augenblick nach, reckte den zierlichen Körper und drehte an dem blonden Schnurrbart. Dann, ohne eine unmittelbare Antwort zu ertheilen, sagte er:

„Man möchte viele Maulbeerbäume haben, um allen zum Pflücken zu verhelfen. – Wann würde Herr von Alten zur Verfügung stehen, und – denkt er schon an Heirathen?“

„Ja, sobald er eine gesicherte Stellung hat. Unter dem Grafen aus Limforden zu bleiben, – ich muß ihm beipflichten, – wird unmöglich sein. Alten ist einmal nicht lammfromm, sondern wie ein Rassepferd, das gelegentlich ausschlägt.“

„Ich hätte Limforden gekauft, wenn’s zu haben gewesen wäre,“ warf der Graf hin. „Dann hätte alles beim alten bleiben können.“

Hierauf erwiderte Tromholt nichts. Er redete nicht gern über Dinge, die nicht spruchreif waren.

Plötzlich fuhr der Graf fort: „Und Sie, lieber Direktor, wollen unter allen Umständen bleiben? Für Sie hätte ich jederzeit eine Verwendung.“

Tromholt blickte fast ein wenig überrascht empor. „Ich bleibe!“ entgegnete er kurz, fast etwas rauh und dadurch weitere Fragen abschneidend. Nun war’s an dem Grafen, Tromholt befremdet anzublicken, aber er forschte nicht weiter, ging auf ein anderes Thema über und sagte:

„Die junge Gräfin soll schön, sehr schön sein und mit liebenswürdiger Offenheit Eigenartigkeit verbinden. Ich bin sehr begierig, sie kennenzulernen.“

Tromholt zuckte unmerklich zusammen.

„Ja, – eine ungewöhnliche Frau!“ gab er kurz bestätigend zurück. „Uebrigens haben die Herrschaften die Absicht, Ihnen ehestens ihre Aufwartung zu machen. Auch meiste Schwester würde sehr glücklich sein, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Herr Graf. Freilich wird sie zunächst auf den Vorzug verzichten müssen, da sie nach Hamburg zurückgekehrt ist.“

„In der That? Sehr liebenswürdig, sehr ehrend!“ rief Snarre mit weltmännischer Verbindlichkeit. „Da möchte ich mir einen Vorschlag erlauben: Kommen Sie übermorgen alle zu mir zum Essen! Ich bin ein Feind jeder überflüssigen Förmlichkeit und verzichte daher besonders gern auf jeden vorhergehenden feierlichen Besuch!“

„Ich werde nicht verfehlen, Ihre gütige Einladung zur Kenntniß der Herrschaften zu bringen, Herr Graf,“ erwiderte Tromholt. „Ich für meinen Theil nehme dankend an. Vielleicht überlegen Sie inzwischen mit Ihrer gewohnten Güte, ob für Herrn von Alten auf Ihren Besitzungen ein Posten frei oder zu schaffen ist. Ich kann aus meinen Erfahrungen bestätigen, daß es einen pflichttreueren Mann nicht giebt.“

Graf Snarre lächelte und sah Tromholt mit einem eigenen Ausdruck in den Mienen an. Dann sagte er mit großer Wärme:

„Nun, ich werde sehen! – Uebrigens ein erstaunlich selbstloser Mann sind Sie doch, Herr Tromholt; immer denken Sie nur an die andern, an sich selbst zuletzt. Ich möchte sagen, Sie kommen selbst kaum zum Bewußtsein, viel weniger zum Genuß Ihres Daseins.“

Richard Tromholt schüttelte den Kopf. „Doch Herr Graf! Ich finde, daß thätige Menschenliebe und Pflichterfüllung glücklich machen. Ich übe sie indessen aus innerer Nothwendigkeit, ein Verdienst ist nicht dabei.“

„Und ein Weiberfeind sind Sie zudem. Es ist das einzige, was ich nicht begreife!“ fiel Snarre ein. „Für mich ist die Welt ohne Frauen ein Land ohne Sonne, Luft und Wald. Haben Sie nicht schon ähnliches empfunden?“

Tromholt antwortete nicht; er machte nur eine ausweichende Bewegung. Wenige Minuten später trennten sich die Herren.




7.

„Du warst heute nicht ganz im Recht Herrn von Alten gegenüber, Leo,“ sagte die junge Frau Susanne einige Tage später zu ihrem Manne, als sie zusammen uns die Nachmittagsstunde den Kaffee einnahmen. „Ich wollte es Dir noch sagen.“

Sie sah in ihrer Jugend und schlanken Schönheit, angethan mit einem weißen Sommerkleid, ohne jeglichen Schmuck bezaubernd aus. „Such’s morgen gutzumachen, ich bitte Dich!“ fuhr sie mit liebenswürdiger Eindringlichkeit fort. „Wir sollen doch mit ihm leben und müssen Eintracht halten. Was meinst Du, wenn wir zum Herbst Frau von Gunar einlüden, dann kann sich das Brautpaar sehen. Ich gönn’s ihnen von Herzen.“

Dem Grafen Utzlar, der mit ausgestreckten Beinen in einem Schaukelstuhl mehr lag als saß, schien der Vorschlag nicht sehr genehm. „Wir sind selbst kaum recht warm hier, und Du denkst schon an Gäste; das ist nicht sehr schmeichelhaft für mich,“ erwiderte er, den Rauch seiner Cigarette kunstvoll zu zierlichen Ringen gestaltend. „Warum müssen es denn aber gerade die Verwandten unserer Untergebenen sein, die Braut dieses Alten, der mir überdies im höchsten Grad zuwider ist, fortwährend den Standesgenossen gegen mich herauskehrt und dabei vergißt, daß er nichts weiter ist als mein Gutsinspektor? Und Du nimmst noch Partei für ihn wie für den andern. Das ist so einer Deiner kleinbürgerlichen Züge, Sanne, die Du Dir abgewöhnen mußt. Wenn die Gräfin Utzlar Gäste empfängt, so wählt sie ihre Gesellschaft unter Standesgenossen. Graf Snarre zum Beispiel gefällt mir ausnehmend, ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle.“

„Und eben nur Edelleute hältst Du Dir gleichberechtigt?“ entgegnete Susanne, in ihrem Stolz verletzt; „Alten, trotz seines Adels, ist es Dir nicht, weil er eben arbeitet, arbeitet für uns, für Dich. Ich aber, weit entfernt, mich meiner bürgerlichen Abkunft zu schämen, fühle mich gehoben, einer Familie anzugehören, welche die Arbeit groß gemacht hat, und nur nach seinen Leistungen schätze ich den Mann.“

„Da komm’ ich Dir wohl sehr klein vor? Du bist ausnehmend artig heute, Sannchen.“

Susanne überhörte diese in spöttischem Ton hingeworfene Bemerkung. „Sieh Dir doch den Grafen Snarre an,“ fuhr sie, sich ereifernd, fort. „Er ist ein Edelmann, aber er arbeitet, für sich, für seine Interessen allerdings. Und keine geringeren Männer sind in meinen Augen Herr von Alten und Richard Tromtholt, die sich in unserem Dienst abmühen.“

„Und denen wir,“ warf der Graf spitzig ein, „das wenige verdanken, was von unserem großen Vermögen noch übrig gebliehen ist.“

„Leo!“

„Nun ja! Wer hätte gedacht, daß Euer Prokurist, der ja auch Euer vollstes Vertrauen besaß, der auch so eine Art Tugendspiegel war wie dieser Tromholt, Richard Tromholt, wie Du ihn vertraulich nennst, sich als gemeiner Dieb und Betrüger entlarven [519] würde? Wenn das die beiden anderen nicht sind, umso besser, aber nicht übelnehmen darfst Du mir, nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, wenn ich ihnen auf die Finger sehe, ja Du solltest mich darin unterstützen, anstatt mir jeden Tag Anweisung zu geben, wie ich mich ihnen gegenüber zu verhalten habe.“

„Leo!“ rief die Gräfin abermals entrüstet. „Du. Du wagst es, einen Richard Tromholt – –?“

„Nun ja,“ unterbrach er die vor Erregung Stockende, „einen Richard Tromholt, wenn Du darauf bestehst, daß ich ihn bei seinem Vornamen nenne, ihn so gut wie die anderen! Uebrigens weißt Du, daß Du in neuerer Zeit etwas oft von dem Direktor sprichst? Wenn ich überhaupt eifersüchtig werden könnte auf solche Leute – – –“ eine verächtliche Handbewegung schloß den Satz.

„Auf solche – Leute?“ – – Susanne hielt inne, das Blut, das ihr noch eben in die Wangen getreten war, wich jäh zurück. Sprach sie wirklich so oft und so warm von Tromholt, daß ihr Gatte solchen Verdacht auch nur im Scherz äußern konnte? Ja, er hatte recht, und mehr noch, als sie von ihm sprach, dachte sie in der letzten Zeit an ihn.

Nicht das Mitleid mit ihm, dessen Leben sie einst durch ihren Uebermuth gefährdet hatte, den sie verschmäht hatte, obwohl er sie liebte, nicht der Dank für das, was er für sie und die Ihrigen in unermüdlicher, aufopfernder Sorge gethan, nicht das allein war’s, was sie an ihn denken ließ, nein, halb unbewußt verglich sie ihn mit dem, um den sie ihn verschmäht, an seinem Charakter, seiner Persönlichkeit sogar maß sie die des eigenen Gatten.

Jener war ein Mann, ein Mann im edelsten Sinne des Wortes, und was war Utzlar? Der Schleier, der ihr Auge, ihre Sinne einst verhüllt und ihr Utzlar in seiner weltmännischen Sicherheit als einen Mann nach ihrem Geschmack hatte erscheinen lassen, war längst gefallen. Aus dem vornehmen Kavalier hatte sich nur zu bald der hochmütige Aristokrat, der blasierte Genußmensch, der die Arbeit als Nebensache ansah, ja in manchen Augenblicken sogar der rohe Egoist herausgeschält. Sie hatte sich von ihm geliebt geglaubt, und mehr und mehr kam sie zu der beschämenden Erkenntniß, daß sie ein Opfer der Berechnung geworden war. Sie kämpfte gegen diese Erkenntniß mit ihrem ganzen Stolz, sie wollte es nicht zugeben, suchte sich selbst darüber hinwegzutäuschen, und da stand immer wieder er vor ihr, er, Richard Tromholt!

„Bist Du fertig?“ fragte der Graf. „Ist der Traum zu Ende?“

„Zu Ende – ja, ich glaube –.“ Sie sprach es fast tonlos vor sich hin.

„Du bist ja ganz tragisch, Sannchen,“ spottete Utzlar, „es muß wohl ein schwerer Traum gewesen sein. Pah, Träume sind Schäume, und die Wirklichkeit hat recht.“ Und indem er die Cigarette wegwarf, auf sie zutrat und den Arm um ihre Hüfte schlang, fuhr er in schmeichelndem Ton fort: „Komm, setz Dich zu mir und laß uns plaudern! Oder wollen wir ausfahren? Du siehst, ich bin zu allem bereit.“

„Leo,“ flüsterte sie, „Leo, ich möchte fort von hier!“

„Ja wohin denn, Kind? An die Riviera, nach Monte Carlo, da denk’ ich mir’s jetzt auch lustiger als hier. Aber was willst Du, unsere Kasse gestattet’s nicht, Dein unvergleichlicher Direktor giebt uns kein Geld dazu.“

„Nicht dorthin,“ sagte sie abwehrend. „Fort, an einen anderen Ort, wo Du eine Stellung, eine Thätigkeit findest, die Deinen Anlagen entspricht.“

„Ja, Närrchen, was soll ich denn anfangen anderswo? Einem Utzlar taugt nicht jedes Geschäft. Hier sitzen wir ja ganz bequem. Geh, laß doch die Grillen!“

„Es ist mehr als eine Grille, Leo,“ erwiderte sie, „ich fühle es, mein Lebensglück hängt davon ab, daß Du wieder ein Amt, eine Stellung, eine feste Thätigkeit findest. Der Müßiggang hier zerstört unser Glück.“

„Der Teufel auch, wo denn?“ rief Utzlar, dessen Geduld zu Ende ging.

„Gleichviel wo, bei der Armee, und wenn das nicht sein kann, dann in Gottes Namen bei der Marine!“

Jetzt verlor Graf Utzlar alle Fassung, er stieß sie fast rauh zurück. „Also bei der Marine?“ brach er hervor, „damit ich Jahre lang auf der See herumfahre, während Du mit Deinem Direktor das Gut besorgst! Der Gedanke ist nicht übel, wahrhaftig nicht übel für eine junge Frau, die drei Monate verheirathet ist. Ein richtiger Operettengedanke, den ich der strengen Bürgertugend einer geborenen Ericius, einer Schwärmerin für die Arbeit, kaum zugetraut hätte. Darauf also läuft es hinaus, Dein schönes soziales Programm?“

Susanne war fassunglos, Thränen traten ihr in die Augen, Thränen der Scham und der Empörung. Da drang ein wilder Lärm vom Gutshof herauf, Menschen sprangen durcheinander, sie riefen nach Tromholt, nach dem Direktor, und „Feuer! Es brennt!“ scholl es dazwischen. Utzlar sprang empor und verließ eilends das Zimmer.

Es brannten draußen zwei Gebäude, Tromholts Wohnhaus und eines der großen Arbeitsanwesen. Auf Utzlars hastige Frage nach der Ursache ward ihm aus der Mitte der erregten Masse die Antwort, man vermuthe, es sei der rothe Peter Jeppe von Trollheide gewesen, der den Brand angestiftet habe.

Da es sich um zwei ziemlich weit auseinanderliegende Gebäude handelte, waren die für die Löschung zu treffenden Anstalten doppelt schwer zu bewerkstelligen, auch thaten die in den Brunnen gelegten Schläuche keine ausreichenden Dienste.

Als Leo auf Tromholt zutrat, der noch bleich von der Aufregung, aber mit größter Ruhe seine Anordnungen zur Rettung des Arbeitshauses traf, empfing er von diesem auf seine Fragen nur sehr kurze Antworten.

Ja, als dann gerade ein Balken im Dachstuhl sich löste, herabfiel und einen gefahrbringenden Feuerregen in die Höhe trieb, eilte Tromholt ohne Entschuldigung fort, um nach den in das Haus eingedrungenen Arbeitern zu sehen.

Die Folge war, daß Utzlar mit einem Ausdruck verbissenen Zornes in den Mienen zurücktrat. Er, er war doch der Herr auf Limforden, und Tromholt behandelte ihn wie irgend einen Beliebigen. Vernunft und Einsicht, die ihm sagen mußten, daß in einer solchen Lage Empfindlichkeit über die Vernachlässigung einer Form wahrlich nicht am Platze sei, daß es sich um die wichtigsten Dinge, um Rettung von Menschenleben und Eigenthum, handelte, kamen nicht zur Geltung. Des Mannes Gedanken richteten sich auch gar nicht auf das Unglück, sondern nur die Ueberlegung nahm von ihm Besitz, wie er Tromholts Platz einnehmen und womöglich dessen Anordnungen durchkreuzen könnte.

Als Alten, der mit Hilfe von Arbeitern einen Schlauch in den See gelegt hatte, eilend herangelaufen kam, rief ihn der Graf mit herrischer Stimme an. Er mußte seinen grenzenlosen Aerger und Unmuth an jemand auslassen, und dieser war ihm gerade der rechte.

„Es ist unglaublich, daß dergleichen vorkommen kann!“ hob er an. „Bei genügender Aufsicht in den Arbeiterhäusern erscheint es doch unmöglich, daß am hellen Tage ein Strolch sich einschleicht und einen Brand anstiftet!“ –

„Sie wollen gütigst Ihre Vorwürfe an die dafür verantworliche Person richten, Herr Graf! Ich bin Oberinspektor für die Gutsangelegenheiten; mit den Werken und Arbeitshäusern habe ich nichts zu thun. Die Aufsicht ruht übrigens in den denkbar besten Händen –

Ach, Tromholt, ein Wort! Können wir den Schlauch nun anlegen?“ wandte er sich dann an Richard, als dieser, das Gesicht entstellt von Ruß und Qualm, eben herantrat.

Das schlug nun dem Faß völlig den Boden aus.

„Ich muß bitten, daß Sie sich einer geziemenden Sprache befleißigen!“ knirschte Utzlar. „Das nur zunächst! Das Weitere werden Sie morgen hören!“ –

Damit wandte er sich ab, richtete seine Schritte nach dem Hause von Tromholt und ertheilte, um seinem Drange nach Autorität Luft zu machen, hier Anordnungen, die sich entweder von selbst verstanden oder als zwecklos erwiesen. –

„Was giebt es denn?“ fragte Tromholt und blickte Alten im höchsten Grade überrascht an. Die Muskeln in Altens Gesicht zuckten und seine Hände hatten sich unwillkürlich geballt. Er berichtete erregt, was geschehen war.

Als er geendigt hatte, schüttelte Tromholt mit einem Ausdrucke schmerzlichen Unwillens den Kopf. Nichts war so bezeichnend für Utzlars Charakter als dieser Vorgang.

Im weiteren Verlauf des Abends traf Hilfe vom Gutshof Snarre ein, auch der Graf erschien in einem Zweigespann und begab sich, nachdem er von Tromholt und Alten erfahren hatte, daß jegliche Gefahr vorüber sei, ins Schloß.

„Sagen Sie, ich bäte um Verzeihung, wenn ich so spät störe, aber ich möchte mich doch nach dem Befinden der Frau Gräfin [522] erkundigen!“ – erklärte er dem Diener, der sich verbeugte und davoneilte.

Graf Snarre mußte recht lange im Vorzimmer warten, bevor ihm ein Bescheid wurde. Die Herrschaften hatten sich ihre Wohngemächer in dem hinteren Bau eingerichtet, von dem man auf den Park und seitwärts nach dem Gutshof sah. Der Vorderbau mit der großen Treppe enthielt jetzt die Gesellschaftszimmer und wurde für gewöhnlich nicht bewohnt.

Als nach dem Fortgang des Dieners Ruhe eintrat, hörte Graf Snarre nebenan deutlich die von diesem abgestattete Meldung und des Dieners Entfernung durch die Thür nach dem Flur.

Er erwartete nun, daß Utzlar ihm sogleich selbst öffnen und entgegeneilen würde, aber alles blieb zunächst still. Zuletzt drang jedoch heftiges Sprechen an sein Ohr, und sogar einzelne Sätze wurden deutlich vernehmbar.

„Ich kann doch mit meinen verweinten Augen nicht erscheinen. Empfange Du den Grafen!“ –

„Ach, Albernheiten! Raffe Dich auf!“

Snarre hätte sich nach dieser Zeugenschaft bei einem ehelichen Zwiste nur zu gern entfernt, er schwankte auch, ob es nicht am richtigsten sein würde, wieder zu gehen. Aber während er noch überlegte, bald aufstand und dann doch wieder abwartend sich niederließ, öffnete Utzlar mit einem „Pardon, Pardon, hochverehrter Herr Graf!“ die Thür und erging sich in vielen Entschuldigungen.

„Nein, nein, ich habe Ihre Verzeihung einzuholen, daß ich störe“ – entgegnete Snarre artig. „Mich leitete aber aufrichtige Theilnahme für die gnädige Frau, die natürlich das unerfreuliche Ereigniß sehr erregt habe wird.“

Der Zufall wollte es, daß in diesem Augenblick der Diener erschien und den Herrn des Hauses im Auftrage des Herrn Tromholt bat, sich herabbemühen zu wollen. Seine Anwesenheit sei erforderlich.

Da Utzlars Eitelkeit dadurch geschmeichelt ward, fragte er den Gast mit einem Blick, ob er ihn entschuldigen wolle.

„Aber so ernste Dinge gehen doch vor!“ rief Snarre zuvorkommend und ehe Utzlar mit Worten anheben konnte. „Ich bitte Sie dringend, der Aufforderung Folge zu geben, und leiste, mit Ihrer Erlaubniß, der gnädigen Frau Gesellschaft, wenn sie mich empfangen will.“

„Meine Frau ist unpäßlich und hat sich zurückgezogen, Herr Graf. Indessen werde ich sehen, ob sie Sie dennoch empfangen kann. In jedem Fall bitte ich, daß Sie Platz nehmen! Gleich bin ich wieder zu Ihrer Verfügung.“

Nach diesen Worten verbeugte sich Graf Utzlar und eilte fort.

Kaum waren einige Minuten verflossen, als die Thür zum Nebengemach sich aufthat, und Susanne erschien. Ihre Augen trugen deutliche Thränenspuren. Sie trat rasch und trotz des hilflosen Ausdruckes, der ihr holdes Angesicht noch mitleiderregender erscheinen ließ, entschlossen auf Snarre zu und sagte zu seinem ungemessenen Erstaunen:

„Als ich jüngst bei Ihnen war, Herr Graf, zeigten Sie mir in den kurzen Stunden unseres Zusammenseins eine warme Antheilnahme und betheuerten, daß es Sie danach verlangte, dieselbe zu bethätigen. Nun, ich brauche einen Freund, der schweigen, rathen und für mich handeln kann. Wollen Sie dieser Freund sein und mit der That beginnen in diesem Augenblick?“ –

„Gnädige Frau! Frau Gräfin!“ rief Snarre mit deutlich ausgeprägter Ueberraschung. „Ja, gewiß!“ fuhr er fort, ergriff des schönen, tief erregten Weibes Hände und küßte sie ehrfurchtsvoll. „Ich bitte, sprechen Sie! Was es sei, Sie finden mich bereit, für Sie zu handeln.“

„Nun,“ kam es zitternd aus dem Munde der Frau, – „so hören Sie! Ich will mich von Utzlar trennen, unter allen Umständen wieder trennen. Ich ersticke unter den unnatürlichen Verhältnissen, ich sterbe, – sterbe, – ich kann nicht mehr –“

Mit immer höher gesteigerter Befremdung hörte Graf Snarre, was Susanne sprach. Aber er erging sich in keinen Fragen und Ausrufen, sondern gab ihr nur in ruhigem Tone Antwort.

„Ist Ihr Entschluß unumstößlich?“ fragte er. „Leitet Sie nicht nur eine heftige vorübergehende Erregung? Sie begreifen, daß ich um Ihretwillen frage, meine gnädige Frau. Es ist ein Schritt von so großer Tragweite, daß der Freund auch die Pflicht hat, seine Bedenken zu äußern.“

„Nein, nein, nein!“ rief Susanne stürmisch und hart. „Alles ist überlegt. Mein Entschluß ist unabänderlich!“

„Wohl! Was soll ich thun?“ fragte Snarre. „Soll ich Sie nach Kiel geleiten? Darf ich Ihnen einen Aufenthalt in meinem Schlosse anbieten? Meine Tante, die Gräfin Snarre, die gestern bei mir eingetroffen ist, wird sich eine besondere Freude daraus machen, Sie unter ihren Schutz zu nehmen. Entscheiden Sie!“

„Ja, nehmen Sie mich zunächst mit sich! Von dort werde ich sogleich meiner Mutter schreiben. Ich will Utzlar nicht wiedersehen! Ich will nicht! Alles ist aus zwischen uns! Er hat mich in unwürdiger Weise behandelt, er hätte mich geschlagen ohne Ihr Dazwischenkommen.“

Die Augen der Frau waren groß und weit und ihre Mienen verstört. Empörung, Zorn und Scham wirkten solchergestalt auf sie ein, daß ihr ganzer Körper bebte und die Arme sich nachträglich wie zu einer Abwehr erhoben.

Graf Snarre war sprachlos für Augenblicke, aber rasch sich wieder fassend sagte er:

„Wohl, so kommen Sie gleich, gnädige Frau! Mein Fuhrwerk steht noch angespannt. Ich biete Ihnen meinen Schutz, und niemand soll es wagen, Sie aufzuhalten. Dennoch aber wollen wir jedes Aufsehen zu vermeiden suchen. Ich geleite Sie hinab bis zum Park. Dann gehen Sie voraus; am Ausgang warten Sie. In zehn Minuten bin ich dort.“ –

Noch schwankte Susanne einen Augenblick. Blitzschnell zogen die Gedanken durch ihr Gehirn. Sie sah ihre Mutter vor sich, das Bild ihres Vaters stieg vor ihr auf, Kiel mit seinen Bewohnern, die reden und verdammen würden. Auch Utzlar, ihr Mann, Alten und – Tromholt – –

Tromholt! Wie würde er triumphieren, daß sie sich um ihr Glück betrogen! – Aber nein, nein, gerade er würde der mildeste, gerechteste, gütigste sein. Er war ja ein Mensch, ein wahrhaft edler, alles verzeihender Mensch!

Und so legte denn die Frau entschlossen ihren Arm in den des Grafen Esbern-Snarre und schritt über den Flur die Treppe hinab.

Vom Hofe herüber drang eben noch das Geräusch der thätigen Arbeiter, Brandgeruch erfüllte die Luft, und die Qual, welche das Innere der Frau erfüllte, ward erhöht durch die Gedanken an das, was drüben geschehen war. – – –


*               *
*

Als Utzlar nach einer Abwesenheit von fast einer halben Stunde wieder ins Schloß trat, das Wohnzimmer öffnete und sich vergeblich nach seiner Frau und Snarre umsah, trat ihm der Diener entgegen.

„Meine Frau, die Gräfin – der Graf Snarre – wo sind sie?“ fragte er verwundert.

„Die gnädige Frau ist mit dem Herrn Grafen Snarre gegen den Park zu gegangen, und eben hörte ich von dem Aufseher Peter, daß – sie in dem Wagen des Herrn Grafen abgefahren seien. Er hat sie einsteigen sehen. Ich glaubte, der Herr Graf wüßten –“

„Bist Du toll?“ rief Utzlar erbleichend. „Meine Frau nach – Snarre –“

Aber er sprach nicht weiter, beherrschte sich und eilte in den Hof hinab. Seine mit Absicht vorsichtig angestellten Ermittelungen ergaben, daß der Graf beim Herrenstall gesehen worden sei und, da der Kutscher nicht anwesend war, sich selbst auf den Bock seines Wagens geschwungen habe. Er hätte zurückgelassen, sein Diener solle später mit den Knechten und den Spritzen nachfolgen.

Nun war also wohl kein Zweifel mehr! Susanne hatte sich mit Graf Snarre auf und davongemacht, und die Veranlassung war er, Utzlar, selbst gewesen! Einen solche Schritt hatte der Mann doch nicht für möglich gehalten! Ja, einen Augenblick glaubte er, es müsse sich alles wieder gutmachen lassen. Aber wenn er sich dann wieder erinnerte, was geschehen war, schwand jeder Zweifel. Sie hatte sich von ihm losgesagt für immer!

Was war nun zu thun? Utzlar mochte, wollte sich anfänglich die Folgen nicht ausdenken! Und dann redete doch seine berechnende Natur auf ihn ein und schuf Vorstellungen, die ihm die Dinge in einem veränderten Licht erscheinen ließen. Wenn Susanne wirklich gehen wollte, wohlan! Aber sie sollte ihn entschädigen. Er würde Abstandsgeld verlangen! Und sobald alles sich abgewickelt hätte, würde er eine andere und eine reichere Frau finden! War er hier nicht in seinen Voraussetzungen schmählich betrogen worden?

Aber wenn man sich weigerte, ihm Entschädigung zu zahlen, oder die Möglichkeit dafür nicht vorhanden war? Utzlar wußte, [523] daß nur durch Arbeit, Sparsamkeit und Fleiß Limforden und Trollheide allmählich eine sichere Rente abwerfen konnten. Die Kieler Firma war noch gebunden, selbst der Erlös aus dem Verkaufe des Hauses konnte keineswegs ganz in den Händen der Witwe bleiben.

Sehr peinlich war Utzlar anfänglich der Gedanke, daß Einzelheiten bezüglich dieses Zerwürfnisses in die Oeffentlichkeit dringen könnten. Susanne würde erklären, er habe sie mißhandelt. Aber auch das war ihm schließlich gleichgültig. Er würde leugnen! Und zu verwundern war es nicht, daß er sich hatte hinreißen lassen! – Sie hatte wieder in rücksichtslosester Weise Tromholts Partei genommen, als er ihr von dem Zwischenfall berichtete, und sich auch ganz auf Altens Seite gestellt. Noch mehr! Sie hatte mit schmerzbewegter Stimme ihm ein Bild seiner selbst vorgehalten und noch einmal die Forderung gestellt, dem Müßiggang zu entsagen, Limforden zu verlassen und wieder in die Marine einzutreten. Falls dies an sich ausgeschlossen sei, möge er sich in einem Gesuch unmittelbar an den Kaiser wenden und die Gründe für seine Bitte darlegen.

Zuletzt hatte sie sich vor ihm in die Höhe gereckt und gerufen. „Ich glaubte, einen Mann geheirathet zu haben, und sehe, daß –“

Da hatte er sie unterbrochen und ihr in besinnungsloser Heftigkeit ein vor Zorn ersticktes: „Schweige, ich befehle es!“ – zugerufen, und als sie ihm erwidert, sie sei keine Sklavin, hatte er sie am Arme gepackt und ihr mit Gewalt den Mund verschlossen. Er war außer sich in diesem Augenblick, er hätte sie vielleicht geschlagen, wenn Snarre nicht gekommen wäre. Aber er hatte es nicht gewagt: das Aeußerste, was ihr ein Recht zur Trennung gegeben hätte, war nicht geschehen, und die Gesetze waren streng in diesem Punkt. Das Recht war auf seiner Seite, und wenn er nicht wollte – – – Ah! Dieser Snarre, er hatte nicht übel Lust, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Aber Geduld, keine Uebereilung, er würde seine Rache schon nehmen. So sann Graf Utzlar, während er eine Flasche Bordeaux trank und einige Cigaretten rasch in Dampf verwandelte.

Schließlich legte er sich schlafen. Sein letzter Gedanke war, es sei in der That nichts unverständiger, als sich vor der Zeit aufzuregen. Er wollte die Dinge an sich herankommen lassen und seine Bedingungen stellen, und wenn die Familie Ericius diese erfüllte und darüber zu Grunde ging, was scheerte ihn das? Sie hatte es so gewollt. Es gab nur einen berechtigten Standpunkt in der Welt, den des Egoismus. Alles übrige war Thorheit!




8.

Die Nachricht von Susannens Flucht erweckte in Richards Brust nicht das freudige Gefühl, das man von einem Manne hätte erwarten können, der den Gegenstand seiner wenn auch hoffnungslosen Liebe aus solchen Fesseln befreit sieht.

Wie sie sich von ihnen überhaupt hatte umstricken lassen können, war ihm ein Räthsel, und dann, was half’s ihm, daß sie frei war? Der Hoffnung, sie selbst zu besitzen, hatte er längst entsagt. Daß sie ihn nicht lieben konnte, hatte sie ihm mit genügender Deutlichkeit erklärt und bewiesen, und das Recht, sich ihren Freund zu nennen, das er als natürlichen Entgelt in Anspruch genommen, auch das hatte sie ihm nun geraubt.

Daß sie den Entschluß zur Flucht, wenn auch plötzlich, so doch nur auf Grund einer Reihe schwerster Erfahrungen gefaßt haben könne, war ihm klar; um so tiefer kränkte es ihn, daß sie nicht ihn, den einzigen Menschen, von dem sie wissen mußte, daß er jederzeit für sie einzutreten bereit war, sondern einen Fremden, den sie kaum erst kennengelernt, den Grafen Snarre, zum Vertrauten gemacht hatte, und bei aller Hochschätzung, die er sonst für den Grafen empfand, konnte er ein Gefühl brennender Eifersucht nicht unterdrücken. Hatte sie gefürchtet, daß er ihr Vertrauen mißdeuten könnte? – An all die anderen zarteren Beweggründe, die Susanne veranlaßt habend konnten, sich in ihrer Herzensnoth nicht an ihn zu wenden, dachte der sonst so kluge Mann in seiner ersten Erregung nicht.

Er sagte sich nur, daß all seine Mühe, ihr zu dienen und wenn nicht ihr Gatte, so doch der erste nach diesem, ihr Freund zu sein, umsonst gewesen, daß er ihr nichts war als eben ein Diener, den man bezahlte wie die anderen. So hatte es der alte Ericius gehalten, und sie war seine richtige Tochter. Wozu sich länger plagen um einen Preis, der doch nie zu erringen war!

Selbst die Arbeit brachte ihm nicht mehr den gewohnten Trost. Er sah Vergangenheit und Zukunft im dunkelsten Licht, und die durch den Brand entstandene Geschäftsstörung, die mancherlei Sorgen und Wirrnisse, die das Ereigniß mit sich brachte, trugen nur dazu bei, seine trübe Stimmung noch mehr zu verdüstern. Vergebens suchte ihn Alten aufzuheitern. Er sprach von Aufgabe seiner Stellung, er war matt, zum Tode matt.

Als aber dann Frau Ericius, der ihre Tochter von Schloß Snarre aus die Katastrophe und deren Veranlassung in einem ausführlichen Brief gemeldet hatte, sich schriftlich an ihn wandte, um seinen Rath und Beistand in der bereits eingeleiteten Scheidungsklage zu erbitten, gewann er plötzlich wieder neues Leben und sein altes Pflichtgefühl regte sich.


*               *
*


Susanne und Graf Snarre waren sich durch die besonderen Verhältnisse in wenigen Stunden näher getreten als sonst Menschen in Wochen und Monden, und die Nachwirkung der ungeheuren Erregung über das Geschehene und das Vertrauen, das die junge Frau in ihren Beschützer setzte, ließen sie in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes auf dem Schloß kaum einmal zu dem Gedanken gelangen, daß ihr Verweilen daselbst trotz der Anwesenheit der Verwandten des Grafen, der alten Gräfin Snarre, sich mit den herkömmlichen Auffassungen in Widerspruch befinden könnte. Als sie endlich nach einem Aufenthalt von einigen Tagen ihrem Wunsche Ausdruck gab, nach Kiel zurückzukehren, machte ihr Graf Snarre die Mittheilung, daß Tromholt ihm geschrieben habe, er werde nach wiederholter Rücksprache mit Utzlar nach Snarre kommen, um über das Ergebniß seiner auf Wunsch der Frau Ericius geführten Verhandlungen mit ihm zu berichten.

Bevor aber Tromholt eintraf, hatte Snarre eine Unterredung mit Susanne, die ihn über ihre Stellung zu Tromholt, Susanne aber über des Grafen Gefühle für sie aufklärte.

Die Gräfin Snarre hatte sich wegen eines leichten Unwohlseins nach dem Abendessen zurückgezogen, und Snarre war neben seinem schönen Gast um so lieber allein zurückgeblieben, als er unter dem Eindruck stand, daß dann Susanne leichter zu dem vertraulichen Ton des ersten Tages zurückkehren werde. Ihre Schönheit, ihr ungekünsteltes Wesen, ihre ernste Liebenswürdigkeit hatten wie mit einem Zauberschlage eine starke Neigung für sie in seinem Innern geweckt, und die sich ihm durch die Verhältnisse aufdrängende Zurückhaltung machte ihn nur noch unruhiger und leidenschaftlicher.

Bisher fand er für seine Hoffnungen wenig Ermunterung. Susanne sah ihm, wenn sie mit ihm sprach, mit jener ruhigen Unbefangenheit, die jedes andere Gefühl als das eines freundschaftlichen Vertrauens ausschließt, in die Augen. Trotzdem drängte es ihn heute, sich ihr in anderer Weise zu nähern.

„Wie denken Sie sich die Zukunft, verehrte Frau Gräfin?“ hub er nach einer kurzen Einleitung an. „Werden Sie in Kiel bleiben, oder haben wir, wenn auch später, Aussicht, Sie in Limforden wiederzusehen? Ich muß gestehen –“ hier stockte Snarre und veränderte den Ton seiner Stimme, „daß ich mir nicht ausdenken mag, Sie nun ganz wieder missen, von den Rechten der Freundschaft, die Sie mir eingeräumt haben, keine Vortheile mehr ziehen zu sollen.“

Susanne, welcher der veränderte Ton nicht entging und die aus den letzten Worten die Absichten Snarres ahnen mochte, erwiderte mit einem Anflug von Schwermuth:

„Nach Limforden werde ich, auch wenn alle jetzt noch bestehenden Hindernisse beseitigt sind, schwerlich zurückkehren. Es sind weniger die peinlichen Erinnerungen der jüngsten Zeit, die mir den Aufenthalt dort verleiden, als die Gegenwart eines Mannes, dessen Anblick wie ein schwerer Vorwurf auf meine Seele drückt, eines Mannes, dem ich viel Leids angethan habe, ohne daß er dadurch in seinen großmüthigen Bemühungen für mein Wohl im geringsten zu erschüttern gewesen wäre, dessen Freundschaft, ja dessen Achtung ich nun aber für immer verloren zu haben fürchte.“

„Ich verstehe nicht ganz,“ sagte Snarre, befremdet aufblickend.

„Ich meine Tromholt,“ fuhr Susanne freimüthig fort. „Ich fühle, daß er das erste Anrecht hatte, von mir in einer so wichtigen Lebensfrage, wie sie mein Zerwürfniß mit Graf Utzlar ist, ins Vertrauen gezogen zu werden. Ich habe es unterlassen, obwohl ich weiß, daß ihn die Umgehung seiner Person schwer kränken [524] muß, daß er die Gründe, die mich dazu bewogen, bei aller Vorurtheilslosigkeit, die sonst sein Wesen kennzeichnet, kaum richtig würdigen wird. Es war ein Gefühl der Scham, des Trotzes, das mich hinderte, ihn, gerade ihn in die grausamen Enttäuschungen einzuweihen, die diese Ehe mir bereitet hat. Und doch hätte ich es thun sollen, thun müssen, es bedrückt mich, daß ich es unterließ.“

Sie schwieg in einer Art von schmerzlicher Verwirrung, und es entstand eine peinliche Pause.

„Ich begreife, Frau Gräfin,“ hub Snarre endlich an.

„Sie sagten?“ unterbrach ihn Susanne hastig, wie aus einem Traum erwachend.

„Daß es für Sie peinlich ist, einem Mann von so hochachtbarer Gesinnung, wie es Herr Tromholt ist, Grund zu einem Mißverständniß gegeben zu haben, und doch glaube ich, daß er sicherlich über jede kleinliche Auffassung Ihrer Handlungsweise erhaben ist. Tromholt ist ein Mann, der alles begreift und mit seiner edlen Seele auch alles verzeiht.“

„Ja, er ist ein seltener Mann,“ fiel Susanne mit fast stürmischer Wärme ein, dann aber legte sie die Hand über die Augen und fuhr schwermüthig sinnend fort. „Und doch, Herr Graf, giebt es etwas, das auch er nicht begreifen wird, wie – wie ich es selbst kaum begreife – –“

Susanne machte eine Bewegung, als ob sie einen Gedanken zu verscheuchen strebe, und sprach dann in ruhigem Tone weiter:

„Doch zu etwas anderem! Ich sehe, daß ich mich in Kiel werde einzurichten haben, obschon mir nach dem Vorgefallenen nichts schwerer sein kann, als dorthin zurückzukehren. Das ist’s ja auch was mich neben allem Uebrigen so sehr bedrückt. Ich werde keine Heimath mehr haben – –“

Susanne brach abermals ab und starrte vor sich hin.

„Und das Haus Ihres Freundes,“ wagte Snarre, dem der Augenblick für seine Werbung günstig schien, zu sagen, „das Haus, das Ihnen eine Zuflucht bot, die es Ihnen heute und immer bietet: dieses mein Haus – und das Ihrige, wenn Sie so wollen – vermöchte es nicht, Ihnen die Heimath zu ersetzen?“

Er suchte bei seinen Worten ihr Auge, sie aber sah ihn groß an und erwiderte mit ruhigem Ernst und einer Bestimmtheit, die ihn verwirrte: „Ich schwieg schon vorher, Graf Snarre, als Sie von einer Entbehrung sprachen, die Sie erleiden würden, wenn ich fortginge. Auch jetzt möchte ich lieber einer Antwort ausweichen. Sie wissen, daß ich Ihnen für Ihre Güte, namentlich für das zarte Wie Ihrer freundschaftlichen Hilfe von ganzem Herzen dankbar bin, und daß ich nicht zu den Naturen gehöre, die Menschen nur benutzen und sie nach Laune wieder abschütteln. Aber ich bitte, beschweren Sie mein Gemüth nicht durch neue Erregungen. Ich ergreife die Hand des Freundes,“ – Susanne betonte das Wort – „und möchte sie halten dürfen fürs Leben!“

Sie streckte ihm ihre Rechte entgegen und erbat durch ihre Blicke, was sonst noch ihr Mund sprechen wollte. Und da beugte sich der Mann mit fast demüthiger Unterwerfung herab, berührte leise mit seinen Lippen ihre Hand und verließ langsamen Schrittes das Gemach.


*               *
*


„Wer ist da?“ klang’s schroff aus Richard Tromholts Munde.

„Peter Elbe aus Trollheide!“ erwiderte die alte Marieken schüchtern und zog sich zurück.

Nun trat der alte Mann mit dem langen Haar und der Jacke mit den silbernen Knöpfen in Richards Arbeitszimmer. Er sagte nichts, er verbeugte sich und blieb an der Thür stehen wie ein lebloses Bild.

„Was ist? Gutes oder Böses auf Trollheide? Es giebt genug von dem letzteren hier!“ stieß Tromholt heraus und winkte dem Alten, sich niederzulassen.

„Nein, – nichts in Geschäften, Herr!“ gab der Alte mit zitternder Stimme zurück. „Ich komme in persönlichen Angelegenheiten. Dieser Tage war ich in Mückern –“

Er stockte.

„Nun, laßt hören, Peter Elbe!“ gab Tromholt milder zurück und lehnte sich tiefer in den Stuhl. Ein kleiner Vogel zwitscherte in seinem Bauer; auf den Fensterbänken lag der Sonnenschein, und etwas Friedliches war ausgebreitet in dem Raum, in welchem der Mann mit dem sorgenvollen Herzen saß.

„Herr – Herr –“ kam es bebend aus des Alten Munde. „Wo ist meine Tochter Ingeborg? Mein altes Herz ist mürbe. Ich bin am Ende!“

Nun ahnte Tromholt alles, was geschehen war. Er erhob sich langsam, stellte sich vor seinen Untergebenen hin, legte die Hände auf seine Schultern und sah ihn mit traurigen Blicken an. „Glaubt Ihr an Gott, Peter Elbe?“ fragte er weich.

„Ja, Herr! Ich glaube an Gott, und ich glaube auch, daß er alles Böse straft. Mag der Mensch noch so geheime Wege einschlagen, es giebt einen hellen Tag, der bringt’s ans Licht.“

„Ihr seid ein alter Mann, ein braver Mann!“ sagte Tromholt. „Aber Ihr habt die Augen eines Blinden. Kommt, setzt Euch! Ich weiß, was Ihr wollt. Antwort soll Euch werden, ohne daß Ihr fragt. Ich will Euch die Beschämung ersparen.“

Und nachdem sich Peter Elbe, ohne daß diese Worte Eindruck auf ihn gemacht zu haben schienen, finsteren Blickes und seine Kappe in den Händen hin und herzerrend, niedergelassen hatte, sagte Tromholt: „Ihr kommt, um mit mir zu hadern! Euer Herz ist voll Zorn und Hitze, und am liebsten wäret Ihr wie ein unbesonnener Knabe mir an die Brust gesprungen, um Rechenschaft von mir zu fordern für das Schicksal Eures Kindes. Ihr hörtet auf die Stimme der Menge, die lästert und hetzt, und weil sie im Durchschnitt gemein ist, glaubt Ihr, alles sei Schmutz auf dieser Welt. Aber es giebt auch reine, ungetrübte Bäche mit hellem Wasser. Ihr fragt, wo Eure Tochter Ingeborg ist. Uebergabt Ihr mir Euer Kind, da Ihr Euch an mich wendet? Nein! Wie kommt Ihr also zu solcher Frage? Hört! Ihr redetet ihr zu, den Kapitän zu heirathen, obwohl Ihr wissen konntet, daß sie ihn nicht liebe; aber Ihr dachtet an Euch, nicht an sie. Weil’s Euch Wunsch war, sollte es für sie Gebot sein! Euch selbst trifft die Schuld an dem, was geschehen – nein, halt! Ich rede jetzt! Nachher könnt Ihr sprechen.

Im letzten Augenblick, da sie wußte, daß Larsen ein Schurke sei, entfloh sie. Sie fürchtete ihn und Euch. Sie fürchtete ihren Vater, hört Ihr, bei dem sie doch alles finden sollte, was ihr Herz trösten konnte. Sie ging nicht aufs Schiff. Sie kam in derselben Nacht auf Umwegen nach Limforden, fiel vor mir nieder und rief: ‚Schütze mich, hilf mir!‘ Ich sagte: ‚Wie viel Herzeleid bereitest Du Deinem alten Vater!‘ Da weinte sie bitterlich. Und doch verlangte sie, daß ihr Vater nichts erfahre! Sie fürchtete sich! Ich sag’s noch einmal!“

Und nun erzählte er dem Alten alles, was inzwischen mit seiner Tochter geschehen war bis auf den Tag, da er sie aus Larsens Händen befreit und im Hause der Frau Ericius untergebracht hatte.

„So, nun sprecht Ihr, Peter Elbe! Aber vorher noch eins! Das Mädchen hat sich unter meinen Schutz gestellt, und Anrechte auf sie habt Ihr so lange verwirkt, bis Ihr sagt: ‚Ja, Herr, ich trug auch Schuld. Und ich will’s wieder gutmachen!‘“

Der alte Elbe stand eine Zeit lang sprachlos und ließ das greise, zitternde Haupt auf die Brust sinken. Als er’s wieder erhob, standen schwere Thränen in seinen Augen, und schluchzend klang es aus seinem Mund: „Können Sie es mir vergessen, Herr Direktor?“

„Ja, ich kann’s, und noch mehr!“ erwiderte Tromholt milde, indem er ihm die Hand, nach der Elbe schüchtern getastet hatte, hinreichte. „Ich fühle und fühlte mit Euch, und wenn Ihr nicht selbst zu mir gekommen wäret, wäre ich zu Euch gekommen und hätte trotz Eurer Tochter Bitten und Verbot Euch alles gesagt. Nur die Arbeit, die Sorgen und Lasten hier ließen mich nicht dazu gelangen.“ –

Noch lange saßen die beiden Männer beisammen. Als sie sich trennten, war’s Nachmittag geworden. Dann hielt der Wagen vor der Thür, und Tromholt fuhr nach Snarre.

Draußen an der Grenze des Parks begegnete ihm Graf Utzlar, der eine Cigarre rauchte und mit seinem Stock auf die jungen Erlenbüsche hieb, die am Uferrande des Baches standen. Er wußte, wohin Tromholt fuhr, und grüßte, wenn auch ein wenig die Farbe wechselnd, wie ein wohlwollend aufgelegter Gebieter seinen Diener grüßt.

Bald waren sie sich aus den Augen entschwunden. Als Richard in Snarre anlangte, stand der Graf zufällig auf der Freitreppe vor der Thür und fütterte die Tauben. Sobald er des Gastes ansichtig wurde, trat er ihm höflich entgegen und geleitete ihn nach seinem Arbeitszimmer, das mit der anstoßenden Bibliothek die ganze rechte Seite des Schlosses von der Halle aus einnahm.

„Nun, was bringen Sie?“ fragte er gespannt, nachdem Tromholt sich niedergelassen und die ihm angebotene Cigarre abgelehnt hatte. „Ich bin außerordentlich begierig!“

Tromholt aber sagte: „Ich hoffte eigentlich, von Ihnen oder [526] vielmehr durch Sie Neues von der Gräfin zu hören, die wohl zweifellos Nachrichten von ihrer Mutter erhalten hat. Bei uns stehen die Dinge wie vordem. Graf Utzlar besteht auf seiner Forderung, die, wie die Verhältnisse liegen, unerfüllbar ist. Frau Ericius hat mich zwar mit unbeschränkter Vollmacht, die Verhandlungen zu führen, ausgerüstet, allein – –“

Tromholt stockte in einiger Verlegenheit.

„Könnten Sie denn im Nothfall die Summe sofort anschaffen?“ fragte der Graf, für den Tromholt nach Susannens Bekenntnissen ein Gegenstand ganz besonderen Interesses war.

„Nein! Wir haben sie nicht,“ entgegnete Tromholt kurz.

„Und was ist nun Ihre persönliche Ansicht in der Sache?“

„Wenn die Gräfin will, muß das Opfer gebracht werden –“

„Recht so!“ entgegnete Snarre, „und wenn – wenn –“

Er unterbrach sich, zog an seinem Schnurrbart und sah Tromholt an, als ob er ihm weiterhelfen solle.

„Sie meinen, Herr Graf?“

Snarre hätte gern gesagt: ‚Verfügen Sie über meine Kasse!‘ Aber das Gespräch mit Susanne hatte ihm seine frühere Unbefangenheit geraubt, und sein Zartgefühl sträubte sich gegen einen Vorschlag, der hätte mißdeutet werden können.

Um so angenehmer war er überrascht, als Tromholt, nunmehr das Schweigen brechend, anhob: „Erlauben Sie mir einmal ein offenes Wort, Herr Graf! Würden Sie gegebenenfalls helfen, Frau Susanne von dem Burschen zu befreien, der drüben in Limforden noch immer den Herrn spielt und seine Laune in Ermangelung eines besseren Gegenstandes an den Parkbüschen ausläßt, die er mit seinem Spazierstock bearbeitet?“

„Ja!“ rief Graf Snarre lebhaft, indem er aufsprang und dicht vor Richard hintrat. „Befreien will ich sie so bald wie möglich. Aber eines, Tromholt, versprechen Sie mir: die Gräfin darf nie etwas davon erfahren, daß ich es war, der die Summe vorstreckte, niemals, verstehen Sie? Unter dieser Bedingung steht Ihnen das Geld heute noch zur Verfügung, und ich verzichte ein für allemal auf Kapital und Zinsen.“

Tromholt war über die rückhaltlose Gewährung seiner kaum angedeuteten Wünsche ebenso überrascht wie erfreut, aber das Geld als Schenkung für Susanne entgegenzunehmen, dagegen sträubte sich sein Inneres doch.

Er setzte dies auch dem Grafen mit ruhigem Ernst auseinander, behielt sich bezüglich eines Anlehens seine Entschlüsse vor und bat schließlich, der Graf möchte ihn bei Susannen anmelden lassen, mit der er vor ihrer Abreise nach Kiel, die, wie der Graf ihm mitgetheilt, schon am nächsten Tag stattfinden sollte, Rücksprache nehmen müßte.

Snarre beeilte sich, seine Bitte zu erfüllen, und da der abgeschickte Diener mit der Nachricht zurückkehrte, die Frau Gräfin befände sich im Park, so ging er selbst, sie von Tromholts Anwesenheit zu benachrichtigen.

Richard blieb indessen in des Grafen Zimmer, betrachtete die Bilder an den Wänden ohne tieferes Interesse und war so ganz seinen Gedanken hingegeben, daß er Susannens Eintreten überhörte.

Nun wandte er sich um.

Wie schön sie war! ‚Sei mein Weib!‘ hätte er ihr auch jetzt wieder zurufen mögen, ‚sei mein, und ich will alles vergessen, denn mein Leben hat kein anderes Ziel, als dich!‘ Aber er bemeisterte sich, ihre Antwort von damals kam ihm wieder in den Sinn, und je heftiger die Bewegung war, ist die ihn ihr Anblick versetzte, desto kälter und förmlicher war die Verbeugung, mit der er sie nun begrüßte.

Susannen entging Tromtholts tiefe innere Bewegung nicht.

„Sie wollten mich sprechen, Herr Tromholt,“ begann sie mit bebender Stimme, „und Sie erfüllen damit nur meinen eigenen Wunsch, ein Bedürfniß, das ich lange schon empfand und dem ich vielleicht früher hätte Ausdruck verleihen sollen.“

Tromholt verbeugte sich abermals, diesmal fast noch gemessener.

„Tadeln Sie, was ich gethan habe? Begreifen Sie meine Handlungsweise?“

„Nein, ich tadle sie nicht, Frau Gräfin. Ich begreife alles vollkommen.“

Tromholts Mienen veränderten sich nicht, als er dies sagte, nichts rührte sich in seinem Gesicht.

„Es sind geschäftliche Angelegenheiten, derentwegen Sie mich zu sprechen wünschten, wie mir Graf Snarre sagte. Vor allem aber drängt es mich, Ihnen zu danken mit tief bewegtem Herzen, daß Sie, mein unvergleichlicher Freund, sich abermals meiner annehmen. O, ich bitte – sehen Sie mich nicht so ernst, so strafend an! Ich weiß alles, was Sie sagen wollen, und habe auf alles ein Wort, das Sie besänftigen, das Sie versöhnen muß.“

Tromholt wurde es schwer, sich dem Eindruck dieser rührenden Sprache zu entziehen, aber er hatte sich vorgenommen, der Frau, die ihn nicht lieben konnte, auch nicht durch eine Miene zu verrathen, daß noch etwas von den alten Gefühlen in seiner Brust lebte.

„Sie sind so gütig, wie Sie stets waren, Frau Gräfin. Ich danke Ihnen für Ihre Worte. – Erlauben Sie, daß ich jetzt das Geschäftliche berühre! – Graf Utzlar besteht trotz mehrfacher Verhandlungen auf der geforderten Summe. Das Geld werde ich beschaffen. Ich fand jemand, der es darlehnsweise hergeben will. Es fragt sich jetzt nur, und das ist der Hauptzweck meines Kommens, ob Sie, ob Ihre Frau Mutter damit einverstanden sind.“

Susanne war in einen Stuhl gesunken. Ein Heer widerstrebender Gefühle bewegte ihre Brust. Sie hörte kaum, was er sagte, und als er geendet hatte, brachen die Thränen fluthend aus ihren Augen.

„Gnädige Frau, Frau Gräfin!“ rief Tromholt, von seiner Bewegung gegen seinen Willen fortgerissen.

„Es ist nichts,“ erwiderte sie sanft, seine Hand erfassend, „denken Sie nicht böse von mir, Tromholt, ich bitte Sie darum, ich kann alles ertragen, nur den Verlust Ihrer Achtung nicht!“

Sie sah ihm mit einem so flehenden Blick in die Augen, daß es ihm bis ist die Seele drang.

Einen Augenblick kämpfte Tromholt, dann sagte er weich, aber in demselben Ton der bisherigen Zurückhaltung: „Glauben Sie, Frau Gräfin, in dieser für uns beide ernsten Stunde: ich bin derselbe, der ich war, seitdem ich Ihnen zum ersten Male gegenübertrat, und werde es bleiben. An meiner Achtung, meiner Freundschaft zweifeln Sie nie! Alles andere aber ist ausgelöscht ein für allemal, und obgleich es unzart erscheinen mag, dies zu berühren, ich sage es, weil ich will, daß unsere Freundschaft frei von falscher Sentimentalität sei. Was Sie auch thun und beschließen, ich achte Ihre Gründe wie Ihre Handlungen, und mein aufrichtigster Wunsch ist, daß sie zu Ihrem Glück dienen. Was in meiner Kraft steht, will ich thun, Sie glücklich zu machen. Sie schulden mir keinen Dank dafür, denn daß ich es thun darf, das – das eben ist mein Glück, auf jedes andere habe ich verzichtet.

Wundern Sie sich nicht darüber, auch ich habe ein Herz, und leicht ist mir der Verzicht nicht geworden.

Aber mein Wille ist stark, stärker als das schwache Herz, und er hat es bezwungen. Und nun, Frau Gräfin, nach diesem Bekenntniß lassen Sie uns scheiden, ohne Unmuth, ohne Groll in ruhiger, wunschloser Uebereinstimmung. Meine Sorge soll sein, daß Sie Ihre volle Freiheit so schnell wie möglich wieder erlangen, und dann, dann hoffe ich, werden für Sie wieder glückliche, heitere Tage zurückkehren. Niemand kann es aufrichtiger wünschen als ich.“

Seine Stimme bebte bei den Worten, er verneigte sich tief, drückte noch einmal die Lippen auf ihre Hand und entfernte sich rasch, während Susanne wie vernichtet zusammenbrach.


*               *
*


Tromholt hatte den Grafen Snarre nicht mehr gesprochen, er war sofort nach der Unterredung mit Susannen nach Limforden zurückgekehrt. Er befand sich in einer ungeheuren inneren Erregung. Die Scene hatte ihn mehr angegriffen, als er sich gestehen wollte; der übernatürliche Zwang, den er seinen Gefühlen auferlegt hatte, rächte sich an ihm, und all seine Willenskraft konnte ihn nicht vor der Erkenntniß schützen, daß er Susannen liebe, mehr denn je, und daß alle seine Bemühungen, diese Liebe zu bekämpfen, vergeblich sein würden, wenn er nicht eine Trennung herbeiführte. Aber sein Entschluß, jedes fernere Zusammentreffen mit ihr zu vermeiden, war nicht durchführbar, so lang er in ihrem Dienst stand. Darum wollte er der Qual ein Ende machen und, sobald das letzte Geschäft besorgt, sobald sie frei war, Limforden für immer verlassen, sich fern von ihr, in fremdem Land eine neue Stellung gründen.

Wie diese Angelegenheit am schnellsten zu ordnen sei, darüber sann er jetzt nach, und er mußte sich gestehen, daß die einfachste Lösung eben in der Annahme des Geldes liege, das Snarre in so großmüthiger Weise angeboten hatte. Allein diese einfachste Lösung war ihm gerade die peinlichste. Des Grafen erregtes Wesen, als er ihm das Angebot gemacht hatte, kam Tromholt [527] nun wieder in den Sinn. Was konnte Snarre veranlaßt haben, was berechtigte ihn dazu, eine solche Summe an eine Aufgabe zu wenden, die nicht die seinige war? Des Grafen vornehme Gesinnung, seine bekannte Galanterie reichten nicht hin, Tromholt dieses Räthsel zu erklären. Es mußte etwas anderes sein, und nichts lag näher als die Annahme, daß der Graf selbst Absichten auf Susannens Hand habe.

Ob sie ihm wohl ein Recht dazu gegeben hatte? – Nein, das war nicht möglich, aber – er hatte ihr vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an große Aufmerksamkeit erwiesen, er hatte sich an jenem Tag, an welchem der Bruch mit Utzlar stattfand, man konnte wohl sagen, just zur rechten Zeit, als ob er gerufen wäre, in Limforden eingefunden. – Des Brandes wegen? Wohl möglich, aber thatsächlich war sie unter seinem Schutze entflohen, hatte unter seinem Dach eine Zuflucht gefunden, seine Gastfreundschaft genossen. Immer klarer wurde es Tromholt, der sich dieser Waffe gegen seine immer wiederkehrende Schwäche selbstquälerisch bediente, daß zwischen den beiden ein wenn auch noch unausgesprochenes Einvernehmen bestand, und daß er auch hier nur ein Werkzeug war, anderer Pläne zu fördern.

Ein großer Schmerz, eine blinde Eifersucht überkam ihn bei dem Gedanken. Auch Susannens Benehmen, ihre Erregung bei seinem Anblick, ihre scheinbare Zerknirschung und die Milde, die Demuth, mit der sie ihm begegnet war, schienen ihm jetzt eine Absicht zu verbergen – Haß gegen sie beide regte sich in seiner Brust.

Lange konnte indessen eine solche feindselige Stimmung bei Richard Tromholt nicht anhalten. Bald genug siegten die Vernunft und sein Edelsinn. Die Vernunft sagte ihm, daß eine Verbindung Snarres mit Susannen allerdings der beste und sicherste Ausweg aus allen Wirrnissen, ja daß sie das einzige Mittel sei, nach den schweren Schicksalsschlägen, welche die Familie Ericius betroffen hatten, deren Ansehen in jeder Beziehung wiederherzustellen und die letzte große Unternehmung des verstorbenen Ericius vor dem Untergang zu bewahren. Er konnte dem Charakter, der Thatkraft und der ritterlichen Gesinnung des Grafen Snarre seine Anerkennung nicht versagen. Snarre war zudem sehr reich und seit lange bemüht, seinen Besitz auf praktische Weise zu vergrößern. Wie, wenn der Graf Limforden kaufte? Dann war ja alles in der besten Ordnung, Utzlar abgefunden und er, Tromholt, frei! Alten kannte seine Stellung behalten und Bianca heimführen. Alle waren sie glücklich, und er, nun, er würde sein Glück in einer neuen selbständigen Thätigkeit finden, soviel als ihm eben vom Schicksal beschieden war, gleichviel wo!

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 18, S. 549–560

[549] Graf Utzlar, der sehr gespannt auf den Ausgang der Verhandlungen in Snarre war, ließ Tromholt, als derselbe nach Limforden zurückkehrte, sogleich zu sich bitten. Nochmals versuchte es Tromholt, des Grafen Forderung herabzustimmen, aber das Ergebniß war nur eine heftige Auseinandersetzung, infolge welcher der Graf Tromholt im höchsten Zorn die Thüre wies und letzterer erklärte, den Grafen mit Gewalt aus Limforden entfernen zu lassen. Unter dem Eindruck dieses Auftritts schrieb Richard noch am gleichen Abend nach Kiel an Frau Ericius und meldete ihr seine Ankunft dort für den folgenden Tag. Er wollte ihr alles klarlegen, auch aus Snarres Anerbieten – das hielt er für seine Pflicht – kein Geheimniß machen und, indem er ihr die freie Wahl der Entscheidung ließ, die Sache zu Ende führen. Ausdrücklich betonte er in dem Brief, daß ihm aus verschiedenen Gründen eine Besprechung unter vier Augen und ohne weitere Zeugen erwünscht wäre. Er fürchtete sich vor einer neuen Begegnung mit Susannen, die, wenn ihn der Graf recht berichtet hatte, morgen gleichfalls in Kiel eintreffen mußte. Und noch eine weitere Absicht verband er mit dieser Reise. Die alte Wirthschafterin in Trollheide war gestorben und der dadurch freigewordene Posten eignete sich um so mehr für Ingeborg, als diese mit den dortigen Verhältnissen schon von früher her vertraut war. Demgemäß wollte er das Mädchen, das sich immer noch in Kiel im Haus der Frau Ericius aufhielt, von dort abholen und selbst in die neue Stellung einführen. Und dann, so sagte er sich, war für sie alle gesorgt, er konnte ruhig im Bewußtsein vollster Pflichterfüllung sein Amt niederlegen; ein Lebensabschnitt ging für ihn zu Ende, ein neuer, noch ungewisser konnte beginnen, aber gleichviel, er hatte seiner Ueberzeugung genügt wie ein Mann, er fühlte die Kraft, ihr auch ferner zu folgen.

Frau Ericius, auf welche die Ereignisse der letzten Zeit schwer gewirkt hatten, glaubte in Tromholts Entschluß, seine Stellung auf den Limforder Werken aufzugeben, ein neues Glied in der Kette von Unglücksfällen erblicken zu müssen, von denen die Familie in so rascher Aufeinanderfolge heimgesucht worden war. Und doch konnte sie, als eine feinfühlende Frau, seinen Ausführungen nicht widersprechen, zumal sie die tieferen Beweggründe, die Tromholt leiteten, wohl ahnte. Das Angebot Snarres wies sie nach kurzer Rücksprache mit ihrer Tochter entschieden zurück. „Alles andere, lieber als diese drückende Verpflichtung!“ hatte Susanne [550] gesagt, und Richard mußte sich mit Beschämung bekennen, wie schweres Unrecht er ihr mit seinem Verdacht gethan hatte. Allein seinen Entschluß vermochte auch diese Einsicht nicht mehr zu erschüttern. Was den Gutsverkauf betraf, so sah die Witwe wohl ein, daß die Weiterführung des großartigen Betriebs ohne Tromholts Hilfe für sie eine Unmöglichkeit sei, zugleich war ihr die Freude an dem einstigen Familienbesitz durch die Erinnerung an die letzten Ereignisse völlig verleidet. Auch sie war müde, und so hatte sie, wenn Graf Snarre den Kauf zu angemessenen Bedingungen einging, gegen Tromholts Vorschläge auch in dieser Richtung nichts mehr einzuwenden.

Nachdem sich Richard von der Witwe mit einem Händedruck, dessen warme Erwiderung ihm mehr als alle Dankesworte bezeugte, was er ihr gewesen war, verabschiedet hatte, stieg er zu Ingeborg empor, die im oberen Stock ein Zimmerchen bewohnte. Er traf sie mit Dina und sah sich von beiden aufs herzlichste begrüßt. Zwischen den beiden Mädchen hatte sich in der kurzen Zeit ihres Zusammenlebens ein überaus inniges Verhältniß gebildet, und als Dina nun hörte, daß er gekommen sei, ihr die Freundin zu nehmen, gab sie ihrem Kummer Ausdruck. Ingeborg, welcher der Abschied gleichfalls nicht leicht wurde, hatte alle Mühe, sie zu trösten. Aber so angenehm der Aufenthalt im Hause der Frau Ericius für Ingeborg auch gewesen und so gütig die Aufnahme war, die sie dort gefunden hatte, widerstrebte es ihr doch, das fremde Gastrecht ohne Gegenleistung länger zu genießen. Sie sehnte sich nach einer Thätigkeit, wie sie sich ihr in Trollheide bot, und nur der Gedanke, daß Larsen sie dort aufs neue mit seiner gewaltthätigen Zudringlichkeit verfolgen könnte, machte ihr bang. Allein in dieser Hinsicht beruhigte sie Tromholt, der seine letzten Pläne vor dem Mädchen noch geheim hielt, und so reiste sie noch am gleichen Abend, nachdem sie ihre Habseligkeiten zusammengepackt und sich von der Familie verabschiedet hatte, mit ihrem Beschützer nach Limforden zurück.




9.

Graf Snarre hatte sein Möglichstes gethan, Susanne zu bewegen, daß sie ihre Abreise noch einige Tage aufschiebe, und auch seine Tante hatte sich diesen Bemühungen angeschlossen, aber Susanne bat, nicht in sie zu dringen. Ihr Benehmen war seit der Unterredung mit Tromholt so verändert, daß es den Hausgenossen auffallen mußte; sie war ernster, stiller als zuvor, und vergebens mühte sich Snarre, ein Lächeln auf ihre Züge zu rufen, vergebens mühte er sich auch, zu errathen, was zwischen ihr und Tromholt vorgefallen sein möchte.

Mit ruhigem Ernst reichte sie ihm beim Abschied die Hand, und aus ihren Dankesbezeigungen sprach wohl warmes Gefühl, aber auch nicht mehr, nichts, was seine Hoffnungen irgend hätte ermuthigen können, ja, selbst seine Begleitung hatte sie abgelehnt.

Snarre war zornig bald über sich, bald über Tromholt, er suchte sich in dem Schmerz über Susannens Kälte die ganze Angelegenheit aus dem Kopf zu schlagen, aber die Folge war, daß er sich nur immer leidenschaftlicher in die schöne Frau verliebte, immer ernster über die Mittel nachdachte, sie ganz zu besitzen.

Gleich nach Susannens Abreise hatte er einen Boten zu Tromholt nach Limforden geschickt, von dort aber die Nachricht erhalten, daß der Direktor in Geschäften nach Kiel gereist sei. Nun erwartete er voll Ungeduld Tromholts Zurückkunft, und er stand schon im Begriff, selbst nach den Werken hinüberzureiten, als sich der Heimgekehrte bei ihm melden ließ.

„Ah, mein verehrtester Herr Direktor!“ rief Graf Snarre mit sichtbarer Freude. „Ich bin sehr glücklich, Sie zu sehen, ja, ich muß sagen, ich stand schon mit dem Fernrohr auf meinem Schloßthurm und schaute nach Ihnen aus! Nun, ich bitte, was bringen Sie Neues? Nehmen Sie gütigst Platz! Sie waren in Kiel?“

Tromholt nickte.

„Ja, Herr Graf! Ich komme mit viel Neuem, und da Sie in erster Linie daran betheiligt sind, gestatten Sie, daß ich Ihre Aufmerksamkeit dafür in Anspruch nehme. Um zunächst kurz die Sachlage zu erörtern: Sie haben mich bezüglich Ihres neulichen großmüthigen Angebots um Verschwiegenheit gegenüber jedermann und besonders gegenüber den Damen Ericius ersucht. Leider war es mir nicht möglich, dieses Versprechen in seinem ganzen Umfang zu erfüllen.“

„Ah!“ machte Snarre und seine Züge verfinsterten sich.

„Es mußte sich mir,“ fuhr Tromholt fort, „nachdem ich mich von dem ersten Erstaunen über Ihr Gebot erholt und die Sache näher überlegt hatte, die Frage aufdrängen, ob ich ein derartiges, einem Geschenk gleichkommendes Anerbieten allein auf meine Verantwortung annehmen dürfe, so lange noch irgend eine Möglichkeit vorhanden war, die bestehenden Wirrnisse in anderer Weise zu lösen, ob ich nicht verpflichtet sei, diejenigen, die mich mit ihrem Vertrauen beehrten und denen das Geschenk zugute kam, davon in Kenntniß zu setzen. Nun, Herr Graf, Pflicht und Gewissen sagten mir, daß die Unterlassung einer solchen Mittheilung einem Vertrauensmißbrauch viel schwererer Art gleichgekommen wäre, als Sie ihn in dem Bruch meines Schweigens erblicken mögen. Pflicht und Gewissen sagten mir ferner, daß ich erst mit allen Mitteln die Möglichkeit einer andern Lösung suchen und, nachdem ich sie gefunden, nicht der Gräfin Susanne, obwohl sie die Nächstbetheiligte ist, aber doch ihrer Mutter, der Witwe Ericius, von Ihrem Angebot vertrauliche Mittheilung machen und ihr die freie Wahl des nunmehr einzuschlagenden Weges überlassen müsse. Und so habe ich gehandelt.“

Der Graf hatte der überzeugenden Sprache Tromholts nichts entgegenzusetzen.

„Sie haben recht gethan wie immer,“ sagte er ohne Zögern. „Aber nun, wofür hat sich die Dame entschieden?“

„Frau Ericius,“ erwiderte Tromholt, „glaubt unter tiefempfundenem Danke für solche Güte Ihr großherziges Anerbieten dennoch ablehnen zu müssen, Herr Graf. Sie hat sich überzeugt, daß Frau Susanne ein solches niemals annehmen würde, und hält eine Verheimlichung der Sache für ebensowenig angängig. Ihrer Tochter ausgeprägter Unabhängigkeitssinn würde sich dagegen auflehnen. Ich theile diese Ansicht, ja, bin schon kurz nach unserer Unterredung – wie ich offen bekennen muß – zu derselben Einsicht gelangt. Wir griffen, um den Wünschen der Gräfin schnell und sicher zu entsprechen, zu einem Mittel, das sich doch bald genug als ein unausführbares herausstellte. Wer irrte nicht einmal? – Ich komme aber nun mit einem anderen von Ihnen ursprünglich angeregten Vorschlage, hochgeehrter Herr Graf, und diesem bitte ich freundlich Gehör schenken zu wollen.

Es ist mir doch schließlich klar geworden, daß es nur einen Weg giebt, um all der vorhandenen Schwierigkeiten Herr zu werden, und er besteht in dem Verkauf der Ericiusschen Besitzungen. Ich bitte deshalb, Sie fragen zu dürfen, ob Sie Limforden und Trollheide erwerben wollen, und bin beauftragt, im bejahenden Fall sofort mit Ihnen abzuschließen. Daß Sie ein solides, ja vortheilhaftes Geschäft machen, dafür bürge ich Ihnen. Ist genügendes Betriebskapital vorhanden, so kann der Besitz schon in wenigen Jahren eine Goldgrube werden.

Die genaueren Nachweise vermag ich Ihnen jederzeit vorzulegen; alle auf die Werke bezüglichen Papiere: die Abschätzungen und Ertragsberechnungen liegen vor, und bei den letzteren ist mit der größten Vorsicht verfahren worden. Im allerschlechtesten Falle werden Sie mit Ihrem Gelde sechs Prozent machen, wahrscheinlich aber ist, daß sich der Gewinn dauernd auf das Doppelte stellen wird.“

Snarre nickte mit dem Kopf. Alles, was Tromholt zuletzt gesprochen, hatte seinen Ohren sehr wohl geklungen. Die Erwerbung von Limforden und Trollheide paßte in seine Pläne, und sie würde – es sagte ihm das ein unbestimmtes, sicheres Gefühl – seinen geheimen Wünschen nützlich sein.

„Ich danke Ihnen für Ihre Mittheilungen,“ entgegnete er – die guten Eindrücke, die er empfangen hatte, als kluger Geschäftsmann äußerlich verbergend – „und will Ihnen gern gestehen, daß auch in mir inzwischen wegen der Hergabe des Geldes Bedenken aufgestiegen sind. Betrachten wir also diesen Punkt als erledigt! – Was nun den Ankauf von Limforden anbetrifft, so möchte ich, bevor ich eine Meinung äußere, mich über zwei sehr wichtige Punkte unterrichten. Erstens: wie viel fordern Sie, und zweitens – werden Sie, Herr Direktor Tromholt, den Werken auch ferner Ihre Thätigkeit widmen?“

Snarre schaute Tromholt bei diesen Worten mit großer Spannung an und erhob sich dann, um nach einer neuen Cigarre zu greifen und auch Tromholt eine solche anzubieten.

Und während der blaue Rauch durch das hohe, mit schweren Seidentapeten ausgestattete Gemach schwebte und den Weg durch die geöffneten Fenster nahm, sagte Tromholt mit seiner ernsten, vertrauenerweckenden Miene:

„Der Preis der Gesammtbesitzungen stellt sich mit Aktiven [551] und Passiven auf rund eine halbe Million Thaler, Herr Graf. Was meine Person anbetrifft, so möchte ich zurücktreten. Jeder andere geschäftskundige Mann kann jetzt – nachdem die ersten schweren Jahre vorüber sind – die Werke ebensogut leiten wie ich und ist wesentlich billiger zu haben. Ich hatte die Absicht, Ihnen im Fall der Uebernahme Herrn von Alten zu empfehlen. Mich leiten dabei in keiner Weise verwandtschaftliche Rücksichten, obgleich ich ihm natürlich alles Gute wünsche, sondern lediglich die Interessen des künftigen Besitzers. Sie werden übrigens, wie ich hervorheben möchte, die Verwaltungskosten noch sehr einschränken können, Herr Graf, und wenn Sie – ich bitte um Verzeihung! – meinen Vorschlägen folgen wollen, bin ich sicher, Sie werden den Ankauf nie bereuen!“

„Ist es unbescheiden, nach den Gründen Ihres mich allerdings sehr überraschenden Entschlusses zu fragen, Herr Direktor? Nicht Neugierde treibt mich, sondern aufrichtige Theilnahme für Sie. Ich muß Ihnen bekennen, daß ich die Erwerbung der Besitzungen ohne Sie niemals ins Auge gefaßt habe. Gerade Ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten und die Sicherheit, daß die Dinge unter Ihrer Leitung einen durchaus erwünschten Fortgang nehmen würden, ließen den Gedanken in mir aufsteigen, dem ich ja Ihnen gegenüber auch früher schon Ausdruck verlieh.“

Diese Frage brachte Tromholt in große Verlegenheit, was dem scharf beobachtenden Blick Snarres nicht entging. Richard zögerte mit der Autwort, die Lüge widerstrebte ihm, und die volle Wahrheit zu sagen, konnte er sich doch auch nicht entschließen. Endlich, da er fürchten mußte, sein Schweigen könnte von dem Grafen mißdeutet werden, vielleicht sogar den ganzen Kauf in Frage stellen, erwiderte er mit einer Offenheit, die ihn immerhin schwere Ueberwindung kostete:

„Die Gründe, die mir den Aufenthalt in Limforden unmöglich machen, sind rein seelischer, von dem Gang der Werke völlig unabhängiger Natur; sie Ihnen des näheren auseinanderzusetzen, hieße ein Geheimniß preisgeben, das nicht mir allein gehört. Die Erinnerung an ein sehr ernstes, für mein Leben entscheidendes Ereigniß verleidet mir den Ort; ich kann sie bei aller Thätigkeit nicht abstreifen. Lange habe ich dagegen gekämpft, eine Zeitlang glaubte ich, ihrer Herr geworden zu sein, allein sie kehrt wieder, sie würde mich aufreiben, wenn ich ihr nicht entflöhe. Was ich suche, ist Vergessen, und das kann ich, wenn überhaupt, nur in einem fremden Land, in neuen Verhältnissen, in einer andern Lebensstellung finden. Forschen Sie nicht weiter, Herr Graf, lassen Sie sich an diesen Andeutungen genügen, die ich Ihnen gebe und auch Ihnen nur, um jeden Zweifel zu beseitigen, als ob irgend welche andere, vielleicht geschäftliche Gründe meinen Entschluß beeinflußt hätten.“

Snarre horchte hoch auf. Hatte ihm nicht Susanne dasselbe oder doch etwas Aehnliches gesagt, als er sie nach ihren Plänen für die Zukunft gefragt hatte? Ja, sie hatte unverhohlen auf Tromholt als den Mann hingewiesen, dessen Nähe ihr eine Quelle bitteren Selbstvorwurfs sei, den sie gegen ihre bessere Ueberzeugung gekränkt, dessen Achtung sie verscherzt zu haben fürchte. Er erinnerte sich noch genau jedes Wortes, er entsann sich der seltsamen Veränderung in Susannens Wesen nach ihrem letzten Gespräche mit dem Direktor, und es ward ihm klar, daß zwischen ihr und Tromholt irgend welche Beziehung bestehen müsse, und daß Tromholts Entschluß damit zusammenhänge. Er ahnte etwas von einem hochherzigen Verzicht, zu dem eben nur dieser Mann fähig war, und wie er ihn dafür bewunderte, so sagte ihm seine vorurtheilsfreie Einsicht, daß er ihm auch zu Dank verpflichtet sei, daß die Frucht dieses Verzichts ihm, Snarre, zugut komme.

„Tromholt!“ sagte er plötzlich unter dem Eindruck dieser Gefühlsmischung – „Erlauben Sie, daß ich das ‚Herr‘ weglasse und Ihnen die Hand reiche als Ihr Freund! – Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen! Folgen Sie Ihrem Drang, der nur ein edler sein kann! Ich kaufe die Werke und das Gut, und wenn es Ihnen draußen in der Welt einmal, was nie eintreten möge! schlecht gehen sollte, so erinnern Sie sich, daß Ihre Stelle frei ist, und daß Sie mir jederzeit willkommen sind!“ –

Vier Tage nach dieser Unterredung trafen bereits Graf Snarre und Tromholt in Kiel ein und schlossen bei dem Advokaten Justizrath Rendtorff den Kaufvertrag über Limforden und Trollheide ab. Nach den geschäftlichen Auseinandersetzungen hatte Frau Ericius die Herren zu Tische eingeladen. Tromholt lehnte wegen eines leichten Unwohlseins ab, aber Snarre erschien und sah bei dieser Gelegenheit Susanne nach längerer Zeit zum ersten Male wieder. Ihre Begegnung hatte einen sehr herzlichen Charakter. Doch blieb Susanne während des ganzen Essens ernst, obwohl der Graf alle seine Liebenswürdigkeit entfaltete und besonders Frau Ericius ganz für sich einzunehmen wußte.

Er erzählte von seinen Erlebnissen und Reisen in einer eigenthümlichen und von der Vortragsweise der meisten anderen Menschen abweichenden Art, war voll guter Laune und erhob gegen Schluß der Tafel das Champagnerglas, indem er die Bitte aussprach, es möge der Familie gefallen, ihn baldigst in Snarre mit einem Besuch zu beehren, damit die gut begonnene Freundschaft mit dieser Begegnung nicht ihr Ende erreicht habe. Seine Tante, die Gräfin, sei äußerst begierig, auch die gnädige Frau und Fräulein Dina kennenzulernen, und wolle zu diesem Zweck ihren Aufenthalt in Snarre verlängern.

Am andern Tage traten die Betheiligten nochmals zu einer geschäftlichen Rücksprache zusammen, und es wurde die Abrede getroffen, über den geschehenen Verkauf zunächst völliges Stillschweigen zu beobachten, damit nicht Utzlar, wenn er davon erfahre, seine Ansprüche erhöhe. Auch wurden die Einleitungen zu der unmittelbar vorzunehmenden Scheidung zwischen den Ehegatten am folgenden Tage vom Justizrath getroffen und Utzlar ward von letzterem brieflich verständigt, sich unverzüglich in Kiel wegen der damit verbundenen Förmlichkeiten einfinden zu wollen.

Vierzehn Tage später hatte Tromholt sich bereits von allen Beamten, Arbeitern und sonstigen Insassen Limfordens und Trollheides, woselbst Ingeborg von ihm in ihre neue Stellung eingeführt worden war, verabschiedet und seiner Schwester in Hamburg die frohe Nachricht verkündet, daß Alten in seine Stelle getreten sei und ihrer Vermählung nichts mehr im Wege stehe.

Gesegnet von allen, die ihn kannten, betrauert, fast beweint von seinen Untergebenen, ging er von dannen und verließ seinerseits schweren Herzens die Schöpfungen, die unter seiner thatkräftigen und umsichtigen Leitung sich so vorteilhaft entwickelt hatten. Der letzte Gruß, den die Familie Ericius erhielt, kam aus dem hohen Norden, wohin sich Tromholt vorläufig gewandt hatte.

„Ich bleibe zunächst drei Jahre fort,“ hatte er seiner Schwester gesagt, „und wenn Du nichts von mir hörst, denke, daß es mir gut geht! Leb’ wohl! Ich weiß, Ihr werdet glücklich werden!“




10.

Reichlich ein Jahr nach den vorstehend geschilderten Ereignissen saß Dina Ericius vormittags in der inzwischen von ihrer Mutter bezogenen neuen Wohnung am Düsternbroker Weg und vollendete eben einen Brief mit den laut gesprochenen Worten „Gezeichnet: Dina Ericius.“ Sie lachte lustig, dann las sie alles, was sie geschrieben hatte, noch einmal durch und fügte – bisweilen sehr zweifelhaft bezüglich der Richtigkeit und mehr nach Gutdünken als nach Regeln verfahrend – einige Interpunktionszeichen hinzu. Der Brief aber lautete folgendermaßen:

„Meine furchtbar nette Emma!

Endlich, endlich komme ich dazu, Dir den versprochenen Brief zu schreiben! Aber Du glaubst nicht, wie viel ich um die Ohren hatte, und wie oft ich mich daran zupfte wegen der Schande, ein so schlechter Kerl gegen Dich zu sein! Aber gewiß, nun geht’s los, und ich erwarte, daß Du genau aufhorchst, Du ungewöhnlich prachtvolles Mädchen! Erfahre denn, daß in Kiel im Grunde ganz und gar nichts passirt, daß höchstens die an den Kriegsschiffen aufgehängte Wäsche einmal bei starkem Ostwind stärker flattert als gewöhnlich – und o Emma, süßes Kind, laß mich’s Dir gestehen, lange kann ich diese Wäsche nicht mehr aushalten! – Auf dem Düsternbroker Wege bis Bellevue begegnen einem morgens nur der leere Pferdebahnwagen und nachmittags immer dieselben unausstehlichen Menschen, und in der Holstenstraße riecht es meistens so nach Käse, – ich weiß nicht, guter Kakadu, weshalb es gerade immer nach Käse riecht! – daß ich es nicht ertragen kann. Da war es denn zunächst eine artige Einrichtung des Himmels, daß mein Geburtstag kam, an dem denn ja auch Du Deine zierlichen Schwingen regtest und mir Deine Zeilen mit den allerliebsten beiden Tintenflecken sandtest. Daß Du übrigens noch auf dem alten Standpunkt der Briefschreiberei stehst, Anreden machst, wie ‚Meine furchtbar nette Dina‘, Grüße zum Schluß bestellst (Du, dies Grußbestellen kann ich, kann ich, kann ich nicht mehr aushalten) und Tintenklexe entschuldigst, finde ich – gelinde ausgedrückt – empörend. Doch nun wieder zu meinem Geburtstag, ungeduldiges Mädchen! –

[554] Von Mama bekam ich ein prachtvolles Sommerkostüm, Kleid, Jackett, Sonnenschirm, Handschuhe, alles in den Farben zusammenpassend, ferner ein Armband, das ich mir schon seit den Zeiten Noahs gewünscht hatte, und einige reizende Nippes nebst Geld. Von Susanne, geschiedener Gräfin von Utzlar, einstens äußerst melancholisch, kopfhängerisch und durchschnittlich unausstehlich, jetzt aber wieder nett, flott und lebenslustig, zwei Gesellschaftsvögel in einem entzückenden Käfig. Höre, furchtbar nette Emma, ein Paar solcher Thiere müßten alle Eheleute im Zimmer haben, damit sie sehen, wie sich ein vermähltes Paar noch nach einundachtzig Jahren benehmen soll. Sie sind von einer Liebenswürdigkeit mit einander, die Amor und Psyche beschämen könnte. Nun, waren Amor und Psyche etwa nicht musterhaft zärtlich, unwissendes Kind? Am Tage darauf machten wir einen Ball beim Oberpräsidenten mit, wo wir auch den berühmten Grafen Esbern-Snarre trafen. Du weißt, den enorm reichen Gutsbesitzer aus Nordschleswig, der unsere Limforder Besitzungen vor einem Jahre gekauft hat und zu dem Susanne damals sich vor Utzlar flüchtete. Er mag, glaube ich, die geschiedene Gräfin sehr gern, wenigstens zeichnete er sie riesig aus, aber er ist auch famos. Höre, Du: den würde ich auch heirathen, sofort, ohne Bedenken, plötzlichst!

Wir sollten schon im vorigen Herbst nach Snarre zum Besuch, da wollte die quesige Susanne nicht. Nun hat uns der Graf, der übrigens einige Male bei uns zu Besuch war, nach unserer Badereise – wir gehen nach Föhr – eingeladen, und ich glaub’, es wird was daraus. Der Ball verlief prachtvoll, fünfzehn Bouquets bekam ich beim Cotillon, aber mein neues Barège war völlig, völlig, völlig hin. Also dreimal hin! –

Mama geht es jetzt wieder sehr gut; nach allen Aufregungen, die nach Papas Tode eintraten, ist es nicht zu verwundern, daß sie sehr angegriffen war.

Unsere Wohnung ist himmlisch, Blick auf den Hafen, alles sehr bequem und macht sich bei Gesellschaften äußerst elegant. Ich habe mein Zimmer nach hinten links; rechts residirt Sannchen, wie der abscheuliche Utzlar mein schönes Schwesterlein immer nannte. Sannchen fährt auf dem Wasser, malt, spaziert, liest, musizirt und ist – ich wiederhole es – zwar viel ernster als früher, aber doch ein lieber, drolliger Kerl. So, nun weiß ich nichts mehr. Schreibe ‚postwendend‘, wie der alte Acht bei Papa immer sagte, und bemühe Dich, so vollkommen zu werden, wie es einer Person angemessen ist, welche die Ehre hat, Freundin genannt zu werden von

gezeichnet
Dina Ericius.

Postsciptum (NB. Jedes vernünftige Mädchen in der Welt macht ein Postscriptum). Ingeborg Elbe hat mir mehrmals geschrieben. Ich freue mich diebisch, sie in Trollheide aufzusuchen. – Direktor Tromholt ist augenblicklich in Island, hat in Kopenhagen ein großartiges Exportgeschäft angefangen.“ –

Was Dina Ericius in dem vorstehenden Briefe ihrer Freundin gemeldet hatte, bestätigte sich, und auch ihre Voraussetzung traf zu, daß die Familie nach Snarre gehen werde. Mitte August, vierzehn Tage nach der Rückkehr von Föhr, befanden sich alle drei auf dem Gute des gastlichen Grafen.

An demselben Tag war in Limforden ein Brief von Richard Tromholt aus Kopenhagen eingelaufen. Während sich Herr von Alten und seine junge Frau noch über dessen im allgemeinen erfreulichen Inhalt unterhielten, traf der alte Peter Elbe schier athemlos und in größter Erregung mit der Nachricht bei ihnen ein, daß seine Tochter Ingeborg seit gestern von Trollheide verschwunden und trotz aller Nachforschung weder dort, noch in der näheren Umgebung zu finden sei. Seine letzte Hoffnung sei gewesen, dieselbe möge nach Limforden geflohen sein, da sie schon seit einiger Zeit durch die Nachricht von Larsens Rückkehr in große Angst versetzt wäre. Nun aber könne er nur einen neuen Gewaltstreich des Kapitäns als die Ursache ihres plötzlichen Verschwindens vermuthen, zumal dieser, wie er, Peter Elbe, erfahren, geschworen habe, sich an dem Mädchen rächen zu wollen. Alten war selbst tief bestürzt, da ihm sein Schwager vor seiner Abreise das Wohl des Mädchens noch ganz besonders ans Herz gelegt hatte, aber er verbarg die eigene Sorge, um den Alten, den Schmerz und Angst ohnehin ganz kopflos gemacht hatten, nicht noch mehr aus der Fassung zu bringen. Vielmehr sprach er ihm Muth zu, und beide machten sich sofort auf den Weg, um mit Hilfe der Behörden die Spur der Vermißten weiter zu verfolgen.

Die Ursachen dieses rätselhaften Verschwindens waren folgende:

Ingeborg wußte seit acht Tagen, daß Larsen wieder in Kiel sei. Eine beständige Unruhe quälte sie seitdem, das unheimliche Gefühl einer ihr drohenden Gefahr. Bis dahin jedoch war alles ruhig geblieben. Da, während die Arbeiter und auch ihr Vater draußen in den Mooren beschäftigt waren und sie selbst in ihrem Stübchen an dem auf den Garten gehenden Fenster saß, hörte sie plötzlich drunten eine flehende Stimme: „Ingeborg!“ Er war es, der unter den Bäumen stand, aber ehe er noch ein weiteres Wort sagen konnte, hatte sie, von namenlosem Entsetzen erfaßt, das Fenster zugeschlagen, die Hausthür verriegelt und sich auf den obersten Boden des Hauses geflüchtet, von wo sie durch eine Dachluke den weiteren Unternehmungen des Kapitäns mit steigender Angst zusah.

Larsen, der vergeblich an der Thür gerüttelt und seinen Ruf erst demüthig flehend, dann immer zorniger wiederholt hatte, schlug zuletzt das Fenster ein. „Nun, kommst Du?“ rief er nochmals, „oder soll ich zu Dir kommen?“

Sie sah sich verloren, in seiner Gewalt, wenn er sein Vorhaben durchsetzte. Nur eine Rettung noch gab es für sie. „Nun gut; ich komme,“ rief sie hinunter, und dann blitzschnell die Treppe hinabeilend, öffnete sie eines der nach dem Hof gehenden Fenster, schwang sich hinaus, erreichte glücklich den Boden und eilte nun mit Sturmeseile dem Hauptgebäude des Gutes und, als auch dort alles öd und verlassen war, weiter durchs Thor, auf dem Fahrweg den Mooren zu. Gott sei Dank, da stand ein Wagen!

„Retten Sie mich!“ schrie Ingeborg, auf den Fuhrmann zustürzend.

„Guten Abend, Fräulein Elbe! Wohin denn so eilig?“ hub dieser an. Es war kein anderer als der rothe Jeppe, den man eben, da ihm die Brandstiftung schließlich doch nicht sicher nachzuweisen gewesen war, aus längerer Untersuchungshaft entlassen hatte.

Während er sprach, reichte er ihr scheinbar gutmüthig die Hand hin, in die sie vertrauend und nur auf ihre Rettung bedacht einschlug.

„Fahren Sie mich nach den Mooren!“ hauchte sie, „aber schnell, ehe – –“ In diesem Augenblick stürzte jedoch Larsen, durch einen Pfiff Jeppes aufmerksam gemacht, herbei. „Halte sie nur fest, Jeppe!“ schrie er schon von fern. Ingeborg sah zu spät, daß sie in eine Falle gerathen war; ein sehr ungleiches Ringen begann, denn der Mann war stärker als sie und umspannte mit eisernem Griff ihre Handknöchel.

„Nur ruhig!“ höhnte Jeppe, als sie verzweifelt um Hilfe schrie, „das Schreien nützt Ihnen nichts!“ Und im nächsten Augenblick hatte ihr Larsen ein Tuch um den Mund gebunden und ihre Hände geknebelt. Nun schleppte er die völlig Wehrlose in den Wagen hinein, Jeppe sprang auf den Bock, und davon ging’s in sausendem Galopp.

Ueber die Moorheide goß eben die Abendsonne ihre letzten Strahlen und gab der Gegend ein tief melancholisches Gepräge. Aus einem Wiesensumpf am Wege ertönte das Quaken der Frösche, dazwischen ein heimliches Zirpen kleiner in dem Grase und Moose verborgener Geschöpfe. Leichte Dämmerung lag wie ein zarter Nebelrauch zwischen dem silbernen Monde und der schlummernden Erde. Der stille Friede der Natur stand in seltsamem Gegensatz zu dem in rasender Hast dahinrollenden Fuhrwerk und den von Angst oder Leidenschaft bewegten Herzen seiner Insassen.

Nachdem sie eine Stunde gefahren waren, ließ Larsen halten, löste das Tuch, das er um Ingeborgs Mund geschlungen hatte, und redete auf sie ein.

„In kurzer Zeit sind wir am Heidekrug,“ hub er an. „Wir kehren dort ein und ich will mit Dir reden ohne Zeugen. – Ich habe nur zwei Fragen an Dich, und hast Du sie beantwortet, gebe ich Dich frei. Vorher aber verpfände mir Dein Wort, daß Du niemand mittheilen wirst, was geschehen ist, weder denen im Wirthshaus, noch Deinem Anhang in Trollheide.“

Ingeborg lag da mit ihren großen, schmerzbewegten Augen wie ein Schlachtopfer. Am liebsten hätte sie dem Menschen, der es nun zum zweiten Male gewagt hatte, sie wie ein Thier zu knebeln, ein Messer in die Brust gestoßen. Sie haßte ihn mit der ganzen Kraft ihrer Seele, aber sie setzte die Klugheit über ihr heißdrängendes Blut und sagte mit finsterem Blick:

„Schwören Sie mir, daß Sie Ihr Wort halten – dann will ich thun, was Sie fordern.“

Ich halte mein Wort, eines Schwurs bedarf es nicht. So, ich löse Dir die Hände. Setze Dich zu mir auf den Sitz und gieb [555] Dir das Ansehen, als reisten wir als gute Kameraden!“ Und weich fügte er hinzu: „Ich bitte Dich, Ingeborg, thu’, wie ich Dir sage, und vertraue mir! Du sollst Dich nicht in mir täuschen!“

Ingeborg hatte von dem Augenblick an, da ihre Bande gelöst waren, nur den einen Gedanken – Flucht! – Sie wußte, was sie von Larsens Versprechungen zu halten hatte, und daß auch bei den Bewohnern des einsamen Heidekrugs, selbst wenn es ihr gelang, sich diesen heimlich anzuvertrauen, auf Hilfe schwerlich zu rechnen war. In ihr aber stand es fest, daß sie lieber sterben als sich der rohen Gewalt Larsens fügen wollte. Sie suchte seine Wachsamkeit zu täuschen, indem sie scheinbar seinen Worten Vertrauen schenkte und auf seine Vorschläge einging. Wie er sich nun aber während des Weiterfahrens zu dem kutschirenden Jeppe vorbeugte, um ihn zu einer Beschleunigung der bisher eingehaltenen Gangart der Rosse zu veranlassen, benutzte sie diesen Augenblick, um sich mit tollkühnem Sprung von dem Fuhrwerk herabzuschwingen. Sie stürzte zu Boden, raffte sich auf, und noch ehe Jeppe die Pferde zügeln und der wild emporschnellende Kapitän abspringen konnte, war sie schon in dem dichten Nebel, der jetzt weithin die Heide bedeckte, verschwunden.

Nur eine kurze Strecke war ihr Larsen nachgeeilt, dann stand er, die völlige Aussichtslosigkeit weiterer Verfolgung einsehend, still, ballte die Faust und schrie ihr nach in den wogenden Nebel: „Das bezahlst Du mir, Ingeborg Elbe! Ein drittes Mal sollst Du mir nicht entwischen!“

Dann kehrte er bebend vor Wuth zu Jeppe zurück und fuhr mit ihm nach dem Heidekrug. In seiner maßlosen Erregung überhäufte er den Dänen mit Vorwürfen und Beschuldigungen, und darüber geriethen die beiden Spießgesellen in einen heftigen Streit, von dessen Lärm noch lange die Wände des einsamen Gehöfts widerhallten.

Inzwischen rannte Ingeborg wie ein gehetztes Wild über die Heide; erst ziel- und planlos, dann, wie sie glaubte, die Richtung nach Trollheide einschlagend.

Freilich ängstigte es sie, daß plötzlich der Mond verschwand, der Abend gleich einem dunklen Leichentuch herniedersank und bald nur noch der Instinkt ihre Schritte lenken mußte. Sie hoffte, in kurzer Zeit einen Landweg zu erreichen, der nach Trollheide führte, und wenn sie zu diesem gelangte, war alles gut.

Aber während sie nun dahinflog, sank plötzlich ihr Fuß tief in den Erdboden. Sie war auf einen Streifen sogenannten wandernden Moorlandes gerathen. Sie zog den Fuß mühsam wieder heraus, änderte die Richtung, wollte zurück, aber immer weicher wurde unter ihren Füßen der Grund, und plötzlich sank sie tief bis an die Hüften in die tückische schwarze Erde.

Ein Schrei wahnsinniger Angst drang durch die Nacht, ein so furchtbarer Schrei, daß zwei in der Nähe hockende Krähen mit lautem Gekrächze aufflogen.

Ingeborgs Bemühungen, sich wieder herauszuarbeiten, ließen sie nur immer tiefer einsinken. So blieb ihr, als sie endlich doch auf etwas Festes stieß – es mochte wohl der Stumpf einer alten, im Moor begrabenen Eiche sein – nichts übrig, als regungslos auf dem so gewonnenen Stützpunkt zu verharren, mit der schwachen Hoffnung, daß der Zufall ihr eine Hilfe schicke.

Und der Abend senkte sich immer tiefer herab, die Nacht kam; kühle Luft umwehte ihre Stirn; auf ihre Brust drückte die schwere Moorerde wie Centnerlast, und ihr über alle Maßen erregtes Gehirn schuf ihr die entsetzlichsten Vorstellungen. Im Moor versunken! Vielleicht nach langen, langen Stunden Erlösung! Aber auch eben nur vielleicht! Hier wohnten keine Menschen, ihr Ruf verhallte in der Oede. – Und dann blitzte doch wieder ein Schein von Hoffnung in ihr auf. – War sie nicht eben noch auf festem Grunde gewesen, war nicht plötzlich die Erde gewichen? Würde sie nicht, durch das helle Tageslicht unterstützt, die Möglichkeit gewinnen, sich aus dem fürchterlichen Zustande zu befreien?

Aber konnte sie die Nacht überleben? Bisweilen war’s ihr schon, als ob die Lunge den Dienst versagte, und ein Gefühl von Schwere hatte sich ihrer Glieder bemächtigt, als sei Blei hineingegossen. Ja, das Schicksal war gegen sie! Es wollte ihr Verderben!

Die Unglückliche erhob die Augen zum Himmel. Der Mond lag noch immer hinter den aufgestiegenen Wolken versteckt, und nur hier und dort schimmerte ein Stern, gleichsam furchtsam, aus dem Dunkel hervor. Ein scharfer, modriger Geruch peinigte das gequälte Weib; eine grenzenlose Abspannung ohne Schlaf bemächtigte sich ihrer – und nun – nun fuhr gar ein harter, rauher Stoßwind daher und schnob und pfiff über Heide und Moor. – Es rasselte und stöhnte in der Luft, als ob böse Geister losgelassen wären.

„Barmherziger Gott! Erbarme dich meiner!“ Ingeborg schrie’s durch Wind und Sturm und wußte doch, daß keine Wunder mehr geschehen. Und durch ihr Gehirn zog alles in raschem bunten Wechsel. Das Bild ihres Vaters stieg vor ihr auf – Larsen – Ericius – ihre verstorbene Tante, viele Einzelheiten ihres Lebens – zuletzt Tromholt. Gewiß, wenn er auf Limforden geblieben wäre, der Schurke hätte nicht gewagt, sich ihr zu nahen. – Tromholt, Tromholt! Er würde sicher herbeieilen, wenn er wüßte, daß sie hier unter entsetzlichen Qualen dem Tode verfiel. – Ja – Tod! Hu – hu – – Nun fegte der Wind wieder und löste ihr Haar und wirbelte Staub auf, der in ihre Augen flog. Und die Arme waren gefangen, und wenn sie sie hervorzog, war’s ihr, als ob sie tief und tiefer sinke. – Zuletzt verlor sie die Besinnung, während über ihr in der Luft abermals die unheimlichen schwarzen Vögel krächzten. –




11.

In Snarre saßen die Herrschaften beim Abendessen. Der Graf hatte es an nichts fehlen lassen, seinen Gästen den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen, und die Gräfin Snarre, eine alte Dame von vornehmem Aussehen, mit dunklen Augen und weißem, unter einem schwarzseidenen Spitzentuch, das sie stets trug, silbern hervorschimmerndem Haar, unterstützte ihn dabei in liebenswürdigster Weise. Zwischen ihr und Frau Ericius fanden sich manche Berührungspunkte aus früherer Zeit, die den Verkehr zwischen ihnen besonders lebhaft machten; Dina gab sich der Freude hin, das Landleben, für welches sie immer geschwärmt hatte, endlich in vollen Zügen genießen zu dürfen, und nur Susannens Wesen war in dem Jahr, das seit ihrer Trennung von Graf Utzlar vergangen war, womöglich noch ernster und gemessener geworden. Graf Snarre mußte sich zu seiner großen Enttäuschung überzeugen, daß sie seinen zärtlichen Bemühungen, sie aufzuheitern, nur ein zerstreutes Ohr lieh, oft in plötzliche Träumerei versank und bei aller Höflichkeit, die sie ihm als Gast schuldig war, die Unterhaltung der beiden älteren Damen der seinigen vorzuziehen schien. Diese Wahrnehmung verstimmte ihn um so mehr, als er gerade auf Susannens Anwesenheit in Snarre all seine Hoffnung gesetzt hatte. Eine um so aufmerksamere Zuhörerin fand er an Dina, die auf seine Neckereien und Vergnügungsvorschläge bereitwillig einging und verständnißvoll bemüht war, das einsilbige Wesen der Schwester durch ihre lustige Plauderhaftigkeit wieder gutzumachen. Ihr gelang es auch wirklich, den Mißmuth, der sich Snarres bemächtigen wollte, zu dessen eigenster Ueberraschung in kurzer Zeit zu bannen; ihr drolliges Wesen belustigte ihn ungemein, so daß er darüber Susannens Zurückhaltung mehr und mehr vergaß und sich ganz dem Zauber des sonnigen Humors ihrer Schwester hingab.

Eben da die Unterhaltung in lebhaften Fluß kam, wurde Alten gemeldet. Nachdem alles Nachforschen nach Ingeborg auf Limforden vergeblich geblieben, war er nach Snarre hinübergeritten, hatte aber schon auf dem Gutshof zu seiner Enttäuschung erfahren, daß Ingeborg auch hier, wie er bei ihrem freundschaftlichen Verhältniß zu Dina einen Augenblick gehofft hatte, nicht anwesend sei.

Die Nachricht von dem Verschwinden des Mädchens erregte natürlich auch in diesem Kreis die allgemeinste Bestürzung. Graf Snarre war bereit, die zu Ingeborgs Wiederauffindung zu unternehmenden Schritte aufs wirksamste zu unterstützen, ja, auf Dinas inständige Bitte entschloß er sich sogar, selbst mit den Suchenden aufzubrechen, um der Freundin womöglich heute noch eine beruhigende Nachricht über das Los Ingeborgs zu bringen.

„Ich werde kein Auge zuthun, bis Sie zurück sind, Herr Graf!“ rief sie ihm noch nach, als er mit Alten und Elbe, die ihre todmüden Pferde hier zurückließen, den eigenen Wagen bestieg und in die Nacht hinausfuhr. Sie hatten beschlossen, zunächst nach Trollheide und von da nach Mückern zu fahren, um zu sehen, ob an einem dieser beiden Orte nicht inzwischen eine Kunde von der Verschwundenen eingetroffen sei, die ihren ferneren Nachforschungen die Richtung wies. Aber schon in Trollheide erfuhren sie, daß der Doktor von Mückern gleich nach Elbes Fortgang angefahren sei und die Nachricht gebracht habe, daß das Mädchen schwerkrank im Heidekrug liege, wohin man denn auch auf seine Anordnung das nöthige Bettzeug geschickt habe. Als er am Morgen, so habe der Doktor erzählt, sehr früh von [556] Foßwinkel, wo er die Frau des Amtsvorstehers entbunden habe, nach Mückern zurückgefahren sei, habe er schon aus den Moorstrichen verzweifelte Schreie wie von einem Sterbenden gehört; darauf sei er mit seinem Knecht sofort der Stelle zugeeilt, habe aber bei dem tiefen Nebel und da jetzt plötzlich alles wieder ganz still geworden, nicht gleich finden können, was es sei, und sei erst nach längerem Suchen auf Ingeborg Elbe gestoßen, die bis unter die Arme im Morast gesteckt und kein Zeichen von Leben mehr gegeben habe. Die Arbeit, sie aus dieser Lage zu befreien, sei keine leichte gewesen, endlich sei es ihnen aber doch mit eigener Lebensgefahr gelungen; sie hätten dann Ingeborg auf den Wagen getragen und nach dem zunächst gelegenen Heidekrug gebracht, wo sie unter der Pflege der Wirthsleute im heftigsten Fieber liege, demnach auch über die Art, wie sie in solche Gefahr gerathen, nicht die mindeste verständliche Angabe machen könne. Doch sei aus ihren Fieberphantasien zu schließen, daß Larsen und der rothe Jeppe, den man wieder habe laufen lassen, die Hand dabei mit im Spiel gehabt haben, und es sei dies um so wahrscheinlicher, als die beiden am Abend vorher mit einem Wagen ganz erhitzt im Heidekrug angekommen, dort in Streit gerathen und spät in der Nacht wieder abgefahren seien.

Im übrigen habe der Doktor gemeint, das starke Mädchen werde sich von dem Anfall schon wieder erholen, man möge sie nur ruhig drüben lassen, ihr das Nöthige, das er selbst mitnehmen wolle, hinüberschicken und abwarten, bis ihr Zustand die Ueberführung nach Trollheide gestatte.

Mit diesem Trost kehrte Snarre zurück, während der alte Elbe es sich nicht nehmen ließ, sofort nach dem Heidekrug zu seinem kranken Kinde zu eilen. Herr von Alten begleitete ihn dorthin, nachdem er Bianca entsprechende Botschaft gesandt hatte.


*               *
*


Es war dunkle Nacht. Draußen am Himmel schoß gedankenschnell eine Sternschnuppe durch die unendlichen Räume. Auf den Feldern und Wiesen und Mooren lag’s wie unheimliches Grauen; die Ruhe der Natur hatte etwas Furchterregendes, als müßte plötzlich alles sich verwandeln, die Stille tobender Gewalt weichen, der Himmel sich verfinstern, die Sterne verschwinden und der Sturm hereinbrechen über die von zitternden Ahnungsschauern ergriffene Erde.

Bisweilen nahm wirklich der Wind einen stoßweisen Ansatz, verfing sich mit unheimlichem Rauschen in den Weiden am Uferrand der Moorlachen und stürmte durch die kahlen, gespensterhaft um das Heidewirthshaus aufragenden Bäume. Und wenn er wieder innehielt, ging’s erst wie leises Beben durch die Natur, und dann war’s, als ob sie zuckend den Athem anhielte, das Entsetzliche, das noch kommen werde, erwartend.

Zuletzt brach’s wirklich los. – Ein Gewitter entlud sich, erhellte meilenweit die Gegend mit seinen Blitzen, und in dem fahlen, elektrischen Lichte glichen die Regenfäden einer straff gespannten Riesenharfe.

Die Fluth nistete sich ein in die Felder und Moore, füllte die Tümpel und Ausstichseen und knickte die letzten Halme auf der nackten, armseligen Flur.

Drinnen im Heidewirthshaus aber lag in einem Hinterzimmer Ingeborg Elbe und schrie wie von Furien gepeinigt durch die Nacht, wollte aus dem Bett und zurück in das Moorgrab, aus dem sie wie durch ein Wunder errettet worden war.

Die Wirthin, eine hagere Frau mit strohgelbem Haar, großen wasserblauen, dummen, aber guten Augen und langen, mageren, knochigen Händen, saß, vom Wachen erschöpft, neben der Kranken und rührte sich auch dann kaum, wenn jene ihre Fieberphantasien laut austobte. Sie war müde zum Umfallen, und nach Art dieser Leute nahm sie das Schreckliche eben nur als etwas Unabänderliches, und ihre Gedanken gingen mehr auf ein „sanftes Ende“ als auf Genesung.

„So wat fleit up de Nerfen un grippt an’t Hart“, hatte ihr Mann gesagt, der auf der anderen Seite des Hauses in einem kleinen, viereckigen, kahlen Raume mit kleinen Fenstern ohne Vorhänge sich niedergelegt hatte. Er schlief, als gäbe es weder Unwetter draußen, noch einer Sterbenden Wehruf in seiner Kate.

Endlich schlummerte auch die Frau ein. Wie durch Bleigewichte herabgezogen, sanken ihre Lider; sie würde diesem Naturtrieb erlegen sein, selbst wenn Kanonen draußen ihre Schlünde geöffnet hätten.

In ihrem Bett jedoch richtete sich Ingeborg Elbe auf, suchte ihre Gedanken zu sammeln und schaute mit irren Augen um sich.

Und da öffnete sich die Thür und es erschien Larsen mit seinem furchtbaren Gesicht, – und als sie unter dem Leuchten des Blitzes entsetzt den Blick fortwandte, stieg er neben ihrem Bett aus dem Fußboden empor, streckte die Arme aus und suchte sie zu würgen. Und da schrie die Fieberkranke so fürchterlich auf, daß die Bäuerin wieder erwachte.

Nun erhob sich das Weib, drückte mit ausdruckslosem Gesicht die Kranke tief in die Kissen, ging in die Küche, holte Wasser und benetzte der Fiebernden Stirn, Wangen und Schläfen. Auch feuchtete sie ein Handtuch an und legte es der Stöhnenden in den Nacken. Und nachdem dies geschehen, trat sie ans Fenster und spähte hinaus, bis ein jäher Blitz, der das Gemach erhellte, die mit einem unwillkürlichen Schreckensruf Zusammenfahrende zurücktrieb. Es brüllte der Donner und heulte der Sturm und dem Weibe schauderte es; sie schob den Stuhl hinter das Bett der Kranken, dehnte die Glieder, gähnte, zog ein Tuch dicht über Kopf und Augen und schlief von neuem ein. –

Alten und Peter Elbe hatten Mühe, sich Einlaß in das einsame Gehöft zu verschaffen, denn die Wirthsleute waren mißtrauisch, und erst nachdem sie sich genau über die Personen der späten Ankömmlinge vergewissert hatten, öffneten sie ihnen das Thor. Ingeborg war jetzt etwas ruhiger geworden, und Alten ließ Peter Elbe, der von Schmerz überwältigt an dem Lager seiner Tochter lautlos zusammengesunken war, bei ihr und fuhr, nachdem er noch befohlen hatte, daß der Arzt von Mückern ihm morgen in Limforden selbst näheren Bericht über den Zustand der Kranken erstatte, etwas beruhigter nach dem Gute zurück, wo Bianca in großer Angst seiner harrte.

Am kommenden Tage fand sich auch der Doktor dort ein und erzählte ausführlich, wie und wo er Ingeborg gefunden habe. Bianca wohnte diesem Gespräch bei, und als der Arzt, ein Mann, der, unter dem Seevolk aufgewachsen, auch das Aussehen eines Seemannes besaß und durch auffallend blondes Kopf- und Barthaar und hellblaue Augen den Bewohner des Nordens verrieth, geendigt hatte, erbot sie sich sogleich, selbst nach dem Heidewirthshaus zu fahren und nach Ingeborg zu sehen.

Diesem Vorschlag stimmte der Doktor, in aufrichtiger Sorge um die Kranke, lebhaft zu und empfahl sich mit dem Versprechen, jeden anderen Tag nach der Leidenden zu sehen.

Zum Glücke erwiesen sich seine weiteren Besuche bald als überflüssig. Nach wenigen Tagen schon hatte die Kranke sich unter Biancas Pflege soweit erholt, daß sie nach Trollheide gefahren werden konnte, wo ihre Besserung rasche Fortschritte machte.

Die Nachrichten, die über Ingeborgs Befinden einliefen, wirkten sichtlich erheiternd auf die Stimmung in Schloß Snarre. Namentlich gewann Dina, welcher der Kummer um die Freundin am nächsten gegangen war, rasch ihren früheren Frohsinn wieder und wurde nicht müde, des Grafen Kavalierdienste in Anspruch zu nehmen.

Das Leben, das Graf Snarre seinen Gästen bereitete, war das denkbar angenehmste. Morgens richtete sich jeder nach seiner Bequemlichkeit ein und nahm das erste Frühstück in seinem Zimmer. Das zweite aber fand an gemeinsamer Tafel statt, und bei dieser Gelegenheit wurden die Pläne des Tages besprochen.

Um das Mißverhältniß in der Anzahl von Herren und Damen auszugleichen, lud Graf Snarre Bekannte aus der Umgegend zu mehrtägigem Besuch ein, sorgte für stete Abwechselung und hielt namentlich darauf, daß sich abends fast immer ein gewählter Kreis zusammenfand. Um zwölf Uhr morgens ward das zweite Frühstück, um halb fünf Uhr das Mittagessen aufgetragen; um neun Uhr folgte Thee und ein Nachtmahl, und vor zwölf Uhr ging man selten zur Ruhe. Niemals aber übte Graf Snarre Zwang auf seine Gäste aus. Wollte der eine oder andere sich ausschließen, so war ihm dies durchaus freigestellt, und es kam auch einigemale vor, daß die alte Gräfin und Frau Ericius abends nicht mehr erschienen.

Dina konnte sich kein größeres, kein „himmlischeres“ Vergnügen denken, als vormittags auszureiten. Wenn sie die gesattelten und den Erdboden mit den Hufen scharrenden Pferde vor dem Schloß erblickte, klopfte ihr das Herz, und wenn gar Graf Snarre sich ihr anschloß oder sie ein bißchen „pachtete“, wie sie sich ausdrückte, war sie überglücklich. Es kam ihr trotzdem gar nicht in den Sinn, daß sie irgend einen Eindruck auf ihn machen könnte, da ihre schöne, kluge Schwester auf der Welt war. Aber warum sollte nicht von den Huldigungen, die jener zugedacht waren und von ihr – Dina ahnte wohl, warum – verschmäht wurden, ein Stückchen für sie abfallen!



[558]
12.

An einem Vormittag der zweiten Woche nach dem Eintreffen der Familie Ericius machte sich Alten, um geschäftliche Angelegenheiten mit dem Grafen zu ordnen, nach Snarre auf den Weg. Seine Frau sollte auf des letzteren Wunsch später nachfolgen. Es waren Anfragen wegen sehr bedeutender Bretterlieferungen aus Hamburg eingegangen, und ein Zwischenhändler wünschte in Anbetracht des ungewöhnlich großen Postens eine Ermäßigung des angesetzten Preises. Auch hatte ein Geschäftsmann in Fünen wegen Lieferung von einigen Millionen Trollheider Torf angefragt, und es schien vielleicht erforderlich, mit diesem persönlich zu verhandeln.

Graf Snarre, der einen stark ausgeprägten Erwerbssinn besaß, nahm dergleichen Meldungen stets mit sehr willigem Ohr auf.

Als Alten auf den Schloßhof von Snarre fuhr, sah er vor der Schloßtreppe zwei gesattelte Reitpferde, die der Stallknecht langsam auf und ab führte, und nun eben trat Graf Snarre mit Dina Ericius aus der Halle heraus.

„Ah, lieber Direktor!“ rief der Graf freundlich, als er Altens ansichtig wurde. „Ich hole Ihre Verzeihung ein, daß ich gegen unsere Abrede nicht gleich zu Ihrer Verfügung sein kann. Bitte, machen Sie sich’s in der Bibliothek bequem, Morten wird Frühstuck auftragen – gestatten Sie, daß ich nach der Rückkehr mit Ihnen über unsere Geschäfte plaudere. Ich muß“ – dieses Wort betonte Snarre und sah lächelnd auf Dina, die mit erwartungsvollen Augen dastand – „mit Fräulein Ericius nach der Kegler Höhe reiten. Sie will’s, sie hat’s befohlen, und da ist nichts, nichts zu machen!“

Mit einem schelmischen Seitenblick belohnte das junge Mädchen Snarres artige Rede, auf welche Alten mit einem ehrerbietigen: „Ich bitte gehorsamst, Herr Graf,“ erwiderte. Und nun fügte auch Dina eine von einem warmen Händedruck begleitete Entschuldigung wegen der durch sie hervorgerufenen Aenderung der Abrede hinzu.

Als jene fortgeritten waren, erfuhr Alten von Morten, daß Susanne wegen einer Unpäßlichkeit das Zimmer hüten müsse, und daß sie am heutigen Tage vielleicht überhaupt nicht erscheinen werde.

Inzwischen trabten Graf Snarre und Dina über den guterhaltenen Landweg ihrem Ziele zu. Das Mädchen sah mit ihren gesunden Farben reizend aus. Die Freude an dem Ausflug strahlte aus ihren Augen und Mienen, und je schärfer die Thiere ausholten, desto größeres Vergnügen legte sie an den Tag.

„Ah!“ rief sie. „Reiten, Reiten ist himmlisch! – Ich möchte schon deshalb immer auf dem Lande leben!“

Bei diesen Worten ging ein lebensprühender Athem aus ihrem Munde, und ihre leichten, elastischen Bewegungen verriethen die Gesundheit ihres Körpers und die unverdorbene Fröhlichkeit ihrer Seele.

Snarre sah auf seine vergnügte Nachbarin und fühlte sich in besonderer Weise von ihr angezogen. Und weil er das Bedürfniß fühlte, ein längeres Gespräch zu beginnen, schlug er vor, das Tempo zu mäßigen und die bereits warm gewordenen Thiere im Schritt gehen zu lassen.

„Sie würden aber doch mancherlei entbehren –“ begann er, an das früher Gesagte anknüpfend – „wenn Sie den Aufenthalt in der Stadt gegen das Land vertauschten. Rechte Abwechselung kann nur jener bieten, und ich denke mir, daß eben Sie sich nicht in einem einförmigen und geräuschlosen Leben glücklich fühlen würden.“

„Doch – wenn ich liebe Menschen um mich hätte, wäre mir jeder Ort recht. Nur einigen kleinen Liebhabereien vermag ich nicht zu entsagen; die kann ich nicht entbehren. Ich liebe leidenschaftlich Hunde, Apfelsinen und, recht lange in einem weichen, warmen Bette zu schlafen.“

Snarre lachte über diese sonderbare Zusammenstellung laut auf, aber dies Durcheinander und die kindliche Art, in der es vorgebracht wurde, machten ihm außerordentliches Vergnügen.

„So? Also das würde genügen?“ forschte er neckend. „Welche Hunderasse, wenn ich bitten darf – und welche Apfelsinen?“

„Ich schwärme für Teckel – und die Apfelsinen müssen in Messina, gleich links auf dem Berge der Glückseligen, gewachsen sein.“

„Hm! –“ machte Snarre, sichtlich belustigt. „Und wie müßten die Menschen aussehen? Welche Eigenschaften wären an ihnen erforderlich?“

„Natürlich müssen sie,“ ging’s rasch aus Dinas Munde, „in erster Linie gut und lustig sein und, wenn möglich, auch hübsch. Ich kann mir nicht helfen: für häßliche Menschen vermag ich mich nun einmal nicht zu begeistern.“

„Da werden Sie also Ihre Frau Schwester sehr lieb haben?“

„Ja –! Nicht wahr, sie ist sehr hübsch, die verflossene Utzlar?“ platzte Dina drollig heraus.

„Wie Sie das sagen! Ich sehe schon, daß Ihnen sehr viele Kobolde im Nacken sitzen. Man muß sich vor Ihrem Spott hüten!“

„Nein!“ entgegnete Dina treuherzig. „Ich mag niemand wehethun, und wenn ich einmal jemand liebhabe, wie zum Beispiel die arme Ingeborg Elbe, bringe ich ihm gern jedes Opfer.“ –

„Beneidenswert also, von Ihnen geliebt zu werden!“

Dina bewegte verlegen den Kopf und suchte mit der Reitgerte ihrem Fuchs eine Fliege zu verscheuchen. Dann sagte sie:

„Nein – ich glaube nicht, denn ich bin sehr anspruchsvoll. Ich gebe alles was ich zu geben vermag, aber ich verlange auch viel!“

„Eigentlich ganz in der Ordnung!“

„Ja, so sollte man meinen. Aber ich sah’s doch bei Susannen, wie schwer es ist, daß Menschen zusammenpassen. – Ich begreife nicht, daß sie Utzlar nicht schon früher durchgebrannt ist.“

Dies Wort befremdete Snarre, und doch fand er, daß es ganz zu Dina passe. In der Anwendung solcher burschikosen Redensarten, die sie auf den Bällen von den Studenten gehört haben mochte, lag noch etwas Unverdorbenes, das ihn anzog. Aber er sagte doch: „Das ist kein hübsches Wort, mit Verlaub, Fräulein Dina!“

„Ne! Ist’s auch nicht“ – gab sie kurz und harmlos zurück. „Mama schilt fortwährend, daß ich noch – wie sie sagt – so jungenhaft bin. Ich möchte manches gern abstreifen, aber ich habe so wenig Talent zu gewissen Tugenden. Danke übrigens, Herr Graf, daß Sie mich ein wenig erziehen! Von Ihnen mag ich’s gern hören.“

„Das ist ja eine große Schmeichelei für mich! Ich stand eigentlich unter dem Eindruck, daß Sie nur Ihrer Schwester zu liebe mit nach Snarre gekommen seien.“

Dina sah den Grafen mit großen Augen an. „Der verflossenen Utzlar zuliebe –?“ stieß sie dann mit spitzem Munde und mit ihren reizenden Schmolllippen heraus. „Ne – ich kam doch, weil – weil –“

„Nun?“

„Weil Sie uns alle in so liebenswürdiger Weise eingeladen haben und weil …“ Jetzt erröthete sie.

„Weil –?“ fragte Snarre eindringlich und im Augenblick ganz bezaubert von dem Wesen des Kindes.

Dina zuckte die Schultern und hielt die Augen gesenkt. Es stand darin: „Bitte, frage mich nicht!“

Nun ritten sie eine Weile stumm neben einander her. Aus dem Gebüsch der Wälle drängten sich die anmuthig geformten Blüthen des Geißblatts, und zahlreiche schon zur Härte ansetzende Haselnüsse kämpften sich auf den grünen Kelchen hervor. Ein Rothkehlchen saß auf einem schwankenden Zweige, und zwischen dem Laub haschten sich mit zankendem Zwitschern andere kleine Vögel.

Da der Weg eben eine Biegung machte, befanden sich Snarre und Dina hier gleichsam abgeschlossen von der Welt. Die hohen Knicke verhinderten einen freien Blick über die Gegend.

Jetzt hob Snarre wieder an und sagte: „Sie äußerten vorhin, daß Sie gute und lustige Menschen besonders lieben. Ich kenne zwei Personen, von denen ich weiß, daß Sie beiden sehr zugethan sind, und die doch sehr ernste Naturen sind. Also die fröhliche Laune muß nicht allein den Ausschlag geben!?“

„Nun, und wen, Herr Graf?“

„Tromholt und Ingeborg Elbe.“ –

„Ja, Sie haben recht. Aber eben diese Eigenschaft entbehre ich auch an ihnen. Freilich –“

„Freilich?“

„Beide haben Ursache, ernst zu sein. Wenn die Verhältnisse anders liegen würden, wären sie auch gewiß lebensfroher. Tromholt liebte meine Schwester, und sie ließ ihn ablaufen – ah, da brauche ich wieder einmal einen so häßlichen Ausdruck; verzeihen Sie! – und Ingeborg Elbe – na, bei der ist’s doch auch etwas mit dem Herzen. Der Larsen muß ein gräßlicher Mensch sein!“

Snarre, der absichtlich dem Gespräch diese Wendung gegeben hatte, hörte die ersten, aber kaum die letzten Worte, nickte mit dem Kopfe und sagte dann, gleichsam nur um etwas zu erwidern:

„Und Ihre Schwester hat ihre Ablehnung nie bereut – glauben Sie?“


[559] „Ja, ich weiß nicht; ich werde aus Susanne nicht recht klug,“ gab Dina treuherzig zurück. „Neuerdings“ – nun stockte sie, da sie sich der Bedeutung ihrer Worte bewußt wurde – „neuerdings kommt’s mir so vor, als ob sie – ob, sie –“ Und dann fügte sie mit fast kindlicher Auflehnung hinzu: „Ach, das kann ich Ihnen ja nicht so sagen.“

„Weshalb nicht, da mich doch alles, was die Ihrigen betrifft, sehr lebhaft berührt, Fräulein Dina?“

„Nun ja – ich meine – ich glaube, daß Susanne jetzt bereut, daß sie Tromholt nicht geheirathet hat, daß sie ihn – jetzt – obgleich –“

„Sie wollen mir nicht alles sagen?“ forschte Snarre und griff, da in diesem Augenblick zufällig Dinas Fuchs mit den Vorderbeinen stolperte und den Staub der Landstraße hoch aufwirbelte, dem Pferde mit rascher Bewegung in den Zügel.

Aber durch diesen Zwischenfall ward das Gespräch unterbrochen, und es fand sich später keine rechte Gelegenheit, es wieder auf das Gebiet vertraulicher Eröffnungen zurückzuführen.

Snarre aber sah bestätigt, was er gefürchtet hatte: Susanne war mit ihren Gedanken bei Tromholt, und er hatte nichts von ihr zu hoffen. –

Als Snarre und Dina auf das Gut zurückkehrten, wurde dem ersteren mitgetheilt, daß Frau von Alten schon eingetroffen sei und sich mit den übrigen Damen zu Susanne begeben habe, die Herren aber im Billardzimmer bei einer Partie beschäftigt seien.

Morten hatte jedoch noch etwas anderes mitzutheilen, und dies erregte den Grafen im höchsten Grade. Aus Trollheide war die Nachricht eingetroffen, daß der alte Elbe mit Larsen in Mückern zusammengetroffen sei, und daß zwischen ihnen ein Kampf auf Leben und Tod stattgefunden habe. Elbe liege schwer verwundet danieder, und sein Zustand gebe zur größten Besorgniß Veranlassung.

Snarre schüttelte mißmuthig den Kopf. Immer war etwas, jeden Tag! Seitdem er die Ericiusschen Besitzungen übernommen, hatte es kaum eine Woche gegeben, in der Alten nicht über Widerspenstigkeit oder Krankheit der Arbeiter, Beschädigung und dadurch hervorgerufenen zeitweiligen Stillstand der Maschinen, Ungelegenheiten bei den Frachtverladungen, geschäftliche Verdrießlichkeiten mit der Kundschaft oder sonstige Unliebsamkeiten zu berichten gehabt hatte.

Freilich, das war einmal nicht anders in großen Geschäftsbetrieben, aber Snarre stand doch bisweilen unter dem Eindruck, als ob er besser gethan hätte, sich auf die ganze Sache nicht einzulassen. Zudem wurden seine eigentlich und ursprünglich damit verbundenen Zwecke nicht erreicht!

Durch das Gespräch mit Dina war’s ihm nun beinah zur Gewißheit geworden, daß Susannens Liebe zu erwerben ein ganz vergebliches Bemühen sein werde.

So kam er denn in recht gedrückter Stimmung zu Tisch, die noch verschlimmert wurde, als sich Susanne auch für den übrigen Theil des Tages entschuldigen ließ. Die Fröhlichkeit in dem kleinen Kreise war künstlich, ja, es ruhte ein so ungemüthlicher Druck auf der Gesellschaft, daß Alten nach Tisch und nach Erledigung seiner Geschäfte mit dem Grafen Bianca beiseite zog und ihr zuflüsterte, sie möge ein Kopfweh vorschützen, damit sie sich entfernen könnten.

„Eine verdammt hochmüthige Art ist einmal diesen Hochgebornen eigen und von ihnen unzertrennlich –“ stieß er, seiner leichtbereiten scharfen Kritik nachgebend, heraus. „Snarre macht mich fast verantwortlich, daß der alte heißblütige Elbe Larsen an die Kehle gesprungen ist, auch benutzte er die Gelegenheit, sich über die ‚fortwährenden Verdrießlichkeiten‘, die ihm die Werke bereiteten, auszulassen. Wenn ich nicht auch gute Nachrichten in der Tasche gehabt hätte, würde er mir womöglich schon heute einen Vierspänner zur Verfügung gestellt haben, um anderweitig mein Glück zu versuchen.“

Aber Bianca redete ihrem leicht aufbrausenden Manne zu: „Ueberall ist etwas, Lieber! Beruhige Dich! Morgen wirst Du die Dinge in einem anderen Lichte ansehen, und wer weiß, was den Grafen beschäftigt! Vielleicht hängt’s mit Susanne zusammen! Ja, ich glaube es fast. – Denke also, Du seiest gar nicht gemeint, und nimm die Sache unpersönlich. – Im großen und ganzen mußt Du doch einräumen, daß der Graf in Anbetracht der Standesvorurtheile, in denen er aufgewachsen ist, ein unbefangen denkender und liebenswürdiger Mann ist. Er giebt sich, wie er ist, und hat niemals Hintergedanken.“

Aber Alten bestand doch auf seinem Willen. „Glaube mir, Bianca, es ist besser, wir gehen! Ich kenne den Grafen. Gerade, weil ihn möglicherweise diese Dinge beschäftigen, möchte er mit sich allein sein. Wenn wir gehen, ziehen sich die übrigen sicher schon vor dem Abendessen zurück, und das entspricht seinen Wünschen.“

Und so geschah’s denn, wie Alten wollte, und Graf Snarre machte auch nur äußerlich Einwendungen.


*               *
*


Zu Snarres Freude war Susanne schon am nächstfolgenden Tage wiederhergestellt und schien sogar an guter Laune gewonnen zu haben. Die nächste Zeit verlief in angenehmster Weise, und gegen Ende der Woche entsprachen Susanne und Dina auch einer Einladung Altens zu einem Besuch in Trollheide, wohin sich derselbe wegen der eingetretenen Vorkommnisse begeben hatte. Die Ericiusschen Damen kannten den Besitz eigentlich nur vom Hörensagen und waren sehr gespannt, das frühere Eigenthum ihres Vaters kennenzulernen. Dina ward noch von dem besonderen Wunsch geleitet, ihre arme, inzwischen aus dem Heidewirthshaus nach Trollheide hinübergeschaffte Freundin Ingeborg wiederzusehen. Deren Zustand war indessen noch immer derart, daß man ihr das in Mückern Vorgefallene hatte verheimlichen müssen.

Graf Snarre benutzte die Abwesenheit der jungen Damen, um selbst in die Umgegend zu fahren und eine Anzahl befreundeter Familien zu einem Balle einzuladen. Mit einem solchen wollte er Susanne und Dina überraschen. Er hatte deshalb auch den Wünschen seiner Gäste ein bereitwilliges Ohr geliehen, und es war die Abrede getroffen, daß die Rückkehr am Spätnachmittage des zweiten Tages erfolgen und der Graf die Damen aus Limforden abholen sollte.

Alles verlief nach Abrede. Mit einem Vierergespann fuhren Susanne und Dina morgens in der Frühe nach Limforden ab und machten sich, nach einem dort eingenommenen Frühstück, in Begleitung Biancas nach Trollheide auf den Weg.

Als sie durch die sonnenbeleuchtete Herbstlandschaft fuhren, wurden Biancas Erinnerungen an ihren Bruder sehr lebhaft; sie erzählte auch viel von ihm und dem damaligen Aufenthalt, und Susanne hörte ihrem Bericht mit größter Aufmerksamkeit zu. Neben dem Bedürfniß, über Richard zu sprechen, leitete Bianca heute einmal der Wunsch, den Eindruck ihrer Worte auf Susanne zu beobachten, und sie erreichte, was sie beabsichtigte.

Kurz vor Mittag und noch vor Ankunft der Damen in Trollheide trat eine unerträglich schwüle Luft ein. Am Himmel thürmten sich dunkle Wolkengebilde auf, und ein heißer Wind fuhr in kurzen Absätzen über die langgedehnten Moorstrecken.

Da Bianca einen stärkeren Regenniedergang fürchtete, hieß sie den Kutscher möglichst schnell fahren, und es gelang auch, Trollheide ohne Fährlichkeiten zu erreichen.

Alten stand bei ihrer Ankunft auf dem Hofe und schwenkte ein weißes Tuch:

„Willkommen, willkommen in Trollheide, meine sehr verehrten Damen!“ rief er fröhlich. „Ihr Erscheinen vertreibt mit einem Schlage alle Trübsal. Bitte, die Zimmer im Hause sind in stand gesetzt, und das Essen wird sogleich aufgetragen werden. – Der Himmel? Nein, der thut uns heute nichts, denke ich. Ich rechne sogar sehr darauf, daß wir am Nachmittage auf die Moore hinausfahren, und Fräulein Elbe – allerdings, es geht etwas besser, wenigstens so gut, daß sie für kurze Zeit Menschen sehen kann, – hofft sehr auf Ihren freundlichen Besuch.“

Nach dem Mittagessen begaben sich die Damen zunächst zu Ingeborg. Das Wiedersehen mit der Kranken, die matt und bleich im Lehnstuhl saß, war ein sehr bewegtes.

Dina ward durch das veränderte Aussehen der Freundin so ergriffen, daß ihr wiederholt Thränen in die Augen traten. Es schien, als sei das arme Mädchen völlig geknickt; von der schönen Ingeborg war nur der Schatten zurückgeblieben.

Noch immer stand Larsens Bild wie ein Schreckgespenst vor ihrer Seele, ja neuerdings trat es sogar zeitweise wie körperhaft vor ihr Auge, sodaß sie plötzlich laut aufschrie und nach Hilfe für sich und ihren Vater begehrte. Diese Anfälle schrieben sich von dem Tag ihres ersten auf Anraten des Arztes unternommenen Ausganges her. Nur wenige Schritte hatte sie ohne Begleitung im Garten gemacht, als sie bleich und zitternd zurückkehrte, [560] ohne indessen einen Grund für diese plötzliche Beunruhigung angeben zu können. Doch war sie seitdem durch kein Zureden mehr zu bewegen gewesen, das Haus zu verlassen, und ihre durch furchterregende Vorstellungen gehobene Seelenangst kehrte wieder, sobald sie allein war.

Daß Larsen sich jetzt noch in der Gegend befinde, hielten die Gutsleute, soviel sie auch sonst dem gewaltthätigen Kapitän zutrauten, einstimmig für eine Unmöglichkeit. Der rothe Jeppe war von den Gendarmen bald nach dem Anschlag auf Ingeborg gefaßt worden, hatte erst alles geleugnet, dann aber sich als das unschuldige Opfer von Larsens Verführung hingestellt und dessen Versteck in Mückern dem Gericht verrathen. Dort wäre dieser auch zweifellos festgenommen worden, hätte nicht des alten Brausekopfs Elbe eigenmächtiges Eingreifen die Vorsicht der Gendarmerie durchkreuzt und Larsen in dem Augenblick aus der Schlinge befreit, als sie sich eben um seinen Hals zusammenzuziehen drohte. Nun hatte aber Larsen auch den Alten, aus dessen noch immer kräftigen Fäusten er sich durch einen Messerstich gelöst, auf dem Gewissen, und die Strafe, die auf diese That stand, war eine weit schwerere, als er sie für sein erstes Verbrechen zu gewärtigen hatte. Seine Spur war seitdem verloren; zwar hatten die Behörden Beschlag auf sein Schiff gelegt und sein Signalement nach den benachbarten Hafenplätzen, wo er etwa fremden Dienst hätte suchen können, gesandt, aber trotzdem zweifelte niemand daran, daß es dem geriebenen Fuchs doch noch gelungen sei, sich ein Loch offen zu halten, und daß er jetzt wohl schon weit draußen auf hoher See schwimme, um nicht so bald wieder in sein Vaterland zurückzukehren.

Ingeborgs Angst aber erklärte der Arzt für eine Folge der furchtbaren Nervenerregung, die sich ihrer in jener Nacht im Moor bemächtigt hatte. Nur mit der Zeit und unter dem Einfluß einer anderen Umgebung werde sie sich legen.

Wer aber in Ingeborgs Herz hätte sehen können, der wäre wohl zu anderen Schlüssen gekommen. Sie hatte einen guten Grund für ihre Angst, den sie jedoch, da sie von den jüngsten Ereignissen in Mückern nicht unterrichtet war, aus Besorgniß für ihren Vater den andern verschwieg. –

Larsens Leidenschaft für das Mädchen war durch das Mißlingen seiner Anschläge nur gesteigert, ja bis zur Raserei entfacht worden. Nachdem er einmal den Weg der Gewaltthat betreten hatte und, von den Gerichten verfolgt, als Geächteter herumirrte, bebte er auch vor dem Aeußersten nicht mehr zurück. Das Mädchen war sein Eigenthum, ihm von Jugend aus zugesprochen, daran klammerte er sich mit der ganzen Zähigkeit seines Charakters, und daß ein anderer ihm dieses Eigenthum rauben könnte, erhöhte ihm nur dessen Werth und erfüllte ihn mit namenlosem Ingrimm. Sein Schiff, sein Vermögen konnten sie ihm nehmen, aber sie nicht. Er mußte fliehen in ein anderes Land, einen andern Welttheil, ja, das wollte er, aber nicht ohne sie, nicht, wenn sie hier lebend zurückblieb. Daß ein anderer sie, sie einen anderen lieben könnte, der Gedanke hatte wie ein Blitzstrahl sein arbeitendes Gehirn erleuchtet. Lange hatte er über die erst kaum begriffenen Gründe ihrer Entfremdung von ihm nachgegrübelt; seine Untreue konnte ihr verrathen worden sein, wohl; aber dieser Umstand war in seinen Augen nicht bedeutend genug, um ihre plötzliche Flucht am Hochzeitstag zu erklären. Er vergegenwärtigte sich noch einmal die Ereignisse dieses Tages, und da erkannte er die Wahrheit. Waren denn nicht an jenem Morgen mit dem alten Elbe der Direktor von Limforden und dessen Schwester als unerwartete und ungebetene Gäste zu Mückern im Hause seiner Mutter eingetroffen, hatten sie nicht Blicke mit einander gewechselt, sonderbare Blicke, die er damals nicht verstand und auch nicht weiter beachtete, und hatte nicht während eines Gesprächs über das Seemannsleben, in das ihn, Larsen, der Direktor verflochten, Ingeborg ihre Flucht bewerkstelligt? – Ja, so war es, und das alles war ein abgekartetes Spiel zwischen ihnen gewesen, seine Wachsamkeit zu täuschen, ein Spiel, dem sogar der alte Elbe, der seines gegebenen Worts gern auf irgend eine Weise quitt geworden wäre, nicht fern stand. Auch über die Richtung ihrer Flucht hatten jene ihn getäuscht, zu Tromholt nach Trollheide war sie geflohen; natürlich, sie kannte ja den Weg dorthin oder nach Limforden, sie hatte ihn früher schon gemacht, früher – ja – und von daher kam ihre Entfremdung. Wie hatte er, Larsen, nur so blind sein können! Tromholt hatte sie ihm entrissen, Tromholt liebte das Mädchen, und sie liebte ihn lange schon. Er wollte sie heirathen, das gefiel natürlich dem alten Elbe, und weil es in Limforden, wo sie Wirthschafterin und Tromholt Direktor gewesen war, doch nicht wohl anging, deshalb hatte dieser jetzt den Posten angegeben und war ins Ausland, nach Kopenhagen, gereist. Auch das war nur eine Komödie, um ihn, Larsen, zu täuschen. Ingeborg wartete nur, bis jener kommen würde und sie hinüberholte als sein Weib. Nun glaubte er, alles zu durchschauen, aber lange genug war er das Opfer ihres Betrugs gewesen, ein grimmiger Haß erfüllte ihn gegen Tromholt und Elbe, selbst gegen Ingeborg, ein Haß, der seine Begierde nach ihrem Besitz nur noch heftiger anfachte.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 19, S. 596–605

[596] Von seinem Versteck in Mückern aus hatte Larsen durch seine Spione ein wachsames Auge über Trollheide und erfuhr manches von dem, was dort vorging, so auch, daß der Arzt Ingeborg, sobald ihre Kräfte es gestatteten, einen Wechsel des Aufenthalts verordnet habe. Darin erblickte seine Eifersucht einen neuen Betrug, an dem nun auch noch der Arzt theilnahm, und das bestätigte ihm bis zur Gewißheit seinen schon vorher gefaßten Argwohn. Nach Kopenhagen wollte sie, zu Tromholt, aber ehe das geschah, sollten sie und Tromholt und der alte Elbe sterben durch seine Hand. In solcher Stimmung hatte er einen Brief an Ingeborg geschrieben, und in solcher Stimmung war dann später der Zusammenstoß mit dem alten Elbe in Mückern erfolgt, der Larsen von dort vertrieb. Den Brief aber hatte einer von des Kapitäns Helfern Ingeborg, da sie ihren ersten Ausgang aus der Krankenstube machte, geschickt in die Hände gespielt, und weil darin, wenn sie es wagte, Trollheide anders als in Larsens Begleitung zu verlassen oder auch nur ein Wort von dem Brief selbst den andern zu verrathen, nicht nur ihr, sondern auch Tromholt und ihrem alten Vater mit dem Tod gedroht ward, deshalb schwieg sie.

„Flieh mit mir,“ so schloß dieser Brief, „mit mir, der um Dich alles verloren, der Dir aber verzeiht und Dich heißer liebt denn je. Aber wie zum Vergeben bin ich auch bereit zur Rache. In Deiner Hand liegt mein Geschick und das Deine, das Deines Vaters und jenes Elenden, der Dich mir rauben will. Entscheide Dich, aber glaube nicht, daß Du mich noch einmal täuschen kannst!“

Daß das ihr aufgezwungene Schweigen Ingeborgs Seelenqual steigerte bis zum halben Wahnsinn, war nur zu natürlich. Uebrigens wirkte die Anwesenheit der Gäste und besonders Dinas [598] sichtbar beruhigend auf sie, und seit ihrer Krankheit hatte sie nicht so wohl ausgesehen wie an diesem Tag. Während Bianca und Susanne in Altens Begleitung einen Gang nach den Mooren machten, blieb Dina mit der Freundin allein in deren Stübchen zurück und suchte durch ihr lustiges Geplauder die letzten Spuren des Kummers aus Ingeborgs Zügen zu verscheuchen. Alle ihre Erlebnisse, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, gab Dina in ihrer drolligen Weise zum besten. Es war dabei viel, sehr viel vom Grafen Snarre die Rede und auch von Susanne und Richard Tromholt.

Nachdem Dina lange geplaudert und Ingeborg ihr sinnend zugehört hatte, trat die erstere ans Fenster und rief: „Sieh doch, wie wunderschön es draußen ist! Wollen wir nicht einen Gang ins Freie machen?“ Die Natur lag in den tiefen, satten Farben des Frühherbstes, die Sonne warf goldene, gaukelnde Lichter durch das Gezweig der Bäume auf den grünen Rasen, Vögel haschten sich zwitschernd und pfeifend in dem Geäst.

„Ja, herrlich!“ rief Ingeborg, die mit vollen Zügen die Düfte, die ihr wohlthaten, einsog.

„Aber warum sehen wir das alles durchs Fenster? Laß uns doch in den Garten gehen, nur ein paar Schritte, ich führe Dich und spiele die Wärterin. Komm, Ingeborg!“ Dina glaubte damit dem Arzt, der ihr geklagt hatte, wie schwer Ingeborg zum Ausgehen zu bewegen sei, einen Dienst zu leisten. „Komm, Ingeborg, thu’s mir zu lieb!“ flehte sie, den Arm der Freundin in den ihrigen legend, und zu Dinas nicht geringer Genugthuung ließ sich Ingeborg nach kurzem Zögern zu dem Gang bewegen.

Sorgsam lenkte Dina die Schritte durch den stillen Garten; Ingeborg war wie geblendet von der Fülle des Lichts, berauscht von dem starken, langentwöhnten Hauch, den die ganze Schöpfung um sie her ausathmete. Aber als nun, wie sie um die Ecke des Hauses bogen, ein kühlerer Luftzug ihnen entgegenwehte, überlief ein leises Frösteln den Körper der Genesenden.

„Du frierst!“ rief Dina. „Wie leichtsinnig auch, daß Du nicht ein Tuch umgelegt hast, und daß ich, Deine Wärterin, nicht daran gedacht habe! Aber wart’, ich hole es Dir rasch. Bleib nur, lehne Dich hier an den Baumstamm, ich bin im Augenblick wieder bei Dir, und dann setzen wir uns auf die Bank dort.“ Ingeborg machte eine abwehrende Bewegung, aber schon war Dina, ins Haus zurückeilend, unter den Bäumen verschwunden.

Ingeborg war allein, sie stützte sich an den dicken Stamm einer alten Buche, eine große Ermattung war plötzlich über sie gekommen, sie hatte nicht einmal die Kraft, Dina nachzurufen, daß sie bei ihr bleibe, denn langsam schlich sich wieder das alte Bangen beklemmend an ihr Herz heran. Vor ihr in nicht allzugroßer Entfernung dehnte sich die Hecke, die den Garten von den Feldern abschloß; von dorther sollten Alten und die Damen kommen, welche Dina zu überraschen gedachte. Aber niemand zeigte sich in der weiten, von einem zitternden Duftgespinst verhüllten Ferne.

Da raschelte etwas im Gebüsch – Ingeborgs Sinne verwirrten sich. Träumte sie oder sah sie, erkannte sie wirklich die Gestalt des Mannes, der da auftauchte, über die Hecke sprang und auf sie, die regungslos dem Schrecklichen entgegensah, zueilte? Es war nicht Larsen und doch war er’s, er hatte nur durch Abnahme des Bartes sein Gesicht entstellt, auch die seemännische Kleidung mit der eines gewöhnlichen Landarbeiters vertauscht, und jetzt glühten seine wilden Raubtieraugen dicht vor ihrem Gesicht, sein linker Arm umschlang sie, hob sie, die in einer Art von Starrkrampf lag, vom Boden empor. Gluthheiß traf sein Athem ihre Wangen, wie er jetzt auf sie einredete: „Ingeborg, ich kann und will Dich nicht lassen! Folge mir gutwillig, ich kann nicht länger hier warten, und ohne Dich gehe ich nicht. Du hörst nicht, Du schweigst? Wohl, so trag’ ich Dich fort, und keiner“ – dabei schwang er ein Messer – „soll Dich mir lebend wieder entreißen!“

Mit Riesenkraft preßte er sein Opfer an sich und eilte mit ihm der Hecke zu.

Aber schon kehrte Dina zurück, ihr Hilfegeschrei, als sie den Vorgang von ferne sah, rief die Arbeiter von den Scheunen herbei, von verschiedenen Seiten kamen sie erst vereinzelt und dann in Scharen gelaufen, und dieweil Larsen, vor der Hecke angelangt, einen Augenblick stutzte, waren die vordersten schon so nahe heran, daß sie ihn trotz seiner Verkleidung erkannten.

Da wandte sich der Mann, und es schien einen Augenblick, als ob er ihnen allen standhalten und um die Beute mit ihnen kämpfen wollte auf Leben und Tod, da er die Unmöglichkeit, sie weiter zu schleppen, einsah. Doch der Selbsterhaltungstrieb war stärker – mit einem wilden Schrei bohrte er das gegen die Verfolger erhobene Messer plötzlich in Ingeborgs Brust. „So bleib denn!“ rief er, den blutbefleckten Stahl zurückziehend, „nun weiß ich wenigstens, daß Du keinem anderen mehr gehörst!“ Damit ließ er die Bewußtlose niedergleiten, schwang sich über die Hecke und floh. Indeß die anderen ihm nachsetzten, warf sich Dina entsetzt aufkreischend über die Freundin.




13.

Nach diesen wechselvollen Ereignissen waren fast zwei Jahre verstrichen. Die Hoffnungen, die jeder einzelne für sich selbst oder für die ihm näherstehenden Personen genährt hatte, waren, entsprechend der Unberechenbarkeit, mit der das Schicksal seine Wege geht, nicht in Erfüllung gegangen, und es schien auch keinerlei Aussicht vorhanden, daß durch die Zeit irgend eine Aenderung eintrete werde.

Graf Snarre hatte das Vergebliche seiner Bewerbung um Susannens Hand eingesehen, ohne daß sie genöthigt gewesen wäre, Dinas Prophezeiung wahr zu machen, indem sie ihm einen förmlichen Korb gab. Er war anfangs selbst erstaunt über diese friedliche, fast schmerzlose Lösung einer Angelegenheit, die eine Zeitlang seine Gedanken so stark beschäftigt hatte. Was er für eine große Leidenschaft, von der das Glück seines Lebens abhing, gehalten hatte, war nicht viel mehr als ein flüchtiges Strohfeuer gewesen; genährt und geschürt durch die Umstände, die Verschiedenheit ihrer beiderseitigen Charaktere, war es schließlich aus Mangel an weiterer Nahrung in sich selbst zusammengesunken, und was unter der Asche einstiger Flammen fortglimmte, war nur ein Gefühl aufrichtiger Freundschaft. So schien es dem Grafen jetzt. In wie weit diese Erkenntniß mit seiner wachsenden Freundschaft für Dina, deren frisches, munteres Wesen dem seinigen mehr zusagte, zusammenhing oder gar davon beeinflußt wurde, darüber legte er sich zunächst keine Rechenschaft ab. Immerhin war ihm Susannens Wesen ein Räthsel, für das er, trotz mancher Andeutung, die sie selbst und Dina ihm gegeben hatten, keine Lösung fand. Daß er, der Graf Esbern-Snarre, der reiche, geistvolle, vielumworbene Kavalier, sich beinahe der Gefahr ausgesetzt hätte, von einer Dame, der er seine Huldigung dargebracht hatte, der er seinen Namen zu geben geneigt gewesen war, eine ablehnende Antwort zu erhalten, daß es eine solche Dame überhaupt gab, erschien ihm fast unbegreiflich und erfüllte ihn trotz allem mit einem Gefühl des Verdrusses und der Beschämung. So fest er sich auch vornahm, nicht mehr über die Ursache nachzugrübeln, immer wieder kam er mit seinen Gedanken darauf zurück; unwillkürlich verdoppelte er noch die Sorgfalt, die er von jeher auf seine äußere Person verwendet hatte, allein es fehlte ihm jetzt an Menschen, an denen er die Wirkung hätte erproben können.

Bald nach der Familie Ericius war auch die Gräfin, seine Tante, etwas verstimmt über das Mißlingen des Heirathsplanes, dessen Förderung ihr Besuch gegolten hatte, abgereist, und nun gesellte sich bei dem Grafen zu allem andern noch ein Gefühl der Verlassenheit und Langenweile, wie er es nie zuvor empfunden zu haben glaubte.

Solch übler Laune war auch der Uebereifer, mit dem Herr von Alten seiner neuen Stellung gerecht zu werden strebte, auf die Dauer nicht gewachsen, im Gegenteil, er verschärfte sie noch. Thatsächlich mochte der neue Direktor selbst fühlen, daß er sich für die Gutsverwaltung besser eigne als für die selbständige Leitung von Werken, wie sie in Limforden theils schon bestanden, theils noch im Entstehen begriffen waren. Eine Folge dieser Selbsterkenntniß mochte es sein, daß er in übertriebener Gewissenhaftigkeit den Grafen mit einer Menge meist unliebsamer Berichte über Kleinigkeiten belästigte, während er ihm andererseits wieder zu rasch und selbständig verfuhr. Daraus ergaben sich Meinungsverschiedenheiten, die nicht selten zu heftigen Auseinandersetzungen führten.

Mehrmals stand Alten im Begriff, dem „hochmüthigen Aristokraten und Besserwisser“, wie er den Grafen nannte, sein Amt vor die Füße zu werfen, und die ruhiger und nüchterner denkende Bianca hatte Mühe, den leicht Gereizten von einem so unvorsichtigen Schritt zurückzuhalten. Graf Snarre seinerseits bereute mehr und mehr den voreiligen, jetzt völlig zwecklos gewordenen Ankauf von Limforden, von welchem er nur Widerwärtigkeiten hatte.

Ja, wenn Tromholt geblieben wäre, da lägen die Dinge [599] ganz anders! Immer wieder mußte er an ihn denken. Es hieß, daß es ihm sehr gut gehe, daß er durch glückliche Bodenspekulationen sogar schon ein reicher Mann geworden sei. Wenn der Graf sich auszudenken versuchte, wie er wohl die Werke auf gute Art wieder losschlagen könnte, verfiel er immer auf Tromholt; das wäre der rechte Mann dazu, und sicher stünden ihm jetzt auch die nöthigen Mittel zur Verfügung.

Einige Monate noch hatte sich Graf Snarre unzufrieden mit sich und der Welt auf seinem Landsitz aufgehalten, dann hatte er, kurz entschlossen, all den Verdrießlichkeiten ein Ende gemacht, seine Koffer gepackt, oder vielmehr von der sorgsamen Hand des in alle Launen seines Herrn eingeweihten alten Kammerdieners packen lassen, und war abgereist, hinaus in die Welt. Ihn verlangte nach Abwechslung, er mußte andere Menschen, andere Gesichter und Verhältnisse sehen, nur so ließ sich das gestörte Gleichgewicht seiner Seele wiederherstellen.

Vor seiner Abreise hatte er der Familie Ericius in Kiel einen Abschiedsbesuch gemacht, und dabei hatte er Dina, die über den plötzlichen Entschluß beinahe ihre fröhliche Laune verlor, halb im Scherz das Versprechen gegeben, ihr und durch sie der Familie von Zeit zu Zeit briefliche Nachricht über sein Befinden, seine Eindrücke und Erlebnisse zukommen zu lassen. Dieses Versprechen hatte er auch wirklich gehalten; verschiedene Briefe waren inzwischen aus allen Weltgegenden an Dinas Adresse gelangt, sie waren meist in satirisch heiterem Plauderton gehalten und wurden regelmäßig ebenso erwidert. Der letzte, der Dina die größte Freude bereitete, meldete des Grafen baldige Heimkehr.

Aber selbst auf der Reise vermochte der Graf die Geschäfts–Sorgen, die er nun einmal auf sich geladen hatte, nicht ganz abzuwälzen; Altens Berichte folgten ihm überall hin, sie wußten ihn, wenn auch auf den größten Umwegen, zu finden. Selten war ihr Inhalt ein angenehmer, meist bezogen sie sich auf Dinge, deren Erledigung Eile gebot, und die der Graf unerledigt gelassen hatte. Diese ewigen „Molesten“, wie Snarre sich ausdrückte, verleideten ihm jeden Genuß, und fester denn je entschlossen, der Sache bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ein für allemal durch Verkauf der Werke – und wäre es selbst mit Verlust – ein Ende zu machen, trat er die Heimreise an.

Er war schon über ein Jahr fort gewesen, und da ihn der Rückweg über Kopenhagen führte, so wollte er nicht versäumen, Tromholt dort aufzusuchen. Er hatte ihm diese Absicht sowie die Zeit seiner Ankunft mitgetheilt und war aufs angenehmste überrascht, im Gasthofe bereits ein Schreiben Tromholts vorzufinden, in welchem dieser seinerseits um die Erlaubniß bat, dem Herrn Grafen die erste Aufwartung machen zu dürfen. Solche Aufmerksamkeit schmeichelte Snarres Eitelkeit, wie denn überhaupt dieser Zug seines Wesens stärker als je in manchen kleinlichen Einzelheiten zu Tage trat.

Ein heller Anzug brachte zwar seine zierliche Gestalt in vortheilhaftester Weise zur Geltung, aber Schnitt und Farbe verriethen die Vorliebe für die Uebertreibungen der herrschenden Mode. Der Aufenthalt in London und Paris und sein dortiger Verkehr mit der vornehmen Gesellschaft waren nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, er legte noch mehr als bisher Werth auf Aeußerlichkeiten; die zahlreichen, kostbaren Kleidungsstücke und Toilettengegenstände, die vielen Kämme, Bürsten, Seifen, Pomaden und Parfüms, welche der Kammerdiener Morten eben aus den Koffern packte, legten dafür Zeugniß ab. Morten selbst trug eine neue reiche Livree mit Snarres Wappen.

Die Begrüßung der beiden Herren war eine überaus herzliche. Tromholts treffliches Aussehen überraschte den Grafen. Sein Gesicht zeigte eine frischere Farbe, sein Auge blickte weniger ernst als damals, da Snarre ihn zuletzt gesehen hatte.

Auch die Stimme klang frischer und heiterer, als er anhub:

„Ja, dem Himmel sei’s gedankt, mir geht es soweit ganz nach Wunsch! Ich habe mit meinem Gedanken, nordische Erzeugnisse nach Deutschland auszuführen, einen ungewöhnlichen Erfolg gehabt. Schon wird der dritte große Speicher für mich gebaut; in meinem Bureau arbeiten gegenwärtig über zwanzig Leute, und im ganzen Norden bis nach Hammerfest hinauf sind meine Vertreter thätig. Auch hatte ich das Glück, sehr vortheilhaft zu spekuliren, so günstig, daß ich durch einen einzigen Grundverkauf schon bald nach meiner Niederlassung hier ein bedeutendes Kapital erwarb. Zudem habe ich in Kopenhagen einen äußerst angenehmen geselligen Verkehr.“

„Sie führen also ein eigenes Hauswesen?“ bemerkte Snarre, aufrichtig erfreut über diese guten Nachrichten.

„Allerdings! Bald nach dem Tode des alten Elbe, der, wie Sie ja wissen, an den Folgen des ihm durch Larsen beigebrachten Messerstichs starb, nahm ich seine Tochter Ingeborg zu mir. Sie war von ihrer tödlichen Wunde nur wie durch ein Wunder genesen. Aus Trollheide, wo sie alles an den schrecklichen Vorfall erinnerte, wollte sie nicht bleiben, auch gebot ihr Zustand dringend eine Luftveränderung; mein Schwager Alten fand bald eine andere Hilfe, und ich war, obwohl das arme Geschöpf bis heute die Nachwirkungen ihrer Krankheit nicht ganz überwunden hat, froh, eine so zuverlässige Persönlichkeit um mich zu haben. Daß ich auf Vorurtheil und Geschwätz der Welt nichts gebe, wissen Sie, Herr Graf.“

„So – so –?“ machte Snarre überrascht, „bei Ihnen befindet sich das junge Mädchen? Ja, das sieht Ihnen nun wieder ganz ähnlich, Sie vortrefflichster der Menschen.“

„Ich bitte, ich bitte, Herr Graf –“

„Nein, Tromholt –“ betonte Snarre halb freundschaftlich, halb in seiner aristokratisch herablassenden Weise und Tromholt ohne das Wort „Herr“ anredend. „Sie sind ein seltener Mensch, und deshalb nahm ich auch den Weg über Kopenhagen. Es trieb mich, Sie wieder zu sehen und, da unter Ihrer Hand eigentlich alles gelingt, Sie auch zu bitten, mir mit Rath und That beizustehen.“

„Ich Ihnen helfen, Herr Graf?“ erwiderte Tromholt lächelnd und sich bei den wiederholten Schmeichelreden höflich verneigend. „Indessen! Ich bitte, ganz über mich zu verfügen –“

Snarre streifte die Asche einer inzwischen angesteckten Cigarre ab und neigte befriedigt den Kopf.

„Ich möchte die Ericiusschen Werke wieder verkaufen!“ sagte er dann kurz und ohne Einleitung. „Haben Sie nicht Lust, dieselben zu übernehmen, lieber Tromholt?“

„Die Werke verkaufen?“ – Tromholt sah Snarre groß an, seine Achtung vor ihm schien durch diese Erkärung nicht gerade zu wachsen. „Darf ich fragen, verzeihen Sie, Herr Graf, was Sie zu diesem mich aufs äußerste überraschenden Entschlusse bewegt? Von meinem Schwager Alten hörte ich doch nur Gutes –“

Snarre unterbrach Tromholt; eine leichte Wolke flog bei Nennung von Altens Namen über sein Gesicht.

Dies entging Tromholt nicht, und schon stieg die Befürchtung in ihm auf, daß inzwischen ein ernstliches Zerwürfniß zwischen den beiden eingetreten sei.

„Da ist mir zu viel kleiner Krimskrams, und ich habe zu viel Aergerniß,“ erklärte Snarre. „Ich nahm damals an, daß ich wenig oder nichts von Limforden und Trollheide hören würde. Jeden Monat eine Uebersicht und Abrechnung, so halte ich’s bei meinen übrigen Besitzungen. Aber der Teufel weiß, womit ich geguält werde! Widerspenstigkeit des Personals, Krankheit, Einfluß der Witterung auf die Arbeiten, Stillstand der Maschinen, Ausbesserungen, ungünstige Marktverhältnisse, Verfall der Arbeiterhäuser, Veruntreuungen, Streit zwischen den Beamten, Zahlungsunfähigkeit der Abnehmer – und so weiter und so weiter! Nein, liebster Tromholt, das ist wohl für einen Tromholt, aber nicht für Graf Snarre! Also, was meinen Sie? Oder wenn Sie nicht selbst Lust haben, – Sie brauchten mir nichts bar auszuzahlen, ich würde nur den üblichen Zins verlangen – wissen Sie mir nicht einen Käufer?“

Tromholt sah eine Weile vor sich hin, dann warf er den Kopf zurück und sagte:

„Nein, Herr Graf, ich kann nicht. Ich bin hier gebunden, das Zuviel ist der Feind jeder gesunden Entwickelung. Aber wenn’s Ihr Ernst ist, vielleicht überlassen Sie meinem Schwager den Besitz pachtweise, ich trete nöthigenfalls als Bürge für ihn ein.“

Aber dieser Vorschlag paßte Snarre durchaus nicht, und so wenig verhehlte er seine Abneigung gegen den Plan, daß er ziemlich abweisend den Kopf schüttelte.

Nach einer kurzen Pause nahm der Graf das Gespräch wieder auf. „Aus Ihrem Vorschlage, lieber Tromholt,“ erklärte er mit fast plumpem Freimuthe, „würde weder etwas Gutes für Ihren Schwager, noch für Sie, noch für mich entstehen. Offen gestanden, wir haben uns beide bezüglich der Fähigkeiten Altens, einer solch verwickelten Sache vorzustehen, geirrt. Ihr Schwager ist, abgesehen von seinen sonstigen liebenswürdigen Eigenschaften, fleißig, ehrlich und gewissenhaft, aber ihm fehlt die rechte Uebersicht, die nöthige Fähigkeit zu einer planmäßigen Leitung und vor allem [602] die Ruhe und Besonnenheit, die einen Tromholt auszeichneten. Wir passen auch sonst nicht zusammen wir sind zu verschiedene Naturen, und ganz unumwunden gesprochen, wenn ich Besitzer von Limforden bleiben sollte, wäre unser Zusammensein doch nicht von Dauer. Ich habe Veranlassung, zu glauben, daß auch Herr von Alten mit mir nicht zufrieden ist und sich nach einer Veränderung sehnt. Will er seinen früheren Posten als Gutsinspektor wieder übernehmen, habe ich nichts dagegen. Als solcher paßt er, und unser Verhältniß wird dann auch wieder ein anderes, besseres.“

Tromholt hatte in deutlicher Bewegung den schwarzen Bart gestrichen; es regte sich in ihm bei der Liebe, die er für Alten empfand, etwas wie Unmuth gegen Snarre, der denselben in so schonungsloser Weise preisgab. Aber das war doch nur vorübergehend. Er mußte zugeben, daß Snarres Auseinandersetzungen eine anerkennenswerthe Aufrichtigkeit bekundeten, die dem Manne zur Ehre gereichte und der einmal bestehenden Sachlage durchaus angemessen war. Künstliche Verhältnisse soll man nicht aufrecht erhalten wollen, und daß Alten als Durchgänger sich nicht immer im Zaum zu halten verstand, das wußte Tromholt.

Er ging deshalb vorläufig nicht weiter auf den Gegenstand ein, sprach nur in höflicher Weise sein Bedauern aus, daß der Graf seine Voraussetzungen bezüglich Altens nicht bestätigt gefunden habe, und schloß mit dem Versprechen, daß er sich die Sache überlegen und darauf zurückkommen werde.

Snarre schien durchaus befriedigt, er war es stets, wenn er keinen Widerspruch fand; und seine Hochachtung vor Tromholt wuchs.

Am Schluß ihrer sich um Allgemeines drehenden Unterhaltung fragte Snarre nach Utzlar. „Fräulein Dina, mit der ich recht fleißig Briefe wechsle und die mir erst heute wieder geschrieben hat, weiß nichts von ihm. Haben Sie zufällig Kunde, wo er sich aufhält?“

„Ja,“ entgegnete Tromholt einfach. „Seit drei Monaten steht er bei mir in Diensten und macht sich – gut.“

„Graf Utzlar bei Ihnen in Diensten?“ Snarre riß die Augen weit auf und machte ein Gesicht, als ob er glaubte, Tromholt habe einen Scherz gemacht.

Ueber Tromholts Angesicht zog ein liebenswürdiges Lächeln.

„Ich begreife, Herr Graf,“ entgegnete er, „daß Sie sich darüber wundern. Ich muß gestehen, daß ich vor zwei Jahren jeden andern Gedanken hätte fassen können als den, dem Grafen Utzlar in solcher Weise die Hand zu reichen. Aber vor der Noth schweigt selbst die Empörung. Er war in einer furchtbaren Lage, und zuletzt ohne seine Schuld. Nachdem er – wie das bei einem so ungewöhnlich leichtsinnigen Menschen wie Utzlar vorherzusehen war – das ihm von der Familie Ericius ausgezahlte Vermögen verthan hatte, suchte er zu arbeiten. Er mußte! Seine gewissenlosen Pläne, sich lediglich durch eine reiche Frau wieder emporzurichten und sich ein arbeitsloses Genußleben zu verschaffen, waren mißlungen. Die Gesellschaft bleibt sich doch mitunter noch treu, man wies ihm ziemlich allgemein die Thür. Nachdem er als Agent bei einer Versicherungsgesellschaft Stellung gefunden hatte, erkrankte er und verlor diesen Posten wieder. Später war er in einem Reitinstitut in Hamburg beschäftigt, und hier lernte er einen sehr verkommenen und völlig erwerbslosen Menschen kennen, der ihm den Vorschlag machte, mit ihm nach Kopenhagen zu gehen und daselbst ein ebensolches Institut zu gründen. Allein das Unternehmen scheiterte an dem Mangel genügender Betriebsmittel. Als die Dinge schief zu gehen anfingen, machte der ‚gute Freund‘ noch rasch alles vorhandene Material zu Geld, suchte mit der gemeinsamen Kasse das Weite und ließ den Kompagnon in einem kläglichen Zustand zurück. Da suchte dieser mich auf und bat, von allem und jeglichem entblößt, um Unterstützung. Ich habe kaum etwas ähnliches von Elend und Jammer gesehen. Tagelang konnte ich den Anblick nicht vergessen. Da schwieg alles andere in mir, und selbst auf die Gefahr hin, von der Ericiusschen Familie wegen dieses Schrittes falsch beurtheilt zu werden, gab ich ihm Arbeit und Verdienst.“

„Tromholt!“ rief Snarre aufspringend und die Hand seines Gastes ergreifend, „Sie sind ein herrlicher, ein großartiger Mensch! Ich bewundere, ich beneide Sie. Ach, was gäb’ ich darum, Ihnen gleichen zu können!“

Er sprach die Wahrheit. Wie klein kam sich der glänzende Aristokrat in diesem Augenblick neben dem schlichten, bürgerlichen, alle Lobsprüche bescheiden ablehnenden Mann vor, der einzig in treuer Pflichterfüllung gegen sich und andere das Glück fand, das Graf Snarre vergebens in den Zerstreuungen der Welt suchte! Wie arm war er gegen ihn!

„Was hören Sie von den Ericius?“ fragte der Graf plötzlich, und es war zweifelhaft, ob er mit dieser Frage die frühere Gedankenreihe verließ oder fortsetzte.

„Nichts, gar nichts, Herr Graf!“ erwiderte Tromholt fast barsch ablehnend, „ich habe keine unmittelbaren Beziehungen zu der Familie mehr, und auch von Alten habe ich keinerlei Nachricht über sie.“

Einen Augenblick sah der Graf Tromholt, dessen Augen sich unter seinem Blick senkten, scharf an, dann brach er das Thema, das jenem peinlich schien, ebenso unvermittelt, als er es begonnen hatte, wieder ab und fragte nach Larsens Schicksal. Auch von ihm wußte Tromholt nichts, seine Spur schien verloren, ohne Zweifel hatte er über dem Ocean ein sicheres Versteck gefunden, das ihn dem Arm der Gerechtigkeit für immer entzog. Noch eine halbe Stunde unterhielten sich die beiden Herren über allgemeinere Gegenstände, dann trennten sie sich für heute, nachdem Tromholt noch den Grafen für den andern Tag bei sich zu Tisch geladen und dieser die Einladung angenommen hatte.


*               *
*


In dem nach dem Hafen liegenden Wohngemach der Familie Ericius saß acht Tage später Susanne um die Mittagszeit neben ihrer Mutter.

Die beiden Damen waren mit Handarbeiten beschäftigt, als Dina, einen Brief in der Hand bewegend, ins Zimmer stürmte. „Neuigkeiten!“ rief sie lustig, „das Allerneueste, und rathet nur, woher!“

Susanne war bei dem ungestümen Eintritt ihrer Schwester erschreckt zusammengefahren. Wie es jetzt oft geschah, waren ihre Gedanken weit abgeschweift von der zierlichen Spitzenarbeit, mit der sich ihre Hände mechanisch beschäftigten. Eine leichte Röthe flog über ihr bleiches Gesicht, während ihr Blick erwartungsvoll auf das Schreiben gerichtet war, das Dina mit geheimnißvoller Miene noch immer wie eine Fahne schwenkend emporhielt.

„Nun, woher denn?“ hub Frau Ericius an, „von Ingeborg Elbe – oder – von dem Grafen Snarre? Das sind ja die beiden Menschen, die Dich am lebhaftesten in Anspruch nehmen.“

„Von Ingeborg? – Nein! Die läßt, seit sie in Kopenhagen ist, selten etwas von sich hören! Auf zehn eingehende, ausführliche, höchst zärtliche Briefe von meiner Hand kommen kaum zwei von der ihrigen, aber –“

Hier entfaltete Dina ihren Brief und begann ihn den andern vorzulesen:

„Mein liebes verehrtes Fräulein!

Daß ich diesen Brief, an meinem Schreibtisch in Snarre sitzend, an Sie richte, wird zur Folge haben, daß eine Unmuthsfalte auf Ihrer schönen Stirn erscheint. Sie hatten ein Recht, zu erwarten, daß ich nach so langer Abwesenheit und bei unserm kameradschaftlichen Verhältniß zuerst Sie und die Ihrigen bei meiner Rückkehr begrüßen und auf dem Düsternbroker Weg vorsprechen würde. Aber kennen Sie den Wunsch, den Drang, das Beste sich bis zuletzt aufzusparen? So erklären Sie sich, ich bitte, abgesehen von einigen andern Gründen, mein Verhalten! Den ersten Brief aus Snarre jedoch empfangen Sie, und ich spreche die Wahrheit, wenn ich Ihnen sage, daß ich es kaum erwarten kann, mich wieder einmal anders als nur schriftlich von Ihnen necken und hänseln zu lassen. Sie erinnern sich, wie Sie mich verhöhnten, weil ich auf meiner Weltreise mich weder entschließen konnte, einen Elefanten, noch ein Dromedar zu besteigen. Ich füge hinzu, daß ich meinen Kopf darauf setzte, mich parisisch in Paris zu kleiden, daß ich, abgesehen von Ihnen und den Ihrigen, die Menschen im allgemeinen mittelmäßig erträglich und überhaupt das Dasein nicht sehr lebenswerth finde. Ich sende Ihnen zur Erhärtung meiner ersten Behauptung meine Photographie, und ich weiß, ohne zu sehen und zu hören, daß Sie alle Schalen Ihres Spottes über dieselbe ausgießen werden. Aber von Ihnen mag ich das! Nehmen Sie diese Erklärung, daß ich eine förmliche Sehnsucht danach habe, mich von Ihnen auslachen zu lassen. Wenn es der verehrten Familie Ericius genehm ist – und es würde mich das sehr glücklich machen – so erscheine ich in etwa acht Tagen und bringe Ihnen als Geschenk eine ausgestopfte Giraffe mit. Ich hoffe, daß Sie die Kleinigkeit annehmen und als Miniaturnippes auf Ihren Schreibtisch stellen werden. Immer in gleicher Verehrung und Bewunderung Ihrer [603] liebenswürdigen Eigenschaften, auch mit der Bitte, mich den Ihrigen aufs angelegentlichste zu empfehlen, bin ich

Ihr ergebener Tycho Snarre.“

„Furchtbar nett und lustig! Nicht wahr, Mama? Was sagst Du, Susanne?“ rief Dina nach Schluß der Vorlesung.

Susanne, die wie ein schönes, bleiches Madonnenbild dasaß, nickte sanft.

„Ja, Dina, Graf Snarre ist ein moderner Mensch mit all den guten Eigenschaften und Fehlern, die einmal zu einem solchen gehören. In erster Linie hat er trotz aller seiner Standesvorurtheile, seiner Selbstliebe und einer gewissen Unfertigkeit, die ihm stets anhaften wird, doch einen guten, ritterlichen Zug, und dieser hilft ihm und denen, die auf seinen Umgang und Verkehr angewiesen sind, immer über alles fort. Ich freue mich, daß Du ihn zum Freund gewonnen hast, vielleicht, und ich wünsche es Dir von Herzen –“ hier veränderte sich Susannens Gesicht und nahm einen liebenswürdig neckischen Ausdruck an – „wird er Dir bald noch etwas anderes und mehr sein!“

„Aber Susanne,“ eiferte Dina, nun ganz von Purpur übergossen. „Wie kannst Du nur so reden! Wenn der Graf Dich hörte, sein Standesgefühl müßte sich entsetzlich gekränkt fühlen. Ein Graf Esbern-Snarre kann mindestens auf eine Gräfin, wenn nicht auf eine Prinzessin Anspruch erheben, und Du glaubst, er könnte sich zu einer so kleinen Person, wie es Fräulein Dina Ericius ist, mit anderen als rein freundschaftlichen Absichten herablassen? Was würden seine hohen Ahnen dazu sagen! Es gäbe ja eine förmliche Revolution in ihren Gräbern, bis sie sich alle umgedreht hätten! Und weißt Du denn, ob das genannte Fräulein Ericius überhaupt geneigt wäre, ihre goldene Freiheit für eine neunzackige Grafenkrone hinzngeben? O, da kennst Du diese junge Dame doch sehr schlecht, sie hat auch ihren Stolz, und sie wird ihre bürgerliche Freiheit vertheidigen bis zum letzten Blutstropfen.“

Frau Ericius und Susanne lächelten über Dinas Rede, und namentlich die erstere sah ihre Tochter mit einem freundlichen Blick an.

In Dina schien sich Susanne noch einmal verjüngt zu haben, aber Dina war weniger wählerisch, als ihre Schwester es gewesen war, und, wenn auch bei geringerer Tiefe, liebenswürdiger und lebensfroher. Wie ein Sonnenstrahl glitt sie durchs Haus. Trat etwas Unliebsames an sie heran, wurde sie rasch damit fertig; mit unnöthigem Grübeln und Kopfhängen gab sie sich nicht ab. Gegenwärtig ward sie besonders durch ihre stillen Hoffnungen belebt. Wenn sie auch wie alle Liebenden Zweifel hegte, ob Graf Snarre ihr gleiche Empfindungen entgegenbringe, so that dies doch ihrem Glücksgefühl keinen Abbruch. Täuschte sie sich, so blieb Zeit genug, sich dem Schmerz dieser Enttäuschung hinzugeben. –

Kaum nach Verlauf einer Woche traf der von ihr ersehnte Brief des Grafen ein. „Ich komme morgen an und werde mir erlauben, Ihnen bereits mittags meinen Besuch zu machen. Vergessen Sie nicht, recht liebenswürdig zu sein gegen Ihren u. s. w.“ So lautete sein Inhalt.




14.

Inzwischen hatten sich in Limforden recht unliebsame Dinge zugetragen.

Am Tage der Abreise des Grafen von Snarre saß Alten mit tief herabgebeugtem Haupt in dem einstigen Arbeitszimmer seines Schwagers Tromholt und starrte finsteren Blickes vor sich hin. Er unterbrach erst sein stummes Grübeln, als Bianca, die ein wenig an Körperfülle zugenommen hatte, aber fast noch schöner geworden war und an diesem Tage besonders anziehend aussah, das Gemach betrat.

„Nun, mein armer Freund,“ hub sie an und legte, mit theilnehmendem Blick auf ihn zutretend, ihre Rechte auf sein Haupt. „Frißt noch immer der Aerger in Dir? Ich bitte Dich, wirf die Erinnerung an das Geschehene von Dir! Laß uns unser Augenmerk auf die Zukunft richten!“

Alten hörte, was seine Frau sprach, aber zunächst erwiderte er nichts.

„Ah, wie ich diesen hochmüthigen Aristokraten hasse!“ rief er dann plötzlich, sprang empor und maß mit aufgeregten Schritten das Zimmer. „Wie mir überhaupt die ganze Brut zuwider ist, obgleich ich – Gott sei’s geklagt – vermöge meiner Geburt zu ihr gehöre! Aber meine Voreltern erkannten das Merkmal des Adels in der Gesinnung. Vornehmes Denken und Handeln, Gerechtigkeit, Menschlichkeit war ihr Wahlspruch. Unter solchem Beispiel bin ich aufgewachsen. Diese Gesellschaft jedoch glaubt schon viel zu thun, wenn sie dem Bürgerlichen oder dem weniger gut gestellten Standesgenossen ein gezwungenes Lächeln schenkt. Nicht einen Augenblick kann ein solcher Mensch vergessen, daß er der hochgeborene Graf ist, nie kommt ihm auch nur der Gedanke, daß ein anderer ihm gleichwerthig oder gar mehr sein könnte als er. Ein ritterlicher Zug, sagst Du und sagen andere, soll in Snarre stecken? Ja, wenn man anbetend vor ihm im Staube liegt, wenn seiner Eitelkeit geschmeichelt wird, dann zeigt sich etwas Menschliches, Gutherziges in ihm; wenn sein schlauer Instinkt, nicht sein kleiner Verstand, es ihm räth, dann streut er Wohlthaten aus, aber nur – nur, um desto reichlicher zu ernten. Nein, nein, liebe Bianca, ein sehr gewöhnlicher Bursche ist er, fast ein Zwillingsbruder von Utzlar, nur stärker gefirnißt. Alles eine Sorte! Ich möchte mal sehen, wie er sich ausnähme, wenn er wie jener ein Habenichts wäre! Aber alle lassen sich von ihm blenden. Selbst Dein Bruder Richard –“

Hier unterbrach Bianca, die den Aufgeregten nicht durch Widerspruch hatte reizen wollen, ihren Mann und sagte milde: „Du irrst, Konrad! Richard sieht wohl des Grafen Schwächen, aber er rechnet mit ihnen, da er seiner eigenen gedenkt. Du aber übertreibst in Deinem Zorn. Snarre hat wirklich gute Eigenschaften, aber Ihr paßt einmal nicht für einander, und wo die Zuneigung fehlt, da nutzt es nichts, Pakte schließen zu wollen. Sei nicht böse, lieber Mann, aber Dein Benehmen war keineswegs besonnen, viel weniger weise. Snarre ist doch einmal Dein Vorgesetzter, und viel mehr hättest Du erreicht, wenn Du, statt so maßlos heftig zu werden, ruhig Deinen Standpunk erörtert hättest. Ich möchte den sehen, der solche Ausfälle gutwillig hinnähme und dessen Vorurtheilsfreiheit nicht durch solche Grobheiten getrübt würde. Du sagtest ihm fast dasselbe, was Du hier eben wie ein Feuer und Dampf ausspeiender Krater von Dir gestoßen hast. Ich bitte Dich, lieber Mann, konntest Du etwas anderes erwarten, als daß er Dir Deine Stellung kündigte? Ich gestehe, ich muß seine Mäßigung bewundern, die bewirke, daß er trotz seiner Empörung nicht mehr sagte als: ‚Sie wissen in Ihrem Zorne nicht, was Sie sprechen. Dem trage ich Rechnung und will mich als Entgegnung nur auf die Erklärung beschränken, daß ich unsern Vertrag als gelöst ansehe. Das Nähere wird Ihnen von Schloß Snarre aus zugefertigt werden!‘“

„Ja! Ja! Von Schloß Snarre aus zugefertigt werden!“ wiederholte Alten mit dunkelrothem Kopf, statt auf seiner Frau verständige Reden einzulenken. „Das ist ja eben jenes empörende Vonobenherab. O, es tut mir leid, daß ich ihm meine Ansicht nicht noch viel deutlicher gesagt habe!“

„Konrad, Konrad!?“ rief Bianca kopfschüttelnd. „Wenn ich Dich nicht kennte, wenn ich nicht wüßte, daß Du bei ruhigem Nachdenken stets gerecht und vorurtheilsfrei bist, ich könnte an Dir zweifeln. Was Du ihm ins Gesicht schleudertest, konnte jemand, der Ehrgefühl besitzt, nicht ruhig hinnehmen, und deshalb fand ich in des Grafen Haltung eine gewisse Hoheit. Er trug den Umständen Rechnung, er blieb dessen eingedenk, daß er Dich gereizt hatte, daß Du erregt warst, nicht wußtest, was Du sprachst – er nahm Rücksicht auf mich – kurz, er beherrschte sich, obgleich er vor Erregung bebte und Blässe sein Angesicht bedeckte. Sich beherrschen aber heißt, ein Mann sein. Darum ist Richard ein Mann, und Du wärest ihm in allem gleich, wenn Du Dich bezähmen gelernt hättest und Dich gewöhnen könntest, wie er die Dinge mit dem Auge des Philosophen anzusehen. Ich bitte Dich, zürne mir nicht, Konrad, daß ich so zu Dir rede. Es ist die Liebe, die aus mir spricht. Laß uns sinnen, wie wir jetzt unser Leben einrichten! Das erste wird sein, daß Du nach Kopenhagen reisest und mit Richard Dich beredest.“

Diesmal erwiderte Alten nichts. Er stellte sich ans Fenster und schaute stumm hinaus. Eben fuhren zahlreiche Wagen mit frisch geschnittenen Brettern und Bohlen vorüber. Sie kamen von den Dampfsägen und nahmen den Weg nach der Eisenbahnstation, damit ihr Inhalt von dort nach südlichen Plätzen verladen werde.

Alten beneidete in seiner gedrückten Seelenstimmung die Arbeiter um ihr Loos. Wenig Ansprüche erheben, wenig Bedürfnisse haben, hieß glücklich sein! Reue saß in seinem Herzen, schwere Sorgen reckten ihr Haupt empor, und alles, alles schien ihm schwarz und dunkel, jetzt und in der Zukunft. – –

[604] Während sich Alten in solcher Weise in seinen Unmuth verbiß, verlebte Graf Snarre sehr vergnügte Tage in Kiel. Man hatte ihn wie einen lieben, langjährigen Freund im Ericiusschen Hause empfangen, und es schien ganz selbstverständlich, daß er schon vom zweiten Frühstück an sich nicht mehr von der Familie trennte. Frau Ericius begünstigte, theils aus wirklicher Vorliebe für Snarres Person, theils auch von dem Wunsche beseelt, einen so überaus angesehenen Mann als Schwiegersohn für ihre Tochter zu gewinnen, seine Neigung für Dina, und auch Susanne, so sehr sie die mögliche Trennung von ihrer Schwester bedauerte, hatte keinen lebhafteren Wunsch als eine Vereinigung beider. Eine offene Unterredung mit dem Grafen hatte ihr Verhältniß gleich am ersten Tage geklärt und die Gefühle freundschaftlichen Vertrauens in ihnen von neuem befestigt. Die alte Wahrheit, daß durch mündlichen Austausch die Herzen sich am besten aufschließen, hatte hier wieder ihre Bestätigung gefunden.

Wohl hatte sich bei seiner erneuten Begegnung mit der schönen Frau, die einst, wenn auch nur kurze Zeit, eine so große Rolle in seinem Leben gespielt hatte, in des Grafen Brust die verletzte Eitelkeit wieder geregt; es war wie das Zucken einer alten, lang vernarbten Wunde, die sich unter bestimmten Witterungseinflüssen wieder fühlbar macht. Selbst einer leichten Verlegenheit vermochte der Weltgewandte nicht ganz Herr zu werden. Sie aber, wohl ahnend, was in ihm vorging, kam ihm mit so unbefangenem, herzlichem Vertrauen entgegen, daß seine erste bittere Empfindung bald den Gefühlen aufrichtiger, freundschaftlicher Theilnahme und wunschloser Bewunderung Platz machte.

Es war ein tiefer Blick, den sie ihn in ihr Gemüthsleben thun ließ, in die Vergangenheit, die wie eine lange Reihe schwerer, selbstverschuldeter Irrthümer hinter ihr lag, deren Folgen sie nun tragen mußte, so gut es eben ging. Blind, nur dem Gesetz ihrer Laune folgend, war sie an dem Glück, wo es sich ihr in seiner reinsten und edelsten Verkörperung darbot, achtlos vorbeigegangen, ja sie hatte es trotzig beiseite gestoßen, um einem Idol nachzujagen, das sich, wie sie es erhascht hatte, als ein schillerndes Nichts entpuppte; und auch dann noch, als sie es in seiner Nichtigkeit erkannt, hatte sie sich aus Trotz und Eigensinn daran geklammert, unbekümmert um die warnende Stimme in der eigenen Brust, um das Weh, das sie sich selbst und andern damit bereitete, bis ihr endlich die Enttäuschung die Augen öffnete, da es zu spät war. Zu spät – einen Augenblick hatte sie es selbst kaum zu fassen vermocht, sie hatte gehofft, es müsse sich das Unrecht, das sie andern zugefügt, wieder gut machen lassen, aber es war zu spät, und das war die letzte, schmerzlichste Enttäuschung. Das Glück, das sie einst verschmäht hatte, dessen vollen Werth sie jetzt erst erkannte, das höchste Glück, das einem Weib bestimmt ist, ihr war es auf ewig verloren, sie hatte keinen Anspruch mehr darauf.

Sie war wieder frei, das war das einzige, was sie noch hatte erreichen können, und vor ihr lag die Zukunft nicht grau und trüb, nein, freundlich klar wie eine Herbstlandschaft mit sanft abgetöntem Licht, das die Augen nicht blendet, sondern nur um so deutlicher die Ziele erkennen läßt, denen man zustrebt.

„Eine Sühne der Vergangenheit,“ so schloß Susanne, „soll diese Zukunft für mich sein. Was nützen Reue und Selbstvorwürfe? Sie bringen das Verlorene nicht zurück. Aber im freudigen, selbstlosen Wirken und Sorgen für das Wohl anderer liegt eine Quelle der Zufriedenheit, jenes wunschlosen Glückes, das keine Enttäuschung kennt. Mir diese Quelle immer voller und reicher zu erschließen, das, Herr Graf, ist fortan mein Beruf. Es ist ein schöner, edler Beruf, und wenn Sie mich darin unterstützen wollen, so reichen Sie mir die Hand zu einem Bund uneigennütziger Freundschaft.“

„Gern und von ganzem Herzen!“ rief Snarre, indem er Susannens Hand ergriff und gerührt an die Lippen zog.

Der letzte Rest kleinlicher Eitelkeit schwand vor dieser Entsagungskraft, die er bewunderte, beneidete, ohne sich je zu ihr aufschwingen zu können. Ein Gefühl der Beschämung überkam ihn bei ihren Worten wie jüngst in Kopenhagen als er vor Tromholt stand. Tromholt – sollte er es sein, um den sie trauerte, den sie verschmäht und zu spät erst in seinem wahren Werth erkannt hatte, sollte er das verkörperte Glück sein das sie beiseite gestoßen? – Ja, es war kein Zweifel, Tromholt allein wäre dieser Frau würdig gewesen, er war ein Nebenbuhler, vor dem selbst ein Graf Snarre neidlos zurücktreten mußte. Ihn verkannt zu haben, das war freilich ein Irrthum, der einer großen Sühne werth war.

So dachte Snarre in diesem Augenblick, aber das Eintreten Dinas unterbrach seine Grübeleien, und da nun Susanne mit freundlichem Kopfnicken, als sei sie durch eine Beschäftigung abgerufen, das Gemach verließ, war ihm die Unterhaltung des liebenswürdigen Mädchens um so willkommener, als er sich nicht gerne allzulange dem für ihn demüthigenden Eindruck so ernster Gespräche wie das eben geführte hingab, sondern seinem ganzen Wesen nach einer leichteren Lebensauffassung zuneigte.

Dina stand noch unter dem Eindruck, den die kostbaren Geschenke auf sie gemacht hatten, welche Graf Snarre ihr mitgebracht.

„Zunächst, liebster Herr Graf, muß ich eine Weile Ihnen in stummem Danke gegenübersitzen,“ hub sie scherzend, aber doch in einem Tone, der ihre freudige Rührung nicht verbarg, an. „Bitte, hier – wenn’s Ihnen gefällig ist. Ich liebe so sehr den Blick auf den Hafen, auf die Ufer und die Kriegsschiffe – und ich weiß, Sie mögen auch den Erkerplatz am offenen Fenster – oder wünschen Ew. Erlaucht lieber in den Garten zu gehen und dort mit der kleinen bürgerlichen Ericius zu plauden?“

Snarre lachte und schüttelte den Kopf. „Darf ich fragen,“ entgegnete er, „was Sie so stumm macht, ohne daß man etwas davon bemerkt, was Sie so bewegt und wofür Sie mir eigentlich danken? Sind’s die Kleinigkeiten, die ich Ihnen mitgebracht habe?“

„Kleinigkeiten? Das Pantherfell, das chinesische Schachspiel, der Federfächer, der indische Schmuck, die seidenen Stoffe und so weiter und so weiter? Es ist wirklich, als ob Sie beabsichtigt hätten, einen Bazar im Ericiusschen Hause zu veranstalten! – Aber nun ernsthaft, Erlaucht“ – hier streckte Dina mit einem bezaubernden Ausdruck Snarre die Hand entgegen – „ich danke Ihnen tausendmal, ich habe mich ganz unbeschreiblich über die Sachen gefreut! Es ist wahrlich zu viel, Sie haben mich durch Ihre Güte tief beschämt.“

„Wenn ich Ihnen wirklich eine Freude bereitet habe, dann ist der Zweck erreicht,“ erwiderte der Graf, bescheiden ihrem Danke ausweichend. „Und wissen Sie wohl,“ fuhr er fort, „daß kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht das dringende Bedürfniß hatte, mich mit Ihnen zu beschäftigen?“

„Nein!“ entgegnete Dina kurz und mit drolligem Ernst.

„Nein?! Sie zweifeln?“

„Ja! Sie bilden es sich vielleicht ein, aber offen gesprochen, ich vermag es schon deshalb nicht zu glauben, weil Sie mir wenig Beweise dafür gegeben haben. Alle zwei Monate haben Sie einmal geschrieben. ‚Ach, da fällt mir ein, ich muß der kleinen Ericius doch ein paar Worte gönnen!‘ dachten Sie, und wirklich stand auf dem Papier häufig nichts anderes als: ‚Todmüde, zerstochen von Moskitos, verhungert wie eine Kirchenmaus, verdurstet wie ein versiegter Brunnen, kann ich Ihnen heute nur einen herzlichen Gruß senden. Nächstens Ausführlicheres von Ihrem ergebenen Graf Snarre.‘ Aber Ausführlicheres kam nicht; nicht ein Wort über die schönen Gegenden, die Sie durchreist, die merkwürdigen Bekanntschaften, die Sie gemacht haben. Und das nennen Sie: sich mit jemand beschäftigen, Erlaucht?“

„Bevor ich Ihnen, meine vortreffliche und verehrte kleine Dame, genannt Fräulein Dina Ericius, antworte, gestatten Sie mir die Frage, weshalb Sie mich stets ‚Erlaucht‘ nennen? Warum nennen Sie mich nicht schlichtweg Snarre, und –“

„Es geht nicht, Herr Graf!“

„Es geht nicht? Weshalb – wenn ich fragen darf?“

„Weil es unser schönes, freundliches Verhältniß stören würde. Seien Sie aufrichtig, Erlaucht, Sie hören ihn ja so gern, diesen Titel, sind stolz darauf, und offen gestanden, dieser Stolz gefällt mir ganz gut an Ihnen. Alle Vertraulichkeit in Ehren, aber die Etikette darf man bei Ihnen nie ganz vernachlässigen, wenn man sich Ihre Freundschaft erhalten will. Sie sind der Mann mit den angeborenen Kammerherrnschlüsselallüren. Ich bin sicher, Sie würden selbst dem Tod im letzten Augenblick mit der ausnehmendsten Höflichkeit begegnen und ihm zurufen: ‚Gestatten Sie, Herr von Klapperbein, bevor Sie mir daß Lebenslicht ausblasen, gütigst, daß ich noch das letzte Tüpfelchen in meinem Testament auf ein i setze. Ich stehe dann gleich ganz und mit größtem Vergnügen zu Ihren Diensten!‘ Würde dann der Tod erwidern: ‚Bitte ganz gehorsamst, Herr Graf! Wollen Herr Graf durchaus nach Belieben verfahren!‘ so würden Sie sich aus [605] Rücksicht sogar beeilen, mit Ihrem i-Punkt fertig zu werden und ihm in die Unterwelt zu folgen. Wehe aber, wenn der Sensenmann Ihnen zurufen würde. ‚Keine Redensarten, vorwärts!’ Dann würden Sie noch im letzten Todeskampf sich emporrichten und mit hochmütig zugekniffenen Augen, gerümpfter Nase und schnarrender Stimme ihm entgegnen: ‚Sie scheinen zu vergessen, Herr, Herr - wie heißen Sie doch gleich, Sie mit der Rippenweste? - daß Sie die Ehre haben, mit Sr. Erlaucht, dem Grafen Esbern-Snarre auf Snarre zu sprechen. Ich muß sehr bitten!’ Und der Tod, sich besinnend würde unterthänigst die Knieknochen zusammenschlagen, sich verneigen und eine Entschuldigung stammeln – das heißt, wenn nach Ihrem Willen und Ihren Anschauungen ginge, Herr Graf!“

Snarre lachte laut auf und sah dem schelmisch plaudernden und ihn nicht unrichtig kennzeichnenden Mädchen wohlgefällig in die Augen. Er mochte ihre Art gar zu gern, und so sehr ihm Susannens Ernst gefallen hatte, so fand er das neckische Wesen dieses frischen Naturkindes doch viel anziehender.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 20, S. 624–636

[624] Als Graf Snarre am Abend dieses Tages in seinen Gasthof zurückgekehrt war und sich zu Bett begeben hatte, vermochte er nicht gleich einzuschlafen. Dinas Bild drängte sich in seine Gedanken, und er ging ernsthaft mit sich zu Rathe, ob er nicht gleich am andern Morgen bei Frau Ericius um die Hand ihrer jüngeren Tochter anhalten sollte. Es war bei einem Manne wie Snarre natürlich, daß er trotz seiner starken Leidenschaft noch einmal alles, was für und gegen diese Verbindung sprach, in kühle Ueberlegung zog. Eine Bürgerliche zu heirathen, war ihm im Grunde genommen keineswegs erwünscht. Er fürchtete zwar nicht, daß die Welt es an schuldiger Achtung vor seiner Gemahlin fehlen lassen würde, aber die meisten seiner Standesgenossen würden sich doch stets erinnern, daß die Gräfin Esbern-Snarre eine Ericius gewesen. Snarre würde vermöge seines Reichthums und seines Namens sogar ein Recht gehabt haben, die Hand nach einer Dame fürstlichen Geblüts auszustrecken. Der Verkehr mit dem Hofe würde ihm sicher bei einer Ehe mit Dina abgeschnitten, ein solcher in seinen Kreisen mindestens erschwert werden. Daß Dinas Mutter altem schleswig-holsteinischen Adel entstammte, glich den Mangel nicht aus. Dinas Jugend und Schönheit blieben die einzigen Anziehungspunkte. – Aber wollte er denn, fragte sich Snarre wieder, eine Heirath um anderer willen schließen, oder sich um seiner selbst willen vermählen?

Das Endergebniß aller seiner Ueberlegungen lief doch darauf hinaus, daß er Ernst machen wollte, wenigstens in dem Augenblicke konnte er sich nicht denken, daß er ohne dieses kluge und liebenswürdige Geschöpf würde leben können. Fade, unbedeutend erschienen ihm alle anderen jungen Damen seiner Bekanntschaft. Es waren Marionetten in seinen Augen, nichts anderes. –

Auf den folgenden Tag war ein großes Fest beim Oberpräsidenten angesagt, und auch Snarre, der diesem und einigen andern hervorragenden Persönlichkeiten der Stadt seinen Besuch gemacht hatte, war dazu geladen.

„Ich freue mich,“ begann Dina nach Tisch, „daß wir heute abend etwas Abwechslung haben. Ich werde mich sehr schön mit den herrlichen Blumen ausnehmen, die Sie die Freundlichkeit hatten, mir zu senden. Ist es wirklich möglich, dergleichen in Kiel zu erhalten?“

„Nicht in Kiel, meine liebenswürdige und genügsame Freundin, sondern in Berlin,“ entgegnete Snarre lächelnd.

„Ja, natürlich, das hätte ich mir selbst sagen können! Sie müssen immer einen besonderen Zauberstab in Bewegung setzen, Erlaucht. Wie glücklich muß man sein, stets ein Tischchen deck’ dich! mit sich in der Westentasche herumzutragen!“

„Jedenfalls recht beschwerlich, wenn zutreffend,“ entgegnete Snarre launig. „Aber ich muß doch beides bestreiten.“

„Beides bestreiten? Ich bitte! Ich verstehe nicht –“

„Erstens, daß ich einen Zauberstab überhaupt besäße, und ferner, daß mich sein Besitz besonders glücklich machte. Wir Art Menschen sind etwas abgestumpft, so sehr wir uns gegen diese Erkenntniß sträuben. Sie freuen sich zum Beispiel auf die Gesellschaft beim Oberpräsidenten, ich empfinde solche Einladungen als eine Last.“

„Jawohl, weil Sie zu viel verlangen, weil Sie ohne besondere Beachtung sich nicht behaglich fühlen. Ihnen, Erlaucht, müßte einmal etwas wirklich Schweres in den Weg treten. In die stille Wasserfläche Ihres Glückes müßte ein Stein hineinfallen, damit Sie den Gegensatz kennenlernten.“

„Glauben Sie, ich erhöbe mich nur morgens von meinem Lager, um aus den Händen festlich geschmückter Pagen Geschenke der Glücksgötter entgegenzunehmen? Sie irren! Augenblicklich beschäftigt mich zum Beispiel eine Angelegenheit in sehr ernsthafter Weise. Ich finde gar keinen Ausweg.“

„Schlagen Sie das Auskunftslexikon für alle Stände in zwanzig Bänden, herausgegeben von Dina Ericius, unverehelichter Bürgerstochter, auf, da wird Ihnen Antwort.“

[626] Snarre lachte. „Gut, helfen Sie mir die Limforder Werke verkaufen. Die sind es, die mir Alpdrücken machen. Ich habe nichts als Unannehmlichkeiten davon – verzeihen Sie, das bedeutet keinerlei Vorwürfe gegen die einstigen Besitzer – und jetzt, da Herr von Alten mich verlassen wird, bin ich erst recht rathlos!“

„Herr von Alten wird Sie verlassen? Mag er nicht mehr auf Limforden sein?“ stieß Dina mit naiver Lebhaftigkeit heraus.

„Er mag wohl, aber ich mag ihn nicht!“ warf Snarre etwas hochmüthig hin.

„Haben Sie Unfrieden gehabt?“

„Allerdings!“

„Dann sind Erlaucht sicher der schuldigere Theil! – Bitte um Verzeihung für diese unbescheidene Rede –“ fügte Dina rasch hinzu, als sie sah, daß Snarre ihre Worte durchaus nicht so gutgelaunt aufnahm, wie sie es erwartet hatte. Snarre vermochte in der That eine leichte Verstimmung nicht zu beherrschen und sagte etwas schroff:

„Weshalb, meine schöne Gnädige, nehmen Sie ohne weiteres, ohne Einblick in die Verhältnisse an, daß ich der Schuldigere bin? Sie scheinen wirklich zu glauben, ich besäße nur eine gewisse äußerliche Wohlerzogenheit und wollte in Wirklichkeit nichts von der Morallehre wissen, die uns vorschreibt, unseren Nebenmenschen auch menschlich zu begegnen!“

„O nein, Erlaucht. Aber da Sie meine scherzhafte Aeußerung so ernsthaft nehmen, so gestatten Sie mir, ernsthaft darauf zu antworten. Mir stehen ja keine erheblichen Erfahrungen zur Seite, aber die Natur gab mir, glaube ich, gesunden Blick und Einsicht genug in das, was sich mir im Leben entgegengestellt hat. Wenn ich sagte, Sie seien schuld, so war es nur in dem Sinn gemeint, als ich überzeugt bin, daß nicht die geschäftlichen Angelegenheiten allein zu einem Zerwürfniß Veranlassung gaben, sondern daß Alten durch die überlegene Art verletzt worden ist, mit der Sie ihm begegneten. Einen Tadel ohne diese Beimischung hätte er ruhig hingenommen!“

Snarre sah mit Erstaunen auf das kleine Mädchen, das in so wohlgesetzter Rede ihn abermals so richtig schilderte. Aber diesmal war er nicht verletzt, ja, seine an Gereiztheit streifende Empfindlichkeit war verschwunden. Er fühlte, daß Dina einen guten Einfluß auf ihn auszuüben vermöge, und er lehnte sich keineswegs dagegen auf, von ihr eine Zurechtweisung zu empfangen, sich durch sie zu veredeln. Die Wendung des Gespräches gab ihm auch Veranlassung zu einem raschen Entschluß. Ohne Besinnen sah er Dina mit festem, warmem Blick ins Auge und sagte: „Fräulein Dina, beantworten Sie mir einmal aufrichtig eine Frage: Sind Sie mir ein wenig gut?“

Sie sah ihn ruhig und mit treuherzigem Blick an. „Ja,“ entgegnete sie dann. „Ich bin Ihnen gut, aber nicht dem Grafen Esbern-Snarre, Erlaucht, wie er sich auf den Pariser Photographien zeigt.“

Nach diesen Worten verbeugte sie sich mit einer die Peinlichkeit des Gespräches glücklich aufhebenden neckischen Grandezza und – huschte aus dem Zimmer.

Snarre aber schaute ihr nach und bewegte sinnend den Kopf. „Ja, liebt mich nun das verteufelte kleine Frauenzimmer, oder – oder – liebt sie mich nicht? Der Kuckuck werde aus den Frauen klug!“ murmelte er. –

Die Gesellschaft beim Oberpräsidenten machte ihn nicht klüger in dieser Frage. Wie immer bei solchen amtlichen Festlichkeiten, zu denen fast nur die Spitzen der Behörden geladen sind und bei denen jeder peinlich darauf bedacht ist, seiner Würde nichts zu vergeben, ging es auch hier ziemlich steif und langweilig her. Dem Grafen war zudem, als dem vornehmsten der Gäste, die Ehre zu Theil geworden, die Dame des Hauses zu Tisch zu führen, und so war er gerade während des Mahles, also während desjenigen Theils des Festes, der am leichtesten die Gemüther etwas auftauen und sie den Zwang der vorgeschriebenen Förmlichkeiten abstreifen läßt, von Dina, die sich in einem Kreis junger Offiziere herrlich zu unterhalten schien, getrennt.

Vergebens suchte er aus der Ferne auch nur einen freundlichen Blick zu erhaschen; Dina schien, ganz der Unterhaltung mit ihren Nachbarn hingegeben, seine Anwesenheit völlig vergessen zu haben, und als die Tafel endlich aufgehoben wurde, entschwand sie ihm in den Wogen des Tanzes, während er sich mit der Präsidentin an einem Whisttisch niederließ.

Als es ihm später gelang, der Entschwundenen doch noch habhaft zu werden, machte er ihr aus seiner Verstimmung über ihre Gleichgültigkeit kein Hehl. Wie erstaunte er aber, als ihn die großen Kinderaugen, die sonst so fröhliche Blitze schossen, mit einem Ernst ansahen, den er ihnen nie zugetraut hätte! Und wie ganz anders klang die Stimme, als sie ihm antwortete:

„Sie fragten mich heute nachmittag, ob ich Ihnen gut sei, Herr Graf! Ich erwiderte mit einem ‚Ja‘. Da sprach aus Ihnen der Mensch, nicht der Graf Snarre, der als selbstverständlich annimmt, daß er stets siegen muß, wenn er darauf ausgeht. War diese ehrliche Antwort nicht genügend? Hundert Augen beobachten uns, die nichts lieber erspähen möchten als etwas Häßliches, mit ihren Voraussetzungen sich Deckendes, also in diesem Falle: Graf Snarre ist täglicher Gast im Ericiusschen Hause, und das hat doch etwas sehr Auffallendes und wirft doch ein sehr eigenthümliches Licht auf die Frau Ericius. Ja, Herr Graf, so urtheilen die Menschen, wir haben Beweise dafür! – War da ein Austausch von Blicken am Platze, ja, war es nicht weise gehandelt für alle, ich sage, alle Theile, daß ich that, wie geschehen? Sie können nichts einbüßen – Sie haben nichts zu verlieren, wohl aber die kleine Ericius. Und nun zürnen Sie mir nicht, daß ich das alles so offen gesagt habe, nicht wahr, lieber Herr Graf?“

„Zürnen? Nein, nein, mein liebes, theures Mädchen!“ rief Snarre fortgerissen. „Wahrlich, man kann bei Ihnen in die Schule gehen und lernen, viel lernen. Und sehen Sie, Ihr Takt, Ihre bescheidene und doch so große Klugheit, Ihr Freimuth und Ihre gerade Gesinnung, sie sind es ja, Fräulein Dina, die mich Sie neben all Ihren anderen Vorzügen so –“

Aber Dina unterbrach den Grafen und sah ihn freundlich bittend, ja sogar ein wenig ängstlich an. „Bitte nicht!“ stand in ihrem Auge geschrieben.

Zufällig trat in diesem Augenblick der Herr des Hauses auf Snarre zu, um sein Urtheil über eine Havanacigarre einzuholen, und so wurden sie ohnehin getrennt.




15.

Das große Schreibpult, vor dem Richard Tromholt in seinem Comptoir bei der Zollbude in Kopenhagen saß, war bedeckt mit Schriften, Briefen und Papieren, und in drei Nebenräumen sah man zahlreiche Arbeiter mit emsig kritzelnden Federn. Telegramme wurden gebracht und sofort beantwortet, Agenten und andere Geschäftsleute strömten aus und ein, im Flur stand die Thür nicht einen Augenblick still. Ein erstaunlich reges Hin und Her bis zur Börsenzeit!

Das Geschäft von Richard Tromholt blühte in ungewöhnlicher Weise. Daß ein Mann innerhalb weniger Jahre sich so emporzuschwingen verstanden hatte, gar ein fremder, überraschte selbst die sehr thätigen Geschäftsleute Kopenhagens. Nur ein Mensch, der mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet war, vermochte so rasch zu solchen Erfolgen zu gelangen.

Tromholt schickte sich, da er noch Geschäfte auswärts zu erledigen hatte, eben an, das Bureau zu verlassen, als ihn Graf Utzlar um eine Unterredung bitten ließ, die er ihm sofort gewährte. In dem Mann, der gleich darauf in gebeugter, sichtbar verlegener Haltung die Schwelle des Gemachs überschritt, hätte man wohl kaum den tollen Utzlar von einst wiedererkannt, so groß war die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Er war gealtert, viel mehr, als es die wenigen Jahre, die seit seiner Trennung von Susannen verflossen waren, erwarten ließen, sein Haupthaar hatte sich gelichtet, und der blonde Vollbart, der sein Gesicht umrahmte, war schon vielfach von grauen Fäden durchzogen. Aus diesem Gesicht aber hatte die Spur überstandener Leiden jeden Zug des früheren Hochmuths völlig verdrängt, ernst und wehmüthig blickten die blauen Augen in die Welt, die ihnen einst des Begehrenswerthen nicht genug zu bieten gehabt hatte. Dem Seelenkenner aber konnten trotz dieser Zeichen des äußeren Verfalls die Spuren einer sittlichen Erhebung nicht entgehen, welche die Erscheinung des Mannes in dem schlichten, aber von peinlichster Sauberkeit zeugenden Anzug veredelten.

Ueber die Schicksale, welche diese Wandlung vollbracht hatten, sind wir durch die Mittheilungen, welche Tromholt dem Grafen Snarre, als dieser sich nach Utzlar erkundigte, gemacht, im allgemeinen unterrichtet, doch bedarf sein Bericht einer Ergänzung.

[627] Nachdem seine Scheidung von Susanne Ericius gerichtlich vollzogen war, hatte Graf Utzlar, im Besitz der nicht unbedeutenden Abfindungssumme, die ihm der Prozeß eingetragen, zunächst das Leben in vollen Zügen genossen. Daß seine neuen Heirathspläne an der Zurückhaltung der adligen wie der bürgerlichen Gesellschaft scheiterten, machte ihm wenig Verdruß. An guten Freunden, die seine Orgien theilten, fehlte es ihm trotzdem nicht; warum sollte er, kaum erst von einem lästigen Joch befreit, sich gleich wieder an eine Kette, und wär’s auch eine goldene, schmieden? Dazu war’s noch Zeit, wenn seine Mittel zu Ende gingen. Wenn ihm die spießbürgerliche Gesellschaft hier den Rücken kehrte, was lag daran? Von ihr hatte er so wie so genug, die Welt war groß und die Menschheit nicht überall von so kleinlichen Vorurtheilen befangen wie im engeren Vaterland. Er ging auf Reisen, und bald sprach man an den glänzendsten Sammelpunkten internationaler Geselligkeit von der Verschwendung und den galanten Abenteuern des tollen deutschen Grafen. Die Heirathsgedanken hatte er darüber ganz vergessen, es war ja noch Zeit! Allein einem Leben, wie es Graf Utzlar führte, hätten auch weit bedeutendere Mittel als die, welche er besaß, auf die Dauer nicht genügt; um die immer größer werdenden Lücken zu decken, griff er zum Spiel. Eine Zeitlang gewährte sich dieses Auskunftsmittel aufs trefflichste, die Glücksgöttin zeigte sich ihm über die Maßen gewogen, um sich sodann, wie das ihre Gewohnheit ist, ebenso hartnäckig von ihm abzuwenden, als sie seiner allzu kühnen Werbung satt geworden war; und schneller, als er es je vermuthet, kam der Augenblick, wo Graf Utzlar bleich, mit nervös zuckenden Gesichtsmuskeln an dem grünen Tisch vor den letzten Banknoten stand und mit starrem Blick den Sprüngen der kleinen Kugel folgte, von welcher es abhing, ob er im nächsten Augenblick ein Bettler wurde.

Er war es schon geraume Zeit, als er noch immer in derselben Stellung verharrte. Die kleine Kugel hatte ihren Kreislauf unzählige Male begonnen und vollendet, und von ihren Launen hatte er jetzt, da er das grüne Tuch nur mehr mit gedachten Einsätzen belegte, nicht das geringste mehr zu befürchten. Der Croupier mußte ihn schließlich darauf aufmerksam machen, daß er in solch passiver Rolle den andern Spielern im Wege stehe. Schwankenden Schritts wie einer, der eben aus einem wüsten Traume erwacht ist, verließ er den Saal. Draußen begrüßte ihn das bunte, schwirrende Leben, seine Freunde und Freundinnen gingen oder fuhren in schimmernden Karossen an ihm vorüber, sie kannten ihn nicht oder grüßten ihn nur flüchtig; die er anreden wollte, wichen ihm aus.

Jetzt wäre es Zeit gewesen, aber jetzt war es zu spät. Der Graf hatte jetzt anderes zu thun, als ans Heirathen zu denken. Zunächst machte er alles, was er noch an Kostbarkeiten besaß – und es war nicht mehr viel – zu Geld, um dieses der kleinen Kugel, die lustig, unbarmherzig darüber wegsprang, in den Weg zu werfen. Dann dachte er ernstlich daran, allen ferneren Launen des Zufalls mittels einer anderen kleinen Kugel ein Ende zu machen. Er stand vor dem Laden eines Waffenhändlers, in den Anblick der dort ausgestellten Ware vertieft, als ihm ein älterer, sorgfältig gekleideter Herr, der ihm längst, ohne daß Utzlar es bemerkt hatte, gefolgt war, sachte von hinten auf die Schulter klopfte und dabei mit sanfter, flüsternder Stimme die Worte sprach: „Nicht hier, Herr Graf!“

Als Utzlar sich erschrocken umwandte, lüftete jener mit einer höflichen Verbeugung den Hut und fragte, indem er eine reich gefüllte Banknotentasche hervorzog, in derselben artigen Weise: „Mit welcher Summe kann ich Ihnen dienen?“

Utzlar, der, durch den Undank seiner Freunde verbittert, allen Glauben an die Uneigennützigkeit der Menschen verloren hatte, war von dieser Frage des ihm völlig Unbekannten aufs höchste überrascht. Die Todesgedanken, denen er sich eben noch hingegeben hatte, schwanden beim Anblick der gefüllten Börse wie Nebel vor der Sonne.

„Wie, Sie wollten?“ rief er freudig erstaunt.

„Unter einer Bedingung, Herr Graf!“ erwiderte der Fremde.

„Und die wäre?“ fragte Utzlar hastig. Er war im voraus bereit, jede zu erfüllen, die der Herr an ihn stellen würde, sofern er ihn nur instand setzte, den Kampf mit der kleinen Kugel aufs neue aufzunehmen.

„Daß Sie unverzüglich von hier abreisen, um zunächst wenigstens nicht wiederzukehren,“ war die nachdrücklich betonte Antwort des Unbekannten.

„Was berechtigt Sie, mein Herr, diese Forderung an mich zu stellen?“ brauste nun Graf Utzlar auf.

„Ihr eigener Vortheil, die genaueste Kenntniß Ihrer dermaligen Verhältnisse,“ erwiderte der andere, ohne sich im geringsten durch die Heftigkeit des Grafen beirren zu lassen. „Ich weiß, daß Sie keinen Franken mehr besitzen, noch von irgend welcher Seite in absehbarer Zeit einen nennenswerthen Zuschuß zu erwarten haben. Was wollen Sie hier, Herr Graf? Der Anblick des Spiels, an dem Sie sich zu betheiligen nicht mehr in der Lage sind, kann Sie nur aufregen und zu Entschlüssen führen, die ich aufs tiefste bedauern würde. Ein längerer Aufenthalt würde überdies unangenehme Auseinandersetzungen mit dem Wirth Ihres Gasthofs zur Folge haben, denen ich durch Bezahlung Ihrer Rechnung und Einlösung Ihrer Koffer vorzubeugen bereit bin, sofern Sie meinem wohlgemeinten Rath folgen wollen. Sie sind Fremder, Herr Graf, einer alten, hochangesehenen Familie entstammt, es kann Ihnen bei Ihren Beziehungen in der Heimath nicht schwer fallen, die Verlegenheit Ihrer augenblicklichen Lage zu überwinden, und wenn Sie in einer späteren Saison wiederkehren, um den jetzt so ungleichen Kampf gegen die Bank, deren Vertreter ich bin, mit neuen Kräften zu beginnen, so werden Sie mir für meinen guten Rath danken, und ich werde es vielleicht bereuen, Ihnen denselben gegeben zu haben. Was ich Ihnen sonst biete, ist, soweit es eben in unserer Macht steht, eine Entschädigung für die großen Summen, die Sie an uns verloren haben, zu gewähren. Und nun bitte ich Sie, mir das Ziel Ihrer Reise zu nennen, damit ich Ihr Gepäck rechtzeitig zur Bahn schaffen lassen und Ihnen das Billet lösen kann. Darf ich bitten, wohin?“

„Nach Berlin,“ erwiderte Utzlar; er wußte selbst nicht, warum gerade dorthin, er sagte es mehr aus einem unbewußten Triebe als aus Ueberlegung, er fühlte nur, daß jener Mann einen Einfluß auf ihn übte, ähnlich dem der kleinen Kugel, in deren Dienst er stand; daß er ihm unbedingt gehorchen müsse. Erst während der Fahrt kam er zum vollen beschämenden Bewußtsein dessen, was mit ihm vorgegangen war.

So kehrte Graf Utzlar in die Heimath zurück, und nun begann für ihn jener Kampf ums Dasein, der ihn nach verschiedenen Niederlagen nach Kopenhagen und als einen Hilfesuchenden zu Tromholt geführt hatte.

Aber – und das wußte zur Stunde selbst Tromholt nicht – die eigene Noth allein war es nicht, die Utzlar zu diesem für seine Besserung und sittliche Läuterung entscheidenden Schritt getrieben hatte.

Nach dem Zusammenbruch seines letzten Unternehmens suchte ihn ein schwerer Rückfall in jene Krankheit heim, die schon den Verlust seiner Stellung als Versicherungsagent herbeigeführt hatte und die im Grunde nur eine Folge des jähen Wechsels seiner Lebensverhältnisse gewesen war. Während er nun so im Spital lag und den Tod als eine Erlösung herbeisehnte, hatte sich ein mitleidiges Geschöpf seiner erbarmt und ihn durch treue, selbstlose Liebe und Pflege dem Leben wiedergegeben. Es war dies eine arme Nähterin, deren Bekanntschaft er in der ersten Zeit seines Aufenthalts in Kopenhagen gemacht hatte, die ihn liebte, aber seinen Bewerbungen, von deren Ehrlichkeit sie nicht überzeugt war, stets widerstanden hatte, und die nun, da er hilflos und von allen verlassen auf dem Krankenbett lag, nicht nur ihre Ersparnisse opferte, sondern auch ihren bisher unbescholtenen Ruf zu seiner Rettung in die Schanze schlug. Und als Graf Utzlar, nach schweren Fieberträumen zum ersten Male wieder zur Besinnung gelangt, die Augen aufschlug, da war das erste, was sein Blick traf, die Gestalt jenes Mädchens, die einem Schutzengel gleich, über sein Lager gebeugt, dasaß. Nicht anders erschien sie dem Kranken in den nun stets länger währenden Pausen, als das Fieber von ihm wich und er kraftlos, keines Wortes mächtig, ihre Gestalt vor sich sah. Wie ihm nun aber bei fortschreitender Genesung die ganze Größe des Opfers zum Bewußtsein kam, das Agnes ihm gebracht hatte, da durchdrang ihn, vielleicht zum ersten Male, das Gefühl einer Dankesschuld, die einzulösen fortan der einzige Zweck seines neugewonnenen Lebens sein sollte. Nun wußte er, daß dieses Leben eine Pflicht für ihn sei, und aus der anfangs nur flüchtigen Neigung wurde eine tiefe, starke Liebe.

Auf dieser Grundlage allein konnte sich eine so wesentliche Wandlung, wie sie mit Utzlar vorgegangen war, mit Gewähr für die Dauer vollziehen, und seine Liebe war es auch, die ihm den Gang zu Tromholt, den schwersten, den er je gethan, damals wie heute ermöglichte. Wozu ihn die eigene Noth nie vermocht hätte, das [628] vollbrachte die Sorge für eine andere, für Agnes, der er in ernster Stunde gelobt hatte, sie, sobald er nur eine auskömmliche Lebensstellung gefunden habe, vor Gott und den Menschen zu seiner Frau zu machen.

An der verzeihenden Großmuth Tromholts zweifelte Utzlar längst nicht mehr, und doch überwältigte ihn die einfache Art, mit der jener, den Dank ablehnend, seine Bitte erfüllt hatte. „Was ich für Sie thue,“ hatte Tromholt gesagt, „ist nicht mehr als eine natürliche Pflicht; ich reiche meinem Nächsten, den ich versinken sehe, die Hand, daß er sich daran emporrichte. Lassen wir das Vergangene vergangen sein! Wir Menschen sind nur zu oft das Ergebniß der Verhältnisse, in denen wir aufgewachsen sind, und erst durch mancherlei Prüfungen gelangen wir zu der Erkentniß unserer wahren Natur; dem einen kommt sie früher, dem andern später. Danken Sie mir dadurch, daß Sie Ihren Entschlüssen treu bleiben, und was in meiner Kraft steht, soll gern geschehen, Sie auf der betretenen Bahn weiter zu fördern.“

Von seinen Beziehungen zu Agnes, von seinen Heirathsabsichten hatte Utzlar damals nicht zu sprechen gewagt; die Stellung, die ihm Tromholt in seinem Geschäft anwies, schützte ihn zwar vor Noth, aber an eine Erfüllung seines Gelöbnisses konnte er vorläufig nicht denken, ja, er mußte sich gestehen, daß er als völliger Neuling in kaufmännischen Dingen der ihm übertragenen einfachen Arbeit beim redlichsten Willen kaum gewachsen sei. Immerhin aber mußte er befürchten, daß Tromholt, von anderer Seite über seine, Utzlars, Beziehungen zu dem Mädchen unterrichtet, sie in falschem Lichte ansehen werde. Darum hatte es ihn längst gedrängt, sich auch hierüber unumwunden mit seinem Prinzipal auszusprechen, und er hatte es bisher nur unterlassen, weil eben die Hoffnung auf Erfüllung seiner Wünsche eine so geringe war.

Nun aber bot sich ihm durch einen günstigen Zufall die Aussicht auf eine Stellung in seinem früheren Beruf. Durch die Admiralität war ihm ein Schreiben zugegangen des Inhalts, daß die japanische Regierung für ihre noch junge Kriegs-Marine tüchtige, mit der Technik unseres Seewesens vertraute Leute suche, wobei sie insbesondere auf solche Werth lege, die bereits in der deutschen Marine gedient und aus irgend welchem, ihre dienstliche Befähigung nicht beeinträchtigenden Grund ihren Abschied genommen hätten. Da Utzlar zu diesen gehöre, so werde ihm unter Mittheilung der näheren Bedingungen anheimgegeben, sich um eine der ausgeschriebenen Stellen zu bewerben, auch eintretenden Falles eine Empfehlung in Aussicht gestellt.

Graf Utzlar athmete auf, als er das Schreiben las, aber seine Freude erhielt eine starke Einschränkung, als er von den Bedingungen, von welchen die Anstellung abhängig gemacht war, Kenntniß nahm. Da stand in erster Linie, daß die Kosten der Ueberfahrt wie auch die der ersten Ausrüstung von dem Bewerber selbst zu tragen seien. Und das war es, woran alle Pläne, die Utzlar an dieses Schreiben geknüpft hatte, zu scheitern drohten, es sei denn, daß sich jemand fand, der ihm die nicht unbedeutende Summe vorstreckte.

Aber wer sollte das thun? Der Graf, der aus einer gänzlich unbemittelten Seitenlinie der Utzlars stammte, besaß auch nicht einen einzigen Verwandten, der, wär’s auch nur der Ehre des Namens wegen, das Opfer für ihn gebracht hätte. Mit seinen einstigen Freunden und Kameraden hatte er keinerlei Beziehungen mehr, auch wären sie, wenn je geneigt, kaum in der Lage gewesen, ihm zu helfen. Agnes’ Ersparnisse waren durch die Kosten der Krankheit und der darauf folgenden arbeitslosen Zeit verschlungen worden. Wohin er auch die Blicke richtete, er stand allein, niemand war, der ihm helfen konnte und wollte, als eben Tromholt, der Mann, den er am tiefsten gekränkt. „Was in meiner Kraft steht, Sie auf der betretenen Bahn weiter zu fördern, soll gern geschehen,“ hatte Tromholt gesagt, und die Worte gaben Utzlar den Muth, sich auch in dieser Angelegenheit, von der das Lebensglück zweier Menschen abhing, vertrauensvoll an Tromholt zu wenden.

So trug er ihm jetzt in offener Weise die Geschichte seiner Liebe und das Anliegen vor, das er auf dem Herzen hatte, und Tromholt, der erst nicht ohne Ueberraschung, dann mit wachsender Theilnahme seinen Worten zugehört, schließlich auch genaue Einsicht in die ihm vorgelegten Papiere genommen hatte, täuschte auch diesmal sein Vertrauen nicht.

„Ich will mir die Sache überlegen,“ sagte er, „auch noch Erkundigungen einziehen und Ihnen dann sobald wie nur möglich Näheres mittheilen. Ist alles in Wirklichkeit so, wie es sich hier auf dem Papier ausnimmt, so hoffe ich, daß der Entscheid günstig ausfallen wird.

Und noch eines, auch Ihre Braut möchte ich gern kennenlernen, Herr Graf, nicht als ob ich Ihrer Wahl mißtraute, sondern aus aufrichtiger Bewunderung für das treffliche Mädchen. Grüßen Sie, ich bitte, Fräulein Agnes von mir und bereiten Sie sie auf meinen Besuch vor! Wer ein solches Herz besitzt, der ist nicht arm.“

Nicht ohne Rührung hatte Tromholt die letzten Worte gesprochen, und als ob er sich dieser schämte, ging er nun plötzlich in den Geschäftston über, indem er, auf die Uhr blickend, fortfuhr: „Jetzt aber rufen mich dringende Pflichten, ich werde Ihre Angelegenheit darüber nicht vergessen, seien Sie gutes Muths! Wir sprechen bei nächster Gelegenheit mehr davon. Gott befohlen, Herr von Utzlar!“

Mit einem warmen Händedruck war Utzlar verabschiedet, ehe er noch seinem Dank anders als durch einige abgerissene Sätze Ausdruck zu verleihen vermocht hatte. Aber war es denn überhaupt möglich, in Worten auszudrücken, was in seiner Brust vorging? –




16.

Tromholt kehrte an diesem Abend nach Erledigung seiner Geschäfte nicht, wie es sonst seine Gewohnheit war, sogleich nach Haus zurück, sondern begab sich, nachdem er im Telegraphenamt noch einige Depeschen aufgegeben, auf den sogenannten Strandvei, einen sich an der Hafenbucht bis nach dem Badeort Klampenborg entlang ziehenden herrlichen Spazierweg. Er hatte das dringende Verlangen, nach langer Zeit einmal wieder frische Luft in vollen Zügen einzuathmen.

Es war ein wundervoller Abend, und der Anblick, der sich ihm bot, als er über das Gebiet des inneren Hafens hinausgekommen, war unbeschreiblich schön.

In tiefer, leuchtender Bläue lag das Meer vor ihm. Ein kräftiger Wind schuf auf der weiten Fläche in wechselnder Laune und in entzückender Mannigfaltigkeit schneeschäumende Wellen. Bald hoben sich nur ihre schaumbedeckten Köpfe, bald kamen sie mit ihren langgestreckten, silbernen Leibern breit herangerauscht, brachen sich mit murmelndem Getöse oder lösten sich – kraftloser als ihre Vorgänger – in der Fluth sanft auf. Rauschen und Singen, ruheloses Wandern, Werden, Wachsen und Vergehen, und über der großartigen Fläche mit ihren prachtvollen Farben der weit ausgespannte Himmel im reinsten, von dem Licht der Sonne durchflutheten Blau! Tromholt blieb stehen und lauschte der geheimnisvollen Musik der Wogen, die sich am Strande brachen. Stets dieselben räthselhaften Töne und doch dem Ohre immer wieder neu! Selbst den stärksten Anprall der See brachen die sandigen, hellschimmernden Ufer. Nun eben glaubte man, eine Riesenwelle müsse von dem Lande Besitz nehmen, es niedertauchen in das fröhliche, durchsichtige, schäumende Naß, aber die Erde, eben noch magnetisch die Fluth an ihre Brust ziehend, stieß sie im Augenblick ihres übermächtig jauchzenden Einzugs mit stolzer Ruhe von sich, und wie beschämt lösten sich die aus Millionen Tropfen bestehenden Gebilde, wichen mit gleichsam sich sanft unterordnender Ergebung zurück und machten, gebrochen in ihrer Kraft, neuen, brausend heranstürmenden Wassern Platz. Oft flogen weiße Meervögel kreischend vorüber oder tauchten ihre schneeigen Flügel in das auf- und abwogende Meer, und nun eben erschienen, einer Flottille gleichend, zahllose Segel in ungleichen Abständen auf der offenen See, ihrem Ziele zusteuernd. Schiffe aus aller Herren Ländern! Eine gewaltige Heerstraße von Dreimastern, Schonern, Kuttern und Dampfschiffen, deren schwarze Rauchfahnen zeitweilig die Linien des Horizonts verhüllten, erschloß sich dem Auge.

Endlich erinnerte sich Tromholt der Zeit und wandte sich wieder langsam der Stadt zu.

Der frische Athem der See hatte Lust und Sehnsucht in ihm geweckt. In rascher Reihenfolge lösten sich die Gedanken ab; Susannens Bild stieg vor ihm auf, Alten und Bianca winkten ihm, nach Limforden zu kommen, nach langer Zeit Wiedersehen zu feiern. Er beschloß auch, sich aufzumachen, einige Tage auf dem Lande zu bleiben, andere Eindrücke zu gewinnen, frische Kräfte zur Arbeit zu sammeln und wieder einmal von einem warmen Hauch der Liebe berührt zu werden.

[629] Unter den ihn beherrschenden Vorstellungen blieb Tromholt stehen, reckte sich und streckte die Arme aus wie ein Mensch, der nur in solcher Weise seiner starken Empfindungen Herr werden kann. Utzlars Erzählung hatte ihn seltsam weich gestimmt. War dieser bei all seiner Armuth nicht fast reicher als er, Tromholt, mit allem, was er erreicht hatte? Er hätte ihn beneiden können, wäre für dieses Gefühl überhaupt Raum in seiner Brust gewesen. In seinem Herzen brach’s auf. Alles, was er einst gewollt und ersehnt hatte, nahm wieder Gestalt an. Immer nur allein im Dienst der Arbeit und Pflichterfüllung zu sein, das lähmte!

Der Morgen brach täglich an, der Abend schloß ihm die Augen, ohne daß er für sein Gemüth und Herz etwas eingesammelt hatte. War das alleiniger Zweck und Inhalt des Lebens? Freilich, ein weibliches Geschöpf gab’s auch für ihn in Kopenhagen, das ihn zärtlich liebte, das schon zitterte, wenn es seine Schritte hörte, das kaum etwas anderes dachte, als ihn zu erfreuen, einen guten Blick von ihm zu erhaschen: Ingeborg Elbe. Aber er konnte diese Liebe nicht erwidern, wie sie’s verdiente, ja, er durfte sie, um unbefangen zu bleiben, nicht einmal bemerken. Nur zu wohlbekannt mit den Qualen, die mit einer starken Neigung verbunden sind, fühlte er mit ihr und mußte doch wie ein Ahnungsloser neben ihr einhergehen.

Ingeborg besaß im Grunde alles, was ein Weib einem Manne begehrenswert macht. Schön, edelgesinnt und tugendhaft, verband sie mit einem kräftigen Willen ein weiches Gemüth. Aber er liebte sie nicht mit jenem Gefühl, das nicht fragt nach den Gründen, das ein Weshalb nicht kennt, das sich dem andern Theil nach geheimnißvollen Gesetzen zuwendet wie die Welle dem Strande. In solcher Weise liebte er nur eine einzige, Susanne. Und diese Liebe war sein Verhängniß. Wie ein zweites Ich wohnte sie in seinem Inneren, und erst mit der Scheidestunde vom Leben, das wußte er, konnte die Erinnerung an sie ihm entschwinden. –

Als Tromholt die Stadt erreichte, war die Dämmerung bereits hereingebrochen, in dem engen Straßengewirr des Hafenviertels, durch das ihn sein Weg führte, war es dunkel und öde, die Laternen waren noch nicht angezündet, und nur aus den zahlreichen Matrosenkneipen und sonstigen Vergnügungslokalen niederen Schlags fiel hier und dort ein trüber Lichtschein auf das feuchte schlüpfrige Pflaster; schrille Musiklänge, dumpfes, hin und wieder mit helleren kreischenden Lauten vermischtes Stimmengebraus bekundeten, daß das wilde Treiben dort seinen Einzug gehalten. Die Luft war schwül und drückend, noch mit den widerlichen Mißdünsten des Tages durchsetzt, und Tromholt eilte umsomehr, aus dieser Atmosphäre herauszukommen, als die Stunde, da er zu Haus beim Abendbrot erwartet wurde, längst vorüber war und er von der Sorge, in die sein längeres Ausbleiben die empfindliche, leicht erregbare Ingeborg versetzen mußte, schädliche Folgen für deren Gesundheit befürchtete.

An den geöffneten Fenstern einer zur ebenen Erde gelegenen Taverne vorüberschreitend, hörte er sich plötzlich beim Namen rufen, und, unwillkürlich stillstehend, warf er einen Blick in das Innere des mit dichtem Tabaksqualm erfüllten Raumes. Bei der trüben Beleuchtung vermochte er jedoch nicht viel mehr als ein Durcheinander verschwommener Gestalten zu erkennen, von denen sich nur eine, die eines Seemanns in verlumptem Anzug mit rohem, aufgedunsenem Gesicht, deutlicher abhob. Der Mann schien eben von seinem Sitz aufgesprungen zu sein.

Einen Augenblick besann sich Tromholt, wo er diese Züge, die ihn mit überraschtem, drohendem Ausdruck anstarrten, schon gesehen haben könnte. Da ihm sein Gedächtniß jedoch nicht rasch genug den gewünschten Anhalt bot, so setzte er, überzeugt, sich getäuscht zu haben, seinen Weg fort, und seine vorauseilenden Gedanken beschäftigten sich wieder ausschließlich mit der seiner harrenden Ingeborg.

Er sah daher nicht und konnte auch nicht sehen, wie hinter ihm jene Gestalt vorsichtig auf die Straße heraustrat und, nachdem sie sich eine Weile scheu nach allen Seiten umgesehen hatte, dicht an die Häuser geschmiegt, schleichenden Gangs seinen hallenden Schritten folgte. Als Tromholt eben, den Weg zu kürzen, in eine noch engere und dunklere Seitengasse einbog, folgte ihm jener in raschem Lauf bis zur Ecke, um sodann wieder, lauernd wie ein zum Sprung bereites Raubthier, hinter ihm herzuschleichen.

Ohne eine Ahnung von seinem unheimlichen Verfolger zu haben, schritt Tromholt weiter, und schon war er am Ende der engen Gasse, an einer Stelle, wo dieselbe auf beiden Seiten von hohen, finsteren Mauern begrenzt wurde, angelangt, als plötzlich zwei starke Fäuste rücklings seine Kehle faßten und ihn, ehe er’s hindern konnte, zu Boden rissen.

[630] Der harte Aufschlag raubte ihm einen Augenblick die Besinnung, und wie er, zu sich kommend, aufspringen wollte, war es schon zu spät. Der andere hatte sich auf ihn gestürzt, ihm das Knie auf die Brust gestemmt und umschnürte ihm den Hals so fest, daß er zu ersticken vermeinte. Ueber ihm funkelten aus wuthverzerrtem Gesicht zwei Augen, die eher einem Tiger als einem Menschen anzugehören schienen.

„Larsen!“ stöhnte Tromholt, der nun seinen Gegner erkannte.

„Ja, Larsen!“ höhnte dieser. „Kennst Du mich noch? Hab’ Dich auch gleich wiedererkannt. Kein Wunder, wir sind ja alte Bekannte, schon von Mückern her, von meiner Hochzeit, haha! Mit dem Alten hab’ ich schon abgerechnet, heut ist’s an Dir! Hast mich wohl nicht so nah vermuhtet, dachtest, ich sei wohl aufgehoben drüben überm Ocean und Du könntest nun in Ruhe Deines Raubes genießen. Verrechnet, Bursche! Drüben war ich zwar, ja, aber ich hab’ meine Sache schlecht gemacht das letzte Mal, sieh, und das ließ mir keine Ruhe, das trieb mich wieder herüber. Jetzt mach ich’s besser; erst sollst Du’s erfahren und dann die Dirne, denn das ist sie durch Dich!“

„Mörder, feiger Meuchelmörder!“ kam es stoßweise aus Tromholts Brust. Nicht die Furcht vor dem Tod, aber die Schmach, wehrlos durch die Hand dieses Elenden, den er im offenen Kampf zerschmettert hätte, sterben zu müssen, die Sorge um Ingeborg, die er von dem selben Schicksal bedroht sah, war es, was ihn am meisten peinigte und ihn eine letzte verzweifelte Anstrengung machen ließ, sich den Händen Larsens zu entwinden. Allein es war vergebens, die zunehmende Athemnoth hatte die Kraft seiner Muskeln gelähmt, und schon hatte Larsen die Hand, in der ein Messer blitzte, zum tödlichen Stoß erhoben, als er plötzlich mit einem Wuthschrei von seinem Opfer abließ.

Aus dem Dunkel der Nacht war eine dritte Gestalt aufgetaucht, die seinen Arm bei Seite schlug und ihm das Messer zu entwinden suchte; gleichzeitig hörte man in der Ferne den Schritt einer Polizeipatrouille. Aber Larsens Wuth ließ ihn jede Vorsicht vergessen, er bedachte nicht, daß er es nunmehr mit zwei Gegnern zu thun hatte, und der Ausgang des Kampfes konnte nicht mehr zweifelhaft sein, da nun auch Tromholt, wieder im Vollbesitz seiner Kraft, seinem Retter zu Hilfe kam. Larsen wurde trotz seiner verzweifelten Gegenwehr entwaffnet, geknebelt und der inzwischen herbeigeeilten Wachmannschaft übergeben.

„Der Mensch,“ sagte Tromholt zu dem Führer derselben, „der mich hier hinterrücks in meuchelmörderischer Absicht überfallen hat, ist ein gefährlicher, von den deutschen Gerichten längst wegen Mordes verfolgter Verbrecher. Bringen Sie ihn zur Wache, ich werde selbst nachfolgen und meine Angaben dort niederlegen. Ohne das Dazwischentreten dieses Mannes wäre ich verloren gewesen, ihm allein verdanke ich mein Leben.“ Bei den letzten Worten wandte er sich an den unbekannten Retter, dessen Züge ihm die Dunkelheit bisher verborgen hatte.

„Wie! Sie sind es, Herr Tromholt?“ rief dieser, aus der Menschengruppe vortretend, die sich urplötzlich, man wußte kaum, woher sie gekommen war, an der Stelle versammelt hatte. „Wahrlich, dann war es kein Zufall, der mich hierher geführt hat, sondern die Vorsehung selbst!“

„Graf Utzlar, Sie?“ rief jetzt auch Tromholt, aufs höchste erstaunt.

Utzlar neigte das Haupt. „Ich kam von meiner Braut, wir hatten von der Zukunft gesprochen, in die mir Ihre heutigen Worte einen so hoffnungsreichen Ausblick eröffneten, und von Ihnen, unserem Wohltäter. Da, wie ich auf dem Heimweg an der Gasse vorbeikomme, höre ich ein Stöhnen wie von einem Sterbenden, ich eile zu der Stelle, von woher die Töne zu kommen scheinen, und – nun, Sie wissen das übrige. Ich hatte keine Ahnung, wem ich beisprang, nun aber weiß ich, daß ich das Werkzeug einer höheren Macht war, die meine Schritte lenkte.“

„Haben Sie Dank!“ sprach Tromholt, indem er ihm tief ergriffen die Hand drückte. „Aber, was ist Ihnen? Sie bluten, Sie sind verwundet?“

„O, nichts Erhebliches, ich muß mich wohl geschnitten haben, da ich dem Schurken das Messer entwand; es wird vorübergehen,“ meinte Utzlar, den Schmerz, den er jetzt erst empfand, gewaltsam beherrschend.

Aber Tromholt ließ sich dadurch nicht beruhigen. „Nein, nein,“ sagte er, „es ist eine starke Blutung.“ Und sich an die Umstehenden wendend, bat er den einen, einen Wagen, den andern, Wasser und Verbandzeug herbeizuschaffen. Alle drängten sich, seinem Wunsche nachzukommen, er selbst wusch Utzlar die Wunde aus und verband sie, so gut es eben ging; dann führte er ihn zu dem Wagen, der am andern Ende der Gasse bereit stand, fuhr mit ihm zu einem Wundarzt und von da zur Wohnung des Grafen. Erst als dieser, regelrecht verbunden und zwar stark fiebernd und durch den Blutverlust geschwächt, aber doch nach dem Ausspruch des Arztes außer jeder ernstlichen Gefahr im Bett lag, verließ er ihn, um zunächst Agnes, des Grafen Braut, in schonender Weise selbst von dem Vorgefallenen in Kenntniß zu setzen und dann auf der Polizeiwache die näheren Angaben bezüglich Larsens zu machen, der dort dumpf vor sich hinbrütend mit gefesselten Händen in einem Winkel hockte und jede Aussage verweigerte. Der höhere Beamte, der sich, von der Wichtigkeit des Fangs benachrichtigt, gleichfalls dort eingefunden hatte, befahl hiernach sofort die Abführung Larsens ist das Gerichtsgefängniß.

Als Tromholt endlich, nachdem alle diese Angelegenheiten erledigt waren, sich seiner Wohnung näherte, sah er schon von weitem Ingeborg am offenen Fenster, besorgt nach ihm ausspähend.

Da es bei Tromholts ungewöhnlichem Ordnungssinn bisher niemals vorgekommen war, daß er ohne Benachrichtigung oder Grundangabe sich verspätet hätte oder ausgeblieben wäre, hatte sich Ingeborg, deren Leben und Denken überhaupt nur auf ihn sich richtete, einer furchtbaren Unruhe hingegeben.

Im Geschäft, wohin sie das Mädchen geschickt hatte, wußte man weiter nichts, als daß der Chef sich wegen einer Schiffsladung, die morgen in aller Frühe gelöscht werden sollte, an den Hafen begeben habe, von dort aber nicht, wie es sonst seine Gewohnheit war, nach dem Bureau zurückgekehrt sei. Mit dem Hafen wie mit allem, was in irgend einer Beziehung zum Seemannsberuf stand, verbanden sich für Ingeborg die trübsten Vorstellungen. Noch immer tauchte zu bestimmten Zeiten die Schreckgestalt Larsens vor ihrer erregten Phantasie auf, sie hatte eine dunkle Angst, daß er wiederkehren würde, plötzlich, unerwartet, wenn er erführe, daß sie lebte, und von dort, von der See würde er kommen. Daß sein Haß Tromholt nicht weniger als ihr selbst galt, fühlte sie instinktiv, und sie zitterte für ihn mehr als für sich selbst. So wuchs denn ihre Angst von Stunde zu Stunde. So oft unten ein Schritt hallte, riß sie dem Gebot des Arztes und der beruhigenden Einsprache des Mädchens zum Trotz das Fenster auf und bog sich, ihre schwache Gesundheit dem schädlichen Einfluß der Nachtluft schonungslos preisgebend, weit hinaus, um zu sehen, ob er es sei. Dieser Zustand hatte sich nach wiederholten Enttäuschungen bis zum Fieberdelirium gesteigert, so daß das Mädchen sie fast mit Gewalt hindern mußte, das Haus zu verlassen und ihm, den sie bereits in seinem Blut schwimmen sah, zu Hilfe zu eilen.

Ueber all diese Vorgänge hatte Hansine, das Hausmädchen, Tromholt hastig unterrichtet, während er die Treppe emporstieg, und nun trat ihm auf dem Flur Ingeborg selbst, noch zitternd vor Erregung, mit glänzenden Augen und lebhaft gerötheten Wangen entgegen. Tromholt erkannte nur zu gut das Trügerische dieser blühenden Farben, und als Ingeborg nun sprachlos in überwallendem Gefühl seine Hände ergriff und ihn mit einem Blick anschaute, in dem die Freude, ihn wieder zu haben, noch mit der Angst um sein Leben kämpfte, da beruhigte er sie mit liebevollen Worten und drängte sie mit schonender Gewalt ins Zimmer, wo die Lampe auf dem gedeckten Tisch brannte und den freundlichen Eindruck stiller Häuslichkeit über den Raum verbreitete, der noch kurz vorher der Schauplatz so wilder Seelenkämpfe gewesen war.

Indem Tromholt an dem Tisch Platz nahm, überlegte er, ob es klug wäre, Ingeborg schon heute von dem Geschehenen in Kenntniß zu setzen, oder ob er damit nicht eine spätere Zeit abwarten sollte, wo ihre Nerven sich etwas beruhigt hätten. Aber während er sich noch auf eine Ausrede geschäftlicher Natur besann, bemerkte er, daß Ingeborg durch dieses Mittel nicht zu beruhigen sei, daß es vielmehr ihre Qual nur steigere. Obwohl er seinen Anzug sorgsam von allen Spuren des Kampfes gesäubert hatte, schien sie doch einen Theil des Vorgefallenen mittels jenes Ahnungsvermögens, das bei erregbaren Personen in ihrer Lage oft den Charakter des Hellsehens annimmt, zu errathen, ja, sie sagte es gerade heraus: „Sie sind ihm begegnet? Er ist da? O, ich wußt’ es ja, daß er kommen würde, der Elende! Er wird nicht [631] ruhen, bis er mich getödtet hat, mich und alle, die ich – die mich beschützen. O, sagen Sie, ob er Ihnen etwas angethan hat, dieser – – – Doch nein, Sie sind ja hier, sind gesund, unverletzt, Sie leben, und es war wohl nur meine thörichte Angst, die mich so Schreckliches ahnen ließ!“

Nun konnte auch Tromholt mit der Wahrheit nicht länger zurückhalten. „Nein, es war nicht thörichte Angst, Ingeborg.“ sagte er, „Sie haben das Richtige errathen. Larsen ist hier –“

Mit einem Aufschrei sprang Ingeborg empor, Tromholt aber drückte sie mit sanfter Gewalt auf den Stuhl zurück. „Er ist in Kopenhagen,“ wiederholte er, „aber sein Verhängniß hat ihn hierher geführt, Sie haben nichts mehr von ihm zu besorgen.“ Und nun erzählte er ihr das Nähere, wie ihn Larsen überfallen und wie er, durch Utzlar gerettet, den Verbrecher den Gerichten übergeben habe, deren Sorge es sein werde, ihn für alle Zukunft unschädlich zu machen.

Ingeborg hatte während dieser Erzählung mehrmals die Farbe gewechselt, und als Tromholt geendet hatte, da löste sich die Spannung ihres Gemüthes in einem heißen Thränenstrom. Laut schluchzend schnellte sie empor. „O mein Retter!“ rief sie. „Gott sei gepriesen, daß er Sie aus den Händen dieses Teufels befreit hat!“

Tromholt sprach tröstend auf die Erschütterte ein. „Beruhigen Sie sich, Ihre Gesundheit ist solchen Aufregungen nicht gewachsen. Sie schaden sich, Ingeborg, und ich verdiene nicht solch überschwänglichen Dank.“

Er zog die Widerstrebende empor, sie schwankte, er mußte den Arm um sie schlingen, einen Augenblick ruhte sie an seiner Brust, und ihr feuchtes Auge tauchte sich, jetzt von fast überirdischem Glanz erfüllt, tief in das seine.

„Nein, nein,“ flüsterte sie mit gebrochener Stimme. „Und wenn ich daran sterben müßte, ich bin so glücklich – so glücklich –“

Ein jäher Hustenanfall erschütterte den zarten Körper, kraftlos und todesbleich sank das Haupt zurück. Tromholt rief erschreckt nach Hansine, er selbst trug die Kranke auf den Armen nach ihrem Lager, der Arzt mußte gerufen werden, er befürchtete einen Blutsturz, und die ganze Nacht saß Tromholt im Nebengemach, angstvoll den schweren Erstickungsanfällen lauschend, von denen Ingeborg heimgesucht wurde und die jeden Augenblick das Schlimmste befürchten ließen. Erst gegen Morgen trat eine leichte Besserung ein, und nun suchte auch Tromholt die Ruhe auf, deren er nach den vorhergegangenen Geschehnissen so bedürftig war.




17.

Die geschilderten Ereignisse machten es Tromholt in der nächsten Zeit unmöglich, den Plan einer Reise nach Limforden zur Ausführung zu bringen. Aber auch die Nachrichten, die er von dort erhielt, waren keine erfreulichen; das Verhältniß zwischen Alten und Snarre verschlimmerte sich von Tag zu Tag, und Bianca gab ihrer Besorgniß für die Zukunft gegen den Bruder unverhohlenen Ausdruck. Sie erbat seinen Besuch, sobald es nur immer möglich sei.

Ingeborgs Zustand war seit jenem Abend ein höchst bedenklicher, der nach der Ansicht des Arztes ebensowohl noch Monate sich hinschleppen, als zu einer plötzlichen Katastrophe führen konnte. Utzlar befand sich auf dem Weg der Genesung, aber es war zu befürchten, daß ein paar Finger der verletzten Hand steif bleiben würden. Um so mehr fühlte sich Tromholt verpflichtet, für die Zukunft des Menschen, ohne dessen Dazwischentreten er sicherlich ein Opfer von Larsens Rachsucht geworden wäre, sorgend bedacht zu sein. Seine verschiedenen Besuche bei dem Kranken hatten ihn auch in nähere Berührung mit dessen Braut Agnes gebracht, und er hatte sich dabei in einer jedes fernere Mißtrauen ausschließenden Weise von dem ehrbaren Charakter, dem treuen, selbstlosen Wesen des Mädchens überzeugt, das Utzlar zu seiner Frau machen wollte. Darum that Tromholt jetzt auch alle Schritte zur Verwirklichung jener japanischen Pläne, an deren Werth er nach den eingezogenen Erkundigungen nicht länger zweifeln konnte, und er dachte daran, auch den Grafen Snarre für diese Sache, wie überhaupt für Utzlars ferneres Schicksal zu interessiren und seine Großmuth zu Gunsten seines gebesserten Standesgenossen in Anspruch zu nehmen.

Zu all den Sorgen um andere gesellte sich für Tromholt in dieser Zeit auch noch eine, die ihn selbst betraf. Er fühlte eine zunehmende Abschwächung der Sehkraft seines gesunden Auges, ja, nach großen Anstrengungen im Lesen und Schreiben, wie sie das Geschäft mit sich brachte, trat oft plötzlich eine völlige, wenn auch stets wieder vorhergehende Abstumpfung des Sehnervs ein. Der Arzt, den er über solche Erscheinungen befragt, hatte mit Bedenken nicht zurückgehalten und ihm unbedingte Schonung des angegriffen Organs empfohlen, wenn anders er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, blind zu werden. Blind! Welch’ ein furchtbarer Gedanke! Aber wie vertrug sich die empfohlene Schonung mit dem rastlosen Geist dieses unermüdlich schaffenden Mannes, der nur in der Arbeit das Ziel seines Lebens sah!

Tromholt hatte eben eine Besprechung mit einigen Geschäftsfreunde auf seinem Bureau, als Hansine, das Dienstmädchen, ganz bestürzt und noch athemlos vom schnellen Gehen bei ihm eintrat.

„Herr, Herr!“ rief sie. „Es steht schlimm mit Fräulein Elbe. Ich bin fortgelaufen, es Ihnen zu sagen, der Husten ist wieder gekommen und die Athemnoth, und es ist, als ob sie ersticken wollte.“

Tromholt erschrak heftig.

„Eilen Sie sogleich zum Doktor Tyrup,“ befahl er, „und bitten Sie ihn, sich so schnell wie irgend möglich zu Fräulein Elbe zu bemühen. Ich werde bald folgen.“

Dann sprach er, gewaltsam die Gedanken dem Nächstliegenden wieder zuwendend, in gewohnter Ruhe und Sachlichkeit mit den Herren, verständigte sich mit ihnen über die in Frage kommenden Gegenstände, gab noch verschiedene Anweisungen in den Bureaur und nahm dann – es war inzwischen Mittag geworden – eilend den Weg nach Hause.

Er fand bei seinem Eintritt die Dienstboten in großer Erregung. Sie theilten ihm mit, daß der Arzt sich sehr besorgt geäußert und versprochen habe, gegen Abend wiederzukommen. Tromholt ging, tiefbewegt durch diese traurige Wendung in Ingeborgs Befinden, sinnend in seinem Zimmer auf und ab und ließ endlich, um seiner Unruhe Herr zu werden, die Kranke fragen, ob er sie besuchen dürfe.

Er sah sie auch auf Augenblicke und war erschrocken über die Veränderung, welche sich in so kurzen Stunden in ihrem Aussehen vollzogen hatte. Die Farbe ihres Angesichts, seit der Krankheit in Trollheide immer bleich und durchsichtig, war nun kreideweiß, und ein röchelnder, mit großer Reizbarkeit verbundener Husten erschwerte ihr das Sprechen.

„Meine arme Freundin,“ stieß Tromholt hervor und verhüllte dichter das Fenster des Gemaches, da das Licht, scharf hereindringend, Ingeborgs Augen anzustrengen schien. „Kann ich irgend etwas für Sie thun?“

Ingeborg Elbe richtete einen matten, dankbaren Blick auf Tromholt und schüttelte sanft das Haupt. So viel lag auf ihrem Herzen, so viel hatte sie ihm zu sagen! Ihr ahnte, daß sie das Krankenzimmer nicht wieder verlassen werde, und furchtbare Qualen zogen durch ihre Brust.

Tromholt wußte, was in ihr vorging. Er wäre gern in ihrer Nähe geblieben, allein er fürchtete, die Bewegung, in die sie sein Anblick versetzte, möchte ihr schädlich sein, und so wandte er sich nach kurzem Aufenthalt wieder zum Gehen.

„Ich sende Ihnen eine zuverlässige und in der Krankenbehandlung erfahrene Pflegerin,“ sagte er, die weiße, magere Hand der Kranken ergreifend und eine Weile in der seinen haltend. „Und nun denken Sie an nichts als an Ihre Gesundheit. Sie müssen wieder lebensfrisch werden, Ingeborg, und Sie werden es auch gewiß. Ich habe keinen innigeren Wunsch als den, Sie wieder kraftvoll und fröhlich zu sehen.“

Ein heißer Thränenstrom löste sich bei diesen Trostworten aus Ingeborgs Augen. Der ganze furchtbare Schmerz, der ihr Inneres durchwühlte, kam zum Ausdruck. Tromholt aber neigte tiefbewegt das Haupt und entfernte sich.

Als er in sein Zimmer zurückkehrte, fand er einen an seine Privatadresse gerichteten Brief von seinem Schwager Alten vor, dessen Inhalt seine Sorgen abermals vermehrte.

Alten meldete, daß Bianca sich einen sehr schmerzhaften Gelenkrheumatismus zugezogen habe und unfähig, ein Glied zu bewegen, im Bette liege. Ferner theilte er mit, daß Graf Snarre ihm auf seine sämmtlichen letzten Berichte, die wichtige und zugleich rasch zu erledigende Anfragen enthielten, mit keiner Silbe geantwortet habe, und daß er, abgesehen von der Aufregung über diese „bodenlose Rücksichtslosigkeit“, infolge dessen gar nicht wisse, [634] was er thun solle. Er habe schon nicht übel Lust gehabt, Snarre die ganze Geschichte kurzweg vor die Füße zu werfen, und würde seine Absicht wohl auch ausgeführt haben, wenn nicht Biancas Zustand ihm Rücksicht auferlegt hätte. Limforden sei ihm nachgerade verhaßt. Den Gedanken, dort in irgend einer Weise ferner thätig zu sein, habe er nunmehr endgültig aufgegeben. Zum Schluß hieß es, aus Kiel seien Nachrichten eingelaufen, denen zufolge man jeden Tag die Verlobung von Dina Ericius mit Snarre erwarte. Snarre würde das Mädchen im höchsten Grade in seinem Rufe schädigen, wenn er nicht Ernst machte. „Aber passen Sie auf, Tromholt! Im letzten Augenblick besinnt sich die mit ihrem lächerlichen Hochmuth weit über Gott und Menschen stehende Erlaucht doch und läßt das bürgerliche Fräulein sitzen!“

Am Abend desselben Tages begab sich Tromholt, den diese Mittheilungen tief erregten und beschäftigten, zur Ablösung seiner schweren Gedanken in ein Weinhaus, wo er Freunde zu treffen und das er häufiger zu besuchen pflegte; gegen elf Uhr kehrte er nach Hause zurück.

Er fand die Mädchen nicht mehr vor, in Ingeborgs Zimmer aber war Licht, und er nahm deshalb an, daß die Wärterin bei der Kranken wache.

Wiederholt betrat er das Speisezimmer, an das zur Linken im gleichen Flügel Ingeborgs Wohn- und Schlafzimmer stießen, und horchte, ob sich nebenan etwas rühre. Dann begab er sich in seine zur Rechten belegenen eigenen Räume, ließ aber absichtlich die Thür nach dem Speisezimmer offen, um für den Nothfall bei der Hand zu sein.

Da seine Gedanken noch allzu lebendig waren, entzündete er eine Lampe und ließ sich in einem Lehnstuhl nieder. Er nahm eine Zeitung zur Hand und vertiefte sich in ihren Inhalt; endlich aber überfiel ihn doch die Müdigkeit, und zwar solchergestalt, daß er in dem Sessel fest einschlief.

Wohl eine Stunde mochte er so geruht haben, als er plötzlich durch ein Geräusch aufgeweckt ward. Rasch sprang er empor, rieb sich die Augen und schaute um sich. Seine Blicke richteten sich unwillkürlich auf das Speisegemach, woher das Geräusch gekommen war, und da sah er zu seinem Schrecken – ja, es war keine Täuschung – aus dem Dunkel hervorschimmernd eine weiße Gestalt auf der Erde liegen.

Im Nu ergriff er die Lampe und eilte hinein.

Vor ihm, nahe dem Speisetisch neben einem Stuhl, lag lang ausgestreckt Ingeborg Elbe. Offenbar hatte sie sich mit einer bestimmten Absicht von ihrem Lager erhoben und war hier, von Schwäche überwältigt, zusammengesunken.

Tromholt ließ sich zunächst, ohne nach der Wärterin zu rufen, zu ihr herab, hob und stützte sie und horchte voll Sorge und Unruhe nach dem Schlage ihres Herzens. Noch schien geringes Leben in ihr zu sein, und wirklich öffnete sie in diesem Augenblick die Lider, sah ihn mit tiefen und angstvoll flehenden Blicken an und flüsterte seinen Namen. Während er gütig und zärtlich auf sie einsprach drückte sie ihm ein kleines Packet in die Hand und flüsterte mit sterbender Stimme:

„Noch einmal innigsten Dank für alles, alles Gute! – Kein Mensch, ein Gott waren Sie für die arme Ingeborg. – Dieses hier – Briefe von Dina Ericius, lesen Sie – sie werden Ihnen das Glück bringen, ich weiß es, das Sie bisher entbehrten, und dieser Gedanke erleichtert mir den Tod. – Leben Sie wohl, mein einziger unvergleichlicher Freund!“ Und von neuem schlossen sich ihre Lider – wie todt fiel sie zurück.

„Mein Kind, mein armes, liebes Mädchen!“ rief Tromholt in ungeheurem Seelenschmerz. Er hoffte, daß vielleicht doch nur eine neue Ohnmacht sie überfallen habe, und suchte sie höher aufzurichten. Als aber alle Versuche, sie ins Leben zurückzurufen, ohne Erfolg blieben, da ließ er Ingeborg sanft zurückgleiten und eilte ins Schlafgemach. Er fand hier zu seiner Ueberraschung keine Wärterin, sondern Hansine, die in einem Stuhl eingeschlafen war und erst bei wiederholtem Rütteln zu sich kam.

Aber als Tromholt mit ihr zurückkehrte, war alles vorüber.

Tromholt und Hansine hoben die Entschlafene empor, betteten sie auf ihr Lager und stellten brennende Kerzen ringsum. Nachdem das alles geschehen, hieß der Mann die Magd sich entfernen. Er aber saß bis zum Morgengrauen bei der Entschlafenen, und ruhelos irrten die Gedanken durch sein sorgenschweres Haupt. Er dachte, was ihm Ingeborg Elbe gewesen war, wie sie an ihm bis zum letzten Athemzug in treuer, aufopfernder Liebe gehangen hatte, und es ergriff ihn ein bitteres Gefühl der Trauer darüber, daß es ihm nicht gegeben war, diese Liebe so zu erwidern, wie sie es verdient hätte.

Seltsames Geschick! Für sie, deren stumme Qual er täglich mit ansah, die ihm mit ihrer ganzen Seele ergeben war, konnte er nichts anderes als Gefühle warmer Freundschaft finden, während sein Herz mit allen Fasern an der hing, die ihn nicht lieben konnte, die ihn verschmäht hatte. Nun fiel sein Blick auf das Packet Briefe, das er noch immer in der Hand hielt, Ingeborgs letztes Vermächtniß an ihn. Was mochten sie enthalten? – Mechanisch griff er einen aus dem Bündel heraus und las, erst nur mit halbem Verständniß und dann mit wachsendem Interesse, während ein Zug tiefster Rührung über sein Gesicht flog. Der Brief lautete:

„Meine einzige Ingeborg!

Draußen scheint die Sonne so warm und herrlich, als ob ihr vom Schöpfer eine Belohnung für regen Diensteifer ausgesetzt sei. Du weißt, meine Herzensfreundin, daß solches Wetter die Seele freudig stimmt und daß man Flügel nehmen möchte, um in die schöne Welt hinaus zu fliegen, wenn das bei den vorhandenen Jagdrevieren nicht gar zu gefährlich wäre. Als Trappe oder sonst ein großes, seltenes Thier herabgeschossen zu werden, erkläre ich nun eigentlich nicht für das Endziel meiner Wünsche. Nein, ganz gewiß nicht. Also, wie gesagt, die Sonne hat sich wundervoll herausgeputzt und macht mir Freude, und in dieser gehobenen Stimmung setze ich mich auf den bekannten mit dem bunten Papagei bestickten Schreibsessel, um endlich Deine Zeilen zu beantworten. Mein Gott, Herzenskind, wo war ich denn eigentlich stehen geblieben, und was wollte ich Dir doch alles erzählen? Man sollte sich Notizen machen, bevor man sich ans Briefschreiben begiebt. Niemals sollte man unterlassen, empfangene Briefe vor der Beantwortung noch einmal durchzulesen, um zu sehen, mit welchen Gegenäußerungen man den Briefschreiber erfolgreich ärgern oder entzücken kann. Sodann wäre zu berichten über eigenes inneres und äußeres Dasein, also über Hoffnungen, Freude, Schmerz, Liebe, Zahnweh, Halsweh und Freundschaft. Ferner über Bälle, drückende Stiefel, langweilige Visiten, anziehende Bücher, Klavierspiel und Dienstbotenverdruß. Bei Liebe und Freundschaft, gute Ingeborg, fällt mir ein, daß Graf Snarre noch immer hier ist und mich in unerlaubter Weise verzieht. Daß ich öffentliches Aergerniß errege, ist sicher, ich sehe bereits manches Fräulein mit neidgelbem Angesicht an mir vorüberschreiten, ihr Gruß ist steif und herablassend, als sei ich in meinem Lebenswandel höchst tadelnswerth, als sei ich ein kokettes sündiges Geschöpf, das mit vollen Segeln dem Abgrund entgegentreibt. Du fragst in Deinem letzten Brief, wie weit das luftig ernste Spiel zwischen mir und dem Grafen gediehen sei. Darauf, mein verehrtes Fräulein, kann ich Ihnen keine Antwort geben. Ich hatte Snarre bei seinen vielen guten Eigenschaften, die mich zu ihm hinziehen, für veränderlich, unschlüssig und von augenblicklichen Bequemlichkeitsstimmungen recht sehr abhängig, also vielleicht ist alles doch nur Strohfeuer. Dann geht die kleine Ericius in eine stille Ecke und weint sich aus, und wenn sie sich ausgeweint hat, wird sie sich sagen: auch ein Mädchen soll sich in ernsten Lebensverhältnissen als ein Mann zeigen und so gut es geht in das Unabänderliche schicken – aber, mein Herzenskind, schnell wird’s mit dem Weinen nicht vorbei sein – – – da hast Du mein Bekenntnis!

Hier ist noch solch ein in Zweifeln, aber in weit schwereren Zweifeln seinen Kopf abends in das Bettkissen drückendes Geschöpf, es heißt Susanne, einstige Utzlar, geborene Ericius. Um Dir das deutlich zu machen, muß ich Dir eine kleine Geschichte erzählen. Also höre:

Es war einmal ein stolzes Burgfräulein, das goldene Spangen und eine Schleppe trug, so lang wie der Schweif eines schimmernden Kometen. Aber sie hatte ein launisches, hoffährtiges Gemüth und däuchte sich eine Brunhild gegenüber den Männern. Den sie mit ihrer Hand beglückte, der sollte ein Muster seiner Gattung sein, stark und weich, klug und schwärmerisch, stolz und unterwürfig, vornehm von Stand und doch schlicht bürgerlich in seinem Auftreten, kurz ein Mann, der die verschiedensten Eigenschaften in sich vereinigte. Sie sah wohl ein, daß ein solcher, wie ihr Herz ihn begehrte, wie sie allein ihn ihrer werth hielt, auf dieser Erde schwer zu finden sein dürfte, ja nach und nach hatte sich der Gedanke in ihr festgesetzt, daß es kaum möglich sei, ihn zu finden.

[635] Und als nun der Richtige, der, welcher ihrem Ideal, soweit es eben menschenmöglich war, entsprach und wenigstens die hervorragendsten dieser Eigenschaften in sich vereinte, wie durch eine höhere Schickung plötzlich vor ihr stand und zu ihr sprach: ‚Ich liebe Dich, werde mein Weib!‘ da wollte sie’s nicht zugeben, daß er der Rechte sei, und eben weil ihr Herz sie im stillen schon zu ihm hinzog und sie fühlte, daß er bereits eine Macht über sie erlangt hatte, sträubte sich ihr trotziger Sinn gegen solchen Zwang und sie wies ihn zurück.

Nach Jahren aber, da sie noch immer im stillen jenes Mannes gedachte und sich mit aller Macht gegen den Gedanken wehrte, der ihr oft wie ein heimlicher Vorwurf vor die Seele trat, kam ein anderer, der von den vorerwähnten Eigenschaften keine oder doch nur die eine, nebensächliche, der vornehmen Geburt besaß. Wie der nun vor sie hintrat und mit falscher, berückender Stimme dasselbe, nur in anderer blumenreicherer Rede sprach, da – obwohl oder gerade weil alle, die es gut mit ihr meinten, sie warnten, und auch weil sie glaubte, des ihrem Stolz so peinlichen Gedankens an jenen ersten Freier damit am schnellsten ledig zu werden, da sagte sie ‚Ja‘ und nahm ihn.

Aber es zeigte sich bald, daß sie eine Perle gegen einen Kiesel, einen nichtigen, nur äußerlich und sehr oberflächlich geschliffenen Kiesel hingegeben hatte, und sie warf auch den Kiesel wieder weg. Da erkannte sie erst recht den Werth jener Perle, die zwar nicht aufdringlich an Glanz, aber doch ein echtes, kostbares Kleinod war, und einen Augenblick hoffte sie auch jetzt noch, jene wieder erringen zu können. Allein es war ein schöner Wahn. Der Mann, den sie damals verschmäht hatte, war gerade so stolz, wie sie selbst es gewesen, seine Liebe war erloschen, und ihre Reue kam zu spät. Seit sie das erkannt hat, will sie von den Männern, die sich noch immer um ihre Gunst bewerben, nichts mehr wissen und verzehrt sich in heißer, ohnmächtiger Sehnsuchtsqual nach dem einen, den sie für immer verloren. Für immer! Sie kann es noch nicht ganz fassen, und es giebt Augenblicke, wo sie beim leisesten Geräusch zusammenfährt und zittert und meint, er müsse es sein, der da komme und vor sie hintrete, um ihr das zu wiederholen, was er ihr damals gesagt – o wie ganz anders würde sie ihm jetzt antworten! – oder wo sie roth und blaß wird und ihre Augen leuchten, wenn der Postbote einen Brief bringt und sie glaubt, er komme von ihm, während er doch von Dir kommt, meine süße Ingeborg, und kein Sterbenswörtchen von ihm enthält. Ich glaube, manchmal ist sie sogar ein bißchen eifersüchtig auf Dich, mein liebes Herz. Aber siehst Du, so geht es den Burgfräulein, wenn sie zu stolz sind. Es ist eine recht traurige Geschichte, und sie thut mir herzlich leid, die arme – – jetzt hätt’ ich bald ihren Namen verrathen, und es ist doch nur ein Märchen, was ich Dir da erzählt habe. Aber nun zu etwas Lustigerem – –“

Tromholt las nicht weiter, eine heiße Blutwelle drängte ihm gegen das Auge und ließ die zierlichen Schriftzüge zu einem wirren Bilde verschwimmen, sein Herz schlug mächtig, er mußte die Hand, die den Brief hielt, darauf pressen, und ein Rausch des Glücks kam über ihn, ein Gefühl, wie er es nie in seinem Leben empfunden hatte, der späte Lohn für die Qual langer Jahre. Er schämte sich dessen fast im Anblick der Todten, die mit verklärtem, friedlichem Gesichtsausdruck dalag, als theilte sie auch noch dieses Glück mit ihm. Ihr hatte er es zu danken, das also war der letzte, höchste Beweis ihrer Liebe, die sie im Tod noch für ihn bekundete. Tromholt drückte einen Kuß auf die kalte, starre Hand und benetzte sie mit seinen Thränen, Thränen des Glücks und der Trauer, den ersten, die er seit lange geweint.




18.

Am Tage nach dem Ball beim Oberpräsidenten traf Snarre, als er eine Stunde vor dem Mittagessen die Ericiussche Wohnung betrat, Frau Ericius und Dina nicht zu Hause. Der Diener berichtete, daß die beiden Damen Besuche machten, daß aber Frau Susanne sich im Wohnzimmer befinde. Snarre kam dies nur halb gelegen. Er hatte sich inzwischen überlegt, ob er nicht Susanne zur Vertrauten seiner Absichten auf Dina machen und sie bitten sollte, die Gesinnungen ihrer Schwester in dieser Richtung näher zu erforschen. Aber dann war ihm aufs Herz gefallen, daß etwas Unzartes darin liegen könnte, gerade diejenige, der er einst selbst ziemlich deutlich gleiche Absichten in Bezug auf ihre Person zu erkennen gegeben hatte, in dieser Sache um Rath zu fragen.

Bei diesen Zweifeln wäre es ihm eigentlich lieber gewesen, der Zufall hätte die Dinge weiter gelenkt. Es ging ihm wie allen schwankenden Menschen, sie möchten gern etwas erreichen und gelangen doch zu keinem Handeln. Endlich entschloß er sich, bei Susannen einzutreten, statt sich, wie er einen Augenblick erwogen hatte, in den Garten zu begeben und Dinas Rückkunft dort zu erwarten.

Susanne saß auf ihrem gewohnten Platz am Fenster. Der Zug schmerzlichen Entsagens, den Snarre in letzter Zeit so oft auf ihrem Antlitz bemerkt hatte, war einer freundlichen Milde gewichen, das eindringende Morgenlicht verlieh dem sonst bleichen Gesicht eine frischere Farbe und von dem hellen Hintergrund hoben sich die Formen ihrer Gestalt in gereifter Schönheit ab. „Es ist etwas Madonnenhaftes an ihr,“ dachte Snarre, als sie ihm freundlich lächelnd Guten Morgen bot und ihn mit einer Gebärde voll ruhiger Anmuth zum Sitzen einlud.

„Ich freue mich, Sie in so guter Stimmung zu finden,“ sagte er, ihren Gruß erwidernd. „Man sieht, Sie haben fröhliche Gedanken, ich beneide Sie darum. Schade daß wir nicht tauschen können!“

„Ihre Voraussetzungen bezüglich meiner Laune treffen zu, Herr Graf,“ erwiderte sie ihm, den heiteren Ton des Gesprächs trotz seiner nachdenklichen Miene festhaltend. „Das kommt wohl davon, daß ich nicht wie Mama und Dina, die heute etwas angegriffen aussehen, auf dem Ball beim Präsidenten gewesen bin. Sollte die Nachwirkung dieses großen Ereignisses auch auf Ihr Gemüth einen Schatten geworfen haben? Oder was sonst veranlaßt Sie zu dem Wunsch, mit mir tauschen zu können? Uebrigens ein Gedankenaustausch gehört ja keineswegs ins Gebiet der Unmöglichkeiten, und wenn ich Ihnen damit einigen Trost spenden kann, soll mich’s freuen. Was bedrückt Sie, Herr Graf? Darf man’s wissen?“

„Ja,“ bestätigte Snarre in schier kläglichem Ton, „es sind die Nachwirkungen vieler anderer aufregender Dinge, nicht nur des gestrigen Balls, die mich bedrücken. Kennen Sie, gnädige Frau, jenes Gefühl des Unbefriedigtseins, jenen Drang nach einem Etwas, das unsere Gedanken trotz aller Gegenwehr ausschließlich in Anspruch nimmt, sie bald in die hellen Farben der Hoffnung, bald in die düsteren des Verzagens, der Unsicherheit, ja selbst des Grams taucht und uns in diesem raschen Wechsel von Stimmungen und Empfindungen der Fähigkeit eines kühnen Entschlusses völlig beraubt?“

„O ja, ja; ich kenne ihn, diesen Zustand!“ flüsterte Susanne, über deren Gesicht bei des Grafen Worten ein Schatten der Wehmuth geflogen war, mehr für sich, als in Erwiderung auf seine Rede. Zum Glück hatte der Graf, der den Kopf gesenkt hielt und seinen Gedanken nachhing, nichts davon gehört. Susanne fand Zeit, ihre Gemütsbewegung zu beherrschen, und in den früheren Ton zurückfallend, erwiderte sie nun laut: „Ein Zustand, wie Sie ihn schildern, Herr Graf, ist mir wohl, wenn ich nicht irre, aus Büchern bekannt, ich bezweifle aber doch, ob die Bezeichnung, die er dort findet, auch für Ihre Gemüthsstimmung paßt. Nein, nein, ich täusche mich wohl, Sie sind nicht verliebt, Herr Graf, Sie haben nur, wie Dina sagt, zu viele weiche Bettkissen, daran scheuern Sie sich die Gedanken wund.“

Susanne lachte bei den Schlußworten.

„Aus Ihrem Lachen,“ bemerke er etwas gereizt, „schließe ich, daß Sie Fräulein Dina beistimmen. Es scheint bei Ihnen allen ein unantastbares Evangelium, daß es mir zu gut geht und daß ich deshalb Verdruß empfinde. Sie glauben doch sicher nicht, Frau Gräfin, daß äußeres Wohlleben alles ist, dessen der Mensch bedarf? Seltsam, die Wohlhabenden erfreuen sich niemals der Theilnahme ihrer Mitmenschen, ihre körperlichen und geistigen Schmerzen sind belanglos. Sie haben ja Geld! Das ist die ausreichende Arzenei für alle Leiden, körperliche und geistige. Aber kommen wir einmal zur Sache, gnädigste Gräfin! Ich habe sehr das Bedürfniß, Ihnen mein Herz auszuschütten.“

„Bitte, sprechen Sie, Herr Graf!“ entgegnete Susanne, deren Gesicht einen ernsten Ausdruck angenommen hatte. „Was immer es auch sei“ – sie betonte ihre Worte merklich, – „seien Sie überzeugt, daß ich es in dem von Ihnen gewünschten Sinne auffasse.“

„Wohl!“ sagte Snarre, rückte ein wenig näher und faßte Susannens Hand, die sie ihm mit einer leichten Verlegenheit ließ, [636] „ich möchte von Ihnen hören, ob Sie glauben, daß Fräulein Dina mich liebt, und ob Sie meinen, – beachten Sie wohl, – daß sie in diesem Fall mit mir glücklich werden würde?“

„Wie seltsam, daß Sie diese letzte Frage hinzufügen. Herr Graf!“ entgegnete Susanne, ohne über die Eröffnung eine sonderliche Ueberraschung zu zeigen. „Sie scheint mir schwerer zu beantworten als die erste, die ich unter Umständen bejahen möchte. Sie sind beide sehr verschieden. Dina ist gut bürgerlich geartet, ich wähle absichtlich diesen Ausdruck; Sie, Herr Graf, sehen einmal – es ist dies das natürliche Ergebniß Ihrer Erziehung und Ihrer gesellschaftlichen Stellung – alles in einem – verzeihen Sie – etwas einseitigen Lichte an.“

„Gerade weil Fräulein Dina mir stets denselben Vorwurf macht, der Mensch doch aber nicht über seinen eigenen Schatten springen kann, kommen mir Bedenken,“ erwiderte Snarre. „Aber glauben Sie mir, der bürgerliche Hochmuth ist nicht weniger groß als der unsrige, und doch erscheint er den Leuten als etwas vollkommen Berechtigtes. Manche treten schon von vornherein dem Adeligen mit steifer Kopfhaltung entgegen. Weshalb? Sie sagen, Du trägst ein ‚von‘ vor Deinem Namen, aber ich bin doch besser als Du!“

„Ich kann Ihnen darin nicht ganz Unrecht geben und finde dies auch tadelnswerth, obwohl der erste Anlaß dazu doch wohl von der anderen Seite ausgegangen ist. Es sind die bösen Beispiele, die hier die guten Sitten verdarben.“

Snarre sprang von dem Thema ab, er wußte, er würde Susanne nicht überzeugen, auch wünschte er, nicht allzuweit von seinem Ziele abzuschweifen, obgleich er im Grunde recht enttäuscht war, daß Susanne die Frage einer Heirath zwischen ihm und ihrer Schwester so überaus gelassen aufgenommen hatte. Es entging seiner Empfindlichkeit nicht, daß sie die Ehre einer solchen Verbindung für eine gegenseitige schätzte, ohne im geringsten seine hohe Geburt und die geopferten Ueberlieferungen seines Hauses dabei in Betracht zu ziehen. Doch überwand er rasch diesen Rückfall in alte, eben gerügte Vorurtheile und sagte ganz unbefangen:

„Und was ist nun Ihre Meinung in der Hauptfrage? Glauben Sie, daß ich das liebe, kleine Mädchen fragen darf, ohne einen Korb zu gewärtigen?“

Susanna reichte ihm die Hand. „Sie sind besser, als Sie sich manchmal den Anschein geben, es zu sein. Wenn es Ihnen recht ist, will ich im Vertrauen mit Dina sprechen. Dieses Anerbieten schon sagt Ihnen, wie sehr die Erfüllung Ihrer Wünsche den meinigen entspricht.“

„Nehmen Sie aufrichtigen Dank, gnädigste Gräfin,“ rief Snarre freudig erleichtert. „Ich sehe Ihr Anerbieten als ein großes Geschenk an, das ich Ihnen nie werde vergelten können. Und Fräulein Dina glücklich zu machen, ist mein redlicher Wunsch. Ich leugne nicht, daß sie einen guten Einfluß auf mich übt, jeder Mensch hat eine Doppelnatur. Ich erkenne die meine, das ist schon etwas. In meiner Jugend ließ man mich eben immer nur in einen einzigen Spiegel schauen, und da sah ich allein mich selbst, die Welt gruppirte sich um mich, nicht ich war ein Theil des Ganzen. Daß dem in Wirklichkeit nicht so ist, davon habe ich bei meiner jüngsten geschäftlichen Unternehmung täglich Gelegenheit, mich in einer Weise zu überzeugen, die mir das Leben nicht gerade erheitert und einen Ausbruch schlechter Laune gelegentlich wohl verzeihlich macht. Alten ist nicht mein Mann, ich habe das gleich erkannt, und nur aus Rücksicht auf seinen Schwager und seine Frau habe ich ihm die Stellung gegeben. Aber es geht nicht länger so, am liebsten wäre ich ihn mitsammt den Werken los. Ja, wenn Tromholt nach da wäre!“ – –

Snarre schwieg plötzlich. Es war das erste Mal, daß Tromholts Name von ihm genannt wurde, und die schmerzliche Wirkung, die er auf Susanne herausbrachte, konnte ihm nicht entgehen.

„Doch wozu jetzt von Geschäften reden!“ fuhr er daher in raschem Uebergang fort; „also es bleibt dabei, liebe Frau Gräfin, Sie legen ein gutes Wort für den bösen Aristokraten bei der kleinen Bürgerin ein?“

„Gewiß, ich halte Wort, Herr Graf. Sie hören bald von mir,“ entgegnete Susanne und in ihren Mienen kam die Herzlichkeit ihrer Gesinnung zum Ausdruck.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 21, S. 660–669

[660] Als Snarre am Abend dieses Tages in seinen Gasthof zurückkehrte, fand er ein Schreiben von Alten vor. Darin bat dieser dringend, ihm doch auf seine verschiedenen Briefe endlich eine Antwort zu ertheilen, er könne ohne nähere Anweisung nicht vorwärts kommen, die Hände seien ihm durch des Grafen Schweigen gebunden. Durch diesen Brief ward Snarre in den höchsten Unmuth versetzt, seine gereizte Stimmung richtete sich aber diesmal weniger gegen Alten, als gegen die „ganze Limforder Affaire“, wie er sich auszudrücken pflegte. Diese ewige Belästigung reizte ihn; keine Woche verging ohne eine Anzahl Zuschriften, und wenn er sie, wie das häufig genug geschah, nach flüchtiger Durchsicht zerstreut bei Seite legte, so folgte gleich eine Mahnung oder die Meldung, aus dem vorgeschlagenen Geschäft sei nichts geworden, weil die Weisungen des Herrn Grafen nicht rechtzeitig eingetroffen seien.

Auf Altens wiederholte, gutgemeinte Bitte, ihm die Entscheidung und auch die Verantwortung zu überlassen, war er trotzdem nicht eingegangen – das ließ sein herrschsüchtiger Sinn nicht zu.

Nach der Durchlesung des ersten Briefes, der seine Gedanken wieder auf Tromholt gelenkt hatte, entfaltete Snarre ein anderes schwarzumrändertes Schreiben. Es war die Anzeige von Ingeborg Elbes Tod. Ein neuer Verdruß! Snarre wußte, wie Dina mit der Verstorbenen gestanden hatte, wie nah ihr der Verlust ging. Der Zeitpunkt, ihr von Liebe zu sprechen, war also jetzt der denkbar ungeeignetste. Und doch mußte die Sache zu einem Ende kommen! Er fühlte selbst, daß er nicht länger in Kiel bleiben könne, ohne Dina in schlimmes Gerede zu bringen, er wußte, daß die Menschen schon jetzt über die lange Ausdehnung seines Besuchs sprachen, Dinas Worte auf dem Ball beim Oberpräsidenten kamen ihm wieder in den Sinn. Zudem war seine baldige Abreise auch der Geschäfte wegen nöthig. Brieflich waren die Dinge nicht zu erledigen. Durch dieses viele Für und Gegen und Hin und Her gerieth Snarre in eine so unbehagliche Stimmung, daß er zuletzt beschloß, gleich am nächsten Morgen in aller Frühe zu reisen, und zwar nicht nach Limforden, sondern geradeswegs nach Kopenhagen zu Tromholt. Der allein konnte ihm die lästige Sache vom Hals schaffen; bei der Familie Ericius wollte er sich brieflich entschuldigen. Wie peinlich dieser Schritt nach den Erklärungen, die er Susannen gegeben hatte, dort wirken müsse, daran dachte er zunächst nicht. Allen Unbequemlichkeiten thunlichst aus dem Wege zu gehen, war nun einmal ein ausgeprägter Zug in seinem Charakter. –

Als Frau Ericius am folgenden Morgen beim ersten Frühstück Snarres Schreiben eingehändigt wurde, vermuthete sie eine Einladung oder irgend eine kleine Ueberraschung. „Lies, liebes Kind, ich habe meine Brille nicht zur Hand!“ Hub sie gutgelaunt an, und Dina ergriff freudig das ihr dargereichte Blatt, dessen Schrift sie über den Tisch hinüber erkannt hatte, und begann, die mit der gewohnten Förmlichkeit verfaßte Einleitung laut vorzulesen, während ihre lustigen Augen bereits weiter über den Inhalt hinschweiften. Plötzlich aber ließ sie das Blatt in den Schoß sinken, stieß einen leisen Schrei aus, und schwere Thränen rollten ihr über das eben noch so übermüthig lustige Gesicht.

„Was ist geschehen?“ riefen Frau Ericius und Susanne zugleich, indem sie auf Dina zueilten und den Brief, der diese unerwartete Veränderung hervorgebracht hatte, aufhoben. Auch Susannens Züge nahmen einen ernsten, schmerzlich überraschten Ausdruck an, als sie das Schreiben durchflog. Die plötzliche Abreise Snarres, die gewundenen Erklärungen, mit denen er ihre Nothwendigkeit darzuthun, sich gewissermaßen zu entschuldigen suchte, machten auf Mutter und Tochter einen gleich peinlichen Eindruck, ja, die letztere konnte nach ihrem vertraulichen Gespräch von gestern in diesem Schritt nur einen Vorwand zum endgültigen Rückzug erblicken. Ernste Zweifel an der Ehrenhaftigkeit und Zuverlässigkeit von Snarres Charakter stiegen nun plötzlich in ihr auf, und sie war, bei allem Mitleid mit Dina, innerlich froh, daß sie von der Aufgabe, mit welcher der Graf sie betraut hatte, jener gegenüber noch nichts hatte verlauten lassen. Es hätte dies den Schmerz und die Enttäuschung des armen Kindes in diesem Augenblick nur noch vermehrt, und Susanne beschloß, auch in Zukunft das Geheimniß für sich zu behalten. Doch bald sollten sie und die Mutter sich überzeugen, daß nicht das mindestens sonderbare Betragen Snarres allein Dinas Thränen verschuldet hatte.

Es war der Tod Ingeborgs, dessen Snarre in seinem Brief nur beiläufig als eines der Familie wohl schon bekannten Ereignisses unter Bezeigungen seiner Theilnahme Erwähnung that. Er ergriff Dinas Herz so mächtig, daß sie das andere Leid, das ihr der Graf anthat, darüber fast vergaß oder doch nicht in seiner ganzen Bitterkeit empfand. Auch Frau Ericius und namentlich Susanne erfüllte diese Nachricht mit tiefer Trauer.

[662] Geradezu außer sich über den Verlust der treuesten Freundin aber blieb Dina. Kein noch so sanfter Zuspruch der Ihrigen vermochte sie zu trösten, und als wenige Stunden später die offizielle Trauerbotschaft mit näherer Angabe von Zeit und Ort der Beerdigung auch im Ericiusschen Hause eintraf, da war das erste, was über Dinas Lippen kam, der noch von Schluchzen unterbrochene Ausruf:

„Ich reise nach Kopenhagen, ich muß Ingeborg die letzte Ehre geben!“

Keine Gegenvorstellung vermochte sie von diesem Entschluß abzubringen, und schließlich hielten es Frau Ericius und Susanne für das beste und tröstlichste, Dina ihren Willen zu lassen, Tromholt sofort telegraphisch davon zu benachrichtigen, ihm die Zeit von Dinas Ankunft zu melden und ihn zu bitten, für entsprechende Unterkunft besorgt zu sein.

So reiste denn Dina am nächsten Morgen nach Kopenhagen, ohne eine Ahnung, daß der Graf gleichfalls dort sei, da dieser sein Reiseziel nicht angegeben hatte.

Sie wurde von Tromholt am Bahnhof empfangen und begrüßt.

„Haben Sie Ingeborgs Brief erhalten?“ fragte er. „Es war das letzte, was sie schrieb. Ich hatte ihn in der ersten Bestürzung übersehen, fand ihn am Tag nach ihrem Tod auf dem Schreibtisch, von ihrer schon zitternden Hand an Sie adressirt, und habe ihn sofort der Post übergeben. Es wird wohl ein Abschiedsbrief sein, Sie sehen daraus, daß Ingeborg Ihnen bis zum letzten Athemzug treue Freundschaft hielt.“

Dina hatte diesen Brief in Kiel nicht mehr erhalten, er mußte nach ihrer Abreise dort eingetroffen sein. Sie war von neuem tiefbewegt.

Nach dem ersten schmerzlichen Gedankenaustausch geleitete Tromholt Dina in die von ihm bestellten Zimmer ihres Gasthofes und bat beim Abschied um die Erlaubniß, ihr später noch einmal dort aufwarten zu dürfen Er warf dabei hin, daß er sich vor Eintreffen ihrer Depesche bereits mit dem Grafen Snarre für den Abend verabredet, diesen aber bisher nicht wiedergesehen habe, um ihm, wie es jetzt geschehen sollte, von ihrem Eintreffen Kenntniß zu geben.

„Snarre?“ rief Dina und wechselte so auffallend die Farbe, daß Tromholt darüber erschrak. „Ich denke, er ist nach seinen Gütern gereist? Seit wann ist er hier? Wie lange bleibt er, ich bitte?“

In athemloser Hast kamen diese Fragen aus Dinas Mund. Da Tromholt wußte, wie sehr sie sich für Snarre interessirt hatte, schrieb er ihre Erregung diesem Umstand zu und berichtete der Wahrheit gemäß, daß Graf Snarre am gestrigen Abend eingetroffen sei und einige Tage zu bleiben gedenke.

„Graf Snarre weiß also nichts von meinem Hiersein?“ stieß Dina mit der früheren Unruhe heraus. „Ich muß gestehen, ein Zusammentreffen mit ihm wäre mir sehr peinlich – so peinlich, daß ich am liebsten gleich wieder abreisen möchte –“

„Peinlich? – – Ah so!“ fügte Tromholt hinzu, dem bereits eine Vermuthung aufstieg, wie die Dinge lagen.

Eine Pause trat ein, Tromholt wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, und Dina bedauerte, daß sie sich zu solchem Gefühlsausbruch vor ihm hatte hinreißen lassen. Sie gewann allmählich ihre Haltung wieder, und jetzt nur noch von dem einen Gedanken beherrscht, die wahren Gründe der plötzlichen Abreise Snarres kennenzulernen, ergänzte sie ihre Rede und sagte, indem sie Tromholt mit einem bittenden und Vertrauen einholenden Blicke anschaute:

„Wenn ich sagte, daß eine Begegnung mit dem Grafen mir peinlich wäre, Herr Tromholt, so ist dies eigentlich nicht völlig richtig. Aber, da Sie wohl erkennen, daß die Nachricht von seinem Hiersein mich sehr bewegt, so erweisen Sie mir den Freundschaftsdienst und sagen Sie mir offen und ehrlich nach Ihrer besten Ueberzeugung: ist Ihnen bekannt, ob den Grafen so wichtige Geschäfte plötzlich aus Kiel forttrieben, daß keine Möglichkeit vorlag, uns Adieu zu sagen? – Nun, lieber Herr Tromholt?“ schloß Dina, als sie sah, daß er mit der Antwort zögerte.

„Ich kann Ihnen Ihre Frage leider nicht unbedingt genau beantworten, Fräulein Dina!“ entgegnete Tromholt ernst. „Was der Graf mit mir zu verhandeln hatte, trug keinen so eiligen Charakter. Aber andere Angelegenheiten mögen vielleicht vorliegen, von denen ich nichts weiß. Erlauben Sie mir die Frage, ob Sie vermuthen, daß Graf Snarre nach einem Vorwand suchte, um sich rasch von Kiel zu entfernen?“

„Ja!“ gab Dina erröthend, aber bestimmt zurück. „Wir alle waren nicht wenig enttäuscht, daß er nach einem solchen engen, Wochen andauernden Verkehr – fast täglich war der Graf in unserer Gesellschaft, ja in unserem Haus – sich in solcher Weise verabschiedete.“

Ueber Tromholts Gesicht zog ein Zug von ehrlicher Trauer. Er erinnerte sich der Worte Altens, der ihm geschrieben hatte, Snarre werde das kleine bürgerliche Mädchen, wenn’s drauf ankomme, doch sitzen lassen! Aber obwohl ihm Dinas Worte jene Prophezeiung zu bestätigen schienen, wollte er solchen Verdacht ohne bessere Beweise doch zunächst nicht aufkommen lassen und sagte daher:

„Graf Snarre ist bisweilen etwas unberechenbar, aber mit seinem Herzen hat das nichts zu thun. Ich glaube, die Schlüsse, die Sie ziehen, Fräulein Dina, sind nicht richtig, und um darüber so bald wie möglich Klarheit zu gewinnen, wählen Sie den von der Ericiusschen Familie stets befolgten Grundsatz unumwundener Offenheit und sprechen Sie selbst mit dem Grafen!“

„O, nein, nein, Herr Tromholt. Es giebt Dinge, die so zarter Natur sind, daß Offenheit sie nur verschlimmert. Fühlt sich der Graf gedrängt, zu sprechen, gut, aber ich – ich sag’s noch einmal – möchte am liebsten sogleich wieder abreisen, so dringend es mich verlangt, Ingeborg noch den letzten Liebesdienst zu erweisen.“ Dina wollte weiter reden. Aber sie vermochte es nicht; heiße Thränen traten ihr plötzlich in die Augen.

„Und doch ist es möglich, daß Sie sich irren, Fräulein Dina!“ besänftigte Tromholt und drückte dem Mädchen voll herzlicher Theilnahme die Hand. „Nicht wahr?“ fuhr er in sanftem Ton fort, „Sie lieben den Grafen? Und wenn ich auch seine Gefühle für Sie nicht zu beurtheilen vermag, – daß der innere Kern in ihm gut ist, daß er Ihre Liebe trotz seiner etwas schwankenden Natur verdient, – dafür möchte ich meine Hand ins Feuer legen. Sie, gerade Sie, Fräulein Dina, sind die rechte Frau für ihn. Durch Sie würde er abstreifen, was Ungleiches noch an ihm hängt, Sie würden ihn zuletzt ganz vergessen machen, daß er Graf Snarre ist. Nur der im Grunde gute, brave Mensch würde zurückbleiben. Denken Sie, daß wie so manches sonst im Leben, auch ein solcher Besitz erstritten werden muß. Rechten Sie nicht mit ihm, selbst wenn er Ihnen wehgethan hat. Jedenfalls hören Sie ihn erst, ehe Sie ihn verdammen.“

„Ah, wie Sie sprechen, und wie wohl mir Ihre Worte thun, wie sie mir das fast verlorene Vertrauen zurückgeben, Sie bester, vortrefflichster Mann, der nur darauf bedacht ist, Freude und Segen um sich zu verbreiten!“ rief Dina stürmisch. „Haben Sie Dank! Und ich will Ihren Rath befolgen, ich fühle jetzt, daß es der richtige ist.“




19.

Ingeborg Elbe war in die Erde hinabgesenkt worden, und Dina Ericius und Graf Snarre saßen sich im Gasthof in der ersteren Zimmer gegenüber. Eben hatte Tromholt, ein ihn in Anspruch nehmendes Geschäft vorschützend, das Gemach verlassen und dadurch den beiden Gelegenheit gegeben, sich auszusprechen.

Am Abend vorher waren sie sich nicht begegnet, Dina hatte Tromholt vor seinem Fortgange gebeten, sie bei dem Grafen zu entschuldigen. Sie sei von den Eindrücken der Todesnachricht zu sehr ergriffen, auch von der Reise sehr abgespannt und wolle sich deshalb bald zurückziehen. Beim Begräbnis hatten sie sich nur aus der Ferne begrüßt, das Trauerbegängniß verlangte ohnehin eine ernste Zurückhaltung.

„Ich hätte wahrlich nicht gedacht, daß wir uns nach so kurzer Zeit in Kopenhagen wiedersehen würden,“ begann Snarre mit etwas künstlicher Leichtigkeit. „Jedenfalls gestatten Sie mir zunächst, Ihnen zu erklären, weshalb ich so rasch und ohne persönlichen Abschied reisen mußte.“

[663] Dina schüttele den Kopf. „Nein, Herr Graf, lassen wir lieber Vergangenes ruhen! Sie werden Ihre Gründe gehabt haben, und ich achte dieselben, trotz unserer – ich gestehe es – starken Enttäuschung.“

„Ich möchte aber, da Enttäuschung sich leicht mit Mißstimmung verbindet, Ihnen gern eine Erklärung geben, mein hochverehrtes Fräulein. Daß Sie mir zürnen, fühle ich trotz Ihrer rücksichtsvollen Worte heraus. Und nicht wahr? Wir wollen doch gute, ehrliche Freunde bleiben, Mißverständnisse sollen uns nicht trennen?“

Diesmal antwortete Dina nicht. Sie zuckte nur mit ernster Miene die Achseln.

„Sagen Sie mir, welche Gründe schoben Sie mir im Gegensatz zu den von mir schriftlich angegebenen unter, Fräulein Dina? Ich bitte Sie!“

Einen Augenblick besann sich Dina, dann erwiderte sie mit etwas größerer Zuvorkommenheit im Blick und Ton:

„Da Sie mich fragen, will ich’s nicht länger verschweigen, Herr Graf. Ich nahm an, Sie hätten einen Vorwand gebraucht, um plötzlich Ihnen lästig gewordene Beziehungen abzubrechen. Sie sind Herr Ihrer Schritte, aber ich finde, Sie hätten eine andere Form wählen können. Empfanden Sie Furcht, Unbehagen? Glaubten Sie, wir würden Sie von Ihren Entschlüssen zurückhalten?“

Durch diese Rede ward Snarre äußerst betroffen, er erkannte jetzt erst die ganze Tragweite seines Benehmens und erschrak vor den möglichen Folgen einer so tiefgehenden Kränkung, die er nicht vorhergesehen hatte. Daher klang auch ein besonders warmer, überzeugender Ton durch seine Worte, mit denen er, ohne das formell Unrichtige seines Verhaltens zu bestreiten, den in der That unverdienten Vorwurf zu entkräften suchte.

„Ich gebe Ihnen mein Wort als Edelmann, daß Sie sich täuschen, Fräulein Dina. Nur etwas Wahres liegt in Ihren Worten, daß nämlich ein gewisses Unbehagen mir den Entschluß zu der plötzlichen Reise ohne Abschied eingab. Erlauben Sie, daß ich mich, da nun einmal die Dinge gegen meinen Willen sich so gestaltet haben, offen über alles ausspreche.

Als ich an jenem Abend nach meinem letzten Besuch, da ich Sie zu sehen nicht das Glück hatte, den Gasthof betrat, fand ich dort die gewohnten ärgerlichen Briefe aus Limforden vor. Herr von Alten verlangte eine Antwort auf geschäftliche Fragen, und diese ihm zu ertheilen, war schriftlich nicht möglich. Es drängte mich infolgedessen, so bald wie irgend angängig, mit Tromholt Rücksprache zu nehmen, mit welchem ich seit längerer Zeit wegen des Verkaufs der Werke unterhandle. Eine Aussprache mit ihm mußte meinen Auseinandersetzungen mit Alten vorhergehen. Deshalb beschloß ich, zunächst nach Kopenhagen zu reisen. Nachdem ich die Limfordener Briefe gelesen, entfaltete ich die Zeilen, die Fräulein Elbes Tod meldeten, und ich begriff, daß Sie, Fräulein Dina, dadurch in eine sehr gedrückte Stimmung gerathen würden. Der natürliche Takt verbot mir unter solchen Umständen, mit Ihnen über die Dinge zu sprechen, die mir sehr am Herzen liegen. Ich aber war nicht mehr imstande, ferner so ohne Aussprache neben Ihnen herzugehen, und ich wußte, Ihre Frau Schwester, die ich ins Vertrauen gezogen hatte, würde es aus gleichen Gründen jetzt vermeiden, Ihnen von meinen Wünschen zu reden. Deshalb zog ich es vor, mich zu entfernen, und folgte dabei zugleich einer – ich gestehe es – etwas selbstsüchtigen Laune. So, nun wissen Sie alles! Wenn Sie sich, und ich habe zahlreiche Beweise dafür, wie gut Sie sich in die Stimmung anderer Menschen hineinzuversetzen vermögen, in meine Lage denken, werden Sie – ich hoffe es – nicht zu scharf mit mir ins Gericht gehen.“

Snarre brach rasch ab und beobachtete den Eindruck, den seine Worte auf Dina machen würden. Aber es war nicht der, den er erwartet hatte.

Dina war sichtbar nicht befriedigt durch seine Erklärung, sie blickte, das Haupt bewegend, ins Leere und erhöhte durch ihr Schweigen Snarres Unruhe.

„Sie schweigen! Sie glauben, daß ich Ihnen etwas verhehle, Fräulein Dina?“ begann er wieder und richtete einen bittenden, fast flehenden Blick auf das Mädchen.

„Ja, Herr Graf! Ich glaube, es war noch etwas anderes mit im Spiel, das Sie mir und vielleicht sich selbst verhehlen. Daß Sie uns nicht absichtlich kränken wollten, nehme ich als erwiesen an, aber gerade daß Sie es unbewußt thaten, daß Ihnen“ – hier stockte Dina und erröthete tief – „Ihr Herz nicht eine andere, zartere Form eingab, uns – mir Ihr Verhalten in einer jedes Mißverständniß ausschließenden Weise zu erklären, das – –“

„Das? Fräulein Dina!“ rief er drängend, da sie aufs neue stockte.

„Das beweist mir, daß eben der kühle Verstand, ja sogar die flüchtige Laune eine stärkere Sprache bei Ihnen spricht, als das Herz, und daß das letztere in allen Fällen unterliegen muß, wo die ersteren sich einmischen, und das“ – wieder unterbrach sich Dina und Thränen zitterten in ihren Augen, als sie schloß: „das – schnitt mir ins Herz, Herr Graf –“

„Dina!“ rief Snarre, indem er ihre Hände, die sie, um ihm ihre Thränen zu verbergen, vor das Gesicht geschoben, ergriff und mit Küssen bedeckte – „Dina, mein süßes, süßes Kind! Sag’, hast Du mich lieb und glaubst Du, daß es die Sprache des Herzens ist, wenn ich Dich frage: Willst Du die Meine sein, mein Weib, mein guter Kamerad fürs ganze Leben? Willst Du, Dina?“ und er sank in übermächtiger Bewegung vor ihr auf die Kniee.

„O, stehen Sie auf, ich bitte Sie, Herr Graf!“ flüsterte Dina aufs höchste verwirrt, indem sie ihm mit abgewandtem Blick ihre Hände zu entziehen suchte.

Aber er preßte sie nur um so fester an sich. „Nicht mehr Herr Graf, nenne mich nicht so, Dein bester Freund ist es, der vor Dir knieet, und von diesem Augenblick an Dein Bräutigam, wenn Du ihn erhörst. O, wende Deine Augen nicht fort, laß mich die Thränen, die meine Schuld ihnen entlockt und die mir doch ein Beweis Deiner Liebe sind, wegküssen! Dina, ich flehe Dich an, sprich, willst Du mein sein?“

Da wendete sie ihr Haupt, unter Thränen lächelnd, glückstrahlend ihm zu. „Ja, ja –“ klang es von ihren Lippen, und das Wort riß ihn vom Boden empor, selig zog er die nicht mehr Widerstrebende an seine Brust und drückte heiße Küsse auf ihre Lippen.


*               *
*


Zu Tromholt ins Comptoir trat am Vormittag des nächstfolgenden Tages Graf Snarre. In seinem Angesicht spiegelten sich die Eindrücke des Geschehenen lebhaft wieder. Fröhlich strahlende Augen verriethen, welch glückliche Empfindungen ihn beherrschten. Mit herzlicher Wärme verkündete er Tromholt seine Verlobung.

„Jawohl, Tromholt,“ sagte er, „wo zwei Menschen glücklich werden, da müssen Sie das Ihrige mit dazu beitragen. Seit gestern weiß ich, wie Sie bei meiner Braut für mich eingetreten sind; ohne Ihren freundlichen Zuspruch wäre sie gleich nach meiner Ankunft vor mir geflohen, und wenn sich die Mißverständnisse inzwischen so rasch und befriedigend geklärt haben, so danke ich das Ihnen. – Doch jetzt, mein hochverehrter Freund, zu anderen Dingen! Da ich meiner mir vorausgereisten Braut versprochen habe, baldmöglichst nach Kiel zurückzukehren – und Sie begreifen, wie sehr mich danach verlangt – was thun wir mit den Limforder Werken? Ich will sie jetzt um so eher und unter allen Umständen veräußern. Ich bitte, helfen Sie mir! Sehen Sie, ich habe einen Plan, der, wie ich glaube, uns allen dienen kann. Bilden wir eine Aktiengesellschaft! Ich will für eine Zeitdauer von fünf Jahren eine Zinsgarantie von fünf Prozent übernehmen, das macht bei einer halben Million Thaler fünfundzwanzigtausend Thaler, also während fünf Jahren hundertfünfundzwanzigtausend Thaler. Mit dieser und nöthigenfalls mit der doppelten Summe will ich mich selbst, wenn Sie sich zur Uebernahme der obersten Leitung verstehen, als Aktionär betheiligen, und mein Aktienbesitz soll, abgesehen von meiner sonstigen Haftbarkeit, als Bürgschaft dienen und bei einer Bank zu Gunsten der Aktionäre niedergelegt werden. Ich will nur nichts mehr mit der Verwaltung zu thun haben – nichts, gar nichts mehr von den Werken hören und sehen als den jährlichen Rechenschaftsbericht. Sie können dann auch Ihren Schwager, Herrn von Alten, mit dem ich, wie Sie wohl erfahren haben, inzwischen schwer auszugleichende Meinungsverschiedenheiten hatte, dort verwenden. Ich möchte ihn natürlich nicht brotlos machen und will auch gleich [664] bemerken, daß ich unter allen Umstanden mich umgesehen haben würde, ihm etwas Einträgliches zu verschaffen. Schon die Rücksicht auf Sie und Ihre von mir sehr verehrte Frau Schwester würde mich dabei geleitet haben. Nun, Tromholt, was meinen Sie?“

Tromholt, der Snarre bisher ruhig zuhörend gegenübergesessen hatte, war während der letzten Sätze aufgestanden und langsam auf- und abgegangen.

„Es ist eines,“ erwiderte er, „was mich Ihr Anerbieten in Betracht zu ziehen zögern läßt, Herr Graf. Sie legen besonderes Gewicht auf meine Person, ich aber –“ bei den folgenden Worten blieb Tromholts Miene durchaus unverändert, während Snarre erschrocken zusammenfuhr – „werde schon deshalb mich nicht betheiligen können, weil es neuerdings mit meinem Auge sehr schlecht steht und ich genöthigt bin, mich einer Operation zu unterwerfen, deren Erfolg sehr zweifelhaft, die aber nach dem Ausspruch der Aerzte das einzige Mittel ist, mich vor völliger Erblindung zu bewahren. Ja, ja, lieber Herr Graf, ich darf mich dieser Erkenntniß nicht länger verschließen, und was dann? Vielleicht, hoffentlich kann ich auch ferner noch mein hiesiges Geschäft fortsetzen, aber die Verantwortung für Limforden und Trollheide zu übernehmen, ist unmöglich, obgleich sie mir an sich nahe stehen, da ich der Schöpfer des Gedankens bin und das allerlebhafteste Interesse an dem Gedeihen habe. Sie verstehen das, nicht wahr?“

Und ehe noch Snarre seiner Bestürzung Ausdruck zu geben vermochte, fuhr er fort:

„Ich sollte aber denken, Ihr Plan ließe sich auch ohne mich ausführen, und da nun so greifbare und, wie ich gestehe, das Zustandekommen sehr erleichternde Vorschläge von Ihnen gemacht sind, denke ich, daß hiesige Kapitalisten nicht mehr zögern werden. Die Sache ist gut, der Absatz ist gesichert und in stetem Steigen begriffen, auch die Seen sind nunmehr sämmtlich trocken gelegt und für die Bepflanzung reif. Der Ertrag wird bei günstiger Ernte bereits im nächsten Jahr ein sehr erheblicher sein, also alle Aussichten liegen günstig. Warum sollten die Banken zögern? Lassen Sie es meine Aufgabe sein, das Geschäft mit ihnen zu Ende zu führen. Ich kenne ja die Dinge dort und hier sehr genau. Sie sollen von mir brieflich über den Gang der Verhandlungen auf dem laufenden erhalten werden, und wenn ich, wie es meine feste Absicht ist, demnächst noch vor der entscheidenden Operation, für die man mir den Kieler Professor Völkers empfohlen hat, nach Limforden komme, die Meinigen noch einmal, vielleicht zum letztenmal zu sehen, so hoffe ich, Ihnen den glücklichen Abschluß melden zu können.“

Snarre machte ein überaus befriedigtes Gesicht und in seine kleine, aristokratische Gestalt trat eine lebhafte Bewegung. Etwas beschäftigte ihn jedoch noch. „Und was wird aus Alten?“ wandte er zögernd ein.

„Sorgen Sie nicht für Alten,“ erwiderte Tromholt, „er soll kein Hinderniß für Ihre Entschlüsse bezüglich Limfordens sein. Ich werde meinen Schwager hier in meinem Geschäfte anstellen, ja, ich muß dies unbedingt, wenn ich mein Auge auch nicht verlieren sollte. Auch in diesem günstigsten Fall werde ich in Zukunft jede meine Sehkraft übermäßig anstrengende Thätigkeit vermeiden müssen. Aber ganz ohne Geschäft kann ich nicht leben, auch wenn mir meine materiellen Mittel dies erlaubten; stillsitzen vermag ich nicht und mein Geist muß Bewegung haben, auch wenn es für immer Nacht vor meinen Augen werden sollte. Da ist mir denn Alten ein willkommener, ja geradezu ein unentbehrlicher Führer!“

Snarre hörte staunend zu. Welch eine Kraft der Entsagung und zur Unterwerfung in das Unvermeidliche besaß dieser Mann! Er überwand das Schwerste durch seine Willensstärke.




20.

Nach Snarres Abreise war Tromholt ganz von der Beschäftigung mit Ingeborgs Nachlaß und der ihm von dem Grafen übertragenen Angelegenheit in Anspruch genommen. Rascher, als er dies selbst gehofft hatte, führte er die letztere zu einem befriedigenden Ende, dank dem großen Ansehen und Vertrauen, dessen er in der Geschäftswelt Kopenhagens sich erfreute. Utzlar schwamm nach einem ergreifenden Abschied von dem Manne, dem er das Leben gerettet hatte, um ein neues von ihm zu empfangen, mit der ihm vor der Abreise angetrauten Agnes bereits auf hoher See. So stand denn auch Tromholts Fahrt nach Limforden und Kiel kein Hinderniß mehr im Wege. Die Aerzte, welche ihm die Befragung ihres dortigen berühmten Fachgenossen empfohlen hatten, riethen dringend, nicht länger mit dem entscheidenden Schritt zu zögern, und er selbst fühlte es, daß Eile noththue.

Der starke, zielbewußte Mann befand sich in einer unbeschreiblichen Stimmung. Zum erstenmal in seinem Leben vielleicht schwankte er in seinen Entschlüssen bezüglich dessen, was für ihn in der nächsten Zukunft zu thun sei. Herz und Vernunft, Pflicht und Liebe stritten in ihm den schwersten Kampf, über dessen Ausgang er sich selbst nicht klar wurde.

Einestheils konnte er nach dem Inhalt der Schriftstücke, die Ingeborgs letztes Vermächtniß an ihn bildeten und die er immer und immer wieder in sein Gedächtniß zurückrief, kaum länger zweifeln, daß Susanne ihn liebe, sich in heimlicher Sehnsucht nach ihm verzehre und daß sie, wenn auch zu stolz, den ersten Schritt zu thun, doch einer Werbung von seiner Seite freudigen Herzens zustimmen würde. Oder war es möglich, daß Dina sich selbst und Ingeborg getäuscht hätte? – Nein, nein, ihre Briefe an die nun hingegangene Freundin trugen unverkennbar den Stempel unmittelbarster Beobachtung. Und wie hätte ihn Ingeborg in ihrer Todesstunde zum Mittwisser eines Geheimnisses machen können, von dessen Wahrheit sie nicht selbst völlig überzeugt war, sie, die ihm damit das größte Opfer darbot, das ein Weib dem Manne, den sie liebt, zu bringen vermag!

Sein eigenes Herz sagte es ihm selbst tausendmal: „Eile zu ihr, sie liebt dich! Verlängere nicht ihre Qual und die deine. Lange genug habt ihr beide in gegenseitiger Entsagung gelitten, euch ferne von einander in stummem Gram verzehrt. Nun winkt euch das Glück, das höchste, das ihr ersehnt!“

Wie gerne wäre er der Stimme des Herzens gefolgt, hätten nicht Vernunft und Pflichtgefühl ihren Einspruch dagegen erhoben! Durfte er bei dem Entsetzlichen, mit dem ihn die Zukunft vielleicht bedrohte, ihr Leben jetzt noch an das seinige, an das eines Blinden fesseln? Würde sie nicht, wenn sie jetzt auch diesen Einwand nicht gelten ließ und seine Werbung annahm, später, wenn das Gefürchtete wirklich eintrat, den Schritt doch bereuen, und würde er selbst sich nicht bittere Vorwürfe zu machen haben, wenn er ihr freiwilliges Opfer hinnahm, Vorwürfe, die ihm sein ohnehin hartes Los noch schwerer erträglich machen würden? Konnte er ihr jetzt noch das Glück an seiner Seite bieten, das sie nach seiner Ansicht verdiente?

Solche Fragen beantworteten Pflicht und Vernunft mit einem grausamen Nein! Freilich, es kam dazwischen auch noch eine andere Stimme zum Wort, die Stimme der Hoffnung. Wenn die Operation gelänge, wenn das Gefürchtete nicht einträte, dann, ja dann! Aber diese Stimme klang nur schwach und schüchtern. – – –

So trat Tromholt die Reise an. Der vorläufige Entschluß, zu dem er gekommen war, ging dahin, erst in Limforden das Geschäft zum Abschluß zu bringen, einige Tage bei den Seinigen dort zu verweilen und sich dann in Kiel, ohne Susanne vorher gesehen und gesprochen zu haben, der Operation zu unterziehen, von deren Erfolg alles Weitere abhing.

Er hatte den Grafen Snarre und Alten von seiner Ankunft telegraphisch benachrichtigt und traf daher den ersteren, hochbefriedigt über den Gang, den die Dinge genommen hatten, gleichfalls in Limforden.

Die ersten Tage seines Aufenthalts dort waren einer eingehenden Besichtigung der Werke gewidmet, die Tromholt im besten Stand fand, sowie der Inventuraufnahme, dem Verkehre mit den Kaufliebhabern, kurz allem, was auf eine rasche, alle Theile befriedigende Erledigung dieser dem Grafen wie ihm selbst gleich sehr am Herzen liegenden Angelegenheit hinzielte. Nachdem dies erledigt war, kehrte der Graf nach Schloß Snarre zurück und Tromholt blieb bei Alten in Limforden.

Das Glück, den lang entbehrten Bruder und Schwager wieder bei sich zu haben, die frohe Aussicht, bald ganz mit ihm vereinigt zu sein, versetzten Bianca und ihren Gatten in eine überaus gehobene Stimmung; der letztere vergaß darüber sogar, dem in seinem Herzen angehäuften Groll gegen Snarre in seiner [666] gewohnten sarkastischer Weise dem Schwager gegenüber Ausdruck zu geben. Nur die Sorge um die nächste Zukunft, die Gefahr, der Richard entgegenging, warf einen Schatten über dieses glückliche Zusammensein. Auch auf Tromholt wirkte der Aufenthalt im Altenschen Familienkreis überaus wohlthuend, der Zwist in seinem Innern beruhigte sich, und eine vertrauliche Aussprache mit Bianca, wobei er der Schwester von Ingeborgs Vermächtniß Kenntniß gab, brachte in ihm den Entschluß zur Reife, nun doch noch einmal im Ericiusschen Hause vorzusprechen, bevor er den schweren Gang antrat, der ihn vielleicht in ewige Nacht hüllte. Er wollte Susanne, zu der ihn sein Herz mit so heißer Sehnsucht hinzog, wenigstens noch einmal vor „des Lichtes ewigem Schwinden“ sehen.

Von Biancas und Altens Segenswünschen begleitet, reiste er einen Tag vor dem für die Operation festgesetzten nach Kiel ab.


*               *
*


Im Ericiusschen Hause hatte sich inzwischen etwas zugetragen, von dem Tromholt keine Ahnung haben konnte. Während Dina bei der Beerdigung Ingeborgs in Kopenhagen weilte, war jener Brief, den Ingeborg für Dina hinterlassen und Tromholt nach Kiel abgesandt hatte, dort eingetrofen. Susanne, die, wie auch ihre Mutter, in einiger Besorgniß um Dina war, da diese allein ohne jeden Schutz die Reise unternommen hatte, und die nun begierig auf eine beruhigende, ihre glückliche Ankunft dort meldende Nachricht wartete, nahm diesen Brief dem Postboten aus der Hand und, überzeugt, daß es der so sehnlich erwartete sei, vielleicht auch in der Hoffnung, er werde etwas auf Tromholt Bezügliches enthalten, öffnete sie ihn, ohne näher auf die Adresse zu sehen.

Nun hatte Susanne zwar gleich nach dem Lesen der ersten Zeilen Ingeborgs Handschrift und damit ihren Irrthum erkannt, allein sie sah auch ihren eigenen Namen in Verbindung mit dem Tromholts des öfteren wiederkehren, und so, von einer seltsamen Unruhe und der Begierde, etwas von Tromholt zu erfahren, beherrscht, vergaß sie alle Bedenken über die Berechtigung ihres Thuns und las den für ihre Schwester bestimmten Brief.

Er war mit schwacher, zitternder Hand geschrieben und lautete:

„Meine geliebte Dina!

Wenn Du diese Zeilen erhältst, wird die, welche sie geschrieben hat, zu der ersehnten Ruhe eingegangen sein, die sie in diesem Leben nicht finden konnte; denn es ist mein Wille, daß dieser Brief erst, wenn ich die Augen für immer geschlossen habe, in Deine Hände gelangt. Ich fühle, daß der Augenblick nicht mehr fern ist, ich sehe ihm ohne Furcht und Schrecken entgegen, der Tod naht sich mir als ein Erlöser von schwerer Qual. Und doch möchte ich auch mit diesem Leben versöhnt in jenes andere, bessere hinübergehen. Wenn ich daher allen, die mir hier Böses gethan haben, von ganzem Herzen verzeihe, wie viel mehr muß mir daran liegen, denen, die mir Wohlthäter und Freunde waren, ein dankbares Gedächtniß zu hinterlassen!

Was ich hier Gutes genossen, das danke ich in erster Linie Herrn Richard Tromholt, in dessen Haus ich eine schützende Zuflucht gefunden habe und ein sanftes Sterbelager zu finden hoffe, ihm, dessen Liebe ich nicht werth war, und der mir doch sein reiches, großmüthiges Herz erschloß, wie ein Bruder für mich sorgte, – und sodann Dir, deren Freundschaft mir treu blieb bis ans Ende und mir so manche Stunde des Leidens gemildert hat.

Euch beide möchte ich so gern glücklich wissen, Tromholt und Dich. Du, Dina, hast ein reines, frohes Gemüth. Möchtest Du den Mann finden, der seine Schätze zu würdigen weiß und Dich so glücklich macht, wie Du’s verdienst, wie ich es wünsche! Und Du wirst ihn finden, ich weiß es, ich ahne es, Sterbende sind fernsichtig. –

Aber Tromholt? Er ist ein Mann der strengen Pflichterfüllung, eine edle, starke Natur, die, wo sie sich verkannt glaubt, sich entsagend auf sich selbst zurückzieht, ihre Qual gewaltsam beherrscht und das Glück, wenn es sich bietet, zu haschen versäumt. Was kann ich für ihn thun, ich, das schwache Weib, für ihn, den starken, zielbewußten Mann! Manche schlaflose Nacht hab’ ich darüber nachgedacht, vergebens, und erst der nahe Tod hat mir die rechte Antwort auf meine Frage gegeben. Ja, ich kann es, und es ist meine Pflicht, es zu thun, selbst wenn ich damit das Geheimniß, das mir die Freundschaft auferlegt, breche und damit einen Treubruch begehe gegen Dich. Ja, gegen Dich, Dina! Höre meine Beichte und verzeihe mir, wenn Du kannst, verzeih’ Deiner sterbenden Freundin, die Dich so sehr geliebt hat, Dich und – –. Doch höre:

Tromholt liebt Susanne seit dem Augenblick, da er sie zuerst sah, und keine noch so bittere Erfahrung, kein noch so starkes Weh, das sie ihm angethan, hat diese Liebe je zu verwischen, je auch nur abzuschwächen vermocht. Sein Herz gehört ihr, sehnt sich nur nach ihr und wird ihr gehören, so lange es schlägt. Ein Mann wie Tromholt kann nur einmal lieben! Bleibt diese Liebe unerwidert, wie er es von der seinen glaubt – denn der Schein, Dina, täuscht auch die Stärkste – so trägt er die Wunde immer in der Brust mit sich herum, und eben weil er die Blutung nach außen durch seinen starken Willen abdämmt, so verblutet sich sein Herz langsam nach innen! O, meine geliebte Dina, weißt Du, wie weh das thut? –

Ich weiß es, ich sah, wie er um sie litt. Ob er gleich seine Qual wie ein Held verbarg, ich sah sie und ich besaß das erlösende Wort, das diese Qual beschwört hatte, besaß es in Deinen Briefen, Dina, und durfte es nicht aussprechen. Ich durfte nicht, nein, aber auch mein eigenes Herz sträubte sich dagegen, es gab Augenblicke, wo ich, von schwerer Selbstsucht befangen, seine Liebe verwünschte und die, der er sie geweiht, darum beneidete, haßte. Diese Selbsterkenntniß liegt in der Todesstunde wie eine schwere Schuld auf meinem Gewissen. Dina, ich darf, ich kann sie nicht mit hinübernehmen ins Jenseits, wenn mir der ewige Richter dort vergeben soll.

Soll Tromholt sich noch länger in stummem Schmerze verzehre, da Susanne, wie Du mir schreibst, ihn wieder liebt, und – wie könnte es auch anders sein! – mit derselben ungestillten Sehnsucht nach ihm verlangt? Sollen sie beide für alle Zukunft unglücklich sein, weil ihnen diese Liebe gegenseitig ein Geheimniß ist? Nein, Dina, das kann, das darf nicht sein, das will der Himmel nicht, Du selbst mußt es begreifen, und mir ist es in diesen Schmerzenstagen zur unumstößlichen Gewißheit geworden. Wie eine Erleuchtung von oben, vor der jede irdische Verpflichtung weichen muß, kam es über mich, ihr will ich folgen, ihr allein, und wenn der Tod seine Hand nach mir ausreckt, dann will ich Tromholt Deine Briefe, die ihm das Geheimniß von Susannens Liebe enthüllen, als mein letztes Vermächtniß in die Hand legen.

Und nun, liebe Dina, hab’ ich mein Herz vor Dir ausgeschüttet, ich weiß, Du verzeihst mir.

Meine Kräfte schwinden, der Husten kehrt wieder, meine Hand vermag die Feder nicht länger zu halten, es ist das Letzte, was sie in diesem Leben geschrieben.

Leb’ wohl, Theure, Liebe, weine nicht um mich! Mir ist wohl! Seid glücklich, alle, alle, und gedenket zuweilen in Liebe

Eurer Ingeborg.“

Susanne hatte die Schlußworte dieses Briefes nicht mehr gelesen. Bei der Stelle über Dinas Briefe an Ingeborg, die das Geheimniß ihrer Liehe enthielten, war ihre anfängliche Ergriffenheit einem jähen Ausbruch der Scham und des alten Trotzes gewichen. Sie hielt sich von Dina für verrathen, vor Ingeborg und Tromholt gedemüthigt. Was Ingeborg von Tromholts Liebe zu ihr schrieb, hielt sie für nicht mehr als einen Zoll des Mitleids, ein Almosen, das sie nicht begehrt hatte. Ein unbändiger Zorn gegen Dina, Ingeborg, Tromholt, ja gegen sich selbst erfaßte sie, alle Reue und Sehnsucht war vergessen, sie war wieder ganz die alte, stolze, trotzige Susanne von damals, welche die Perle, die sich ihr darbot, mit Füßen trat und nach dem Kiesel griff.

Mitten in diese innere Erregung hinein kam Dinas Botschaft von ihrer Verlobung mit Snarre, von einem Brief des letzteren begleitet, der die Genehmigung der Familie für sein und Dinas Vorgehen in höflichster Form nachsuchte und dabei auch auf sein früheres Gespräch mit Susanne Bezug nahm. Frau Ericius war so erfreut über dieses nach dem jüngsten Zwischenfall kaum mehr erwartete Ereigniß, daß sie darüber die Zeichen nervöser Unruhe in dem Benehmen ihrer älteren Tochter völlig übersah. Auch vermochte sich Susanne in der ersten Zeit nach Dinas Rückkehr soweit zu beherrschen, daß sie dieser mit einer flüchtigen Entschuldigung Ingeborgs Brief übergab, ohne ihre Kenntniß des [667] Inhalts zu erwähnen. Selbst Dina bemerkte in ihrem jungen Glück nicht die Wolken, die über der Stirn ihrer Schwester lagen, die Kälte ihrer Glückwünsche, die Geflissentlichkeit, mit der sie ihr und dem Grafen auswich und sich oft tagelang in ihr Zimmer einschloß.

Von Tag zu Tag erwartete Dina Tromholts Ankunft; nur die Trauer um Ingeborg konnte ihn nach ihrer Ansicht so lange zurückhalten, sie hatte gehört, daß er in Limforden sei, nun mußte er doch bald kommen! Und die kindliche, glückliche Dina träumte bereits von einer Doppelhochzeit. Es wurde ihr schwer, ihr Geheimniß für sich zu behalten, es nicht wenigstens anspielungsweise ihrem Bräutigam, namentlich aber Susanne selbst, zu verrathen, und gerade dieser gegenüber wurde es ihr schließlich, da Tromholt immer nicht kam, zu schwer. Sie konnte nicht umhin, die Möglichkeit seines Besuchs unter Hinweis auf Ingeborgs Brief mit allerlei schelmischen Bemerkungen anzudeuten.

Da erst kam Susanens lang verhaltener Unmuth zum vollen Ausbruch. Sie machte Dina die heftigsten Vorwürfe über ihre Rücksichtslosigkeit, nannte ihre Behauptungen schnöde Lügen und ging so weit, von ihr zu verlangen, daß sie sofort an Tromholt schreibe, das Mißverständniß aufkläre und ihm mittheile, sie, Dina, habe sich getäuscht, zu voreilig geurtheilt, er möge ihren brieflichen Mittheilungen an Ingeborg, soweit sie sich auf Susannens Gemüthszustand bezögen, keinen Glauben beimessen und sich von ihnen namentlich nicht zu Schritten hinreißen lassen, die ihm nur schwere Enttäuschung bereiten würden.

Das aber war auch Dina zu viel. Anfänglich eingeschüchtert durch die Maßlosigkeit von Susannens Anklagen, gerieth sie bei dieser letzteren Zumuthung selbst in leicht begreifliche Erregung. Sie hatte das Beste gewollt und sah nun sich und die verstorbene Freundin in dieser Weise verunglimpft. Das war zu viel, das ging über ihre Geduld, und in gereiztem Tone wies sie Susannens Vorwürfe zurück. Sie nahm keinen Anstand, ihr ins Gesicht zu sagen, daß sie sich nicht getäuscht habe, daß das, was sie Ingeborg geschrieben, keine Lüge, sondern Wahrheit sei, von der sie kein Wort zurücknehme, die sie auch den heftigsten Widersprüchen Susannens zum Trotz aufrecht erhalte.

Die Leidenschaftlichkeit der beiden Schwestern hatte ihren Höhepunkt erreicht, als Tromholts Besuch gemeldet wurde.

„Nein, nein,“ rief Susanne, „ich kann, ich will ihn nicht sehen! Empfange Du ihn, Du bist’s ja, die ihn gerufen hat, nicht ich! Nun sieh zu, wie Du mit ihm fertig wirst, und wenn Du nicht den Muth hast, ihm offen Deinen Irrthum zu bekennen, so mag ihn meine Abwesenheit davon überzeugen, daß es nicht wahr ist, wenn Du behauptest, ich gräme mich um ihn und er dürfe nur kommen und mir seine Liebe als ein Almosen anbieten, wie man’s aus Mitleid einer Bettlerin darreicht. Nein, nein, ich will kein Almosen von ihm!“

Und was auch Dina thun mochte, die Erregte zu beruhigen, ihren unsinnigen Verdacht zu widerlegen und sie zu beschwören, dem alten Freund des Hauses gegenüber wenigstens die äußere Form zu wahren, Susanne hörte nicht mehr auf sie und verließ eilends durch eine Seitenthür das Gemach, um sich in ihrem Zimmer einzuschließen.

Tromholt hatte im Gange noch die Stimme Susannens vernommen, ohne jedoch den Sinn der Worte, die so hastig herausgestoßen wurden, zu verstehen; um so mehr überraschte es ihn, Susanne bei seinem Eintritt in das Gemach nicht dort zu finden, auch entging ihm nicht die Spur großer Erregung in Dinas Zügen, als ihm diese mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen und thränenumflorten Augen entgegenkam und ihm herzlich die Hand drückte.

Eine dunkle Ahnung kam sogleich über ihn. „Was ist geschehen?“ fragte er. „Ist Ihre Frau Schwester krank, oder Ihre Mutter – den Grafen habe ich noch heute gesehen – oder was sonst kann Ihnen so großen Kummer bereiten?“ Und da Dina schwieg, fuhr er eindringlicher fort: „Verhehlen Sie mir nichts, Fräulein Dina! Was ist vorgefallen? Ich sehe, es wird Ihnen schwer, mir’s zu sagen. Ich hörte die Stimme Ihrer Frau Schwester, sie klang zornig und aufgeregt. Warum? – Betrifft es mich, meinen Besuch? – O bitte, sprechen Sie, sagen Sie mir die volle Wahrheit, auch wenn –“

Er vollendete den Satz nicht, aber unwillkürlich preßte er die Hand aufs Herz, immer deutlicher wurde in ihm das Vorgefühl einer schweren Enttäuschung, die ihm bevorstand, er empfand es wie einen stechenden Schmerz in der Brust.

Dina sah ihn mit mitleidsvollem Blick an. „Ja, Herr Tromholt,“ begann sie endlich, „es ist ein großes Unglück geschehen. Zwar Mama ist gesund, sie wird es bedauern, nicht hier zu sein, und mein Bräutigam desgleichen, aber Susanne – Susanne – ach, Sie haben es ja schon errathen –“

„Was ist Frau Susannen?“ fragte Tromholt hastig; noch sträubte sich sein Herz, an das Schreckliche zu glauben, daß seine Ahnung sich bestätigen sollte.

„Susanne,“ erwiderte Dina stockend – „sie ist nicht mehr hier – ist im Zorn fortgegangen, da Sie kamen. Ich muß Ihnen einen großen Schmerz anthun, Herr Tromholt, einen Schmerz, den ich mit ganzer Seele theile, um so mehr, als ich es bin, die ihn verschuldet hat. Gott weiß, daß ich nur das Beste gewollt habe! Susanne hat durch einen Zufall von Ingeborgs letztem Brief Kenntniß bekommen, sie weiß, was ich der Freundin über sie geschrieben, weiß, daß die betreffenden Briefe durch Ingeborgs Vermächtniß in Ihren Händen sind. Und darüber ist sie außer sich, sie hält sich für verrathen, betrogen, vor Ihnen gedemüthigt. Ihr gekränkter Stolz hat jedes bessere Gefühl in ihr erstickt, jedes vernünftige Urtheil getrübt. Sie glaubt nicht an Ihre Liebe, meint, Sie wollten sie ihr jetzt nur aus Mitleid wie ein Almosen darbieten. Sie verlangt, daß ich meine Mittheilungen an Ingeborg widerrufe, sie für eine Lüge erkläre. Und doch weiß ich, daß sie wahr sind, auch wenn sie selbst es nicht zugeben will. Ihr Stolz ist eben stärker als alles andere und – ich fürchte – er wird es bleiben, bis es zu spät ist, bis wie schon einmal die Reue nachkommt. O, verzeihen Sie mir das Weh, das ich Ihnen zugefügt habe, und vergeben Sie, wenn Sie können, auch meiner Schwester, die sich selbst am tiefsten unglücklich macht.“

Bei diesen Worten flossen Thränen über Dinas Gesicht Tromholt aber, so groß auch sein Schmerz war, beherrschte sich gewaltsam, um den ihrigen nicht zu verschärfen, und mit ruhiger, nur von einem leisen Hauch der Trauer durchzitterter Stimme erwiderte er: „Wie könnte ich Ihnen zürnen, Fräulein Dina, da doch die Theilnahme, die Sie an meinem Schicksal nehmen, so deutlich aus Ihren Worten, Ihren Thränen spricht! Auch gegen Ihre Frau Schwester hege ich keinen Groll, so sehr ich das Mißverständniß beklage, dessen Opfer sie ist. Denn nicht in der Absicht, die sie voraussetzt, bin ich hierher gekommen. Mag, was Sie Ingeborg Elbe geschrieben haben, auf einer Täuschung beruhen oder nicht, es war gut gemeint, ich danke Ihnen dafür und der Entschlafenen, die mir damit noch in der Todesstunde etwas Gutes thun wollte. Aber nimmermehr hätte mich das veranlaßt, heute um die Hand Ihrer Frau Schwester zu werben, geschweige denn ihr die meinige in dem Sinne anzubieten, den ihr gekränkter Stolz mir zutraut. Die Gründe, die mich davon abhielten, liegen in meiner Gesundheit. Die Besorgniß um sie hat mich nach Kiel geführt; ich habe den Professor Völkers wegen meines Augenleidens zu Rathe gezogen, und da die Kur, die er mir vorschlägt, mich voraussichtlich auf eine längere noch nicht bestimmbare Zeit von jedem Verkehr mit den Menschen ausschließen wird, so wollte ich nicht an diesem Haus vorübergehen, ohne Sie, Ihre Frau Mama und – ja ich gestehe es, vor allem auch Frau Susanne noch einmal zu sehen.“

„Um Gotteswillen, Herr Tromholt, Ihr Auge?“ rief Dina, völlig niedergeschmettert über diese Nachricht, die ihr Graf Snarre bisher schonend verschwiegen hatte.

„Beruhigen Sie sich!“ besänftigte Tromholt. „Ja, es handelt sich um mein Auge, und ich selbst bin schuld, daß sich sein Zustand durch die Anstrengung, die ich ihm zumuthete, in einer Weise verschlimmert hat, die vielleicht einen operativen Eingriff nothwendig macht. Ich sage „vielleicht“, denn alles Weitere hängt vorerst noch von dem Ermessen des Arztes ab. Und nun leben Sie wohl, empfehlen Sie mich Ihrer Frau Mama und berichten Sie ihr, wie sehr ich es bedauere, sie nicht angetroffen zu haben! Grüßen Sie auch Frau Susanne und sagen Sie ihr, daß sie sich getäuscht habe und daß sie mir nicht zürnen möge, wie auch mein Herz frei von allem Groll ist. Leben Sie wohl, Fräulein Dina!“




[668] Mit langsamen, schleppenden Schritten, das Haupt voll schwerer, trüber Gedanken, begab sich Tromholt zunächst in seinen Gasthof und von da zur bestimmten Stunde in die Klinik, wo ihm der Arzt nach eingehender Untersuchung erklärte, daß die Operation schon in den nächsten Tagen vorgenommen werden müsse, sollte sie noch irgend welche Aussicht aus Erfolg haben.

Indessen verbrachte Susanne in der selbstgewählten Einsamkeit ihres Zimmers qualvolle Stunden. Ihrem Auftritt mit Dina war eine große Abspannung gefolgt. Auf dem Sofa hingestreckt, drückte sie ihr Gesicht in das Kissen und ließ ihren Thränen freien Lauf. Und – seltsam – es war, als ob diese Thränen allen Groll in ihrer Brust lösten, langsam, ganz allmählich kehrte ihr die ruhige Besinnung und damit ein brennendes Gefühl der Scham über ihr Betragen zurück, das sich bald zu marternden Selbstvorwürfen steigerte. Solcher Wechsel war in ihrer leidenschaftlichen Natur nur zu begründet. So lange sie die Regungen des gekränkten Stolzes in ihrer Brust verschlossen hatte, schärfte sich ihr Stachel mehr und mehr, bis es schließlich zu dem erwähnten Ausbruch kam. Nun der vorüber war und sie ihrem Zorn Luft gemacht, sich gerächt hatte, nun brach auch wieder ihre bessere, edlere Natur durch, der Schleier, den die Erregung über ihr Auge geworfen hatte, sank, und mit peinlicher Deutlichkeit erkannte sie nun erst die ganze Tragweite dessen, was sie gethan.

Hatte sie ein Recht, einen Grund, Tromholt, den Mann, der sie einst geliebt hatte, dessen ganzes Leben eine Reihe von schweren Opfern im Dienst ihrer Familie gewesen war, dem sie selbst so viel verdankte, in dieser verletzenden Weise zu behandeln? – Nein, nein, sagte die wiedergekehrte bessere Einsicht. Es war ein großes, bitteres Unrecht, das sie dem Mann, dem sie so viel Vergangenes abzubitten hatte, damit anthat, und es ließ sich noch gutmachen. Er war drunten bei ihrer Schwester; wenn sie jetzt hinabeilte, jetzt gleich! – Aber wieder erhob der beleidigte Stolz sein Haupt. War er denn nicht gekommen, ihr seine Hand anzutragen aus Großmuth, weil man ihm gesagt, sie liebe ihn – sie, die ihn einst verschmäht, bettle jetzt um seine Gunst? Würde ihm ihre Flucht, ihr plötzliches Wiederkommen nicht als eine Bestätigung dieser falschen Zuflüsterungen erscheinen und ihn nur noch mehr in seinem großherzigen Entschluß bestärken? Denn die Großmuth allein, die beschämende Großmuth war es, die ihn hergeführt hatte, nicht die Liebe, die war sicher lang erloschen! Hatte er ihr nicht selbst deutlich zu verstehen gegeben, daß treue aufopfernde Freundschaft fernerhin das einzige Gefühl sei, das ihn mit ihr verbinde, damals auf Schloß Snarre, als sie in des Grafen Zimmer die erste zeugenlose Unterredung nach ihrer Trennung von Utzlar mit ihm gehabt, als sie, ihrer Empfindungen kaum mächtig, eine Bittende vor ihm stand? Ja, damals hatte er sie so schonend, als es ein Mann von seinem Charakter vermochte, aber doch mit aller Bestimmtheit zurückgewiesen. Seitdem war von seiner Seite nichts geschehen, was auf eine Sinnesänderung hindeutete. Ein Mann wie Tromholt blieb seinen Entschlüssen treu. Ohne Abschied war er von ihr gereist – und in der langen Zeit bis heute kein Wort, kein Lebenszeichen von ihm mit Ausnahme des wenigen, was sie durch Ingeborgs Briefe an Dina erfahren!

Nein, er liebte sie nicht mehr, und wenn es tausendmal wahr sein mochte, was Dina der Freundin geschrieben und er nun durch diese wiedererfahren hatte, sie wollte es leugnen vor ihm und aller Welt bis zum Tod, sie wollte ihm beweisen, daß ihre Charakterstärke der seinigen ebenbürtig sei, und wenn sie darüber zu Grunde ging.

So bekämpfte der Stolz die Rathschläge des Herzens. Und wenn es doch die Liebe war, die ihn zu ihr trieb, wenn es nur ähnliche Zweifel wie jetzt die ihrigen waren, die ihn so lange fern gehalten hatten? Was dann? War es nicht das Glück ihres Lebens, das sie mit eigener Hand für immer zerstörte? –

In solchem Zwiespalt der Gefühle verging Stunde um Stunde. Mutter und Schwester pochten zu verschiedenen Malen an die verschlossene Thür, vergebens, Susanne nahm nicht Speise noch Trank, ihr graute vor jedem tröstenden, teilnehmenden Zuspruch der Ihrigen; eine Nacht verging, ohne daß der Schlaf ihre Pein milderte, und sie wünschte den Tod herbei, daß er sie erlöse von der selbstgeschaffenen Qual dieses Zustands.

Da. am frühen Morgen, klopfe es wieder. Es war Dina. „Susanne,“ flehte sie, „komm, verzeih mir, wenn ich Dir wehgethan habe. Mama ist sehr besorgt um Dich, und ich – und da ist ein Brief für Dich von – von Herrn Tromholt, glaub’ ich. O lies ihn, er zürnt Dir nicht. Wenn Du wüßtest, was ihm bevorsteht, Susanne!"

Und jetzt sprang die verschlossene Thür auf. Was stand ihm denn bevor? – Susanne riß fast den Brief ihrer Schwester aus der Hand, sie eilte ans Fenster, lüftete die dasselbe verhüllenden Vorhänge, daß das Morgenlicht hell einströmte, und las:

„Kiel, Hotel Germania, den –
Verehrte Frau Gräfin!

Ein beklagenswerthes Mißverständniß hat mich gestern des Glücks beraubt, Sie zu sehen. Ich habe dasselbe Ihrem Fräulein Schwester schon bis zu einem gewissen Grad aufgeklärt, aber doch habe ich ihr nicht alles gesagt, und es drängt mich in diesem Augenblick, jede, auch die letzte Spur eines Zweifels zu beseitigen, der Ihr Herz noch mit unverdienter Bitterkeit gegen mich erfüllen könnte. Ja, Frau Gräfin, ich bin zu Ihnen gekommen in dem Glauben, daß Ihr Herz mir in anderem Sinn zugethan sei. Jener Glaube, den eine treue, nun heimgegangene Seele in mir erweckte, hat mich wohl berauscht und mit einem Glück erfüllt, wie ich es nie empfunden, noch je mehr zu empfinden gehofft hatte; allein er hat mein Gewissen doch nicht so betäubt, daß ich bei ernster Ueberlegung und Selbstprüfung nicht, wenn auch mit großem Schmerz, auf den wirklichen Besitz dieses Glücks verzichten müßte, selbst wenn es sich mir darböte. Ich habe Sie geliebt, Frau Gräfin, seit ich Sie zuerst gesehen habe, und niemals ist dieses Gefühl in meiner Brust erkaltet, nie, was auch geschehen möge, wird es je in mir erlöschen. Und doch hätte ich, selbst wenn Sie mich wiedergeliebt hätten, auf Ihre Hand verzichten müssen, – weil ich Ihr Leben nicht an das eines Blinden ketten durfte.

Noch bin ich das zwar nicht ganz, aber schon die nächsten Stunden werden darüber entscheiden, ob ich je wieder das Licht der Sonne erblicken werde. Ich gehe dem Augenblick mit Fassung entgegen, weil ich ihn seit lange kommen sah, und doch hat mich in der letzten Stunde mein Gefühl übermannt und der sehnliche Wunsch, Sie noch einmal zu sehen, ehe mein Auge vielleicht für immer erlischt, Ihr Bild mit hinüberzunehmen in die lange Nacht, die mir bevorsteht; der Wunsch ist es allein gewesen, der mich in Ihr Haus geführt hat.

Es sollte nicht sein, und so sage ich Ihnen auf diesem Weg ein letztes Lebewohl. Denken Sie meiner wenigstens ohne Groll, wie ich Ihrer stets nur in Liebe gedacht habe und, solange mein Herz schlägt, gedenken werde.

Richard Tromholt.“

Mit einem Aufschrei ließ Susanne das Blatt aus ihrer Hand sinken. „Blind! Blind durch meine Schuld!“ schluchzte sie. „Was hab’ ich gethan, welch edles Herz hab’ ich gekränkt!“ und verzweifelt schlug sie die Hände vor das thränenüberströmte Gesicht.

Dina, die ihre Schwester wanken sah, eilte herbei, sie zu stützen und zu beruhigen.

Allein von einem plötzlichen Entschluß beseelt, sprang Susanne jetzt empor. „Laß mich,“ rief sie. „Ich muß zu ihm, zu ihm!“ Und sich aus den Armen der Schwester gewaltsam freimachend, griff sie nach Hut und Mantel und eilte hinaus, die Treppe hinab, auf die Straße.

„Ins Hotel Germania!“ rief sie, als gerade ein leerer Wagen vorüberfuhr, dem Kutscher zu, und wenige Sekunden später war sie dahin unterwegs. Es gab auch keine Unruhe mehr in ihr. Der alte feste Wille war ausgeprägt in ihren Zügen, der Kampf war entschieden, der Stolz besiegt und statt seiner nur das eine, unwiderstehliche Verlangen in ihrer Brust zurückgeblieben, Tromholt zu sehen, ihm zu sagen, daß sie ihn liebe, ihn zu bitten, daß er ihr vergebe und sie hinnehme als sein Weib, daß sie mit ihm trage, was die Zukunft auch bringen möge.

„Herr Tromholt aus Kopenhagen?“ fragte Susanne nach der Ankunft im Gasthof.

„Ist wohl schon fortgegangen,“ lautete des Portiers Antwort, während er auf das Schlüsselbrett guckte.

Susannens Herz stockte.

„Nein, der Herr ist noch oben,“ ertönte eine andere Stimme, die eines hinzutretenden Kellners. „Nummer achtzehn, gnädige Frau, eine Treppe!“

[669] Susanne stieg empor. Oben angelangt, zauderte sie zwar noch einen Augenblick, die Hände aufs Herz pressend, als ob sie die Blutwellen, die sich dagegen drängten, zurückstauen wollte – dann aber ein festes Klopfen – von innen ein lautes „Herein!“ – und sie schritt über die Schwelle.

*               *
*

Tromholt, der bei Susannens Eintritt aufrecht im Zimmer stand und bei seiner Kurzsichtigkeit die Eintretende nicht sofort erkannte, streckte bei dem Ton der ihm bekannten Stimme unwillkürlich die Hand nach dem Tische aus. In ihren Mienen aber spiegelte sich ein Ausdruck wieder, als ob ein angstvoll Flehender vor seinem Herrn erscheine und durch stumme Blicke im voraus Nachsicht für sein Kommen erbitte. Und dennoch war sie es, die sich zuerst wieder faßte und auf seine in höchster Ueberraschung hervorgestoßene Frage: „Wie, ist’s möglich? Sie sind es, Frau Gräfin, Sie hier, bei mir?“ leise zwar, aber doch mit festem, bestimmtem Ausdruck erwiderte:

„Ja, ich bin es, Tromholt, und ich begreife, daß Sie mein Kommen überraschen muß, ja, ich dürfte mich selbst nicht wundern, wenn Sie mir darob zürnten, da ich kein anderes Recht und keinen anderen Grund dafür anzuführen weiß, als daß ich dem Drang meines Herzens gehorchte, der stärker war als alle Bedenken, die ein solcher Schritt erwecken muß.

Die Qual, die mein Inneres zermarterte, noch ehe ich Ihren Brief in Händen hielt, wäre schon genügend, diesen Schritt zu rechtfertigen. Nun ich aber den letzten, jeden Zweifel zerstörenden Beweis Ihrer Liebe erhalten habe, der mich erkennen ließ, welch ein edles großes Herz ich gekränkt, da ließ es mir keine Ruhe mehr.

Als Sie kamen, sah ich in diesem Schritt nur einen Akt der Großmuth, einer edlen Regung, deren eben nur Sie fähig sind, aber nicht einen freien Trieb des Herzens, und darum floh ich vor Ihnen. Ich wußte nichts von Ihrem Leiden, Tromholt, nichts von dem Schweren, das Ihnen bevorsteht. Nun aber, da ich es weiß und da ich auch weiß, daß es die alte Liebe, die Sie zu mir geführt, nun, Tromholt, stehe ich vor Ihnen und sage: Können Sie mir vergeben, wollen Sie mich als Ihr Weib, welches das Glück mit Ihnen theilen, die Sorge mit Ihnen tragen will? Was andern schwer, lästig erscheinen mag, wird mir ein Leichtes sein, nichts auf der Welt hat einen gleichen Anspruch auf mein Wollen und Können und, Tromholt –“ hier erstickte Susannens Stimme unter der Gewalt ihrer Erregung.

Nun aber war’s auch mit Tromholts Kraft vorbei. Wenn ihn schon die Rührung bei ihren leidenschaftlichen und doch im Ton so demüthigen Worten erfaßt hatte, nun übermannte ihn das Gefühl, daß er bebend die Worte stammelte. „O, genug, genug, Du Unvergleichliche, die Du da bittest, wo Du das höchste Glück zu gewähren kamst, wo Du das Höchste für mich gethan hast, was selbstvergessene Liebe zu thun vermag. Du fürchtest, daß ich Dir zürne für Deine große That, Du edle Seele, daß Du kamst zu dem, der so lange nicht den Muth fand, zu Dir zu eilen? Aber, glaube mir, meine theure Susanne, nicht Mangel an Liebe war’s, was mich Dir fernhielt, nein, nur ein Uebermaß desselben Gefühls, das Dich heute zu mir trieb. – Susanne! Susanne! Endlich, endlich halte ich Dich in meinen Armen und genieße den unnennbaren Zauber des Glückes, Dich zu besitzen, Dich mein eigen zu nennen. Nun ich Dich halte, kehrt neue Hoffnung, neue Zuversicht in mein verzagtes Gemüth zurück. Das ist die rechte Stimmung, die der Arzt verlangt. Komm, Geliebte, begleite mich, damit Du bald erfährst, daß alles glücklich verlaufen!“

So vereint schritten sie hinaus. Und Richard Tromholt zitterte nicht unter dem Instrumente des Arztes. Mit ruhiger Fassung hielt Susannens Hand die seine umschlossen; eine festigende Kraft strömte von ihr auf seine Nerven herüber, während das entscheidungsvolle Werk vollbracht ward. Und als alles vorüber, als Susanne nach vierzehn Tagen den Sehenden in einem Wagen aus der Klinik abholte, da sanken sie einander in dem stürmischen Ueberquellen glückstrunkener Empfindungen an die Brust, und aus dem geretteten Auge des Mannes strömten heiße Thränen der Liebe und namenloser Dankbarkeit gegen das Schicksal. –