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Die Offenbarung Johannis/Der literarische Stil der Apokalyptik

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Die Offenbarung Johannis
Die Apokalypse im neutestamentlichen Kanon »
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[1]
Einleitung
I. Der literarische Stil der Apokalyptik.

Die Offenbarung des Johannes gehört wie das Danielbuch einer bestimmten Literaturgattung an, welche man mit dem Namen Apokalyptik zu benennen pflegt. Der Name ist allerdings nur ein zufälliger und beruht auf einer Verallgemeinerung der Selbstbezeichnung der Apk κατ͗ ἐξοχήν Erst allmählich ist die Erkenntnis, daß es eine Literaturgattung der Apokalyptik gibt, zum Durchbruch gelangt, wie man auch erst mit der Zeit einen Überblick über die in Betracht kommende Literatur erhielt[1]. Zum ersten Mal hat Semler[2] in seinen Untersuchungen über die johanneische Offenbarung [2] die Schrift in diesen größeren Zusammenhang der jüdischen Apokalyptik hineingestellt. In genialer Weise hat dann Corrodi[3] die Apokalyptik (den Chiliasmus) nicht nur als eine Erscheinung der spätjüdischen und frühchristlichen Zeit zu begreifen, sondern auch nachzuweisen gesucht, daß hier eine zusammenhängende festgegliederte Kette von Erscheinungen vorliegt, die bis tief in die Reformationszeit hineinreicht. Doch war dies Unternehmen verfrüht, auch hinderte der derbe Rationalismus Corrodis ihn an einem richtigen und eindringenden Verständnis dieser geschichtlichen Erscheinung. Er kommt über lauter Schelten und Poltern nicht zum Verstehen der Dinge. Und seine Sammlungen, die mit umfassender Gelehrsamkeit gemacht sind, sind ein wirrer ungeordneter Trümmerhaufen. Höher steht Gfrörers Jahrhundert des Heils. (Geschichte d. Urchristentums III 1. 2. 1738). Auch dieses Werk eilt der Entwicklung der Forschung um einige Jahrzehnte voraus. Gfrörer erweiterte namentlich den Blick über die spätere jüdische Literatur und zeigt dabei eine glänzende, wenn auch oft in die Irre führende Fähigkeit religionsgeschichtlicher Kombination.

Auf dem engeren und uns hier eigentlich in erster Linie interessierenden Gebiet der vorchristlich-jüdischen und frühchristlichen Apokalyptik hat vor allem das groß angelegte Werk von Lücke, Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offenbarung Johannes 1832¹, 1852², Bahn gebrochen. Es ist das Verdienst Lückes, in durchschlagender und überzeugender Weise die Betrachtung der Literatur von Daniel bis zur Johannes-Offenbarung als einer innerlich einheitlichen durchgeführt zu haben. Freilich bemüht sich Lücke dabei vergeblich, daneben den Begriff einer spezifisch biblischen Apokalyptik festzustellen, nicht zum Vorteil der Klarheit der Sachlage. Neben Lücke ist dann Ewald Geschichte des Volkes Israel Bd. V 1867³ zu nennen. Trotz lauten Widerspruchs von spezifisch bibelgläubiger Seite (Hengstenberg, Auberlen) brach sich jene Betrachtungsweise auch hinsichtlich des Danielbuches allmählich Bahn. Eine noch bestimmtere und klarere Auffassung von dem Wesen der Apokalyptik liegt bei Hilgenfeld a. a. O. vor. Neueste zusammenfassende Arbeiten auf diesem Gebiete sind: E. Schürer, Geschichte d. jüdischen Volkes³ II 496-556; W. Bousset, Rel. des Judentums 1903. 195-276; W. Baldensperger, Selbstbewußtsein Jesu: I. Teil: Die messianisch apokalyptischen Hoffnungen d. Judentums 1903; P. Volz, Jüdische Eschatologie von Daniel bis Akiba 1903. Besondere Bahnen ging Gunkel in seinem Werk: Schöpfung und Chaos (1894). Hier wird der Versuch gemacht, die apokalyptische Literatur in einen noch breiteren Zusammenhang hineinzustellen und mit Hülfe einer umfassenderen (religionsgeschichtlichen) Methode zu verstehen (das genauere s. unter Abschnitt IV).

Es muß hier hinsichtlich der Frage nach den der Apokalyptik eigentümlichen Grundanschauungen auf die eben genannten zusammenfassenden Darstellungen verwiesen werden. Es würde sich hier nicht lohnen, diese ausführlicher [3] darzustellen. Denn die Grundideen der apokalyptischen Eschatologie, die Lehre von den beiden Weltaltern (Äonen), von der Nähe des Weltendes, Totenauferstehung und individueller Vergeltung, Herrschaft des Teufels in dieser Welt und Vernichtung seiner Herrschaft am Weltende, Weltgericht, Welterneuerung u. s. w. sind ja ganz in die neutestamentliche Frömmigkeit als deren Grundbestandteil übergegangen. Ihre Darstellung gehört in die biblische Theologie und nicht in die Einleitung zur Apokalypse. Es wird sich hier nur darum handeln, die formalen Eigentümlichkeiten apokalyptischer Schriftstellerei herauszustellen und die Apokalypse ihrer äußeren Anlage und Form nach als eine Spezies der Literaturgattung, zu der sie gehört, zu begreifen. Wir dringen in die Eigentümlichkeiten der apokalyptischen Stilart am besten ein, wenn wir sie mit dem Stil alttestamentlicher Prophetie vergleichen.

Es sind durchgreifende Unterschiede, die in Betracht kommen. In der Prophetischen Predigt steht das gesprochene oder geschriebene Wort, in der Apokalyptik das Bild an erster Stelle. Der Prophet hört und verkündet das Wort Jahves, der Apokalyptiker schaut und erzählt das Bild, die Vision. Auch im Prophetismus spielt die Vision, das Bild und namentlich die symbolisch-ekstatische Handlung, welche letztere in der Apokalyptik nicht weitergebildet wird, eine Rolle, aber nur eine sekundäre, in der Apokalyptik ist es beinahe ein und alles. Es sind natürlich hier wie überall Übergangsformen vorhanden, aber stellen wir auf der einen Seite etwa die Reden des Jeremias und auf der andern Seite die Offenbarung des Johannes, die in mancher Hinsicht, wie wir noch sehen werden, die klarste Ausbildung der apokalyptischen Stilgattung repräsentiert, so greifen wir den Unterschied.

Mannigfach sind die Formen, in denen sich die Apokalyptiker auf diesem Gebiet bewegen, die Vermittelungen, durch welche ihnen ihre Bilder zufließen. Vor allem spielt der Traum eine große Rolle. Im Danielbuch werden die meisten der Zukunftsbilder im Traum geschaut. 2,1; 4,2; 7,1. („Daniel hatte einen Traum und Gesichte seines Hauptes auf dem Lager“), wahrscheinlich auch 8,1ff. Die beiden Visionen des Henochbuches 83f.; 85ff. sind Traumgesichte. Auch der slavische Henoch beginnt mit einem Gesicht, das Henoch auf seinem Bette hatte 1,3ff. Selbst in den spätesten Erzeugnissen der apokalyptischen Literatur scheut man sich nicht, einfach von apokalyptischen Träumen zu sprechen. Der Apokalyptiker Esra erlebt seine Visionen und seine apokalyptischen Meditationen „als ich einmal auf meinem Bette lag“ 3,1. Das fünfte und sechste Gesicht des IV Esra (vgl. 11,1; 12,3; 13,1.13), die Cedernvision und die Wolkenvision des syrischen Baruch (II Bar 36,1; 53,1, vgl. noch Test. Levi 2; 8; Joseph. 19) werden deutlich als Traumgesichte gekennzeichnet.

Mit dieser Charakterisierung des apokalyptischen Gesichtes als eines Traumgesichtes soll natürlich nicht gesagt sein, daß die Apokalyptiker nicht von der Realität der im Traum empfangenen göttlichen Offenbarung überzeugt gewesen seien. Man lebt der naiven Überzeugung, daß Träume unmittelbar [4] göttlichen Ursprungs seien. Aber es ist bemerkenswert, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen Traumbildern und Visionen, Träumen und spezifisch ekstatischen Erfahrungen nicht gemacht wird.

Neben der Traumerfahrung ist aber in der Apokalyptik auch die wirkliche Visionäre, ekstatische Erfahrung bekannt. Die Vision Dan 10ff. will Daniel im wachen Zustand an den Ufern des Tigris stehend erlebt haben. In der Übersetzung der Septuaginta zu Dan 4,16 wird deutlich geschildert, wie Daniel die Deutung des Traumes des Nebukadnezar nicht mehr im wachen Bewußtsein, sondern in der Ekstase gibt (vgl. Bousset Religion des Judentums 374). Auch in der syrischen Baruchapokalypse wird das visionäre Element stärker betont. Man vergleiche II Bar 13,1f.: „Danach stand ich Baruch auf dem Berge Zion und siehe, eine Stimme kam aus den Höhen und sagte zu mir: Stelle dich auf deine Füße, Baruch, und höre das Wort des allmächtigen Gottes.“ Noch charakteristischer ist 22,1 „Und darnach, siehe, taten sich die Himmel auf und ich sah es... und eine Stimme ward aus den Höhen vernommen, und sie sagte zu mir“ (vgl. bereits Ezechiel 1,1; andererseits Mt 3,16). Besonders lebendig und reich ist die Schilderung der visionären Exstase im Anfang der Visio Jesaiae (6,10ff.), die ja allerdings bereits in christlicher Bearbeitung vorliegt. Es scheint, als wenn die jüdische Apokalyptik sich mehr und mehr von der Richtung des einfachen Traumgesichtes zur ekstatischen Vision bewegt hat. Die Schilderungen derartiger Zustände werden häufiger; wir werden auch kaum annehmen dürfen, daß diese Schilderungen nur der Literatur angehören. Man kann vermuten, daß in den apokalyptisch erregten Zeiten derartige visionäre Erfahrungen vielfach gemacht sind. Ja, wir können sogar nachweisen, daß eine ganze Reihe in der Überlieferung mit Namen aufgeführter jüdischer Gelehrter Visionäre und Ekstatiker waren[4]. Mit der Zeit wird man auch, obwohl wir wenig Bestimmtes hier nachweisen können, einen Unterschied[5] in der Wertung der wirklichen Vision und des Traumes geltend gemacht haben. Bedeutsam ist jedenfalls in diesem Zusammenhange, daß die Offenbarung des Johannes das Mittel des Traumes nicht mehr kennt, sondern nur die wirkliche Vision, die sie mit einem ἐγενόμην ἐν πνεύματι 1,10; 4,2 (vgl. 17,3; 21,10) oder auch mit einem einfachen καὶ εἶδον umschreibt. Wie Ezechiel in seiner Eingangsvision, wie II Bar 22,1, schaut auch Johannes 4,1 eine im Himmel geöffnete Tür[6] und hört von dort eine Stimme. Immer herrscht die Vorstellung, daß in der Vision der Inhalt der geheimnisvollen oberen Welt in die der irdischen Daseinssphäre entrückte Seele des Sehers eintritt, oder dieser in jene Sphäre, wie wir gleich sehen werden, erhoben wird.

Eine gesteigerte Form der ekstatischen Vision ist dann die visionäre [5] Entrückung. Der Visionär erlebt in der Ekstase, in der er seine Gesichte sieht, vielfach eine Ortsveränderung, er wandert durch fremde geheimnisvolle Gegenden im Himmel und auf Erden. Tatsächliche geheimnisvolle Erfahrungen, die wir als Erfahrungen des Hellsehens, des Fernwirkens zu bezeichnen pflegen, mögen mit dazu beigetragen haben, daß man mit aller Bestimmtheit diese Erfahrungen als Realität auffaßte. Vorbildlich ist auch hier Ezechiel 8,3, der eine solche Entrückung sehr realistisch auffaßt: „Und er reckte etwas wie eine Hand aus und erfaßte mich bei den Locken meines Hauptes, und der Geist hob mich empor zwischen Erde und Himmel brachte mich nach Jerusalem.“ Diese Vision des Ezechiel ist direkt nachgeahmt in der Erzählung des Baruch II Bar 6,3ff. und in der bekannten Erzählung der Entrückung Jesu durch den Geist im Hebräerevangelium.

Noch Paulus denkt so realistisch, daß er bekennt, nicht zu wissen, ob er innerhalb oder außerhalb des Leibes in das Paradies entrückt sei. II Kor 12,3. Nüchterner spricht Daniel 8,2 aus: „Ich schaute im Gesicht, da war es, als ob ich während desselben in der Burg Susa wäre, die in der Landschaft Elam liegt“. Besonders in der Henochliteratur ist das Thema der Entrückung des Sehers weit ausgesponnen. Die Legende von der Entrückung des Henoch gab ja vollkommen Veranlassung dazu. Während die älteren Stücke der Henochliteratur sich noch damit begnügen, Henoch die fernen und geheimnisvollen Orte der Erde durchwandern zu lassen, bringen ihn bereits die Bilderreden mit Vorliebe zu den geheimnisvollen Orten des Himmels und lassen ihn die Mysterien des Himmels schauen. In dem wahrscheinlich den Bilderreden erst angehängten Stück Kap. 70f. haben wir dann bereits eine reguläre Entrückung in den Himmel in ihren Einzelheiten geschildert. Dieses Thema von der Himmelfahrt erzeugt dann eine neue Literatur. Was in der älteren Apokalyptik nur Mittel zum Zweck war, die Entrückung des Sehers, wird zum Selbstzweck und Endzweck der Darstellung, die an dieser Form eine willkommene Gelegenheit fand, allerlei kosmologische, kosmogonische, transzendente Mysterien zu enthüllen. Musterbeispiel für diese Gattung der Apokalyptik ist das slavische Henochbuch. Neben die Himmelfahrten des Henoch treten bald solche des Jesaja, Baruch, Moses, Levi, Abraham und auch mancher moderner rabbinischer Helden, von denen man sich derartiges erzählte[7]. - Es ist demgegenüber bemerkenswert, daß unsere Apokalypse den Stil der eigentlichen „Himmelfahrt“ noch nicht kennt. Freilich wird auch in ihr der Seher entrückt. So sieht er in 4,1 den Himmel offen, eine Stimme tönt herunter ἀνάβα ὧδε, und wenn es dann weiter heißt εὐϑέως ἐγενόμην ἐν πνεύματι, so ist damit, wenn anders der Text in Ordnung ist, doch wohl angedeutet, daß der Seher sich nun im Geist in den Himmel erhebt. 17,3 entrückt der Engel ihn ἐν πνεύματι in die Wüste, 21,10 wieder ἐν [6] πνεύματι auf einen hohen Berg. Aber der Apokalyptiker enthält sich aller weiteren Ausmalung der Entrückungen, wie wir sie in der verwandten Literatur finden; ihm ist die Entrückung ein Mittel zum Zweck.

Charakteristisch ist es weiter, daß die Apokalyptik fast immer einen oder auch mehrere Offenbarungsmittler zwischen Gott und dem Seher annimmt. Gewöhnlich ist es ein oft nicht näher bestimmter Engel, der dann einfach als „der“ Engel eintritt. Es ist eben derjenige Engel, der in diesem Fall die Stellvertretung Gottes übernimmt, da dieser nach spätjüdischer Vorstellung nicht mehr selbsttätig bei dem Offenbarungsvorgang eingreift. Schon im apokalyptischen Sacharjastück spielt der Engel die Rolle des Deuters der einzelnen Gesichte (vgl. den „heiligen Wächter“ in Nebukadnezars Traum Dan 4,10ff.). In der zweiten Hälfte des Danielbuches hat Gabriel die Aufgabe der Traumdeutung 8,16ff., resp. der richtigen Schrifterklärung 9,21. Vielleicht ist auch 10,1ff. Der Menschengestaltige, der diesmal als Träger der ganzen Offenbarung erscheint, kein anderer als Gabriel. In der Entrückungsvision erscheint dann fast immer ein Engel als Begleiter des wandernden oder zum Himmel fahrenden Sehers (vgl. die Reisen des Henoch I Hen 18,14; 19,1; 21,5.9; 27,2; 33,14 (Uriel); 22,6 u. ö. 32,6 (Raphael); 23,4; 24,1 (Raguel); 24,6ff. (Michael). Die ganze Himmelsökonomie 72ff. wird dem Henoch durch Uriel offenbart. In den Bilderreden geleitet ein ungenannter Engel den Seher: „der Engel, der mit mir ging“ 46,2; 52,3; „der Engel des Friedens“ (der mit mir ging) 40,8; 52,5; 53,4; 54,4; 56,2 (vgl. Jes 33,7). Bei der Himmelfahrt Henochs geleitet ihn Michael 71,3. Zwei Engel führen den Henoch im slavischen Henoch durch die sieben Himmel. So sehen wir den begleitenden Engel im Testamentum Levi., der Visio Jesaiae, der Apokalypse (hrsg. v. Bonwetsch Stud. z. Gesch. d. Theol. u. Kirche I 1. 1897) und dem Testamentum Abrahams, (hrsg. von M. R. James Text a. Studies II 1892), im slavisch-griechischen Baruchbuch.

Bemerkenswert ist es, daß im IV Buch Esra der in den ersten Visionen erscheinende Offenbarungsengel, (Uriel nach 4,1; 5,20.31; 7,1) so sehr nur der Zeuge der Offenbarung Gottes ist, daß seine Gestalt oft gänzlich mit derjenigen Gottes verschmilzt (vgl. z. B. 5,43ff.). Noch bemerkenswerter ist es, daß in der Apokalypse des Baruch die Figur des Offenbarungsmittlers ganz verschwunden ist und der Seher hier überall direkt mit Gott verkehrt[8]. An diesem Punkt nimmt die Apokalypse des Baruch eine vollkommen singuläre Stellung innerhalb der späteren jüdischen Literatur ein.

Eigentümlich ist hier auch die Stellung der Offenbarung Johannes. In der ersteren größeren Hälfte spielt, abgesehen von der Überschrift (s. u.), der Offenbarungsengel keine Rolle. Dafür ist es Christus selbst, der seinem Seher erscheint, und bei seinem Eintritt in den Himmel wird nur gesagt, daß der Seher ἐν πνεύματι war[9]. Der 10,1ff. erscheinende Engel hat nur vorübergehende Bedeutung. Dagegen wird dem Seher das Gesicht von der [7] Hure Babylon (17,1) und dem neuen Jerusalem (21,9) durch einen der Schalenengel gezeigt[10]. Dieser ist auch vielleicht 19,9 mit dem Engel gemeint, vor dem der Seher niederfällt. D. h. die Vorstellung vom Engel herrscht in den Stücken, die wir am sichersten als in das Ganze der Apokalypse aufgenommene Quellenstücke nachweisen können[11]. Am Schluß scheint dann der Apokalyptiker selbst die Vorstellung vom Offenbarungsengel aufgenommen zu haben 22,6ff. und ebenso in der nachträglich hinzugefügten Überschrift. 1,1ff. (s. d. Erkl.). — Sichtlich aber hat in der Gesamtanschauung des Apokalyptikers die Person Jesu und die Vorstellung vom Geist[12] als dem Träger ekstatischer Erfahrungen den Offenbarungsengel verdrängt. An beiden Punkten zeigt sich der Einschlag spezifisch christlicher Vorstellungen.

Ein weiteres Charakteristikum erhält die apokalyptische Literatur durch die farbenprächtige Schilderung des als Offenbarungsmittlers erscheinenden Engels (resp. des selbst erscheinenden Gottes). Ez 8 ist auch hier vorbildlich geworden, vgl. Dan 10; II Hen 1. Solche Schilderung übernimmt auch die Apokalypse an zwei Stellen 1,12ff.; 10,1ff., an deren erster aber bereits Christus an Stelle des Offenbarungsengels (resp. Gottes) getreten ist[13].

Wir richten, nachdem wir die mannigfachen Formen, in denen sich die Apokalyptik die Offenbarungsvermittelung denkt, kennen gelernt haben, auf die apokalyptischen Visionen und Bilder selbst unsere Aufmerksamkeit. Sie zerfallen zunächst in zwei große Hauptgruppen. Auf der einen Seite haben wir Bilder, mit denen der apokalyptische Seher die Zukunft weissagend enthüllt, auf der andern Seite solche, in denen einfach geschildert wird, was er als gegenwärtig in seiner Ekstase sieht. Die letzten Bilder gehören ursprünglich eigentlich nur zum Beiwerk der apokalyptischen Weissagung, drängen sich aber im Verlauf der Entwickelung mehr und mehr in den Vordergrund. Auch hier ist wieder Ezechiel mit der breiten Schilderung des göttlichen Thronwagens vorbildlich geworden. Es mußte die Phantasie reizen, den jeweiligen Offenbarungshergang, welchen der Seher erlebt, mit breiteren Pinselstrichen zu zeichnen. Namentlich da, wo die Form der Entrückungsvision ausgebildet erscheint, überwuchern dann die Schilderungen der gegenwärtigen irdischen und himmlischen Geheimnisse die eigentliche apokalyptische Weissagung. Die Henochliteratur gibt das beste Beispiel hierfür, und wiederum ist innerhalb der Henochliteratur das slavische Henochbuch am weitesten fortgeschritten; hier hat die darstellende Vision die weissagende fast ganz verdrängt. Auch in der Apokalypse haben wir eine Reihe von[8] darstellenden Visionen (1,12ff.; 4-5; (6,9ff.) 10,1ff.) und in einem Fall ist auch hier die darstellende Vision Selbstzweck geworden. In den Kapiteln 4 und 5 hat sich die Beschreibung der himmlischen Szenerie zu einem so mächtigen und wuchtigen Bilde ausgestaltet, daß darüber die nun folgende weissagende Vision fast in den Hintergrund gedrängt wird[14].

Die weissagenden Visionen, die der jüdischen Apokalyptik nun doch ihren eigentlichen Charakter verleihen, kann man etwa wieder einteilen in solche Visionen, welche den Zustand des zukünftigen Zeitalters resp. der zukünftigen Welt einfach beschreibend darstellen, und solche, welche die Zukunft, die zu jenem Ende führt, andeutend enthüllen. Zu jenen ersteren Visionen gehören Schilderungen wie die des zum Weltgericht erscheinenden Gottes, mit der das Danielbuch die jüdische Phantasie so stark beeinflußt hat, oder in unserer Apokalypse die Schilderung der seligen Märtyrer vor Gottes Thron (7,9ff.), oder die des neuen vom Himmel herabkommenden Jerusalems. — Erst in dem im eigentlichen Sinne weissagenden Zukunftsbild entfaltet der Apokalyptiker seine Hauptkunst. Hier gilt es, das apokalyptische Geheimnis zu enthüllen und doch auch zu verhüllen, vom Geheimnis nur wenig den Schleier zu lüften und doch nicht ganz; gerade das nur halb enthüllte Geheimnis erregt ja erst recht das Interesse, spannt die Neugierde und den Scharfsinn der Gläubigen und erfüllt den Leser mit andächtiger Bewunderung und frommen Schauern. Das durchgängige Mittel aber, das der Apokalyptiker bei seinen Zukunftsvisionen zu diesem Zwecke anwendet, ist die Allegorie. Die Traumallegorie oder die allegorische Vision hat ihre Wurzeln bereits im Prophetismus und ist eng verwandt mit der hier ebenfalls hie und da vorkommenden allegorischen Rede. Man kann sich z. B. die berühmte Allegorie Ez 17 von dem großen Adler, der zum Libanon kam und die Zeder hinwegnahm, anstatt als Rede als eine Vision des Propheten denken. Dann hätten wir eine vortreffliche allegorische Vision. So ist IV Esr 4,49f. ein einfaches Gleichnis, das unter dem Bilde eines vorüberrauschenden Regens, hinter dem nur noch einige übrige Tropfen kommen, klar machen soll, wie gering die Tage bis zur Endzeit gegenüber der verflossenen Zeit seien, — tatsächlich in eine allegorische (parabolische) Vision umgesetzt. Nun sieht der Seher tatsächlich die Wolken vorüberrauschen und nur einige Tropfen übrig bleiben. So entsteht die allegorische Vision. Einfachste Beispiele derartiger allegorischer Visionen sind schon im Prophetismus gegeben, so bereits Amos Kap. 7 und 8. Der Seher sieht nur einen einzigen Gegenstand, der für ihn symbolische Bedeutung gewinnt. „Was schaust du Amos? Ich antwortete, einen Korb mit Herbstfrüchten! Da sprach Jahve zu mir: Es kommt der Herbst über mein Volk.“ Bekannt sind auch die beiden kleinen Gesichte im Anfang des Jeremiasbuches. 1,11f.13ff. Das Sacharjabuch setzt sich fast ganz aus einer Reihe derartiger kleiner Bilder, die dann jedes Mal gedeutet werden, zusammen. Diese kleinen allegorischen [9] Visionen sind gleichsam die Keimzellen, aus denen allmählich die Apokalypse erwächst. Aus der einfachen Allegorie entsteht die komplizierte Allegorie. Eine Menge von Einzelzügen werden zu einem allegorischen Bilde verwoben, — ich erinnere an so komplizierte Allegorien, wie sie etwa Apk 12 oder in der fünften Vision des IV Esra vorliegen. Dabei wird das Bild von einem ruhenden zu einem bewegten, die Einzelzüge reihen sich zeitlich an einander, aus dem allegorischen Bilde wird das allegorische im Traum oder in der Vision geschaute Geschehnis, das dann beliebig weit ausgesponnen werden kann. Die ausführliche Weissagung kann aber auch dadurch erzielt werden, daß eine Menge von Einzelbildern an einander gereiht werden, die dann in ihrer Reihenfolge den Verlauf der Zukunftsereignisse widerspiegeln. Diese Bilder werden dann durch ein Zahlenschema mit einander verbunden. Bestimmte Zahlen spielen durch die ganze Apokalyptik hindurch eine entscheidende Rolle: Drei Reiche, vier Metalle, vier auf einander folgende Tiere, vier apokalyptische Reiter, sieben Siegel, sieben Posaunen, sieben Zornesschalen (sieben Donner), zwölf Vorzeichen des Endes (II Bar 27), zwölf Wolken (II Bar 53ff.), ein Adler mit zwölf großen und acht kleinen Gegenflügeln, (IV Esr 11), siebenzig Weltwochen (resp. zehn Wochen mit je sieben Unterabteilungen) (I Hen 93) — das etwa sind die Schemata, mit denen die Apokalyptiker Ordnung in die Fülle der Gesichte zu bringen suchen. Durch diese Mittel entsteht aus der Einzelvision die wohlgeordnete eine ganze Zeitfolge umspannende Apokalypse.

Die Allegorien kann man nun wieder nach ihrem Gehalt einteilen in frei erfundene Allegorieen und solche, die einen bereits gegebenen Stoff für den dem Apokalyptiker vorschwebenden Gedanken verarbeiten. Die frei erfundenen Allegorieen sind die am einfachsten deutbaren, sie umschreiben eben einfach die von dem Apokalyptiker zu weissagenden Ereignisse und hat man diese gefunden, so löst sich die Allegorie restlos auf. Ein Musterbeispiel einer solchen Allegorie sind etwa die Tiervision des Henochbuches, die bekanntlich in ihren Tiergestalten die gesamten Träger der israelitischen Geschichte vorüberziehen läßt, und die Adlervision des IV Esra, deren Undeutbarkeit an gewissen Punkten wohl sicher nur daher rührt, daß hier eine redaktionelle Umarbeitung eines älteren Bildes stattgefunden hat. Diese reinen Allegorieen tragen im Durchschnitt den Charakter einer ledernen Nüchternheit; eignes, urwüchsiges zu erfinden, war die jüdische Phantasie nicht mehr stark genug. Man wußte sich aber anders zu helfen, man nahm seine Zuflucht zu alten überlieferten geheimnisvollen Vorstellungen, zu älteren Weissagungen und Mythen und deutete in die vorgefundenen Bilder die Geheimnisse der Zukunft hinein, wie man sie von seiner Gegenwart aus verstand. So benutzt Daniel in der Vision des zweiten Kapitels sichtlich den weitverbreiteten Mythus von den vier Weltzeiten und adaptiert diesen für seine Gegenwart. Eine Allegorie, die mit vorgefundenem Stoff arbeitet, läßt sich ebenfalls leicht erkennen. Einmal daran, daß, auch wenn man den Schlüssel zur Deutung der Allegorie richtig gefunden hat, in Einzelheiten doch gewisse Inkonzinnitäten bleiben [10] und Bild und Sache sich nie ganz decken, dann auch daran, daß das Bild überschüssige Züge erhält, die nicht gedeutet werden können. Man würde also verkehrt handeln, wenn man in diesem Fall à tout prix alles in der apokalyptischen Allegorie deuten und auflösen wollte. Man wird in dem Gesicht Dan 7 nicht alle Schwierigkeiten wegexegesieren dürfen, man wird vielmehr z. B. aus der künstlichen Zählung der vier Reiche entnehmen dürfen, daß die Zahl vier für die Tiere resp. für die Weltreiche dem Apokalyptiker von vornherein feststand[15]; man wird weiter annehmen, daß die Gestalten der Tiere, deren historisch-allegorische Deutung so unendliche Schwierigkeiten macht, dem Apokalyptiker im großen und ganzen gegeben waren; man wird diese Anschauung auch auf die zehn Hörner des vierten Tieres und den Zug der Beseitigung der drei Hörner durch das elfte auszudehnen haben. Man wird sich sagen müssen, daß niemals weder ein jüdischer noch ein christlicher Apokalyptiker die Geburt des Messias so geschildert haben würde, wie dies Apk 12 geschieht, wenn er nicht hier von einer alten mythologischen Tradition abhängig gewesen wäre[16]. Darin gerade besteht die Kunst der Auslegung derartiger verwickelter Allegorieen, daß man das in ihr überkommene tradierte Element von dem neu hinzugefügten vorsichtig scheidet. Eine derartig gestaltete apokalyptische Allegorie hat oft eine ganze Geschichte hinter sich. Oft wird sich diese nicht mehr rekonstruieren lassen. Dann kann man nur an den vorliegenden Auslegungsschwierigkeiten auf eine solche Geschichte schließen und diese vielleicht hypothetisch rekonstruieren. Oft aber sind wir in einer günstigeren Lage. Der Vorrat der Apokalyptiker an derartigen Bildern ist nicht allzu reichlich. Dasselbe Bild taucht an den verschiedensten Stellen apokalyptischer Überlieferung auf, und diese apokalyptischen Bilder sind dann oft, wie eine nähere Vergleichung zeigt, nicht einfach von einander abhängig, sondern weisen auf eine gemeinsame ältere Überlieferung zurück. Es wäre auch ganz verkehrt, bei dieser Erforschung der Quellen der apokalyptischen Allegorie den Blick auf die Literatur des alten Testaments und des späteren Judentums zu beschränken. Wenn irgendwo, so spielt bei derartigen apokalyptischen, kosmologischen und kosmogonischen Phantasieen und volkstümlichen Vorstellungen die Grenze der Nation und der nationalen Religion keine Rolle. Schon der allgemeine Stil, in dem die apokalyptischen Allegorieen gehalten sind, in seiner bizarren und fremdartigen Mannigfaltigkeit, der grotesken Phantasie, den glühenden Farben hebt sich von der Stilart alttestamentlicher Literatur und Prophetie stark ab und bleibt, von dorther gesehen, ein unlösbares Rätsel. Nichts ist daher verkehrter als in der Apokalyptik nur etwa eine kunstvolle haggadisch-midraschische Weiterführung der Prophetie zu sehen und anzunehmen, diese lebendigen volkstümlichen Phantasieen seien aus schriftgelehrter Betrachtung des Buchstabens der Schrift erwachsen. Diese protestieren mit ihrem ganzen Wesen dagegen. Selbst da, wo derartige Phantasieen sich direkt an einen Buchstaben der alten heiligen Schriften anlehnen, muß man [11] vorsichtig mit der Annahme sein, als wären sie nun wirklich direkt aus der buchstabenmäßigen Auslegung genommen. Es wird sich im einzelnen Fall immer noch fragen, ob hier eine Auslegung oder nur eine Einlegung stattgefunden hat. Der Apokalyptiker Daniel leitet seine Weissagung von den siebenzig Jahrwochen aus Jeremias ab, aber sehr wahrscheinlich ist es, daß er die Idee eines Verlaufes der Weltgeschichte in 70 Wochen einer alten mythischen Tradition[17] entnimmt und sie erst in Jeremias hineingelesen hat. — Hier auf diesem ganzen Gebiet hat also die religionsgeschichtliche Erklärung ihr eigentliches Feld und ihre große Bedeutung.

Es ist übrigens noch zu betonen, daß nicht nur die eine Gruppe allegorischer Zukunftsvisionen mit einem derartigen weitschichtigen Material der Überlieferung arbeitet, sondern daß auch die einfach beschreibenden Visionen eine Menge fremdartigen Stoffes in sich aufnehmen. Nicht, daß der einzelne Apokalyptiker etwa bewußt bei dieser Aufnahme verführe. Aber in den volkstümlichen Vorstellungen von den Räumen des Himmels und seinen Bewohnern, von Gottes Thron, von den Toten- und Gerichtsorten, von den sonstigen geheimnisvollen Orten der Erde, von rätselhaften Naturvorgängen, von der himmlischen Stadt (dem himmlischen Jerusalem) und anderem mehr lagert unkontrolliert Altes neben Neuem, Einheimisches neben Fremdem. Der Apokalyptiker übernimmt diese Vorstellungen als bare Münze ohne jegliche Kritik. Es wäre auch hier nichts verkehrter als dieses ganze Folklore, das hier vorliegt, um jeden Preis auf das alte Testament zurückzuführen. Wir haben es hier im Gegenteil mit Vorstellungen zu tun, die ihre Wurzeln weit hinter der Literatur des alten Testaments haben.

Besonders zu achten ist in dieser Beziehung auf diejenigen Partieen der Apokalypsen, in denen wir es mit reinen Zukunftsweissagungen und nicht mehr mit der ja zum Teil rückwärtsschauenden apokalyptischen Betrachtung der Dinge zu tun haben. Hier wäre ja der Apokalyptiker ganz auf seine allerdings von den Erfahrungen der Gegenwart genährte Phantasie angewiesen, wenn ihm jenes überlieferte Material schon geprägter Bilder nicht zur Verfügung stünde. Hier begnügt er sich oft, ein geprägtes Bild zu übernehmen, das einigermaßen in seinen Zusammenhang paßt, ohne daß er es aus bestimmte Ereignisse deutete. Hier bleibt er selbst beim Geheimnis stehen, und wir würden ihm gar nicht gerecht werden, wenn wir ihm die Frage stellten, was er sich bei dem Bilde genau gedacht. Ein gutes Beispiel bieten die letzten Weissagungen des Danielbuches. Was Daniel 11,40ff. von dem König des Nordens erzählt, ist und bleibt undeutbar auch nach der eignen Meinung des Sehers, der hier eine ihm selbst undeutliche Weissagung bringt, von der erst die Zukunft den Schleier lüften soll. Wir dürfen im Sinn einer rechten Auslegung nur die Frage stellen, was jene übernommene alte Weissagung einst für eine Bedeutung gehabt haben [12] mag, und ob wir diese Frage lösen oder nicht, das macht für unser direktes Verständnis des Danielbuches nichts mehr aus.

Die Allegorie ist also das erste und oberste Mittel des Apokalyptikers, seiner Weissagung einen geheimnisvollen Zauber zu geben, mit dem er die Leser und Hörer zu fesseln und ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse zu erregen sucht. Fast möchte man sagen, stören nun die meisten Apokalyptiker den von ihnen beabsichtigten Zweck, den Eindruck des Feierlichen, Geheimnisvollen, durch die ihren Weissagungen fast regelmäßig zugefügten Deutungen. Die apokalyptische Allegorie bedarf eben wie jede Allegorie der Deutung. Immerhin paßt sich auch die Deutung dem Stil der Apokalyptik an, sie wird als feierliches Geheimnis, als besondere Offenbarung, die der Seher für die Frommen aufzeichnet, mitgeteilt. Sehr oft (man vgl. Sacharja, Daniel, Apk Joh 17[18], die ersten Visionen des IV Esra) übernimmt der in der Vision erscheinende Engel gerade die Deutung der Vision. Dies erhöht den Eindruck ihrer Bedeutung. Auch sonst ist die Erklärung selbst oft im Rätselstil gehalten, sie deutet nur an und läßt vieles bei Seite. Vieles war für den Apokalyptiker, der ein bereits ausgeprägtes Bild übernimmt, überhaupt nicht mehr deutbar und umsomehr dann mysterium tremendum. Bemerkenswert ist an diesem Punkt, daß die Johannesapokalypse im allgemeinen die regelrechte Deutung nicht kennt. Es werden hier nur Einzelheiten in den Visionen im Vorübergehen, oft nur in einem einfachen Relativsatz, gedeutet 1,20; 4,5; 5,6; 5,8; 7,14; 11,4; 14,4: 16,14; 19,8 (19,13b), so daß man fast versucht sein könnte, erst an eine nachträgliche Hinzufügung der meisten dieser kurzen Zusätze durch die Hand eines Abschreibers zu denken. Eine halbe Deutung, die wieder nur ein neues Rätsel enthält, ist auch die Zahl des Tieres 13,18. Eine ausführlichere Deutung liegt nur k. 17 vor und wieder ist diese Deutung in einem besonders geheimnisvollen Rätselton gehalten. Sonst aber läßt der Apokalyptiker ohne Erklärung die Fülle seiner geheimnisvollen Bilder vorüberrauschen. Zweifellos verleiht dieser Umstand seiner Weissagung eine ganz besondere einheitliche Wucht.

Noch durch manche andere Mittel erzielen die Apokalyptiker jene Stimmung des Geheimnisvollen, auf die es ihnen ankommt. Sie lieben geheimnisvolle Worte und Umschreibungen: „der Betagte“ (für Gott), „einer wie ein Mensch“ „der wie ein Mensch gestaltet war“ (Menschensohn). Der Seher schaut „ein gleichsam geschlachtetes Lamm“, und das eine Haupt des Tieres „gleichsam geschlachtet“. Er redet von dem Tiere, das war und nicht ist, das das achte ist und doch zu den sieben gehört. Einmal geprägte geheimnisvolle Wendungen und Andeutungen werden in unveränderter Form als apokalyptische Schlagworte weitergegeben, so z. B. „der Greuel der Verwüstung“ (βδέλυγμα τῆς ἐρημώσεως), die geheimnisvollen 3½ Jahre der letzten Zeit der Not, die immer wieder umgedeutete Idee des vierten Tieres, die Hure, die auf den Wassern thront u. s. w. Gerne schildert der Apokalyptiker seine Gemütsstimmung beim Empfang der wunderbaren [13] baren Weissagungen, wie sein Antlitz sich verändert, seine Gebeine zerschmelzen, wie er vor Furcht zu Boden fällt (z. B. Dan 10,8f.; Apk 1,17). Immer ist er aufs äußerste erregt, er sieht Blitze vor Augen, er hört mächtige Stimmen, donnerartiges Geräuch. Der Leser wird an geeigneten Punkten darauf hingewiesen, daß er auf die großen himmlischen Geheimnisse achten soll. „Wer es liest, merke auf“ Mk 13,14, „hier ist Verstand und Einsicht von Nöten“. Apk 13,18 vgl. 13,9; 14,12f.

So spinnt der Apokalyptiker sich und seine Leser in den Zustand und die Stimmung des Geheimnisvollen ein. Er steht erschüttert vor der Fülle seiner Gesichte: „Ich hörte dies, aber verstand es nicht und sagte darum: o Herr! Was wird der Ausgang von alledem sein? Er antwortete Geh’ Daniel! denn bis zur Endzeit bleiben die Worte geheim und versiegelt“. Dan 12,8f.

Eigentümlich schwierig ist die Psychologie des Apokalyptikers. Vor allem wüßten wir gerne, ob er mit seiner persönlichen Erfahrung hinter seinen Gesichten und Visionen steht, ob er die Gesichte und ekstatischen Erfahrungen selbst erlebt hat. Haben wir in den jüdischen Apokalyptikern wirklich eine Schar von Ekstatikern zu sehen oder ist das visionär Ekstatische an der Apokalyptik nur literarische Form und Buchweiskeit? Das sind nun Fragen, bei denen sich nicht so einfach mit einem Ja und Nein antworten läßt. Im allgemeinen wird man die Möglichkeit wirklich ekstatischer Erfahrungen nicht leugnen können. Man kann dagegen nicht die oft sehr feine und minutiöse Ausgestaltung der Visionen ins Feld führen und die Frage erheben, wie denn dem Apokalyptiker aus seinem Traum oder seiner Ekstase jene Unsummen von Einzelheiten hätten im Gedächtnis bleiben können. Man wird hier vielmehr zu scheiden haben. Es kann sehr wohl angenommen werden, daß eine im Traum oder in der Vision gegebene Grundlage bei der schriftstellerischen Ausarbeitung erst ins Einzelne und Feine ausgearbeitet wurde. Auch das wird sich gegen eine wirkliche visionäre Erfahrung kaum ins Feld führen lassen, daß der Apokalyptiker nachweisbar von fremdem bereits geprägtem Stoff, ja von anderen uns noch vorliegenden apokalyptischen Schriften im Durchschnitt abhängig sei. Man wird demgegenüber natürlich annehmen dürfen, daß der Visionär sein Vorstellungswelt an der Lektüre heiliger Offenbarungsschriften und an sonstiger eschatologischer Tradition gebildet hat, und daß ihn diese Vorstellungswelt nun auch ins Traumleben und in das Leben visionärer Erfahrung hineinbegleitet. Der Traum webt sich erfahrungsgemäß aus den Erfahrungen und Eindrücken des wachen Lebens. Und was vom Traum gilt, gilt auch von der visionären Erfahrung. Denn das ist sicher: in einer meist fieberhaft erregten Zeit lebten die Apokalyptiker ganz und gar in den Vorstellungen des Endes, in den Fragen nach den Zeichen der letzten Zeit. Kein Wunder, wenn ihre Fragen, Wünsche, Hoffnungen sie hineinbegleiten in Zustände, die jenseits des taghellen Bewußtseins liegen. Auch wird man im allgemeinen visionäre Erfahrungen dem Zeitalter der Apokalyptik nicht absprechen können. Wenn auch das [14] Dogma existierte, daß die Prophetie in dieser späten Zeit erloschen sei, und man in weiten Kreisen gegenüber gegenwärtiger Prophetie mißtrauisch war[19], so beweisen doch auf der andern Seite manche Zeugnisse, daß in gewissen frommen Kreisen, namentlich auch in den niederen Volksschichten, der Glaube an gegenwärtige direkte Offenbarung und Prophetie nicht erloschen war.

Auf eine sehr gewichtige Gegeninstanz wird man allerdings bei dieser Frage immer hinweisen müssen, auf das Selbstzeugnis der Apokalyptiker. Denn durchgehends tragen die Apokalypsen von Daniel an den mit Händen greifbaren Charakter der Pseudonymität. Wir haben in dieser Literatur eine ganze Musterkarte von Pseudonymen. Daniel, Henoch, Moses, die Patriarchen: Abraham, Isaak, Jakob und die zwölf Söhne Jakobs, Salomo, Jesaia, Jeremia, Baruch, Esra werden fruchtbare Schriftsteller. Die immer wieder festgehaltene Fiktion ist dabei, daß diese alten Helden der Geschichte Israels bisher geheimgehaltene verborgene Bücher geschrieben haben. Sie haben diese Worte für die Endzeit bestimmt. „Denn bis zur Endzeit bleiben diese Worte geheim und versiegelt“ Dan 12,9. Nun aber am Ende der Tage sind die Frommen in den Besitz dieses geheimnisvollen Buches gekommen. „Am Ende (der siebenten Woche) werden die auserwählten Gerechten der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit auserwählt werden, um siebenfache Belehrung über seine ganze Schöpfung zu empfangen.“ Hen 93,10. Die Apokalyptik gibt sich wenigstens als Buchweisheit, sie will verschollene, geheime Literatur alter vergangener Tage sein. Diese durchgehende Eigentümlichkeit macht sehr mißtrauisch gegen die Annahme, daß hinter den Träumen und Visionen selbsteigne Erfahrung stehe und macht uns geneigt, in dem allen nur eine literarische Form zu erblicken.

Aber auch hier wird man vorsichtig gegen eine zu rasche Formulierung des Urteils sein müssen. Es bleibt möglich, daß in dieser literarischen Form der Apokalyptik ein Kompromiß zwischen der eignen Erfahrung des Apokalyptikers und dem allgemeinen Zeitbewußtsein vorliege. Mochte der Apokalyptiker noch so sehr von der Realität seiner Offenbarungen überzeugt sein, in dem Milieu, das ihn umgab, war man einmal mißtrauisch gegenüber prophetischen Offenbarungen in der gegenwärtigen Zeit. Der Abschluß des Kanons heiliger Schrift war schon zu Beginn der apokalyptischen Zeit weit fortgeschritten. Der Abschluß des Kanons aber setzt immer dem Glauben an fortwirkende, selbständige Offenbarung ein Ende und teilt die Zeiten in eine schöpferische Zeit der Offenbarungen und eine Epigonenzeit, in der Offenbarungen nicht mehr erfolgen. So ist denkbar, daß die Apokalyptiker bei voller Überzeugung von der Realität ihrer Offenbarungen, um diese für die Masse eindrucksvoller und glaubwürdiger zu gestalten, zu dem Kunstmittel der Pseudonymität griffen. War aber einmal diese literarische Form geprägt, so konnte sich ihr so leicht niemand entziehen, wenn er auf Anerkennung seiner Offenbarungen hoffen wollte. [15] Hier muß nun übrigens betont werden, daß gerade an diesem wichtigen Punkte die Johannesapokalypse eine Ausnahmestellung einnimmt. Es bleibt allerdings die Frage, ob die Weissagungen der Apokalypse von dem sich als ihren Träger nennenden Johannes selbst geschrieben oder nur auf seinem Namen geschrieben seien, oder ob eine vermittelnde Hypothese hier ihr Recht habe. Aber eines ist sicher: als Zeuge der Apokalypse gibt sich ein Mann der unmittelbaren oder eben verflossenen Gegenwart. Dasselbe wird zum Schluß im direkten Gegensatz gegen den hergebrachten apokalyptischen Stil hier gesagt: „Versiegele die prophetische Worte dieser Bücher nicht. Denn die Zeit ist nahe!“ 22,10. Ihrer Form nach gibt sich die Apokalypse nicht als Buchweisheit, sondern als gegenwärtige Offenbarung. Auch pulsiert in ihr ungebrochenes prophetisches Bewußtsein (vgl. den Abschnitt V). Die Apokalypse ist geschrieben in einer Zeit, wo man wieder im frohen Bewußtsein lebte, den Geist zu besitzen; den Geist Gottes, der zu den Propheten redet. Und einer abgeschlossenen Offenbarung des alten Testaments ist man im Begriff eine neue Offenbarung zur Seite zu stellen. — Das ganze Bedenken, das sich gegen die jüdische Apokalyptik in dieser Frage und an diesem Punkte erhebt, fällt für die neutestamentliche Apokalypse fort.

Dennoch wird sich die Frage weder hier noch dort schwerlich entscheiden lassen. Oft wird das Urteil bei den einzelnen Stücken desselben Buches schwanken. Ich halte es nicht für unmöglich, daß ein Teil der Gesichte im Danielbuch wirklich geschaut sind; aber daß der kleine Abriß der Geschichte in den letzten Kapiteln des Buches der Studierzelle und nicht im Traum eines Visionärs entstammt, dürfte auf der anderen Seite klar sein. Unmittelbare Erfahrung scheint in dem Traumgesicht Henochs k. 83-84 nachzuzittern, aber der ledernen Tiervision k. 85ff. würde man zu viel Ehre antun, wenn man sie – wenigstens dem größten Umfang nach – für mehr nehmen wollte als das müßige Hirngespinst eines Literaten.

Im übrigen wird man bei der Beurteilung dieser Frage auch von dem Satz auszugehen haben, daß sich die Annahme einer wirklichen visionären Erfahrung am leichtesten da halten lassen wird, wo wir kleine einzelne Visionen, abgerundete, leicht behaltbare Bilder haben. Der Prophet sieht (u. s. w.) einen Korb voller Herbstfrüchte und hört die Deutung: der Herbst kommt: das ist eine Vision. Je kleiner, abgerundeter, in sich einheitlicher das Bild, desto wahrscheinlicher die Unmittelbarkeit der Erfahrung. Je größer, umfangreicher, komplizierter, je künstlicher komponiert eine Apokalypse ist, desto mehr erhalten wir den Eindruck einer rein literarischen Produktion. In diesem Punkt steht nun gerade die neutestamentliche Apokalypse auf dem äußersten Punkt der Entwicklung zur literarischen apokalyptischen Kunstform. Keine Schrift des genus, zu dem die Johannesapokalypse gehört, zeigt auch nur annähernd eine so künstliche Komposition wie diese. In keiner Schrift sind die einzelnen Visionen und Visionenreihen so künstlich mit einander verwoben, daß keine fast sich aus dem Ganzen herausnehmen läßt, ohne dieses zu schädigen. Nirgends so wie hier haben wir den Eindruck bis ins einzelne berechnender, in taghellem Bewußtsein [16] arbeitender, künstlerischer Reflexion. Von der Johannesapokalypse als einem Ganzen gilt sicher, daß sie gedichtet und nicht geschaut, daß sie ein literarisches Kunstwerk und nicht das Tagebuch eines Visionärs ist. Mit diesem Urteil ist nun aber wieder nicht gegeben, daß hinter einzelnen Gesichten der Apokalypse nicht unmittelbare Erfahrung stände, sei es, daß der Verfasser der Apokalypse selbst einzelne wirkliche Gesichte älterer Propheten in sein Kunstwerk verwoben, sei es, daß er einmal wirklich erlebte Visionen aufgenommen hat.

Übrigens muß betont werden, daß bei der Abschätzung des wirklichen religiösen Wertes und Gehaltes einer Apokalypse es nicht auf die Frage ankommt, ob in ihr wirkliche visionäre Erfahrung vorliege, oder ob die berichtete Vision nur der literarischen Kunstform angehört. Es kommt auf den Inhalt der religiösen Überzeugung an und nicht auf die Form ihrer Vermittelung. Und dieser innere Gehalt verliert an Großartigkeit, Schwung und Kraft nichts, mag man die Frage so oder so entscheiden. Daß aber ein religiöser Schriftsteller sich einer hergebrachten literarischen Form bedient, um seine Gedanken wirkungsvoll für die Masse zu gestalten, daran könnte nur ein Fanatiker der Wahrhaftigkeit des Buchstabens Anstoß nehmen.

Mit der eben berührten Pseudonymität der apokalyptischen Literatur hängt die vielfach obwaltende Manier zusammen, mit der hier schon geschehene Ereignisse in der fingierten Form der Zukunftsweissagungen als vaticinia ex eventu vorgetragen werden. Da der Apokalyptiker fast ausnahmslos im Namen einer Persönlichkeit einer weit entfernten Vergangenheit redet, so liegt der Gedanke sehr nahe, diese Situation auszunutzen, vom Standpunkte der Vergangenheit aus zu weissagen und durch die Menge bereits erfüllter Weissagungen die Zuverlässigkeit der wenigen noch ausstehenden Weissagungen zu garantieren. Man wird aber doch gut tun, die Absicht und Meinung des Apokalyptikers nicht gar zu mechanisch aufzufassen. Freilich ist z. B. in der Tiervision des Henochbuches diese Art der Weissagung von einem fingierten Standpunkt aus zu einer reinen Farce geworden. Aber oft liegt bei diesem Verfahren doch auch wirklich der Versuch einer Erfassung geschichtlicher Zusammenhänge im größeren Stil vor, so namentlich im Danielbuch. Hier wird (in Kap. 2 und 7) dem Apokalyptiker das vaticinium ex eventu oder der Rückblick in die Vergangenheit ein Mittel, um den Zusammenhang, in welchem seine Gegenwart innerhalb des großen göttlichen Weltenplanes steht, zu erfassen und zu bestimmen. Die Apokalyptik erhebt sich hier zu den ersten Ansätzen einer geschichtlichen Theodicee. Die alte heilige Weissagung von den vier Weltreichen wendet der Apokalyptiker auf die ihm bekannte Geschichte an und bestimmt den Ort, an dem sich seine Zeit und sein Geschlecht befindet. Die Geschichte wird ihm zu einem Zeugnis von der Einheit einer über ihr waltenden göttlichen Absicht, von einem heiligen Willen Gottes, der die Not auf Erden größer und größer werden läßt, bis es endlich heißt: wo die Not am größten, ist Gottes siegende, helfende, heilende, richtende Gegenwart am nächsten.

[17] Nach dem, was oben über die Ausnahmestellung der Johannesapokalypse im Punkte der Pseudonymität gesagt ist, werden wir übrigens von vorn herein erwarten dürfen, daß in ihr auch das vaticinium ex eventu nur eine geringe Rolle spielt. Dennoch ist dies Element apokalyptischer Weissagung hier nicht verschwunden. Wenigstens müssen wir im Sinne des Schriftstellers, der die Apokalypse, wie sie uns vorliegt, geschrieben hat, in Kap. 11,1-2 und Kap. 12 rückwärtsschauende Weissagungen annehmen. Sichtlich schaut der Verfasser hier auf die Zerstörung Jerusalems, die Geburt Christi und seinen Kampf mit dem Teufel, die Verfolgung der ersten Christengemeinde zurück. Die Weissagung ist also nur noch Form. Aber auch hier ist, wenn wir von dem kleinen Fragment 11,1-2 absehen, das vaticinium ex eventu nicht das oberflächliche Mittel, die Sicherheit der noch ausstehenden Weissagungen zu garantieren. Sondern der Rückblick in die Vergangenheit und in die Kämpfe, die hier mit dem alten Erbfeind, dem Teufel, bereits ausgefochten sind, verfolgt den Zweck, der gegenwärtigen Generation zu zeigen, wo sie jetzt siehe, und ihr den Mut für den noch ausstehenden Kampf zu stählen.

Mit dem tatsächlich vorhandenen Element des vaticinium ex eventu hängt ja nun auch die sogenannte zeitgeschichtliche Deutung der Apokalypse zusammen. Denn diese Elemente der apokalyptischen Weissagung erhalten naturgemäß ihre Deutung aus der Geschichte, namentlich aus der in der unmittelbaren Zeitnähe des Schriftstellers liegenden Geschichte. Hier in diesem Punkt ist mit Recht neuerdings zur Vorsicht gemahnt. Man hat wohl zeitweilig die Apokalyptik so angesehen, als bestände sie wesentlich aus vaticinia ex eventu, d. h. man hat sie zu einer Farce gemacht. Demgegenüber wird im allgemeinen daran festzuhalten sein, daß dem Apokalyptiker seine Weissagung kein Spiel, sondern Ernst ist, und daß er wirklich Zukunftsweissagung bringen will. Aber die Art, wie jene Zukunftsweissagungen entstehen, aber haben wir bereits oben geredet. Sie sind natürlich zum Teil auch aus zeitgeschichtlichen Verhältnissen herausgewachsen. Aber es treten hier nun ganz neue Elemente und Hülfsmittel ein, deren sich der Apokalyptiker bedient: alte geheiligte Traditionen und Bilder, Mythen und mythologische Vorstellungen, die er nicht erfindet, nicht den Verhältnissen seiner Gegenwart entnimmt, und die für alle rein zeitgeschichtliche Deutung unlösbar bleiben.

Achten wir endlich noch auf die mit der apokalyptischen Zukunftsweissagung verbundenen Nebenformen. In erster Linie kommt hier natürlich die Paraenese in Betracht. In der prophetischen Rede war die Paraenese ein und alles, sie ist der Endzweck aller prophetischen Rede, und was die Propheten von Vergangenheit und Zukunft predigen, steht mit diesem Endzweck in unmittelbarem Zusammenhang. Es ist nicht zu verkennen, daß sich in der apokalyptischen Literatur die Weissagung selbst zum Selbstzweck auswächst, daß der Apokalyptiker durch seine strahlenden Zukunftsbilder vor allem Trost in die Herzen der leidenden Frommen gießen will. Die eigentliche sittliche Ermahnung steht mit diesem Zwecke nur in loserem [18] Zusammenhange. Die Zukunft hängt dem Apokalyptiker nicht vom Tun und Lassen der Menschen ab, wie dem Propheten, er kommt daher nirgends von seiner Weissagung zu einer konkreten Erfassung der Pflichten der Frommen in der Gegenwart. Was er verkündet, ist Gottes und der überirdischen Gewalten Tun und Handeln. Aber weil nun doch der Apokalyptiker das große Gericht Gottes verkündet, so verbinden sich an diesem Punkt mit den religiösen Hoffnungsgedanken unmittelbar sittliche Motive stärkster Art. Diese Motive stehen aber mit dem speziellen Inhalt der apokalyptischen Weissagung nur in losem Zusammenhang, sie wachsen deshalb aus dieser nicht unmittelbar hervor, sondern treten ziemlich unvermittelt, nur durch den Gedanken des großen Gerichtes Gottes lose mit dieser verbunden, neben sie. Daraus erklärt sich die Struktur der meisten jüdischen Apokalypsen. In ihnen treten die ethischen Ermahnungen in besondern Abschnitten neben die Abschnitte apokalyptischer Weissagungen und Enthüllungen transzendenter Geheimnisse. So stehen im älteren Teil des äthiopischen Henochbuchs die speziellen Paraenesen am Anfang und am Schluß des Buches, im slavischen Henochbuch bilden sie den zweiten, vom ersten scharf abgegrenzten Teil, in den Testamenten wechseln Weissagungen und Ermahnungen, so daß letztere das Übergewicht haben. Im II Bar und IV Esr sind allerdings die beiden Elemente stärker in einander verwoben. Aber in unserer Apokalypse findet sich wieder — abgesehen von einzelnen, über die ganze Apk zerstreuten kurzen Wendungen — das paraenetische Element in den Briefen am Anfang für sich.

Ein bemerkenswertes Nebenelement der Apokalyptik ist übrigens auch das Gebet. Wie dieses in der gesamten spätjüdischen Literatur überhaupt eine Rolle spielt, so auch in der Apokalyptik. Eine besonders wichtige Offenbarung wird gewöhnlich durch ein kürzeres oder längeres, oft sehr langes Gebet eingeleitet. Vorbildlich ist auch hier Daniel mit dem neunten Kapitel seiner Weissagung geworden. Jede der ersten Vision des IV Esr ist mit einem entsprechenden Gebet eingeleitet, auch der Verfasser der II Baruchapokalypse verwebt eine Reihe von Gebeten in seine Weissagung. Die Johannesapokalypse hat keine Gebete, aber auch sie hat ein Mittel, durch welches der einförmige Verlauf der Weissagungen und apokalyptischen Bilder wirkungsvoll durchbrochen wird. Das sind die zahlreichen ein gestreuten kleinen prächtigen Hymnen, deren Form wohl bereits dem christlichen Gottesdienst entlehnt ist. Eine ganz besondere Stilart ist endlich durch das achtzehnte Kapitel, das Klagelied über den Fall Babels, repräsentiert. Es hat seine Parallelen in den mannigfachen sibyllinischen Drohliedern gegen Rom, wie sie namentlich im fünften Buch der Sibylle vorliegen.

So laufen die Fäden überall hinüber und herüber. Unser Buch ist weder seiner ihm zu Grunde liegenden Weltanschauung, nach seiner äußern Form nach eine isolierte Erscheinung, sondern es gehört nach seinem Inhalt zum großen Teil und ganz und gar nach seiner Form in die mit Daniel beginnende Schriftgattung der Apokalyptik hinein. Daß es innerhalb dieser Literatur in mancher Hinsicht eine besondere Stellung einnimmt, ist bereits hervorgehoben. Und betont mag schon hier werden, daß weit darüber [19] hinaus ein persönliches, individuelles, aus einer ganz bestimmten Situation heraus sich ergebendes Element in ihm vorliegt, dessen Darstellung einem späteren Abschnitt vorbehalten bleibt. Im Zusammenhang damit wird auch zur Besprechung kommen, was speziell christlich darin ist.


  1. Die erste wirkliche Sammlung der einschlägigen Schriften lieferte Fabricius cod. pseudepigraph. Vet. Testamenti 2. ed. 1722—23 (eigentlich schon unter einem noch umfassenderen Gesichtspunkt angelegt). Es folgte die Entdeckung des äthiopischen Henochbuches und der Ascensio Jesaiae (Bruce, Laurence 1773 [1821] 1819), die Ausgabe des Henochbuches von Dillmann, die Arbeiten Gfrörers, Jahrhundert des Heils 1838, Prophetae veteris testamenti pseudepigraphi 1840, die Entdeckungen Cerianis (Assumptio Mosis 1861. Apok. des Baruch 1866), die Herausgabe des Testamentum XII Patriarcharum in einem einigermaßen lesbaren Text von Sinker. Noch die neueste Zeit hat wesentliche Beiträge geliefert. Neuentdeckt wurde ein Stück des griechischen Henoch in der Handschrift von Akhmim (von Bouriant, vgl. die Ausgaben von Lods und Charles); das sehr interessante Buch der Geheimnisse Henochs wurde in einer Übersetzung aus dem Slavischen zugänglich gemacht (Charles the book of the secrets of Henoch 1896 und Bonwetsch, d. slavische Henochbuch. Abh. d. Gött. Ges. d. Wissensch. N. F. I 3. 1896). Aus dem Nachlaß des verstorbenen Bensly gab James das IV. Buch Esra in einem zuverlässigen und zum ersten Male vollständigen lateinischen Text heraus (Text and Studies 1895), und Gebhardt verdanken wir eine abschließende Ausgabe der salomonischen Psalmen (1895). Neuerdings sind hier besonders die von dem Engländer R. H. Charles herausgegebenen Texte und Übersetzungen zu nennen: The Book of Enoch 1893; the apocalypse of Baruch 1896; Assumption of Moses 1897; Ascension of Isaiah 1900; The Book of Jubilees 1902; ferner die Veröffentlichungen von James in Texts a. Studies II und V. Cambridge 1892. 1897; die neuen Ausgaben der Oracula Sibyllina von Rzach (1891) und namentlich von Geffcken (1902). Die wichtigsten Stücke dieser Literatur findet man jetzt (von Daniel abgesehen) in Kautzsch Apokryphen und Pseudepigraphen in Übersetzungen. Einen Überblick über das Material bei Schürer Gesch. d. jüdischen Volkes³ im dritten Band; Bousset Religion d. Judentums S. 6-48; Artikel Apokalyptic Literature von Charles, Encyclop. Biblica I 213-250; Artikel „Pseudepigraphen des alten Testaments“, Realencyklop. XVI 229-265.
  2. vgl. Hilgenfeld, jüdische Apokalyptik, Jena 1857 1ff.
  3. Geschichte des Chiliasmus, Frankfurt und Leipzig 1781. Vgl. auch die wertvolle Schrift von Berthold, Christologia Judaeorum, Gotha 1828.
  4. Bousset, Rel. d. Judentums. S. 349f. u. 379.
  5. vgl. die gegensätzliche Auffassung von Vision und Traum im hebr. Testam. Naphthali k. 2; 4; 7.
  6. vgl. auch Ascensio Jesaiae 6,6 (nach dem äthiop. Text): „sie hörten eine Tür, welche man öffnete und die Stimme des heiligen Geistes“.
  7. Die Entrückung spielt auch in der heidnischen Offenbarungsliteratur eine Rolle. Vgl. R. Reitzenstein, Poimandres 1904. S. 5. 9f. 102f. 105 u.ö.; A. Dieterich, eine Mithrasliturgie 1903 und meinen Artikel über die Himmelsreise der Seele, Archiv f. Religionswissensch. IV. 2, 136ff. 229ff.
  8. Die Visionen k. 6 u. 7, in denen die Engel eine Rolle spielen, sind dem Ezechiel nachgebildet.
  9. Die Stimme 1,10 und 4,1 ist die Stimme Christi oder Gottes.
  10. Übrigens liegt hier 17,3; 21,10 eine Kombination der Vorstellungen von der Offenbarungsvermittelung durch den Engel und derjenigen durch den Geist vor.
  11. Die Kombination, daß der Engel einer der sieben Schalenengel gewesen sei, wird freilich vom Apok. letzter Hand stammen.
  12. Über Spuren dieser Anschauung vom Geist im Judentum s. Rel. d. Judentums 374f.
  13. Man beachte, wie hier und da geschildert wird, wie zunächst dem Seher eine einfache menschliche Gestalt erscheint und wie diese sich dann vor den Augen des Sehers in eine himmlische Erscheinung verwandelt. Vgl. die vierte Vision des IV Esra und die Einleitung zum Hirten des Hermas 1. — Dazu vgl. auch R. Reitzenstein Poimandres 11ff.
  14. Übrigens ist bereits k. 5 nicht mehr einfach darstellende Vision. Der Seher sieht hier bereits teilweise zukünftige Ereignisse, den unmittelbaren Moment vor der Lösung der Siegel des Buches, als gegenwärtig.
  15. Vgl. z. B. auch im griechischen Estherbuch den Traum des Mardochai, der sich nicht als reine Allegorie zur folgenden Erzählung auflöst.
  16. WS: Fußnote wohl entfallen. Im Original gleiches Ankerzeichen wie die vorherige Fußnote.
  17. Nämlich der Tradition, daß das große Weltenjahr in 70 (72) Wochen verläuft, so wie nach uralter Vorstellung das einfache Sonnenjahr 72 Wochen à 5 Tage (= 360 Tage) enthält. (Keilschriften u. d. A. Test.³ 328. 334f.).
  18. Bemerkenswert ist es, daß die Adler- und Menschensohn-Vision des IV Esra, die Zedernvision und Wolkenvision im II Bar durch Gott selbst gedeutet werden.
  19. Rel. d. Judentums S. 374.
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