Die Gartenlaube (1897)/Heft 49
[805]
Nr. 49. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
|
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.
Einsam.
(18. Fortsetzung)
Der frühe Herbstabend brach herein; aber ein milder, lieblicher Abend, der nicht an die Jahreszeit gemahnte. Die Sonne war hinab. Nur der letzte Nachglanz ihres Scheidegrußes schwebte in blaß rosig schimmernden, zerstreuten Wölkchen am durchsichtigen Himmel. Der leichte spielende Wind war schon eher als die Sonne schlafen gegangen, und in der Pracht ihres vielfarbig leuchtenden Sterbekleides standen Bäume und Büsche ohne Regung im verdämmernden Licht.
Von seinem Bett aus konnte Ludwig gerade die riesige alte Silberpappel sehen, um deren Stamm sich bis fast zum Wipfel hinauf die Ranken des jetzt schon blutrot verfärbten wilden Weines schlängen. Still, träumerisch, als hatten sie vergessen, wie rastlos sie tagsüber beim leisesten Windhauch auf ihren leichtbeweglichen Stielen silberschimmernd geflackert hatten, standen die Blätter der Baumkrone wie eine Federzeichnung von unnachahmlicher Feinheit vor dem dunkler und dunkler werdenden Himmelshintergrunde; verschwammen allmählich zu der leise niedersinkenden Nacht zu einem gestaltlosen Schattengebilde.
War er eingeschlafen?
Hanna, auf ihrem Sessel neben dem Bett, neigte sich vor; es war schon beinahe finster im Zimmer, doch um den Kranken nicht aufzustören, hatte sie schon minutenlang keine Bewegung mehr zu machen gewagt.
Nein, er wachte; wenigstens hatte er die Augen offen. Aber um sein fieberndes Hirn lag wohl dichter Nebel. Unverwandt schaute er auf dieselbe Stelle, schräg über das Bett hin zum Fenster hinaus. Doch sah er, ohne zu sehen. Von der nächtlichen Dämmerung wußte er wohl nichts. Durch Kissen und Polster unterstützt, lehnte er halbaufgerichtet, mit etwas zurückgesunkenem Kopf. Der Atem ging kurz, hastig, oberflächlich, zeitweilig von einzelnen rauhen Hustenstößen unterbrochen. Von der abendlichen Fiebermessung, die eine erschreckende Höhe zeigte, hatte er gar keine Notiz genommen, gar nicht mehr gefragt „Wieviel?“ wie er es die andern Male so eifrig gethan hatte.
„Es steht ernst um ihn,“ hatte Meinhardt gesagt. „Wir dürfen uns das nicht verhehlen. Ich gehe nur scheinbar fort, um ihn nicht aufzuregen. Ich bleibe für die Nacht im Hause.“
Nun wußte sie ihn im Nebenzimmer. Das war ein rechter Trost.
Ihr Herz war schwer von einer großen, angstvollen Traurigkeit. Unklare Gedanken, Hoffnungen, Wünsche drängten sich um sie, stiegen auf, sanken zusammen. Wie rankendes Schlinggewächs umklammerten sie die neu aufgeschossenen Selbstvorwürfe. Angesichts dieses Todkranken, dieses wehrlos niedergeworfenen wußte sie keine Anklage mehr, als die gegen ihre eigene Feigheit, keinen Vorwurf, als den gegen ihre Herzensblindheit. Etwas mehr als nur stumme Duldung, ein Schritt über die Grenze dumpfer, öder Ergebung hinaus – und manches zwischen ihnen beiden
[806] wäre doch wohl noch anders geworden. Schrecklich, wie heiße, schwere Tropfen waren ihr die abgebrochenen Worte des Kranken auf das Herz gefallen. Etwas Böses gethan hatte sie nicht – das war es nicht, was sie peinigte –, aber etwas Gutes, Versöhnliches zu thun unterlassen. Nun war es zu spät. Die tiefe Bitterkeit dieser Erkenntnis kam ihr heute zum erstenmal. Sie fraß mit ihrer ätzenden Schärfe unheilbare Wunden. Zu spät! Nicht mehr gutmachen können! Nicht mehr einholen können. Versäumtes! Der da mit dem Tode rang – ja, er hatte ihr weh gethan, oftmals, ernstlich weh, er hatte ihr das Leben verbittert nach allen Kräften, nachdem er es an sich gerissen und mit dem seinigen verbunden hatte. Aber seine Hassesthaten waren aus unerwiderter, verwilderter Liebe entsprossen. Eine unheilvolle Saat! Warum wußte sie das erst heute so klar? Warum hatte sie nicht schon früher versucht, seine harte Faust zu lösen, zu glätten, statt sich nur vor ihr zu verkriechen? Mußte er erst machtlos in schweren Schmerzen liegen, um ihr keine Furcht mehr einzuflößen? Mußte erst der Tod in das Zimmer schleichen, derweil sie schlief, und die Hand auf seine Stirne legen und die zweite Schrift lebendig machen, einmal noch, vor dem endlichen Erlöschen – die zweite – nein, die erste, die untere Schrift, die sie niemals gesehen hatte? Zu spät! Fürchterliches Werk.
Hanna rang zitternd die Hände ineinander. Jetzt beten können! Wo war der Himmel ihrer gläubigen Kindheit geblieben? Töte ihn nicht, lieber Gott! Ich will es noch einmal versuchen ich will es besser machen! Töte ihn nicht! – Wenn er es hörte, wenn er noch da wäre, wo sie ihn früher – ach vor undenklicher Zeit! – so sicher gewußt hatte. Nicht beten können in schwerer Herzensnot! Nicht glauben können! Die Wüste. Die Finsternis!
Draußen rauschten die Bäume auf. Kam noch ein Nachtwind herüber? Durch die offenen Fenster wehte es frisch herein. Hanna schauerte zusammen. Vielleicht wurde es doch zu kühl. Gestern waren sie zur Nacht auch nur angelehnt geblieben.
Leise erhob sie sich. Aber das Hinstreifen ihres Kleides am Bettrand hatte den Träumenden doch geweckt. Er rührte sich in der fast völligen Dunkelheit sah sie undeutlich, daß er den Kopf zur Seite wendete.
„Was ist denn?“ fragte er leise, mit dünner, flachklingender Stimme.
„Ich will nur die Fenster ein bißchen mehr zumachen,“ antwortete sie, die gleich stehen geblieben war. „Es ist windig geworden.“
„Dunkel. – Seh’ dich nicht.“
„Ja, dunkel ist es, ich mach’ aber auch gleich Licht. Ich wollte dich nur nicht unnötig wecken.“
„Bleib’ da. – Geh’ nicht weg.“
„Ich bin im Augenblick wieder bei dir. aus dem Zimmer geh’ ich nicht, sei unbesorgt – Siehst du, da bin ich schon. Nun dreh’ ich nur hier an der Seite auf, da trifft die Helligkeit nicht in deine Augen.“
Sie entzündete die elektrische Lampe an der Wand, ein Bündel von vier blaßblauen Blumenkelchen.
War es die magische Beleuchtung, die sein Gesicht so veränderte? Aber sie kannte ja dieses Licht. Sie wußte, als sie sich jetzt über ihn beugte: Er stand zu Häupten. Er mit der Sense.
„Komm näher,“ sagte Ludwig mühsam. Er hob die Hand. „Bleib’ bei mir“
„Gewiß bleib’ ich bei dir. Ich rühre mich nicht mehr weg von dir. Verlaß dich darauf.“
Jetzt nur nichts mehr versäumen, schoß es durch sie hin wie eine Flamme. Jetzt nur alles, alles thun, was hier zu thun noch übrig bleibt.
„Du fühlst dich besser, nicht wahr?“ sagte sie, auf seinem Bettrand niedersitzend und seine Hand – wie sie glühte! – in ihre beiden nehmend. „Ich bin so froh, du hast schon beinahe eine halbe Stunde lang nicht gehustet; das ist ein schöner Fortschritt.“ Sie nickte ihm lächelnd zu.
Er erwiderte das Lächeln nicht. Nach ein paar gequälten Atemzügen sagte er tonlos: „Ich geh’ kaputt“.
„Was redest du da,“ verwies sie ihm freundlich vorwurfsvoll. „Wenn du nichts Gescheiteres zu sagen weißt, darfst du den Mund nicht mehr aufthun. Krank bist du, das ist sicher, tüchtig krank, aber vom Sterben ist keine Rede! Denk’ doch, bei deiner prachtvollen Natur. Du wirst der Krankheit Herr, da ist keine Not. Ein paar Tage Geduld, und du siehst schon ganz anders aus den Augen. Wart es nur ab.“
Er schüttelte schwach den Kopf. „Lüg’ nicht. – Ist ja Unsinn. – Der alte August lügt auch…. Gebt euch keine Mühe!“
Sie legte ihm sacht einen Finger auf den Mund.
„Schweig,“ sagte sie lächelnd. Erstens, weil du ungereimtes Zeug redest, und zweitens, weil du dich nicht anstrengen sollst. O weh, siehst du, da kommt der Husten und mahnt dich!“
Er mahnte streng. Stöhnend, bis zum Aeußersten erschöpft, lag der Kranke nach dem Anfall in seinen Kissen. Meinhardt war leise eingetreten.
„Er ist zu niedrig gebettet,“ sagte er jetzt gedämpft „Ich werde ihn heben, rücken Sie die Kissen.“
Ludwig öffnete die Augen und verzog das Gesicht; zu sprechen war ihm nicht möglich. Mit der halberhobenen Hand machte er eine unsicher flackernde Bewegung.
„Ich soll hinaus?“ fragte der alte Herr. „Zu Befehl, Majestät. Lassen Sie sich nur erst zurechtlegen’.“
„Ich nehme ihn einfach wieder in den Arm,“ sagte Hanna, „das ist das beste. Die Kissen sinken doch wieder zusammen. An meiner Schulter, wenn ich ihn halte, lehnt er sich prächtig an. Nicht wahr, du, das ist auch deine Meinung? Er lächelt, sehen Sie wohl, ich wußt’ es ja.“
Sie richteten ihn auf. Hanna, mit dem Arm um seinen Nacken, hielt ihn fest. Damit sie besser aushalte, baute ihr der Doktor von Kissen eine kunstreiche Stütze.
Nun waren sie wieder allein.
„Das war aber ein böser Anfall, du Armer,“ sagte Hanna liebreich. Sie begegnete seiner auf der Bettdecke suchenden Hand und hielt sie fest. „Nun sei du aber ganz still. Mich laß reden. Ich erzähl’ dir was. Wenn du so weit bist, daß wir reisen können, dann pack’ ich dich ein und wir gehen hinunter nach Italien oder auch, was vielleicht noch besser wäre, gleich nach Madeira für den ganzen Winter. Und unterwegs, weißt du, da fangen wir beide unser Leben in aller Stille von neuem an. Und dann wird es plötzlich sehr schön! Glaubst du nicht? Du mußt aber nur nicken.
Er stieß einen unverständlichen Laut aus und schüttelte den Kopf.
„Laß das,“ sagte sie, mit der Hand, die auf seiner Schulter lag, seine Wange und Schläfe anrührend. „Das Schütteln thut dir nicht gut, es ist auch eine falsche Antwort.“
Sie beugte sich etwas vor, um ihm in die Augen sehen zu können.
„Ich weiß, warum du zweifelst, Ludwig“, sagte sie in tiefem Ernst. „Du meinst, ich hätte dich ja doch nicht lieb. Ist es nicht so?“
Er winkte mit den Augenlidern Ja.
„Nun, laß dir sagen, Ich hab’ in diesen Stunden viel erlebt. Wenn du erst gesund bist, sollst du alles einzelne hören. Heute nur die Hauptsache. Seit ich weiß, daß ich dich verlieren könnte, weiß ich erst, wie gut ich dir bin. Und ich bitte dich viel vielmals um Verzeihung für alles, was ich bisher dumm gemacht habe, und für alles, womit ich dich bisher aus Mißverstehen gekränkt habe. Hörst du, was ich dir sage? Ich hab’ dich lieb. Vergiß es nicht! Und erinnere mich an diese Stunde, wenn es einmal wieder nicht so zwischen uns ist, wie es sein sollte. Ich hab’ dich lieb.
Er sah sie an mit einem Blick, der ihr die Thränen in die Augen trieb, durch diese Thränen lächelte sie ihm zu. Seine Lippen formten ein unhörbares Wort. Sie verstand es, neigte sich tiefer und küßte ihn.
Er atmete stöhnend tief auf und drückte den Kopf in den Nacken.
„Schade!“ sagte er laut, mit heiserer zerbrechender Stimme.
[807] Ein neuer, wütender Husten überfiel ihn, schlimmer als je zuvor.
„Doktor! Zu Hilfe!“ rief Hanna. Mit beiden Armen hielt sie den Unglücklichen, der, nach Luft ringend, um sich schlug.
Dann – plötzlich – brach der Husten ab, wie mitten durchgeschnitten. In die krampfhaft aufgereckte Gestalt kam ein Schüttern, sie wankte und brach lautlos zusammen.
„Was ist das?“ fragte Hanna entsetzt.
„Der Tod,“ antwortete Meinhardt leise und ernst. „Ein Herzschlag. Ich habe ihn befürchtet.“
Hanna brauchte sich um nichts zu kümmern. Die Schwägerin „besorgte alles.“
Frau Selma Eggebrecht war am andern Morgen in aller Frühe erschienen, außer sich, daß man sie nicht gerufen habe, als der Bruder zum Sterben gekommen sei.
Oben in Hannas Zimmer hatte sich der Sturm dann freilich legen müssen. Der Sanitätsrat, sehr besorgt um seine junge Freundin, war nach kurzer Nachtruhe, die er sich ja nun doch im eigenen Hause hatte vergönnen dürfen, wiedergekommen und empfing zunächst allein den ersten Ansturm der schwesterlichen Entrüstung. Er rief der aufgeregten Frau den Wortlaut seines im Namen Hannas sofort nach Ludwigs Tode an sie abgesandten schriftlichen Bericht ins Gedächtnis zurück.
„Daß es am Nachmittag bereits sehr ernst um den Kranken stand, war Ihnen nicht verheimlicht worden. Daß trotzdem am Abend niemand von Ihnen allen zu Hause war, als August die Trauerbotschaft überbrachte, konnte man unmöglich vorher sehen -“
„Ein Plauderstündchen bei guten Freunden, nur um auf Augenblicke unsere nagende Sorge zu vergessen um uns ein bißchen auf andere Gedanken zu bringen – –“
„Bitte, bitte sehr, meine gnädigste Frau, dies ist ja ganz individuell. Eine Kritik hätte ich mir nicht erlaubt. Dagegen gestatte ich mir, festzustellen daß der Zufall und nicht Frau Thomas daran schuld ist, daß Sie die Todesnachricht erst spät in der Nacht empfangen – vielmehr also vorgefunden haben. Ein Herzschlag, der das schwere Leiden Ihres Bruders rasch beendigte, konnte man der schon vorher festgestellten leichten Herzerkrankung wegen wohl befürchten, nicht aber mit Sicherheit prophezeien. Ich bitte Sie also inständigst, Ihre ganz gegenstandslose Entrüstung aufgeben zu wollen! Das Natürlichste wäre wohl, Ihre Trauer mit der der armen kleinen Witwe zu vereinigen.“
„Wie geht es Hanna? Ich vermute sie ist sehr gefaßt. Von Kummer wird bei ihr nicht groß die Rede sein. Danach war die Ehe nicht beschaffen. Sie ist eine eiskalte Natur.“
„So? – Ich finde sie in mitleidswürdigem Grade erschüttert. Und ich möchte Ihnen ans Herz legen, gnädige Frau, recht schonungsvoll mit ihr umzugehen. Mir scheint, Sie kennen sie denn doch wohl nicht genug, um über ihr Seelenleben urteilen zu können.“
„Wo steckt sie denn überhaupt? Warum läßt sie sich vor mir nicht sehen? Das ist doch zum mindesten wunderlich.“
„Als ich Ihren Wagen anfahren sah, empfahl ich ihr, sich vorläufig zurückzuziehen. Es lag mir daran, mich zuerst zu vergewissern, daß ihr nicht anders, als sehr zart begegnet werde.“ – –
Frau Eggebrechts Trauer setzte sich in Thatkraft um.
Es galt eine „pompöse“ Leichenfeier zu veranstalten, wie sie dem Reichtum und der Prachtliebe des Verblichenen entsprach. Die Schwester fühlte tief die Wichtigkeit ihrer Mission. Es konnte jetzt als ein besonderes Glück angesehen werden, daß Linchen mit hergekommen war. Ihr als verheirateter und von ihrem Mann begleiteter Frau konnte sie Evchen tagsüber zu schützen überlassen, da die Mama als natürliche und oberste Hüterin zunächst unabkömmlich war, wenn sie auch für die Nacht ins Hotel zu den Ihren zurückkehrte. Die Kinder sollten das Trauerhaus nicht eher beweinen als bis alles bereit war. Der Kondolenzbesuch bei der Tante kam immer noch früh genug.
Die Dienstboten wußten kaum, wie ihnen geschah. Als ob nicht die Witwe, sondern die Schwester Herrin des Hauses wäre, so schaltete und waltete die majestätische Frau Bankdirektor, ohne sich im einzelnen mehr um Hannas Zustimmung zu bemühen, nachdem sie sich in einem kurzen Gespräch mit der blassen stillen Frau die Freiheit des Handelns im allgemeinen gesichert hatte. Wirklich „verstand“ sie die Repräsentation des Hauses Thomas besser als ihre Schwägerin, und Hanna that gut, sie in den nächsten Tagen völlig gewähren zu lassen.
August, schlecht verhehlte Widersetzlichkeit in jeder Falte seines Gesichts, war eine halbe Stunde nach dem Ausbruch dieser neuen und höchst lärmvollen Regentschaft bei Hanna erschienen, um die ausdrücklichen Befehle seiner gnädigen Frau zu erfahren. die Frau Bankdirektor seien doch schließlich nur zu Besuch hier, und sie wüßten sich alle nicht zu deuten – –
Der Bescheid befriedigte ihn anscheinend nur wenig, doch wurde er um seine Meinung nicht befragt. Er gab sie darum in der Küche zum besten, wo sie mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. Die Allergnädigste aus Breslau, so groß und breit sie war und so laut sie sprach, sollte sich nur nicht einbilden, daß sie das Kommandieren so beibehalten dürfte. Und wenn sie sich nach der Beerdigung noch weiter so dicke that, so würde gestreikt.
Dekorateure und Gärtner hantierten in den unteren Räumen Der Festsaal und der davorliegende große Salon wurden schwarz ausgeschlagen, sämtliche elektrische Lampen, bis ins Vestibül hinaus, mit schwarzem Flor behängt oder überzogen. Das Thomas'sche Gewächshaus, so groß es war, enthielt nicht so viel des „ernsten Grüns“, wie man brauchte. Schmidt Unter den Linden, der „Hoflieferant“ des Verstorbenen, wurde entboten, um die Ausschmückung zu vollenden. Frau Selma war überall selbst mit dabei, keine Palme, kein Lorbeerbaum durfte ohne ihre ausdrückliche Genehmigung aufgestellt werden. Kein Mißverhältnis im Faltenwurf und in der Spannung der schwarzen Stoffmassen entging ihrem raschen Blick. Die Tapeziergehilfen, die zehnmal für einmal die Leitern auf- und abklettern mußten, waren sich darüber einig, daß sie noch nie so „gezwiebelt und gepiesackt“ worden wären. Wenigstens bei Trauersachen pflegten sich die Leute sonst sanfter zu verhalten.
Am zweiten Tage nahm die Interimsregentin die zahlreich einreisenden Kranzsendungen entgegen, öffnete und ordnete die Beileidsschreiben, wie sie gestern als erstes für die Erledigung der Anzeige in Zeitungen und Briefe gelegt hatte. Sie gönnte sich keine Ruhe, man konnte ihre laute, befehlende Stimme – es war, ins Weibliche übersetzt, die des Bruders – durch das ganze Haus hören.
Nur das Sterbezimmer betrat sie nicht. Den Toten sah sie nicht an. Die letzte Umbettung mochte Hanna besorgen, deren frostige Natur diese Dinge nicht anfochten. Ihre Nerven waren solchen Erregungen nicht gewachsen. Sie wäre unbedingt krank geworden, wenn sie sich einem derartigen Gefühlssturm ausgesetzt hätte. Und sie durfte ihre Fassung nicht verlieren.
Erst als der schon geschlossene Sarg, mit Blumen reich geschmückt, Palmen zu Häupten, im Saal aufgestellt war, verrichtete sie kniend ein stilles Gebet. August hatte zu diesem Zweck sämtliche Kerzen der vielarmigen hohen Leuchter anzünden müssen.
„Mich wundert nur eins,“ sagte er nachher zu Pauline, „daß sie sich nämlich keinen Photographen bestellt hat, um den weihevollen Augenblick zu verewigen.
Am Nachmittag des zweiten Tages kam Günther. Er wurde zunächst Frau Eggebrecht ausgeliefert, wie alles, was in das Haus kam.
Verwundert, aber mehr noch beklommen, verbeugte er sich in seiner linkischen Art, als diese große, weitläufige Dame im langschleppenden schwarzen Gewand zur Thür hereinkam, er hatte sein schmächtiges, blasses Hannichen erwartet.
„Mein Name ist Günther,“ murmelte er einigermaßen verdonnert.
„Günther? Günther? Ich erinnere mich nicht, daß ich irgend etwas bei Ihnen bestellt hätte. Wer schickt Sie denn?“
„Bitte schön.“ Günther mußte unwillkürlich lächeln, trotz [808] der hochfahrenden Miene Frau Selmas, die er jetzt wieder erkannte, auf der Hochzeit damals hatte er sie nur flüchtig betrachtet. „Schicken thut mich niemand, und bestellt ist auch nichts bei mir. Ich bin befreundet mit Frau Thomas und hatte eigentlich nach ihr gefragt. Ich wollte mich mit meinem Kirchenchor für die Beerdigungsfeierlichkeit zur Verfügung stellen. Bei der Hochzeit haben wir gesungen und, als die arme Frau Wasenius starb, auch.“
„So, so. Ja, ich bedaure, Sie nicht beschäftigen zu können. Es sind bereits Domsänger bestellt.
Günther starrte sie an. „Entschuldigen Sie, – Hanna – Frau Thomas kann doch unmöglich – wie kommt sie denn auf den Domchor?“
„Meine Schwägerin, die leidend ist, kümmert sich um nichts und hat die Sorge für die Trauerfeier ganz auf mich abgeladen. Der Domchor ist so doch das Nächstliegende, besonders bei einer Feier, wo es nicht auf die Kosten ankommt.“
Günther wurde rot. „Wir singen nicht für Geld,“ sagte er. „Uns wäre es einfach Herzenssache. Hannas wegen! Fragen Sie doch, bitte, Frau Thomas, wen sie lieber will, den Domchor oder uns.“
„Da ich die Verantwortung für das Ganze übernommen habe, kann ich mich unmöglich wegen jeder Einzelheit nach persönlichen Wünschen erkundigen. Uebrigens ist die Sache schon erledigt, da ich mit dem Domchor fest abgeschlossen habe.“
In Günther kämpfte die natürliche Schüchternheit vor allem, was ihm von oben herab – wirklich oder figürlich – über den Kopf kam, mit dem Verdruß über diese Maßreglung, die ihm sein gutes Freundesrecht beschnitt. Frau Selmas imposante Größe und ihr Hochmut beklemmte ihn, ihre unliebenswürdige Härte reizte, was Widersetzlichkeit in ihm war.
„Könnte ich Frau Thomas wohl persönlich sprechen?“ fragte er, etwas unsicher zwar, aber mit dem vergnügten Untergefühl: ich mucke auf.
„Meine Schwägerin ist leidend, wie ich Ihnen schon vorher sagte, und empfängt nicht.“
„Ueberhaupt niemand?“
Frau Eggebrecht maß den zudringlichen Menschen mit einem Blick, der ihm nicht wohlthat, aber ehe er sich, wie es sicher die Absicht war, von ihr vor die Thür gesetzt sah, kam August herein, ganz starre Höflichkeit, mit halbgeschlossenen Augen.
„Ich habe Herrn Günther bei gnädiger Frau gemeldet. Gnädige Frau lassen bitten.“
„Aha!“ entfuhr es Günther erfreut. Seine Abschiedsverbeugung blieb wirkungslos; sie traf nur noch Frau Selmas Rücken.
„Na, mein liebes, gutes Hannichen, nun ist ja alles – –“
Günther stockte und blieb an der Thür stehen, die August hinter ihm geschlossen hatte. Er war im Begriff gewesen, zu sagen: Nun ist ja alles gut, nun schöpfen Sie kräftig Atem, nun fangen Sie das Leben von vorne an, gottlob ist ja noch nicht allzuviel Zeit verloren!
Diesem vergrämten Gesicht gegenüber ging seine Fassung in die Brüche, so schnell wie seine Beredsamkeit.
„Was ist denn los?“ stieß er, nähertretend, heraus.
Eine ziemlich seltsame Frage im allgemeinen, wenn man eine Witwe zwei Tage nach dem Tode ihres Mannes besuchen kommt. Aber er hatte etwas andres zu sehen und zu hören erwartet, als er nun fand. Er hatte erwartet, daß sie ihm, dem Freunde aus alter Zeit, das tiefe, befreiende Aufatmen nicht verhehlen werde, das ihr die allzulang beengte Brust doch heben mußte, nachdem sie von ihrem schweren Joch erlöst war. Zugegeben, daß sie ein Joch trage, hatte sie ja nicht. Aber er hatte es gewußt, als ob sie es ihm gezeigt hätte. Und sie hatte gewußt, zum mindesten ahnen müssen, daß er es wußte. Zu sprechen wäre auch jetzt nicht nötig gewesen. Vieler Worte bedurfte es zwischen ihnen nicht. Aber anders aussehen hätte sie müssen. Ernst, aber aufrecht. In der tiefen Stimme kein Jubel – aber Neuklang, Befreiung, Leben! Die da saß aber, die schien ihm eine tief niedergedrückte bekümmerte Frau.
„Hannichen,“ sagte er unsicher, indem er vor ihr stehen blieb und eine ihrer matten, schlaffen Hände ergriff und schüttelnd drückte. Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Er nahm ihn und setzte sich. Vor ihren Augen, die sich mit Thränen füllten, nicht zum erstenmal, das sah er wohl, vergingen ihm nun völlig die Worte.
„Liebes Güntherchen – ich bin sehr traurig.“
Wie leise sie sprach, und wie mühsam. So recht wie einer, der in Schmerzen eine lange Weile hat schweigen müssen. Günther rückte unruhig auf seinem Sessel.
„Ich dachte gar nicht,“ stotterte er mit einem hilflosen Blick, „daß Sie ihn – –“ es wollte nicht heraus. Das war doch einfach undenkbar, daß sie diesen Satansbraten geliebt haben sollte!
„Ich kann nicht darüber sprechen.“ fuhr Hanna mit zitternder Stimme fort. „Heute wenigstens nicht, wie ich Ihnen erklären könnte, warum – warum mir so elend zu Mute ist.“
„Mein gutes Hannichen,“ sagte Günther nun zuredend, wie man ein betrübtes Kind zu trösten sucht, „das ist so der Uebergang. Sie werden schlimme Tage gehabt haben.“
Hanna nickte. „Sehr schlimme.“
„Na sehen Sie, das greift die Nerven an, natürlich. Warten Sie nur vier Wochen, dann sehen Sie schon anders aus den Augen.“
Weiter konnte es ja nichts sein. Sie war offenbar greulich herunter. Das Unsal mochte sie wohl bis zum letzten Augenblick gequält haben. Und die Pflege hatte sie noch um ihr bißchen Kräfte gebracht.
„Sie sind eben abgerackert und entzwei. Das kommt ja alles wieder. Das Leben ist noch lang.“
Hanna starrte vor sich hin und schwieg.
„Sagen Sie mir,“ begann sie nach einer endlosen Pause, die ihm sehr ungemütlich geworden war, und die er doch nicht zu unterbrechen gewagt hatte, „wenn Sie einen Chorsatz einüben und Ihre Sänger kommen herunter, halten die Stimmung nicht, schließen unrein ab – was thun Sie dann?“
„Nu, das wissen Sie ja. Das kennen Sie ja. Ich lasse von vorn anfangen, und an der gefährlichen Stelle, wo es hapert, da stauche ich sie drauf mit den geehrten Nasen und lasse wiederholen, einzeln zusammen, unerbittlich, bis es stimmt.“
„Sehen Sie, das ist es! Wiederholen, üben, besser machen, Sie können das mit Ihrem vierstimmigen Chor. Ich – hab' es bei dem zweistimmigen Lied nicht fertig gebracht, den Ton zu halten. Ich habe die gefährliche Stelle nicht bemerkt, als bis es zu spät. war, bis der Dirigent den Taktstock weggeworfen hat für immer. Nun kann ich nicht mehr üben, nun kann ich nicht mehr wiederholen. Es ist aus. Vorbei. Ich habe unrein abgeschlossen, sehen Sie. Und an diesem Mißton – vergeh' ich.“
„Potz, Donner und Hagel!“ brach Günther los. „Das ist ja, um auf die Bäume zu steigen! Was! Sie wollen sich gar noch anklagen, Sie arme Märtyrerin –“
Mit einer zuckenden Bewegung hob sie rasch die Hand.
„Lassen Sie das Wort,“ unterbrach sie ihn rauh. „Es paßt nicht. Lassen wir das Ganze überhaupt. Es nützt nichts, darüber zu reden. Es redet sich auch schlecht darüber.“
„Wenn Sie nicht wollen, Hannichen – quälen werd' ich Sie doch nicht! Was denken Sie denn?“ Und nach einer neuen Pause, in der sie wieder ganz in ihr Grübeln versank: „Ja – was ich denn sagen wollte – mit unsrer Singerei ist es also nichts, morgen?“
„Wieso? Hat meine Schwägerin –“
„Abblitzen hat sie mich lassen, aber gehörig. Domsänger hat sie bestellt. Eine thatkräftige Dame, alle Wetter! Lassen Sie sich das einfach gefallen, daß sie hier im Hause herumturnt, als wenn sie der Herr wäre?“
Hanna war dunkel errötet.
„Domsänger?“ murmelte sie und stand auf. Sie machte einige Schritte auf die Thür zu. Aber sie kehrte wieder um.
„Ich bitte Sie herzlich, lassen Sie alles gehen, wie es geht“, sagte sie leise, mit ergebener Stimme. „Lassen Sie sie nur
[809][810] schalten. Ich rede ihr nicht hinein bei dieser ‚Feier‘. Sie handelt in seinem Sinn. Im Sinne des Hauses Thomas. Sie leitet das Ganze besser, als ich es könnte. Wenn es vorbei ist, morgen, dann gehen wir jeder unsre eigene Straße. Begegnen werden wir uns schwerlich wieder. Herzenssache wird es Ihnen ja nicht sein, an diesem Grabe zu singen. Oder? Er hat Sie nicht danach behandelt.“
„Wenn Ihnen nichts daran liegt, Hannichen –“
„Mir! Da ich es nicht haben kann, wie ich es möchte: ganz, ganz still und leise, so ist mir alles einerlei, so wünsche ich mir nichts, als daß alles überstanden wäre und ich allein. Es ist ja auch nicht einmal Pastor Erdmann, der sprechen wird, sondern der Domprediger.“
„Erdmann? Der könnte gar nicht, selbst wenn er gebeten worden wäre. Er ist ja krank.“
„Was fehlt ihm?“ fragte Hanna erschrocken.
„Ich weiß nicht recht. So eine langwierige Sache. Ein bißchen kümmerlich und hinfällig war er wohl schon seit einem Jahr. Liegen thut er seit knapp vierzehn Tagen.“
„Ich werde zu ihm gehen, morgen – vielmehr übermorgen,“ sagte Hanna mit einem plötzlichen nervösen Zittern. „Ich war ganz ohne Ahnung davon. Woher sollte ich es auch wissen, da ich ihn so lange gemieden habe! Ist es schlimm? Wird er mir sterben, ehe ich ihn noch einmal wiedergesehen habe?“
„Ach, wo denken Sie hin. Seine Haushälterin sagte mir, es ist mehr, um ihn zu schonen, daß man ihn ins Bett gesteckt hat, weil er nur auf diese Weise von seinen Amtsgeschäften zurückzuhalten ist.“
„Haben Sie ihn gesehen?“
„Nein. Er schlief gerade. Beide Male. – Na also, Hannichen, dann gehe ich jetzt. Darf ich ’mal wieder herankommen?“
„Wann Sie wollen.“
Ein jähes Erröten übergoß ihr Gesicht, als sie aus seinem freundlichen Nicken herauslas: „Du bist ja jetzt frei, Gott sei Dank.“
„Richtig,“ sagte Günther rasch, „von Rettenbacher soll ich grüßen.“
Sie runzelte die Stirn und wandte langsam den Blick von ihm ab. War das eine Fortsetzung? Sollte noch mehr kommen?
„Danke,“ entgegnete sie ruhig, weder kalt noch warm. „Wie geht es ihm?“
„Recht gut soweit. Ich schlug ihm vor, heute mit mir herzukommen. Er wollte aber nicht.“
Hanna atmete unmerklich auf. „Lassen Sie ihn gehen. Er weiß, was er thut.“
„Wenn er aber nun überhaupt nicht kommt? Gar nicht mehr? Er sagte sowas, heute früh in der Schule. Seine Karte würde er schicken mit p. c. und damit Punktum. Zu suchen hätte er hier nichts. Förmlich grob wurde er, als ich ihm zuredete. Ich wundre mich nur, daß er nicht Nein sagte, als ich fragte, ob ich Sie wenigstens von ihm grüßen sollte.“
„Ich sage Ihnen ja: er weiß, was er thut. Reden Sie ihm nicht hinein. Von mir bestellen Sie ihm, ich ließe seinen Gruß erwidern, und seine Karte solle er nicht erst schicken.“
Günther sah sie forschend an. In ihrem blassen Gesicht rührte sich aber nichts.
So ging er seufzend fort.
(Fortsetzung folgt.)
Auf Lederstrumpfs Spuren.
Selbstverständlich hätte die Figur des weißen Jägers allein nicht ausreichen können, um den Lederstrumpfromanen Coopers das Interesse der ganzen gebildeten Welt zuzuwenden. Dazu trug noch anderes bei: die Romane schilderten ein bedeutsames, vom Glanz wilder Romantik umleuchtetes Stück der amerikanischen Kulturgeschichte, sie malten den Kampf der weißen Ansiedler gegen die blutdürstigen Indianerstämme und eine schier übermächtige Natur. Dies mußte nicht bloß in Amerika, sondern auch in Europa interessieren, da sich unter den Ansiedlern, die den Kampf zu führen hatten, Tausende von Abkömmlingen fast jedes europäischen Volkes befanden. Von dem rührend einfachen und dabei gefahrvolle Dasein der Ansiedler, von ihren bescheidenen Vergnügungen und Festlichkeiten, von ihren Freuden und Leiden gaben die Lederstrumpfromane getreue Schilderungen die um so mehr fesseln mußten, als sie in der reizendsten und ungezwungensten Form dargeboten wurden.
Verstand es Cooper, das Leben und Treiben der Menschen zu schildern, so war er aber ein fast noch bedeutenderer Landschaftsmaler. Kein Geringerer als Balzac sagte einst: „Seine Naturschilderungen sind unübertrefflich. Niemals ist die Kunst, in Worten zu malen, der Malerei mit dem Pinsel so nahegekommen. Die Lederstrumpfgeschichten sind eine Schule für litterarische Landschafter.“
In der That kann man die Natur in ihrer jungfräulichen Wildnis, die Prairien in ihrer überwältigenden Majestät, die Jahreszeiten in ihrem Wechsel kaum schöner und ergreifender schildern, als Cooper es gethan.
Das Geheimnis dieses Erfolges liegt darin, daß der Dichter, wie er sich bestrebte, seine Figuren dem wirklichen Leben nachzubilden, so auch jeden Strich seiner Landschaften streng nach der Natur zeichnete. Darüber äußert er sich selbst in der Vorrede zum „Wildtöter“: „Wenig braucht der Verfasser über die Charaktere und die Scenerie dieser Erzählung zu sagen. Jene sind natürlich Werke der Dichtung, diese aber ist so naturtreu, als nur immer die vertraute Bekanntschaft mit dem gegenwärtigen Aussehen der betreffenden Gegend und Vermutungen über ihren früheren Charakter den Verfasser in stand setzten, sie zu schildern. See, Berge, Thal und Wald sind insgesamt, wie er glaubt, genau genug dargestellt, während Fluß, Fels und Küste treue Abzeichnungen der Natur sind. Selbst die einzelnen vorspringenden Punkte existieren, etwas verändert durch die Civilisation, aber so entsprechend den Schilderungen, daß jeder, der mit der Scenerie der fraglichen Gegend vertraut ist, sie leicht erkennt.“ In der That, der im „Wildtöter“ und in den „Ansiedlern“ verherrlichte See „Glimmerglas“, der rauschende Oswego und die tausend [811] Inseln, wo der alte Seebär Cap und seine hübsche Nichte Mabel so haarsträubende Abenteuer erlebten, sind nicht minder getreu der Wirklichkeit nachgemalt wie die merkwürdige Höhle, in der das Geschwisterpaar Alice und Cora nebst seinen Begleitern von Lederstrumpf und den beiden Mohikanern vor den teuflischen Mingos verborgen wurden.
Für die meisterliche Weise, mit der Cooper es verstand, gegebene Oertlichkeiten in seine Romane zu verweben, bietet gerade die im „Letzten der Mohikaner“ beschriebene Hohle ein schlagendes Beispiel dar.
Im Jahre 1824 unternahm Cooper in Gemeinschaft mehrerer Freunde eine Reise nach dem im nordöstlichen Teil des Staates New York gelegenen Georgsee und besuchte dabei den am oberen Hudson gelegenen Ort Glens Falls. Die Reisenden stiegen auch zu dem Hudson hernieder, der hier einen durch eine kleine Felseninsel in mehrere Arme geteilten äußerst malerischen Wasserfall bildet. Die seit Jahrtausenden dahinrauschenden Fluten haben in das harte Gestein der Insel die abenteuerlichsten Gassen eingeschnitten, deren eine sich zu einer überaus merkwürdigen Hohle verengt, die tunnelartig die untere Hälfte der Insel durchzieht. Als die Reisenden in diese Höhle eindrangen, meinte der bei der Gesellschaft sich befindende englische Lord Derby, daß dieser seltsame Fleck sich als Schauplatz für einen Roman eigne. Cooper versprach, einen solchen zu schreiben, in dem die Höhle eine Rolle spiele. Die Reise führte weiter an den herrlichen Georgsee, an dessen Südspitze noch heute die Wälle des alten Forts William Henry liegen, das in den Kriegen der Franzosen und Engländer während des vorigen Jahrhunderts von dem Schotten Munro so heldenmütig wider den französischen General Montcalm und seine Indianerhorden verteidigt wurde.
Wie anregend diese Reise für Cooper war, zeigt der Umstand, daß kaum ein Jahr später, am 4. Februar 1826, sein vorzüglicher Roman „Der Letzte der Mohikaner“ erschien, durch den der Ruhm des Dichters seinen höchsten Gipfel erreichte. Daß die Hohle auf der Hudsoninsel sowie die historischen Vorgänge im Fort William Henry in der glücklichsten Weise in diesen Roman verflochten sind, ist jedem Leser desselben wohlbekannt. Den Wasserfall selbst schildert Lederstrumpf mit folgenden Worten: „Wenn wir das Tageslicht hätten, würde ich Sie bitten, auf den Felsen zu steigen, wo ich Ihnen zeigen wollte, wie verkehrt dieses Wasser ist; es fehlt ihm alle Ordnung und Regelmäßigkeit; bald springt es auf, bald stürzt es nieder; hier schleicht es nur hin, dort schießt es fort; an dieser Stelle ist es weiß wie Schnee, an jener ist es grün wie Gras; an dieser Seite ist es ein Sturz, daß man glaubt, die Erde müsse bersten, an jener murmelt es wie ein Bach, und hat die Bosheit, Wirbel zu bilden, und spült das Gestein aus, als ob es Lehm wäre. Ja, es ist keine Ordnung im Flusse mehr. Zweihundert Klafter von hier aufwärts fließt er friedlich, als wollte er seinem alten Laufe getreu bleiben, dann aber trennt sich das Wasser und stößt an das Ufer links und rechts; ja man meint, es schaue rückwärts, wie wenn es ungern die Wildnis verließe, um sich mit dem Salzwasser zu machen.“
Von allen Oertlichkeiten, an denen Cooper verweilte, hat er aber keine so oft und mit so großer Vorliebe verwendet wie den Ostegosee, an dessen Ufern er seine Jugend sowie das letzte Drittel seines Daseins verlebte.
Mitten im Herzen des Staates New York, von wälderumgürteten Hohen eingeschlossen, wird dieses etwa 14 Kilometer lange und mehrere Kilometer breite krystallklare Wasserbecken von zahlreichen Bergbächen genährt. Der Ueberschuß seines Wassers aber fließt als der überaus liebliche Susquehannah der 500 Meilen entfernten Chesapeake Bai und weiter dem Weltmeere zu. Wie viele tausend Jahre der See inmitten der ihn umgebenden feierlichen Waldeinsamkeit ruhte, bis Menschen, die Indianer, an seinen Ufern erschienen, vermag niemand zu sagen. Nur der Jagd und dem Fischfang lebend, vermochten diese Rothäute mit den primitiven Werkzeugen, die sie besaßen, das Bild der Landschaft nicht zu ändern, denn als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die ersten Weißen in diese Gegend eindrangen, empfingen sie den Eindruck, als habe nie zuvor ein Mensch die Ruhe derselben gestört.
Dichter Urwald drängte sich bis an den Rand der krystallklaren Gewässer, in welchen sich die überhängenden riesigen Eichen, Buchen, Ulmen, Espen und schwermütigen Fichten sowie die friedvolle Wölbung des Himmels mit überraschender Deutlichkeit widerspiegelten
Es war im Herbst des Jahres 1790 als der Vater unseres Dichters, der Richter William Cooper (er erscheint in den „Ansiedlern“ unter dem Namen Marmaduke Temple), seinen bisherigen Wohnsitz Burlington in New Jersey, wo James Fenimore Cooper am 15. September 1789 geboren wurde, aufgab und sich am Südende des Otsego niederließ. Eine kleine Schar von früher gekommenen Ansiedlern hatte hier eine Lichtung ausgehauen und auf derselben eine aus rohen Blockhütten bestehende Ortschaft erbaut, die dem Neuankömmling zu Ehren den Namen Cooperstown annahm.
William Cooper hatte nämlich eine Zeit lang im Abgeordnetenhause des damals eben erst entstandenen nordamerikanischen Staatenbundes gesessen und war mancherlei Verdienste halber vom Kongreß mit mehreren tausend Acker Landes am Ostegosee belohnt worden. Um diese Zeit war der spätere Schöpfer des „Leberstrumpfs“ wenig mehr als ein Jahr alt. Die ersten Eindrücke, die in seinem empfänglichen Gemüt haften blieben, waren diejenigen, die der harte Kampf mit sich brachte, den die Ansiedler gegen die schier unbezwingliche Urwildnis zu führen hatten. Mit den rauhen Holzfällern, den ersten Pionieren in diesem Kampfe, kam der junge Cooper täglich in Berührung. Fast ebenso oft erschienen Trapper und Fallensteller im Orte, um gegen die Felle erlegter Tiere Pulver, Blei oder andere Dinge einzutauschen. Bei Tische und am lodernden Kaminfeuer drehten die Gespräche sich sehr häufig um die Abenteuer, welche jene kühnen Jäger im Kampf mit den Raubtieren der Wildnis oder den noch gefährlicheren Indianern erlebt hatten. Auch von den letzteren suchten bisweilen kleine Trupps, die Ueberreste ehemals mächtiger Stämme, den See auf, um Fische zu speeren
Die Cooperstown zunächst gelegenen Niederlassungen, wohin der junge Cooper öfter kam, waren die von Deutschen, und zwar Pfälzern gegründeten Ortschaften im Schoharie- und Mohawkthal.
Sie hatten die ganze zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts hindurch unter den Ueberfällen der Franzosen, der Engländer und Indianer schwer zu leiden gehabt, aber heldenhaft die Feinde fast stets mit blutigen Köpfen zurückgeworfen Während jener heißen Gefechte hatten gar manche dieser kernigen Pfälzer sich zu gefürchteten Indianerjägern ausgebildet; vornehmlich die Thaten des Konrad Weiser, des Adam Hartmann, des Thimoteus Murphy, des Christian Scheck und des Nikolaus Herckheimer lebten in aller Munde. Viel gesungene Volkslieder priesen den Löwenmut Schecks, der mit nur vier Söhnen am 6. August 1781 sein festes Blockhaus gegen 48 Huronen und 16 Engländer so erfolgreich verteidigte, daß dieselben schließlich mit einem Verlust von 11 Toten und 12 Verwundeten, von denen 9 nachträglich noch starben den Rückzug antreten mußten. Nicht minder besang man „den Helden von Oriskany“, den wackeren Nikolaus Herckheimer, der an der Spitze von 800 Pfälzer Bauern am 6. August 1777 den das Fort Stanwix am oberen Mohawk belagernden 750 Engländern und 1000 mit ihnen verbündeten Indianern so hart zusetzte, daß sie die Belagerung des Forts aufgeben und nach Canada zurückkehren mußten, was für den ferneren Verlauf des amerikanischen Befreiungskrieges die wichtigen Folgen hatte.
Der zum Manne gereifte Cooper vergaß niemals diese in seiner Jugend empfangenen Eindrücke und erlauschten Erzählungen, sondern suchte sie in seinen zahlreichen Romanen, besonders den Leberstrumpfgeschichten, in liebevoller Weise festzuhalten. Dabei wußte er jede Eigenheit der ihm so wohlbekannten Landschaften, jede auffällige Erscheinung in der geschicktesten Weise in diese Romane zu verweben.
In der ganzen Umgebung des im „Wildtöter“ unter dem Namen „Glimmerglas“ verherrlichten Otsegosees befindet sich nicht eine Bucht, nicht eine Thalschlucht oder ein Wasserfall, an die sich nicht irgend eine in Coopers Romanen geschilderte Scene knüpfte. Im nördlichen Teil des Sees, von beiden [812] Ufern desselben gleich weit entfernt, ist eine vom Wasser bedeckte Sandbank. Daß dieser unscheinbare Fleck in einem Romane Verwendung finden könne, würde gewiß nur wenigen Menschen in den Sinn kommen. Cooper aber ließ den alten Tom Hutter hier das „Castell“, eine auf Pallisaden stehende Wasserburg, errichten, in der er mit seinen beiden Töchtern, der sanftmütigen Hetty und der berückend schönen, aber etwas leichtsinnig veranlagten Judith, hauste und wo er, wie im „Wildtöter“ zu lesen ist, unter dem Skalpiermesser eines Huronen seine Kopfhaut einbüßte.
Am südlichen Ende des Sees, wo der Susquehannah unter einem förmlichen Dom von überhängenden Bäumen als Abfluß des Sees seinen Ursprung nimmt, ragt ein gewaltiger Steinblock, kaum einen Schritt vom Ufer entfernt, aus dem Wasser. Die seit Jahrtausenden den Stein umspülenden Wellen verliehen ihm eine bienenkorb- oder heuschoberähnliche Form. Er ist der Fels, wo Wildtöter mit der Arche seinen indianischen Freund Chingachgook erwartete und in die „Arche“ aufnahm. Eine am Westufer in den See vorspringende Landzunge ist der Platz, wo Wildtöter am Marterpfahl stand und wo die Schlußscene, der Untergang der Huronen unter den Bajonetten der englischen Soldaten, sich ereignete. In den Bergen am Ostufer errettete Natty Bumppo die beiden Freundinnen Elisabeth Temple und Luise Grant von der Wut des seiner Jungen beraubten Panthers.
Ebendaselbst ist der Schauplatz des furchtbaren, in den „Ansiedlern“ geschilderten Waldbrandes sowie die Höhle, in welcher der getreue Delawarenhäuptling Chingachgook während eines heftigen Donnerschlags von Manitu in die Jagdgründe seiner Väter abberufen wurde.
Wie lieb dem von aller Welt gefeierten Dichter des „Lederstrumpfs“ der Otsegosee und seine Umgebung waren, zeigt der Umstand, daß er nach Beendigung seiner Reisen durch Europa sich im Jahre 1833 dauernd auf dem vom Vater ererbten Besitztum „Otsego Hall“ niederließ.
„Otsego Hall“ galt lange Zeit hindurch unter den Gebäuden des idyllisch schönen, heute etwa 2500 Bewohner zählenden Ortes Cooperstown als das schönste. Es war von uralten Bäumen umgeben und enthielt außer vielen von Cooper während seiner Reisen gesammelten Merkwürdigkeiten eine vorzügliche Bibliothek. Hier schrieb Cooper während der 17 Jahre seines Verweilens 24 von seinen insgesamt 39 Bände umfassenden Werken, Er legte die nimmer müde Feder erst aus der Hand, als am 14. September 1851 der Tod ihn abrief.
Seine treue Gattin folgte ihm nur wenige Monate später ins Jenseits nach. Die letzten beiden seiner Kinder starben im Dezember 1894 und im Frühling 1895. Seine Tochter Susan Fenimore Cooper, die im Jahre 1813 geboren wurde, hatte vom Vater die schriftstellerische Begabung geerbt. Sie hat einige Werke geschrieben, die sich durch feine Empfindung und einen eleganten Stil auszeichnen. Mehr aber war sie noch angesehen durch ihre gemeinnützige Thätigkeit. Sie erwählte namentlich ihren Heimatsort Cooperstown zur Stätte ihres menschenfreundlichen Wirkens und gründete daselbst ein Waisenhaus, sowie eine Friendly Society, einen Hilfsverein. Heute ist das ganze Coopersche Geschlecht erloschen Auch „Otsego Hall“ steht nicht mehr. Eine im Jahre 1853 ausgebrochen Feuersbrunst legte es in Asche. Der Standort des denkwürdigen Gebäudes ist aber durch eine hübsche Parkanlage und eine Gedenktafel bezeichnet.
Das von alten Fichten überschattete Coopersche Erbbegräbnis umschließt gegen 36 Grabstellen, darunter diejenige des freigelassenen Negers Joseph Stewart, der nach zwanzigjährigem, der Familie Cooper geleistetem treuen Dienste im Jahre 1823 starb und in den „Ansiedlern an den Quellen des Susquehannah“ von Cooper gleichfalls verewigt worden ist.
Die Grabstätten des berühmten Romanschreibers sowie seiner Gemahlin sind nur mit einfachen Marmorplatten bedeckt, die keine weiteren Inschriften als die Namen, Geburts- und Sterbetage der unter ihnen Ruhenden tragen. Dagegen erhebt sich auf dem am Ostufer des Sees angelegten, entzückend schönen neuen Friedhof ein von Freunden und Verehrern des Dichters dem Andenken desselben gewidmetes Monument, ein mächtiger Schaft aus carrarischem Marmor, dessen Spitze die Figur des seine Flinte ladenden, nachdenklich auf den blauen See hinabblickenden Lederstrumpfs trägt. Sein treuer Hektor ist ihm zur Seite.
Auf der Vorderseite des das Denkmal tragenden Unterbaues prangt der Name Coopers in einem Kranz von Eichen- und Lorbeerzweigen. Auf der rechten Seite des Unterbaus deuten Studierlampe, Tintenfaß und eine von einem Adler emporgetragene Schreibfeder den Beruf des Schriftstellers an. Ein Anker hinter gekreuzten Rudern, sowie Degen und Fernglas erinnern an den von Cooper ursprünglich ins Auge gefaßten Seemannsberuf sowie an seine Seeromane. Die Südseite des Monuments hingegen zeigt eine aus Bogen, Köcher, Lanze, Tomahawk, Scalplocke und einem Halsband aus Bärenklauen gebildete Waffentrophäe.
Es bedürfte dieses stolzen Denkmales nicht, um den Namen Coopers auf die Nachwelt zu bringen. Der Zauber, der seine Lederstrumpfgeschichten umweht, die Romantik, mit der er den lieblichen Otsego umkleidete, werden leben, so lange es eine amerikanische Litteratur giebt, so lange der „Glimmerglas“ die ihn umschließenden Wälder und Höhen widerspiegelt.
[813]
Wilhelm Heinrich Riehl †.
Als vor vier Jahren W. H. Riehl und mit ihm die Nation seinen siebzigsten Geburtstag beging – auch die „Gartenlaube“ widmete ihm damals einen Aufsatz, den sein Bildnis begleitete – brachte er gerade ein neues Buch zum Abschluß. Er hatte zuvor ein schweres Augenleiden zu überstehen gehabt, das ihn mit Erblindung bedrohte, dankbar pries er in der Vorrede zu dem neuen Buche das Schicksal, das ihm vergönnt hatte, wieder klar und hell die Schönheit der Welt zu schauen.
Nun hat der Tod diese Augen für immer geschlossen – am 16. November ist Riehl in München einer plötzlichen Krankheit erlegen. Seine Art aber, klar und hell die Schönheit der Welt zu schauen, lebt weiter in seinen Werken.
Das damals zum Abschluß gebrachte Buch waren die „Religiösen Studien eines Weltkindes“. In ihnen führte er aus, daß die beste Frömmigkeit die Bethätigung dankbarer Weltfremde sei. Er setzte darin die frohsinnige Lebensphilosophie auseinander, die sowohl seine Novellen als seine kulturgeschichtlichen und sozialpolitischen Werke durchdringt und dort wie hier so innig verschwistert ist mit einem urkräftigen Wirklichkeitssinn und einem lebhaften Widerwillen gegen alle romantischen und utopistischen Träumereien, welche die Menschen um den auf Erden möglichen Daseinsgenuß betrügen. Diese Lebensphilosophie ging darauf aus, die Einzelerscheinungen der Wirklichkeit in dem großen Zusammenhang des geschichtlichen Werbens zu betrachten, in dem er die Harmonie einer göttlichen Weltordnung wahrnahm. Daß diese Philosophie der „Weltfreudigkeit“ vielen willkommen war und ist, dafür zeugt der seltene Erfolg seiner Werke.
Riehl selbst hat die Eigenart seines litterarischen Wesens – ganz seiner geschichtlichen Betrachtungsweise gemäß – auf seinen Ursprung zurückgeführt. Er kam am Ufer des schöne Rheinstroms zur Welt, zu Biebrich in Nassau, wo sein Vater Verwalter des herzoglichen Schlosses war, ist er am 26. Mai 1823 geboren. „Ich bin ein Rheinländer,“ sagte er mit Bezug hierauf in späteren Jahren einmal in Verteidigung des kulturhistorischen Charakters seiner Novellen, „und am Rhein gilt uns eine Gegend für keine rechte Landschaft, wenn nicht hinten wenigstens eine alte Burg zu sehen ist“. Im Vordergrunde genießen wir dann doch die Gegenwart so fröhlich, wie irgend andere Deutsche. Ich erzähle Geschichte am liebsten aus einer Zeit, die selbst bereits Geschichte geworden. Denn die Geschichte breitet Frieden und Versöhnung über den Kampf und ich möchte nicht im Byronschen Sinne anfragen, sondern im Goetheschen anregen, wenn ich erzähle. Was in den Landschaftsbildern seiner rheinischen Heimat die „alten Burgen, das sind in seinen poetischen Erzählungen interessante Vorgänge der Weltgeschichte, das sind in seinen sozialpolitischen und kulturhistorischen Schilderungen die alte Zucht und Sitte der Väter, das „Herkommen“, der „Brauch“, die sein historischer Sinn als Offenbarungen der Volksseele auffaßte und zu deuten bestrebt war.
Das rege Interesse für den poetischen und historischen Reiz der heimatlichen Landschaft hatte ihn in der That zum Schriftsteller gemacht. Die erste Arbeit, die er als Jüngling zum Druck brachte, war die Schilderung einer frohgemuten Wanderfahrt durchs Lahnthal nach Frankfurt a. M. Dieser erste größere Ausflug weckte in ihm die Lust an einer ganz besonderen Art des Reisens, welche für seine weitere Entwicklung von größter Bedeutung wurde und die auch später eine Lieblingsgewohnheit von ihm blieb – wir verweisen dafür auf das schöne Erinnerungsblatt „Eine Rheinfahrt mit J. V. Scheffel, das im Jahrgang 1891 der „Gartenlaube“ (S. 474) erschien. Nicht anders als zu Fuß, gleich den fahrenden Scholaren des Mittelalters, durchmaß er die Thäler der Heimat und dann immer weitere Gebiete der deutschen Lande. Nicht flüchtig eilte er durch Dörfer und Städtchen, um schnell von einem namhaften Ort zum andern zu gelangen. Auch beschränkte er seinen Verkehr nirgends auf die zufälligen Begegnungen im Wirtshaus oder auf der Landstraße. Ueberall knüpfte er mit Bewohnern des Orts von allerlei Stand Bekanntschaften an, zutraulich forschend nach altherkömmlichem Brauch und heimischer Sitte.
So gewann er aus eigner Anschauung eine reiche Kenntnis des deutschen Volkslebens, das schließlich nach litterarischer Gestaltung rang. Das Ergebnis war das Buch „Land und Leute“, das, mit seinen farbenfrischen Schilderungen der bunten Mannigfaltigkeit deutscher Volksart auf dem Hintergrunde der gemeinsamen Nationalgeschichte, großes Aufsehen erregte und vielen Beifall fand. Zu den Erfolgen des Buches gehörte seine Berufung nach München als Professor der Staatswissenschaften im Jahre 1855. In den Jahren vorher war er Redakteur der „Allgemeinen Zeitung“ in Augsburg gewesen. Der historische Charakter der alten Fuggerstadt hatte ihn zu weiteren sozialpolitischen Studien angeregt, aus denen sich das Buch „Die bürgerliche Gesellschaft gestaltete. In beiden Werken verwies Riehl auf die historisch gewordenen Zustände als die feste Grundlage jedes gedeihlichen Fortschritts. Er mahnte in beiden sein Volk, von der Fülle der Besonderheiten der deutschen Stämme und ihrer sozialen Gliederung auszugehen, um die Lösung der großen Probleme der nationalen Einigung und sozialen Annäherung zu finden. Mit den weiteren Bänden „Die Familie“ und „Wanderbuch“ ergänzte er die zwei früheren zu einem System deutscher Gesellschaftswissenschaft, dem er den Titel „Naturgeschichte des Volkes“ gab. Riehls Familien“ ist sicher das geist- und gemütvollste Buch, das über Wesen und Wert des Familienlebens jemals geschrieben wurde, Riehl verherrlicht das letztere als die Voraussetzung aller politischen und moralischen Entwicklung der Völker.
In München trat er bald in nähere Beziehungen zu dem Kreis hervorragender Dichter, der sich dort gerade damals um Geibel und Paul Heyse zu bilden begonnen hatte. Der Verkehr hat letzteren beiden, der ein sehr freundschaftlicher wurde, regte ihn an, sein frisches Talent, scharf und liebevoll Beobachtetes anschaulich zu erzählen, auch rein künstlerisch als Novellist zu erproben. Sein reiches kulturhistorisches Wissen bot ihm die Stoffe. Die Kritik, die Heyse freundschaftlich an den ersten Versuchen übte, schulte sein künstlerisches Empfinden überraschend schnell. Bald sah Heyse in ihm auf dem Gebiet seiner anerkanntesten Erfolge einen ebenbürtigen Kunstgenossen. Riehls „Kulturgeschichtliche Novellen“ fanden sogleich nach ihrem Erscheinen die gebührende Würdigung. Die „Geschichten aus alter Zeit“, die Bände „Neues Novellenbuch“, „Aus der Ecke“, „Am Feierabend“, „Lebensrätsel“ ließen in immer höherem Grade die Fähigkeit des Verfassers, sich in fremde Stimmungswelten vergangener Zeiten hineinzufühlen, bewundern. Die innige Heimatsliebe, die frohe Wanderlust, der weltfreudige Sinn des Dichters beseelten anmutend auch viele seiner originell erfundenen Gestalten. Riehls Vortragsweise ist schlicht und klar, dabei von innerer Wärme, die Erfindung ist immer eigenartig und reizvoll, in vielen der Novellen waltet ein gar erquicklicher schalkhafter Humor, der sich dem historischen Charakter jeder einzelnen echt künstlerisch anpaßt.
Bis an sein Lebensende hat sich Riehl, der auch im mündlichen Vortrag ein Meister war, seiner seltenen Schaffenskraft erfreuen dürfen. Von seinen kleineren Arbeiten sind noch besonders die fein ausgeführten Charakterbilder von Meistern der Tonkunst hervorzuheben, für die er eine große Verehrung hegte. Der Dichtkunst blieb er bis zum Tode treu. Ehe er erkrankte, hatte er gerade die Durchsicht der Korrekturbogen seines letzten Werkes beendet. Der großen Gemeinde seiner Verehrer bietet sein Geist nun den Roman „Ein ganzer Mann“ über das Grab hinweg dar. In diesem ersten und einzigen Romane Riehls, der in einer alten deutschen Stadt, aber in neuerer Zeit spielt, findet sich die liebenswürdige kraftvolle daseinsfrohe Geistesart des Verstorbenen in ebenso charakteristischer wie anheimelnder Weise ausgeprägt. Und indem wir über dieses Spiegelbild seines Wesens auf ihn selbst und die ganze schöne Welt seines Schaffens dankbar zurückblicken, wird uns der Titel dieses letzten seiner Bücher zum Ausdruck des Abschieds von ihm – in der harmonischen Geschlossenheit seines Charakters war fürwahr gerade er ein „ganzer“ Mann! J. P.
[815]
Marthas Briefe an Maria.
(Schluß.)
Am 18. Februar.
O Dein prophetisches Gemüt! Wie muß ich mich vor Dir meiner Blindheit schämen, da Du über den Kanal hinüber das Unheil herankommen sahst, das meinem Auge unsichtbar blieb! Ich habe ein paar Tage gezaudert, ob ich Dich auch darin einweihen sollte, da es nicht meine Schuld zu beichten galt, sondern die eines guten, thörichten Menschen, der Dir fremd ist. Aber Du würdest dennoch merken, aus dem veränderten Ton meiner Briefe, daß etwas nicht in Ordnung sein müsse, und argwöhntest am Ende Schlimmeres, als sich in Wirklichkeit zugetragen hat.
Nein, Du Scharfsichtige, Deine Martha könnte Dir frei ins Auge blicken, wenn Du jetzt bei ihr einträtest. Nur traurig bin ich, daß die reinsten menschlichen Verhältnisse vor dem Unbestand alles Irdischen nicht sicher sind und, wer in einem festen Hause zu wohnen glaubt, über Nacht durch einen Erdstoß an die vulkanischen Elemente erinnert werden kann, die seinen harmlosen Frieden zu erschüttern suchen.
Ich will mich kurz fassen. Ich schreibe ja keinen Roman.
Also: in den vier Wochen seit meinem letzten Brief ging alles bei uns den gewohnten Gang. Auch Hellmuth äußerte oft seine Befriedigung, meine müßigen Stunden nun so ersprießlich ausgefüllt zu sehen. Er ließ sich sogar zuweilen aus meinem Heft ein und das andere Kapitel vorlesen und machte dazu sehr feine Anmerkungen. Auch er hat in seinen Universitätsjahren sich leidenschaftlich mit philosophischen Problemen herumgeschlagen, zuletzt aber war er beim Verzicht auf die Erkenntnis der tiefsten Welträtsel angelangt, beim sogenannten Agnosticismus. Immer wieder kam es zwischen ihm und Dimitri zur Debatte darüber, ob überhaupt eine Metaphysik möglich sei, da unser beschränktes Gehirn sich keine klare Vorstellung zu bilden vermöge von allem, was in das Gebiet des Unendlichen und Absoluten hinaufreiche. Dimitri will das berühmte Ignorabimus nicht gelten lassen. Er glaubt an eine unaufhaltsame Entwicklung des Menschengeistes bis zu dem Punkt, wo die letzten Schleier, die ihm das Wesen der Welt noch verhüllen, fallen würden. Ich saß bei diesen oft sehr hitzigen Disputen mit allen Ohren horchend dabei.
Und freute mich, wenn kluge Männer reden.
Daß ich verstehen kann, wie sie es meinen,
oder doch glaubte, es verstehen zu können. Und war stolz auf meinen Mann, der die geschickten logischen Fechterstreiche seines Gegners so gelassen zu parieren wußte.
Dabei konnte mir nicht entgehen, daß Dimitris Wesen sich veränderte. Er verlor seine Munterkeit, war reizbar und trübsinnig, und auch sein Aeußeres ließ darauf schließen, daß die Besserung seines Leidens nicht stetig fortschreite. Wenn wir ihn fragten, klagte er über nichts als über schlechten Schlaf. Hellmuth bestand darauf, daß er eine angefangene physiologische Abhandlung eine Weile liegen lassen sollte. Er versprach es, nach seiner gewohnten Art, seinem Arzt sich fügsam zu zeigen. Ich hatte ihn aber im Verdacht, daß er trotzdem rastlos fortarbeite.
Auch in unseren Lehrstunden war er nicht wie früher. Mitten in seinem Vortrag konnte er in ein seltsames Brüten versinken und zehn Minuten lang zu Boden starren oder, mit einer Schere oder einem Falzbein spielen, die auf dem Tische lagen. Es schien dann ein Alp auf seiner Brust zu lasten, den er endlich mit einem tiefen Seufzer abschüttelte, wenn ich mit einem Scherz ihn aus seinen Träumen weckte. Seine Hand, die er mir zum Abschied bot, war kalt und feucht. Er sah mich dann wohl mit einem langen Blicke an, wie wenn er im Grunde meiner Seele lesen wollte. Dann rüttelte er sich in die Höhe und stotterte. „Verzeihen Sie mir – mir ist heute – nicht ganz wohl. Ich will einen Dauerlauf machen. Vielleicht schlaf’ ich dann besser die nächste Nacht.“ Ueber all das machte ich mir anfangs keine Gedanken. Er war ja ein Nervenpatient, von dem man sich allerlei Wunderlichkeiten zu versehen hatte.
Eines Nachmittags aber – es war am letzten Dienstag – steigerte sich dieses krankhafte Wesen in ungewohntem Maße. Er kam wie sonst zu unserer Lektion, setzte sich, seinen langen weichen Bart mit den weißen Fingern kämmend – ich neckte ihn damit, daß seine ganze Philosophie wohl in diesem Barte stecken mochte, aus dem er sie herausstreicheln müsse, – er lächelte aber nicht zu meinem Scherz, sondern sprang wieder auf und trat ans Fenster, mit der Hand die leichtüberfrorenen Scheiben anstarrend. Draußen war nichts zu sehen, was sein Interesse hätte fesseln können. Ich wartete daher ein wenig ungeduldig, daß er sich zu mir umwenden und mich auffordern würde, das „Protokoll des letzten Vortrags“ vorzulesen. Er schien aber ganz zu vergessen, zu welchem Zweck er gekommen war.
Ich fragte ihn endlich, ob er sich zu angegriffen fühle, um heute in unserm Studium fortzufahren. Ob ich ihm ein Glas Wein oder sonst irgend eine Stärkung bringen sollte. Ob er wieder schlecht geschlafen habe.
Da sagte er, immer gegen das Fenster gekehrt. „Kann der schlecht schlafen, der gar nicht schläft? Wenn Sie mir eine Flasche echten alten Lethe vorsetzen könnten, wäre ich Ihnen dankbar. Aber nein, auch der könnte mir nicht helfen, weil ich nicht von ihm trinken wollte.“
Nun erschrak ich in allem Ernst. In solchem Zustande hatte ich ihn nie gesehen.
„Lieber Freund,“ sagte ich, „wir werden heute nicht philosophieren, heute nicht und überhaupt nicht eher, als bis Sie diesen Rückfall überwunden haben. Sie müssen mit meinem Manne sprechen, dann aber auch wieder ganz folgsam werden. Denn daß es so nicht fortgehen kann, sehen Sie wohl selbst ein.“
„Ob ich es einsehe?“ sagte er dumpf. „O gewiß! Aber der alte Spinoza hat nicht recht: einsehn und wollen ist nicht ein und dasselbe. Denn von der Krankheit, die mich befallen hat, wie ich nur zu klar einsehe, will ich nicht genesen. Ohne sie weiterzuleben, wäre schlimmer, als daran zu sterben!“
Noch immer ging mir keine Ahnung auf.
„Kommen Sie,“ sagte ich. „Setzen Sie sich zu mir und lassen Sie uns vernünftig reden oder wenigstens einen von uns beiden, bis auch Sie wieder Vernunft annehmen. Es muß dem Lehrer doch schmeichelhaft sein, wenn seine Schülerin klüger geworden ist als er, wenn auch nur, so lange er krank ist. Und nun verlange ich, daß Sie mir genau sagen, wie Ihnen zu Mut ist, und sich von Ihrer Matuschka gehorsam bemuttern lassen.“
Da drehte er sich langsam um, heftete die Augen mit einem stieren Blick auf mich, daß mir angst und bange wurde, that ein paar Schritte zu mir hin und lag plötzlich zu meinen Füßen, meine Kniee umfassend, während er in ein konvulsivisches Schluchzen ausbrach.
Ich war so furchtbar erschüttert, daß ich zuerst mich kaum fassen und besinnen konnte, was dieser heftige Ausbruch bedeute. „Dimitri!“ hauchte ich nur, „was thun Sie? Stehen Sie auf! Sie sind außer sich! Wie können Sie – und was soll ich –“
Es war, als hörte er mich nicht, er blieb wohl fünf Minuten in dieser jammervollen Lage, stöhnend in dumpfen Schmerzenslauten, mehr wie ein verwundetes Tier als wie ein unseliger Mensch. Erst als ich die Umklammerung seiner Arme von mir zu lösen suchte und mit einem gewaltsamen Ruck mich vom Stuhl erhob, schien ihm die Besinnung zurückzukehren. Mühsam, wie an allen Gliedern zerschlagen, raffte er sich auf und stand, das Kinn tief auf die Brust gesenkt, mit herabhängenden Armen vor mir, wie ein armer Sünder, der sein Urteil erwartet.
Ich war so außer mir, daß ich vergebens nach Worten suchte. Als ich aber keine fand, hörte ich ihn plötzlich sagen:
„Sprechen Sie nicht, Frau Meta! Ich weiß alles, was Sie mir sagen könnten. Und ich – auch ich habe Ihnen alles gesagt. Weil ich fühle, daß ich kein Recht dazu hatte, daß ich mich in Ihren Augen entehrt habe, daß ich ein elender Mensch bin, ein jämmerlicher Schwächling, der die Liebe und Güte der edelsten Menschen verscherzt hat, darum muß ich mich selber richten und [816] zu ewiger Verbannung verdammen. Ich weiß nicht, ob Sie oder Ihr Mann mir je verzeihen werden. Aber glauben Sie mir, die Buße, zu der ich mich verurteile, Sie nie wiederzusehen ist eine Pein, mit der die Verbrecher in den Bergwerken Sibiriens nicht tauschen würden. Und so – leben Sie wohl! Ich wage nicht einmal, Sie noch um eine Hand zum Abschied zu bitten. Und sprechen Sie nichts. Ich möchte Ihre Stimme mit fortnehmen, wie ich sie zuletzt gehört, voll Mitleid und Sorge um einen Unglücklichen.“
Ehe ich noch zu mir selbst kommen konnte, hatte er sich zu mir herabgeneigt den Aermel meines Kleides ergriffen und einen Kuß darauf gedrückt. Dann war er aus der Thür gestürzt, und ich hörte nur noch, wie die Kathi ihm seinen Hut und Mantel auf die Treppe hinaus nachtrug.
Ich sollte ihn nicht wiedersehn. Am Abend kam ein Billet von ihm an meinen Mann, er sei plötzlich durch eine telegraphische Depesche nach St. Petersburg abgerufen worden. Von dort aus werde er Näheres hören lassen.
Acht Tage sind vergangen, der versprochene Brief ist nicht gekommen. Er wird auch nie kommen, sagte Hellmuth. Und was sollte er uns auch noch zu sagen haben?
* | * | |||
* |
So weit war ich gestern gekommen, und kann heute nur wiederholen: was sollte ich Dir noch zu sagen haben? Und doch, noch eine Hauptsache: daß mein geliebter Mann auch in diesem Wirrsal sich als der unerschütterlich feste und klare, milde und gütige Nothelfer bewährt hat, den ich immer in ihm bewundert hatte.
Denn er fand mich, als er eine Stunde später nach Hause kam, in einer kläglichen Verfassung. Er erschrak, da er glaubte, ich sei plötzlich krank geworden. Als ich ihm erzählt hatte, was mir begegnet war, und dann in Thränen ausbrach, wiegte er den Kopf, sah mich mit tiefem Mitleid an und sagte endlich: „Armes Kind! Es ist also gekommen, was ich gefürchtet habe!“ – Ich sah aus meinen Thränen auf und sagte: „Du hast es kommen sehen? Warum hast du mich nicht gewarnt?“ – „Weil ich deiner sicher war und von ihm hoffte, er werde noch die Kraft finden, sich zu bezwingen, wenn auch nur aus Furcht vor der Beschämung, auf die er, wie er dich kannte, gefaßt sein mußte. Wäre ich eingeschritten und du hättest ihn von dir entfernt, so würde er sich haben einbilden können, du fürchtetest eine Gefahr für dich. Nun ist die Krisis ohne unser Zuthun eingetreten und so betrübend es ist, wieder einen Menschen verloren zu haben, es ist doch ein Gewinn, daß wir nun wieder auf uns selbst angewiesen sind und darauf denken müssen, wie wir's in Zukunft klüger anfangen sollen.“
Er war den ganzen Abend ungewöhnlich weich und heiter und um mich besorgt, verschonte mich auch mit weiteren Betrachtungen über das Vorgefallene und erzählte nur gegen seine Gewohnheit von einigen interessanten Krankheitsfällen, die ihm unter tags vorgekommen waren.
Auf einmal sagte er: „Weißt du, Kind, was du thun könntest? Mir bei meinem mühsamen Geschäft ein wenig an die Hand gehen. Es ist für den Menschen nicht gesund, nur ein geistiges Leben zu führen. Wenn man sich umsieht in der Welt, ja nur in seiner nächsten Nähe, findet man nur allzu viel Gelegenheit, thätig zu werden und zur Milderung des Weltelends das Seinige beizutragen. Das giebt eine innere Befriedigung, die wohlthuender ist als die Lösung der spitzfindigsten Rätselfragen. Ich will dich nicht etwa dazu anregen, einen Wöchnerinnen- oder Volkssuppenverein zu gründen, obwohl dergleichen auch in unserer Stadt einem ‚längstgefühlten Bedürfnis‘ abhelfen würde. Du hast es zum Glück näher, wenn du mich dann und wann begleiten und mit deinen kundigen Frauenaugen mich darauf hinweisen willst, woran es in den Häusern der Armut am dringendsten fehlt. Ich sehe oft nur, daß meine Kranken in übler Lage sind, und suche dem mit Geld ein wenig abzuhelfen. Aber eine Frau verstände es besser, und oft ist ein bißchen Wäsche und etwas Vorrat in die Küche wirksamer, der Not zu steuern, als ein Stück Geld, das unzweckmäßig verwendet wird. Wir haben’s ja dazu.“
Du mußt nämlich wissen, Mary, daß wir in diesem Jahre uns ganz anders rühren können als zu Anfang. Dimitri hat an gute Freunde in seiner Heimat ein so großes Rühmens gemacht von seinem „genialen“ Arzt, daß eine Menge reicher Russen ihr Heil bei ihm gesucht haben. Der erste Gasthof der Stadt ist in kurzem eine Art Privatklinik des Doktor Born geworden, und wenn er wollte, könnte er ein Modearzt werden, der sich um arme Tagelöhner und Handwerker nicht mehr kümmern müßte. Aber Du kannst denken, daß ihm diese einträgliche Praxis nur darum erwünscht ist, weil sie ihm die Möglichkeit giebt, nun auch da zu helfen, wo die Arzenei nicht aus der Apotheke zu holen ist.
Gleich am anderen Tage bin ich mit ihm über Land gefahren, nach einem Dorf, das von einer Scharlachepidemie heimgesucht worden ist. Als ich abends mit ihm zurückkehrte, hatte ich Kopf und Herz so voll von all dem, was ich an Elend und Not gesehen hatte, daß für philosophische Grübeleien kein Platz mehr darin war, und anderen Tages hatte ich alle Hände voll zu thun mit Anschauungen und Vorbereitungen für unseren nächsten Besuch.
Mein Mann nennt mich seinen Assistenten. Ich bin stolzer auf diesen Titel, als wenn ich ein Dr. phil. vor meinen Namen schreiben dürfte.
Und er nimmt meinen Beistand auch noch zu anderem in Anspruch. Es kommen Patienten in seine Sprechstunde, die einer fortwährenden Behandlung bei chronischen Leiden bedürfen täglich eine Einspritzung ins Auge oder einen neuen Verband erhalten müssen. Dazu hat er mich nun angeleitet, da ihm selbst die Arbeit über den Kopf wuchs. Ich habe eine geschickte Hand, und die Freude, Schmerzen lindern zu können, hat mich bald den natürlichen Schauder vor allerlei menschlichen Wunden und Gebrechen überwinden gelehrt.
Manchmal denk’ ich, dies sei auch eine Art, die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückzuführen, wenn auch Sokrates nichts damit zu schaffen hat.
Und nun, liebes Schwesterherz, nehme ich für ein Weilchen Abschied von Dir.
Laß mich’s gestehen – seit meine Hand sich in so ganz anderen Geschäften thätig beweisen muß, ist ihr das Schreiben verleidet. Das Heft Matuschkas habe ich im untersten Fach meines Schrankes vergraben. Hellmuth sagt zwar, ich würde es noch eines Tages wieder hervorholen, um es fortzusetzen, wenn wir älter geworden wären und er vielleicht nicht mehr die Kraft hätte, in Wind und Wetter herumzukutschieren. Dann wolle er selbst seine alten Kollegienhefte wieder zur Hand nehmen und versuchen, den Faden da mit mir fortzuspinnen, wo der arme Dimitri ihn abgerissen hat. Einstweilen trage ich kein Verlangen danach. Aber er mag wohl recht haben: wenn man aufhören muß, thätig zu sein, kann man Gott danken, wenn er einem die Fähigkeit verliehen hat, die Welt mit klaren Augen zu betrachten, in der zu wirken einem nicht mehr vergönnt ist.
Ich umarme Dich, Liebste, und danke Dir für Deine Güte und Geduld, mit der Du meiner oft so unholden Beichte nicht nur Dein Ohr, sondern auch Dein Herz geliehen hast. Küsse Deine Kinder und denke zuweilen, auch wenn sie nur selten mehr von sich hören läßt, Deiner alten ewigen Martha.
Ein Jahr später.
Ich wollte Dir erst schreiben, wenn alles glücklich vorüber wäre. Aber Dein lieber, zärtlicher Brief, der mir beweist, daß es Dir ein Bedürfnis ist, mit mir fortzuleben, drängt mir die Feder in die Hand.
Ja, Liebste, mein heißester Wunsch soll in Erfüllung gehen, die weise Frau sagt, schon in den allernächsten Tagen!
Seit zwei Monaten hat Hellmuth seinem „Assistenten“ nur noch im Hause zu thun gegeben. Die Fahrten über Land auf oft grundlosen Vicinalwegen hätten mir schaden können. Ueberdies, wie Du denken kannst, ließ mir die Sorge für die kleine Ausstattung wenig Zeit für meine Patienten, denn obwohl ich – Du entsinnst Dich – gegen das Vorurteil der guten alten Zeit mich ereifert habe, daß jedes Stück Wäsche, das im Laden
[817][818] fertig zu kaufen wäre, im Hause zugeschnitten und genäht werden müsse – die ersten Hüllen, mit denen ein kleines Menschenkind bekleidet werden soll, mit eignen Händen ihm zu bereiten ist ein so beseligendes Geschäft, daß man nicht darauf verzichten möchte, und würden einem auch die spitzenbesetzten Hemdchen und Häubchen, wie eine Prinzessin sie erhält, ins Haus gebracht.
Schade, daß ich Dir nicht das Fach in meinem Schrank zeigen kann, in welchem der Trousseau dieses kleinen Fräuleins aufgestapelt liegt!
Denn, daß es ein Mägdlein sein wird, steht mir fest, so sehr mich Hellmuth mit meinem Glauben an allerlei Vorzeichen neckt, die unter uns Frauen nun einmal für untrüglich gelten. Unter uns gesagt, ich gebe gar nichts auf diese Ammenweisheit. Der brennende Wunsch, das Wesen, das mir das Leben verdanken soll, glücklicher aufwachsen zu lassen, als es mir beschieden war, hat mich in meinem Glauben bestärkt. Ich würde in Verlegenheit sein, einem Sohn gegenüber, da ich stets die Mütter beneidet habe – Dich z. B. – die so viel Latein und Griechisch gelernt haben, daß sie ihren Knaben durch die ersten Schuljahre hindurchhelfen können. Ein Mädchen aber davor zu bewahren, daß es nicht in ähnliche Not gerät wie ihre Mutter, dazu fühle ich mich berufen und befähigt.
Vorausgesetzt, daß es nicht ein Gehirnchen mit auf die Welt bringt wie so viele seines Geschlechts, denen die Fähigkeit zu ernsterem Erfassen des Lebens versagt ist. Diejenigen weisen Männer, die darin das unterscheidende Kennzeichen des Weibes sehen, vergessen nur, daß auch die überwiegende Zahl der Knaben für alles höhere Streben verdorben ist und nur mit Not und Mühe zu den Berufsarten herangezüchtet wird, die das Studium auf einer Universität voraussetzen.
Wenn aber mein kleines Mädchen einen hellen Kopf hat und die Sehnsucht, ihn nicht bloß mit dem üblichen Frauenzimmertrödel vollzustopfen, soll es, nachdem es die Volksschule durchgemacht hat, eine bessere Schule besuchen, als es seiner Mutter vergönnt war. Denn ich zweifle nicht daran, daß bis dahin auch in allen größeren Städten Bayerns Mädchengymnasien gegründet sein werden, wie sie in allen Kulturländern, ja auch in solchen, die man sonst nicht dazu zu rechnen pflegt, wie Rußland und Spanien, bereits bestehen. Du weißt, ich bin eine Preußin, aber in dem engeren Vaterlande meines lieben Mannes lange genug heimisch, um es mir zu Gemüte zu ziehen, daß Bayern in diesem Punkt hinter den übrigen Staaten des Deutschen Reiches zurücksteht, ja sogar hinter Oesterreich, wo die kirchliche Partei, die, wie es heißt, bei uns der höheren Frauenbildung abgeneigt ist, doch auch mächtig genug wäre, um die humanistische Mädchenerziehung nicht zu dulden, falls sie darin eine Gefahr für unser Seelenheil erblickte. Und doch hat neulich – Du hast es vielleicht auch in einer englischen Zeitung gelesen – der Unterrichtsminister in Wien bei Gelegenheit der Doktorpromotion einer Dame sich in den wärmsten Worten über das Frauenstudium ausgesprochen.
Das aber ist Dir vielleicht entgangen, daß man seit Jahr und Tag in München an der Gründung eines Mädchengymnasiums arbeitet. Ein Verein hat sich gebildet, schon vor drei Jahren, dem eine große Anzahl von Frauen und Männern angehört. Woran es liegt, daß seine Bemühungen noch immer nicht zum Ziele geführt haben, ist rätselhaft. Doch trotz wiederholter wohl motivierter Eingaben ist die Konzession der Staatsregierung nicht zu erlangen gewesen. Daß der Widerstand von der allerhöchsten Stelle ausgehe, ist undenkbar. Wo eine Prinzessin des königlichen Hauses Mitglied der Akademie der Wissenschaften ist, muß man doch auch in den höchsten Kreisen von der Fähigkeit des weiblichen Geschlechts zu ernsten Studien überzeugt sein. Du kennst auch gewiß die historischen Werke der geistvollen Lady Blenner-Hassett, die in München geboren ist, die Tochter bayrischer Eltern. Sollte nicht auch dies glänzende Beispiel einer Frau, die von den bedeutendsten Gelehrten als ebenbürtig betrachtet wird, das veraltete Vorurteil endlich zu beschämen imstande sein?
Nein, Mary, ich glaube daran, „daß das Gute wachse, wirke, fromme,
und daß der Sieg der Wahrheit endlich komme!“
Wenn mein Kind in die Backfischjahre eingetreten sein wird, wird es nicht nach Berlin, Karlsruhe, Leipzig, Breslau, Wien oder gar nach Zürich oder Florenz reisen müssen, um seine klassischen Studien zu beginnen – auf die – große! – Gefahr hin, wenn es seine Abgangsprüfung bestanden hat, sich dann doch keinem wissenschaftlichen Beruf zu widmen, sondern einem lieben Manne eine kluge und nicht ganz unwissende Hausfrau zu werden. Ich hoffe sogar, daß ich nicht nötig haben werde, sie nach München zu schicken, da sie es in unserer Stadt näher haben wird. Die Bewegung nach diesem Ziele hin ist eine zu allgemeine, zu berechtigte, als daß sie nicht auch von denen endlich anerkannt und gefördert werden sollte, die bisher die Augen verschlossen haben gegen den Widersinn, die Mädchen aufs Haus beschränken zu wollen, ohne einer jeden ein Haus bieten zu können, von unserem Geschlecht zu verlangen, daß wir uns redlich ernähren und unsere Steuern zahlen, gleich den männlichen Staatsbürgern, während man von den mancherlei Mitteln und Wegen, dies zu erreichen, uns nur die niederen, mechanischen offen läßt, zu denen die höher Begabten unter uns verdorben sind. Denn wenn meine Tochter ihrer Mutter nachschlägt, wird sie schwerlich für eine zwölfstündige Arbeit an der Nähmaschine oder dem Telegraphen, geschweige denn zur Fabrikarbeiterin die nötige Befähigung besitzen und auch für die doppelte Buchführung keinen Beruf in sich spüren.
Genug für diesmal. Das Schreiben greift mich doch an. Mein nächster Brief soll Dir, hoff' ich, eine frohe Botschaft bringen.
Es umarmt Dich von Herzen Deine glückliche und doch bange
N. S. Du hast nach Dimitri gefragt, ob er nichts mehr von sich habe hören lassen. Kurze Zeit nach seiner Trennung von uns kam ein Brief von ihm an meinen Mann, mit einem Wechsel auf eine sehr hohe Geldsumme. Dabei lag seine Visitenkarte „mit dem Ausdruck des innigsten unauslöschlichsten Dankes“. Hellmuth sandte den Wechsel sofort zurück, von einem Freunde und halben Kollegen lasse er sich seinen ärztlichen Rat nicht honorieren.
Vor einem halben Jahr endlich lasen wir in der Zeitung, der hochbegabte russische junge Gelehrte Dr. Dimitri v. L. sei im Duell mit einem Grafen W. von einer Kugel tödlich getroffen worden und am anderen Tage gestorben. Anlaß zu dem beklagenswerten Zweikampf sei die Rivalität um die Gunst einer Dame vom Ballett gewesen.
Was ich bei dieser Nachricht empfand – – – –
Zweite Nachschrift (nicht von weiblicher Hand) vierundzwanzig Stunden später.
Die Geburt eines gesunden Mädchens zeigen hocherfreut an
Da Martha darauf besteht, daß ihre geliebte Mary nicht wie alle anderen Freunde und Bekannten diese Neuigkeit durch ein gedrucktes Blatt erfahren dürfen, müssen Sie sich, verehrte Frau, eine Nachschrift des glücklichen Gatten und Vaters gefallen lassen, und zwar auf dem letzten freien Raum des obigen Briefes, den die Schreiberin nicht mehr ausfüllen konnte, da die Nähe ihrer schweren Stunde sich plötzlich ankündigte.
Ich füge nur noch hinzu, daß Mutter und Kind sich den Umständen nach wohlbefinden. Das kleine Fräulein ist ein kräftiges und doch zierliches Geschöpfchen, das hoffentlich es nicht bedauern wird, sich in diese Welt gewagt zu haben, obwohl es gleich beim Eintritt in dieselbe sich der Verleumdung preisgegeben sieht. Sämtliche weibliche Hausgenossen nämlich erklären einstimmig, das kleine Wesen sei dem Vater „wie aus dem Gesicht geschnitten“, während dieser das gute Zutrauen zu ihm hat, es werde so gescheit sein an Leib und Seele der Mutter nachzuarten.
Mit herzlichsten Grüßen dieser lieben Frau
[819]
Weihnachtskrippe in Tirol. (Zu dem Bilde S. 813) Die langen Abende des Adventes sind herangerückt. Draußen liegt der Schnee über Berg und Flur. Der Sonnenschein zittert in den weißen Krystallen, als wolle er einen Wiederschein malen von den schneeigen Flügeln des nahenden Weihnachtsengels. Das bäuerliche Leben hat sich immer mehr und mehr auf die „bacherlwarmen“ Stuben beschränkt. Abends giebt es einen gemütlichen „Hoamgart“. Die Weiber hocken beim Spinnrad und die Männer, die oft soeben von anstrengender Holzarbeit im Hochwald heimgekommen sind, liegen behaglich auf der Bank hinterm Ofen und schmauchen ein Pfeiflein oder spielen am Tisch Karten.
Da und dort hat sich auch ein Künstler in der Lodenjoppe festgesetzt, der eifrig an größeren und kleineren Figuren schnitzt und sie bunt bemalt. Eine Schar Kinder kauert um ihn herum und lugt mit offenem Mund, wie durch Messer und Eisen alles mögliche aus einem unscheinbaren Holzklotz wird: Oechslein und Schäflein und Kühlein erstehen da wie durch Zauber, Hirten und Könige, zuletzt gar der heilige Josef und die Muttergottes mitsamt einer zierlichen „Krippe“, die bestimmt ist, das wächserne Christkindlein mit seinem rauschgoldenen Glorienschein aufzunehmen.
In der besten Stube wird dann die neue Weihnachtskrippe aufgebaut. Was zu Dekorationszwecken noch notwendig ist, muß der Krämer liefern – farbiges Papier, zinnerne Leuchtsternchen, künstliche Blumen, Goldsand und dergl. Viele Bauernhäuser besitzen schon seit Urvaters Zeiten ihre Krippe. Darunter finden sich oft wahrhafte volkstümliche Kunstwerke.
So lange der Stall bei Bethlehem mit dem heiligen Paar, dem Christkindlein, dem Ochsen und dem Eselein, den Heiligen drei Königen aus dem Morgenland und etlichen Hirten allein vertreten ist, muß das immer noch eines der bescheidensten und einfachsten „Kripperln“ genannt werden. Die eigentliche Glanzentfaltung liegt erst in dem sogenannten „Kripperlberg,“ der nicht selten die ganze Breite einer Stube einnimmt und vom Boden bis zur Decke reicht. Da giebt es dann hundertfältige Sehenswürdigkeiten zu bewundern, von dem Kripperl am Grunde des Berges bis zu dem Gloriaengel, der mitten im Himmelsblau zwischen Sternen schwebt. Der Berg wird aus geleimtem Tuch hergestellt, mit verschiedenfarbigem Sand bestreut, teilweise mit echtem Moos überkleidet. Straßen und Sträßchen ziehen von der Höhe ins Thal. Auf ihnen pilgern die Hirten und die Karawane der Heiligen drei Könige. Alles mögliche Volk, in der naivsten Mischung der Zeitalter zusammengewürfelt, strömt herbei: man kann da ihr Gewehr schulternde Soldaten sehen neben Hohenpriestern und Pharisäern, Bauernweiblein mit unverkennbarer alpiner Tracht in rührender Gemeinschaft mit den wallenden Gewändern heiliger Frauen; die wichtigsten Berufsarten finden auf solchen „Kripperlbergen“ im eigenen Häuschen ihre Vertretung – Stiefel sohlende Schuster, geschäftige Schreiner, Bauern beim Korndreschen, Müller bei ihrer Mühle, Holzfäller beim Sägeklotz. Der naive Sinn des Volkes will eben die ganze ihm bekannte Welt um das „Kripperl“ erstehen lassen. Glitzernde Glasstangen markieren ein Bächlein oder einen Wasserfall. Bei den besonders vornehmen Krippen sind die Figuren nicht bemalt, sondern mit „wirklichen G'wandern“ aus den verschiedenartigsten Stoffen bekleidet. Da giebt es denn beim Herannahen des Adventes auszubessern genug, um alles „auf'n Glanz herz'richten“.
Wenn man bedenkt daß manche dieser Weihnachtskrippen Hunderte von bekleideten Figuren zählen, läßt sich die Mühe der Instandhaltung leicht ermessen. Den höchsten Punkt der Vollendung erreicht ein Kripperlberg, wenn die Mehrzahl der Figuren beweglich ist, wenn die Handwerker taktmäßig Hände und Füße rühren, die Hirten und Könige wie lebend die Bergwege herabziehen, die Glasstangen sich drehen und so den Eindruck fließenden Wassers machen. Der Mechanismus wird gewöhnlich durch einen hinter der Krippe verborgenen Tausendkünstler in Bewegung erhalten.
Aus dem Dorfe selbst und aus den Nachbardörfern strömen die Leute herbei, groß und klein, um sich an der seltenen Herrlichkeit in der niederen Bauernstube zu ergötzen. Wenigstens ist auch ein Opferstock vor der Krippe aufgestellt für freiwillige Beiträge zur Erhaltung derselben. Zu besonders kunstreichen Krippen wird ein Eintritt erhoben. So erinnere ich mich noch aus meiner Jugendzeit lebhaft an den prächtigen „Kripperlberg“ bei der alten Stamser Trina, welche den Berg und die Figuren schon mindestens von ihrem Großvater her geerbt hatte. Der Eintritt war in Geld oder in Naturalien zu entrichten. Man zahlte entweder einen Kreuzer oder brachte ein Scheit Holz.
Das Kripperl auf unserm Bilde gleicht einer Tiroler Almhütte. Es ist der bethlehemische Stall mit Schindeln und Steinen auf dem Dach, dem Gloriaengel am First, Ochs und Eselein im Hintergrund des Stalles, dem heiligen Paar, dem Christkindlein und den anbetenden Hirten und Königen. Andächtig treten die Leute in die Stube, mit gefalteten Händen, die Männer den Hut in der Hand. Sie knieen nieder wie in der Kirche vor dem Allerheiligsten. Scheu und mit naivem Erstaunen wagen sich die Kinder heran. Für die ganz Kleinen ist es vielleicht etwas noch nie Geschautes und wird zur allerfrühesten Jugenderinnerung voll überirdischen Glanzes.
Die naiv anachronistische Auffassung der Alpenvölker hat eine Fülle der eigenartigsten kleinen Weihnachtsspiele und -lieder gezeitigt. Die Hirten reden in diesen alten Spielen und Liedern, wie etwa irgend ein 'Stoffl' oder 'Hansl' noch heute reden würde. Etliche Bekannte bleiben wohl vom Krippenbesuch abends noch auf „Hoamgart“. Wenn dann das „Amperl“ vor der Krippe ausgelöscht und der feierliche Besuch für heute geschlossen ist, dann tönen die uralten Tiroler Weihnachtslieder mit Zitherbegleitung durch die Stube und der Zauber dieser Volkspoesie ergreift mit Macht die andächtig gestimmten Herzen. R. Greinz.
Cotta'scher Musenalmanach für das Jahr 1898. Wiederum ist ein neuer, und zwar der achte Jahrgang des „Cotta'schen Musenalmanachs erschienen, ein Urenkelkind jener Musenalmanache, die einst Schiller im Cotta’schen Verlage herausgab. In seiner gefälligen Ausstattung, geschmückt mit sechs trefflichen Kunstbeilagen, ist er als eine entschiedene Bereicherung unserer Geschenklitteratur zu betrachten.
Der Cotta'sche Musenalmanach versammelt die hervorragendsten deutschen Lyriker der Gegenwart, abgesehen von den jüngsten Secessionisten. Keineswegs aber fehlt der jugendliche Nachwuchs, nur sind es junge Dichter, die ihre eignen Wege wandeln und nicht zu einer Parteifahne schwören. Daß nicht in jedem Jahrgang alle neuen Dichter von uns vertreten sind, ist wohl selbstverständlich, aber wer in dem einen Jahrgang fehlt, erscheint in dem anderen wieder, so daß die Galerie, welche die gesammelten Jahrgänge der Musenalmanache bieten, doch eine vollständige ist. Wie seine Vorgänger beginnt auch der neue Musenalmanach mit Prosadichtungen, die natürlich knapp gehalten sein müssen und ein beschränktes Maß nicht überschreiten dürfen. „Scharka“ von Max Haushofer ist eine spannende Erzählung, die Lokalfarbe ihres Hintergrundes, der Stadt Prag und ihrer Umgebung, ist lebhaft und wohlgetroffen, auch die Liebhaber des Geheimnisvollen und Grellen kommen dabei auf ihre Rechnung. Die Erzählung von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach) „Eigenes Leben“ hat zum Helden den Enkel eines berühmten Mannes, auf welchem der Nimbus desselben schwer lastet, bis er sich durch den Verkauf der vielbesuchten Heimstätte davon befreit und ein eigenes Leben beginnt, welches auch bald durch das Glück der Liebe verschönt wird. Die Erzählung ist anmutend und schließt mit einer launigen, schalkhaften Wendung. „Ben Saccarias Wunderhorn“ von Julius R. Haarhaus ist ein sinniges Märchen. Auf die Erzählungen in Prosa folgen zwei dramatische Dichtungen: „Kain“ von Bulthaupt ist, für die Komposition bestimmt, nicht ohne einige grandiose Züge, die an Byron erinnern. „Im Frühling“ lautet der Titel einer dramatischen Scene des jungen talentvollen Dichters Ferdinand von Hornstein. Wir betreten jetzt die Halle, wo die erzählenden Dichter ihre Fresken zur Schau stellen. Da erblicken wir zunächst ein Marinegenrebild von Norbert Waldmüller „In der alt-alten Weide.“ Ein zu den Seinen beurlaubter Schiffsjunge wird von der Flut überrascht und rettet sich auf eine alte Weide, von wo ihn die Leute aus dem Heimatdorf noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Wir finden dann eine nordische Ballade von Felix Dahn, „Das Leben um die Liebe“, mit der im Titel ausgesprochenen Pointe, eine italienische Ballade genrehafter Art mit schalkhafter Wendung. „Römisches“ von Wilhelm Jensen, eine darwinistische Ballade von Max Haushofer „Mein Freund im Affenpelz.“ Wilhelm Jordan bietet in seiner gediegenen Dichtweise eine poetische Erinnerung aus seiner früheren Lebenszeit, deren Heldin die Müllerstochter „Laura“ ist. Albert Möser steuert ein stilvolles Gedicht „Kolumbus“ bei, Karl Landsteiner eine altdeutsche Legende, „Das Geheimnis der Ewigkeit“, welche an die Sage vom Epimenides erinnert. Sinnreich ist auch die poetische Erzählung „Leben und Sterben“ von Rudolf Krauß. „Der Thor“ von Karl Woermann ist in wohlklingenden anmutig verschlungenen Terzinen gedichtet. Andere wertvolle Beiträge rühren von Max Kalbeck, Heinrich Bierord, Albert Geiger, Karl Stelter, Karl Schönhardt, Edward Wechßler, Albert Matthaei und Irene von Schellander her. Einige dieser Dichter finden wir auch in der Abteilung wieder, welche die lyrischen und vermischten Gedichte enthält. Aus dem Nachlaß von J. G. Fischer werden fünf Gedichte mitgeteilt, welche den Liederreigen eröffnen, sie verleugnen durchaus nicht die gediegene Eigenart des Poeten. Gedankenschwer ist das Gedicht „Einspruch“ von Wilhelm Jordan, gegen den Pessimismus und Hochmut des neuesten Dichtergeschlechtes gerichtet, stimmungsvoll sind Hermann Linggs „Hochzeitsgesang auf dem See“ und die „Lieder von der Riviera“ von Ernst Ziel mit ihrem warmen bildlichen Kolorit, gedankenvolle Distichen bringt das Gedicht „Das Kleine“ von Georg Ebers; niedliches lyrisches Schnitzwerk bieten die Gedichte von Ernst Muellenbach „Kleine Geister“ und „Sommerspruch“. Auch unter den anderen Gedichten findet sich viel Anziehendes, wir erwähnen noch die volkstümlichen Gedichte von Carl Weitbrech, die sich dramatisch aufbauende Ballade „Krankenbesuch“ von Heinrich Bulthaupt, das in reimlosen Jamben gehaltene, humoristisch angehauchte Salonbild „Vergeltung“ von Ernst Eckstein die schlaghafte Parabel von Arthur Fitger „Holzknecht und Nixe“, den Hymnus auf Franz Schubert von Adolf Stern und die formschönen Sonette des Herausgebers Otto Braun, der den „Blumengarten“ dieser Musenalmanache als treuer kundiger Gärtner pflegt. Die Spruchdichtung vertreten Ludwig Fulda, Georg Scherer und Emil Claar. Mit hübschen Bildern haben L. Noster, R. Aßmus, O. Lingner, F. Boucher, H. v. Pausinger und H. Nestel den Musenalmanach geschmückt.†
Raffael stellt sich als Schüler bei Perugino vor. (Zu dem Bilde S. 805) Die reizende Statuette G. Mühlenbecks stellt den jugendlichen Raffael dar, wie er mit bescheidenem Gruße, die Augen verehrungsvoll zum Meister emporgewandt, die Schwelle von Peruginos [820] Werkstatt überschreitet. Keine Kunde ist uns über den Zeitpunkt dieses Ereignisses erhalten, wie so über Raffaels frühe Jugend überhaupt wenig bekannt ist. Wir wissen von seinem Vater, Giovanni Santi nur, daß er ein begabter und in seiner Heimat Urbino hochangesehener Maler war und schon vor Raffaels zwölftem Lebensjahre starb. Wir wissen nichts über die Mutter Magia, die am Karfreitag den 28. März 1483 das größte malerische Genie aller Zeiten gebar und dann in dem stillen umbrischen Bergstädtchen eintönige Tage hinspann bis zu ihrem frühen Tode 1491. Die Herrscherfamilie von Urbino, deren Haupt der glänzende, pracht- und kunstliebende Herzog Federigo war, hatte wohl der kleinen Residenz durch einen schönen Schloßbau mit kunstreichen Freskogemälden Ruf und Ansehen verschafft, an denen auch Giovanni Santi, der nach mannigfachen anderen Erwerbszweigen sich erst spät der Kunst zuwandte, beschäftigt war. So wiesen Raffaels erste Jugendeindrücke die schöne Kultur der Renaissance, die Verehrung gegen das edle Herrscherhaus, schon nach der Richtung, die seine ganze spätere Laufbahn bezeichnete, aber es ist kaum deutbar, daß er eigentlichen künstlerischen Unterricht schon vom Vater sollte erhalten haben. Basari erzählt, daß ihn dieser selbst schon im zarten Alter gegen Wunsch und Willen der Mutter zu Perugino gebracht habe, nach neueren Forschungen entspricht aber diese Ueberlieferung nicht den Thatsachen, wie so manche andere, von Basari im guten Glauben übernommene. Als der Vater tot war, wandte sich der junge Raffael auf Rat von Vormund und Freunden zu dem berühmten Pietro Vannucci, genannt Perugino, nach Bergamo, doch kann dies, wie aus äußeren Umständen bewiesen ist, nicht vor seinem 17. Jahre gewesen sein. Wer ihn in der Zwischenzeit unterrichtet hat, ist unbekannt, jedenfalls hatte sich das Talent des Wunderknaben schon so machtvoll entfaltet, daß die Lehrzeit des Jünglings bei Perugino 1491 bis 1504 für den alternden Künstler selbst einen ganz neuen Aufschwung zur Kraft und Frische bedeutet, während anderseits der Schüler von dessen Malweise einen großen, für seine Jugendwerke durchaus bestimmenden Einfluß erfuhr. Sicherlich verdient deshalb die erste Begegnung der beiden im Kunstwerk dargestellt zu werden, selbst wenn der Künstler, wie hier geschehen, der anmutigen Ueberlieferung des Basari den Vorzug vor der nüchternen historischen Wirklichkeit giebt!
Die Radfahrer und der Wind. Es ist den Radfahrern längst bekannt, daß der schlimmste Feind ihres Sportes sowohl beim Schnell- als Tourenfahren nicht Berg und Thal, Straßenbeschaffenheit oder Unwegsamkeit ist, sondern der Wind. So sehr der von hinten kommende Luftzug das Fahren erleichtert und ein starker Rückenwind den Fahrer sogar fast jeder Mitarbeit enthebt, so schwer ist es, den Gegenwind zu besiegen, der sich dem Radler wie eine Mauer entgegenstellt und seine Kräfte bald erschöpft. Dieser Umstand ist es, der den Tandemrädern, auf denen zwei bis fünf Fahrer hintereinander sitzen eine so beispiellose Ueberlegenheit beim Gegen-den-Wind-Fahren verleiht, denn auf die doppelte bis fünffache Muskelkraft kommt hier nur derselbe Luftwiderstand wie beim Einzelfahrer, da der erste Mann die übrigen gegen den Wind deckt. Im Winter kommt die abkühlende Wirkung des Windes noch dazu, ihn den Radlern verhaßt zu machen. Während man selbst bei 15° Kälte noch eine hübsche Tour machen kann, solange man den Wind im Rücken hat, ist's bei Vorderwind schon, wenn nur 5° Kälte herrschen, mit dem Radeln so gut wie vorbei. Wenige Minuten reichen hin, um den Fahrer bis aufs Mark erstarren zu lassen, und schwer wird er, selbst wenn schleunig umgekehrt wird, nachträglich wieder warm. Den stärksten Beweis für die hemmende Kraft des Vorderwindes hat aber eine originelle Rennvorrichtung, das „Cyclodrom“, ergeben die neuerdings im Dorado des Radfahrens, in Paris, zum besten der Radwettfahrten eingerichtet wurde. Diese Zimmer-Rennbahn erlaubt die Aufstellung von vier Rädern im geschlossenen Raume, die von Wettfahrern getreten und genau ebenso wie beim Rennen gehandhabt werden, mit dem einzigen Unterschied, daß sie, anstatt auf festem Boden, auf beweglichen Rollen laufen. Die Rotation der letzteren ersetzt das Fortgleiten über den Boden der Rennbahn, und ein eigentümlicher Mechanismus setzt nun diese Rollen mit vier reinen Bleifiguren in Verbindung, die auf einem ovalen Tische, der eine Miniatur-Rennbahn vorstellt, sich fortbewegen. Jede dieser Figuren giebt die Geschwindigkeit eines der Wettfahrer an, und die Zuschauer, welche an der Folge der Runden die Schnelligkeit jedes Fahrers in Kilometern genau ablesen können, folgen diesem Schauspiel mit derselben Gespanntheit wie dem der gewöhnlichen Rennen. Bei diesen Zimmerfahrten ist nun der Luftwiderstand ganz vermieden, da der Radler immer auf demselben Flecke bleibt, und dementsprechend werden Geschwindigkeiten erzielt, die im Freien ganz unerreichbar sind. Gute Rennfahrer, die im Freien 40 bis 45 km fahren, erreichen im Cyclodrom 70 km in der Stunde und mehr, während gewöhnliche Fahrer es bis 50 km bringen, ohne sich zu erschöpfen. Dem neuen Sport wird vom Baltikum eine große Teilnahme zugewandt. Bw.
Otto der Große vergiebt seinem Bruder Heinrich. (Zu dem Bilde S. 817.) Die liebeweckende Macht des Weihnachtsfestes, welche jedes Jahr in der Stille der Häuslichkeit tausend Wunder wirkt, hat auch wiederholt auf der offenen Bühne der Weltgeschichte herrliche Thaten vollbracht. Unser Bild stellt eine der berühmtesten dar, es zeigt uns den jugendlichen Kaiser Otto, der später den Beinamen des Großen von der Geschichte erhielt, wie er in der Christnacht des Jahres 941 im Dom zu Frankfurt seinem gegen ihn aufständische Bruder Heinrich vergiebt. Zweimal hatte dieser, aufgestachelt von seiner Mutter, der Königinwitwe Mathilde, die ihn bevorzugte, gegen den älteren Bruder als Empörer die Waffen erhoben. Beidemal hatte Otto ihn besiegt und in seine Hand bekommen. Das erste Mal war es dem zur Großmut Geneigten leicht gefallen, dem Bußfertigen zu vergeben. Nachdem Heinrich aber den Schwur aufs neue gebrochen, ja, diesmal sogar nach des Bruders Leben getrachtet hatte, glaubte Otto es seinem Reiche schuldig zu sein, den halsstarrigen Aufwiegler einem Fürstengericht zu überliefern. Der Gefangene wurde nach Ingelheim zur Haft gebracht. Doch dem heißblütigen Jüngling, so erzählt M. Manitius[WS 1] in seiner, „Geschichte der sächsischen und salischen Kaiser“, war die Haft unerträglich, und es gelang ihm, mit Hilfe eines Mainzer Priesters zu entkommen. Aber sein Herz war umgewandelt. Es gelüstete ihn nicht mehr danach, dem Bruder entgegenzuarbeiten, sondern er benutzte seine Freiheit zu einem schöneren Zwecke. Im Dome zu Frankfurt war es, wo er sich zu Weihnachten 941 dem Bruder in härenem Büßergewande nahte und unter Thränen zu Füßen warf. Der Edelmann siegte in Otto. Zum Zeichen der Versöhnung hob er seinen Bruder vom Boden auf und gab ihm die Freiheit. Und fortan blieb das Verhältnis beider ein brüderliches, nichts mehr war imstande, ihre Eintracht zu stören. Der König gewann seither an Heinrich eine feste Stütze und einen wahren Freund.
Die poetische Legende hat die ergreifende Scene nach dem Lieblingssitz Kaiser Ottos, nach Quedlinburg, verlegt. Doch hat hier tatsächlich nur der von Heinrich und seinen Mitverschworenen geplante Ueberfall stattfinden sollen, gegen welchen der Kaiser zu seinem Schutz rechtzeitig Vorkehrungen traf. In einem bekannten Gedicht das dieser Lesart folgt, findet sich die ansprechende Ausschmückung, der amtierende Abt habe den noch schwankenden Sinn des Kaisers zur Milde gestimmt durch die Verlesung der Mahnung Christi, daß es nicht genug sei, siebenmal zu verzeihen nein, siebenzigmalsiebenmal müsse man seinem Bruder vergeben!
Leben in heißen Quellen. Die Untersuchung der heißen Quellen des Yellowstone-Parks in Nordamerika hat interessante Ergebnisse über die Anpassung niederer Lebewesen an hohe Wärmegrade geliefert. In diesen Quellen leben Algen, die alle im Wasser befindlichen Gegenstände mit Krusten überziehen und an Ufern Häute von grüner oder gelber Farbe bilden. Im Wasser von 40 bis 50°C giebt es verschiedenfarbige, rote, braune und grüne Algen; in Quellen mit einer Temperatur von 55 bis 60°C herrschen grüne Formen vor. Je heißer das Wasser wird, desto blasser wird die Flora, bei 80° Hitze giebt es nur noch gelbliche und bei noch höheren Graden weiße Formen. In den heißesten Quellen von 85 bis 92°C leben nur noch stäbchenförmige Bakterien, die sich zu gelatineartigen, mit feinen Schwefelkrystallen bedeckten Massen zusammenschließen. – Fürwahr, wie zähe ist die Lebenskraft dieser Gebilde, die beinahe in der Siedehitze zu keimen und zu wachsen vermögen!
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: H. Manitius