Die Gartenlaube (1897)/Heft 48
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Nr. 48. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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Einsam.
(17. Fortsetzung)
„War deinem Mann wirklich so schlecht?“
„Nun, ich denke, das hast du wohl sehen können, liebe Selma.“
„Gefröstelt hat ihn, einen Schnupfen wird er kriegen, darum braucht er doch nicht gleich vom Essen aufzustehen.“
„Ich wollt’, er hätte sich gar nicht erst zu Tische gesetzt. Es war ihm schon vorher nicht ganz wohl, es hat ihn schon vorher gefröstelt. Das eben war ein regelrechter Schüttelfrost.“
„Warum nicht gar.“
„August hilft ihm jetzt, sich niederlegen, in der Zeit telephoniere ich mit Meinhardt und gehe dann wieder zu ihm. Laßt euch, bitte, nur nicht stören. Es wird weiter serviert.“
„Iß du doch auch erst fertig. Das ist ja eine Ungemütlichkeit! Helfen kannst du ihm doch nicht. Es wird ja auch nichts sein.“
Was es ist, muß sich ja bald herausstellen: jedenfalls ein ernstes Unwohlsein. Ich bitte wirklich, mich ganz zu entschuldigen, ihr seid ja hier zu Hause.“
„So laß sie doch gehen, Mama. Die Turteltauben können eben nicht ein Stündchen von einander getrennt sein.
Linchen bekam von Männe einen Klaps auf die Hand. „Sei nicht so boshaft, Katzel.“
Hanna war schon draußen. Das letzte hatte sie nur noch undeutlich gehört. Es war ihr auch einerlei. An die kleinen mehr oder minder gut gezielten Teufeleien ihrer hübschen unartigen Nichten war sie schon gewöhnt; sie trafen daher auch meistens daneben.
Nach einer eiligen Verständigung mit dem Sanitätsrat begab sie sich in das Schlafzimmer zurück, wo sie ihren Mann schon tief in seine Kissen geborgen vorfand. August wollte eben zur Thür hinaus.
„Sorgen Sie, daß bei Tische nichts fehlt,“ rief ihm Hanna gedämpft nach. „Luise soll Sie vertreten; allein wird Henriette nicht fertig. Halten Sie sich dann hier oben zur Verfügung.“
„Sehr wohl, gnädige Frau.“
Sie trat an Ludwigs Bett und erschrak aufs neue über die gräuliche Blässe und die tiefen Wangenfurchen, die in so kurzer Frist das blühende Gesicht verwundet hatten. Er lag mit geschlossenen Augen, der Frost schüttelte ihn noch immer; seine Zähne schlugen hörbar aufeinander.
„Dir ist entsetzlich kalt, nicht wahr,“ sagte sie halblaut in scheuem Mitleid, sich über ihn beugend. Du wirst auch so nicht warm werden. Soll ich dir nicht eine Wärmflasche besorgen?“
„Wird schon besorgt,“ murmelte er, ohne die Augen zu öffnen; die zitternden bleichen Lippen verziehend; „denkst du, ich warte auf deine Erlaubnis.“
„So, das ist ja gut,“ sagte sie ernst.“ Aber wir können noch etwas über dich decken.“ Schnell holte sie von der Chaiselongue in ihrem Ankleidezimmer die große hellgraue russische Pelzdecke und breitete sie sorglich über den Kranken, hüllte ihm die Schultern damit ein, schob sie ihm unter das Genick. Er ließ sie wortlos gewähren, schmiegte nur schauernd das Gesicht in das warmem flockige Fell.
Überraschend geschwind kam August zurück. Er
[790] hatte, umsichtig wie immer, von Hannas Zimmer aus durch das Haustelephon in der Küche die Zubereitung der Wärmflasche bestellt und sie schon im Aufzug vorgefunden, als er aus dem Anrichteraum, wo er den beiden Mädchen Anweisungen gegeben hatte, in den oberen Stock zurückgekehrt war.
„Die Herrschaften essen?“ fragte Hanna ihn leise, nachdem er seinen Herrn besorgt hatte.
„Die Herrschaften essen und sind sehr munter. Auf halb Fünf haben Frau Bankdirektor den Wagen bestellt, um Besorgungen zu machen. Auf Sechs den Thee. Wegen dem Theater lassen Frau Bankdirektor fragen, ob die gnädige Frau – –“
„Selbstverständlich bleibe ich zu Hause. Ich lasse die Herrschaften bitten, sich heute gar nicht um mich zu kümmern. Vielleicht ist der Herr morgen wieder gesund.“
Ein dumpfer Laut des Kranken rief sie an sein Bett.
„Quatsche nicht so endlos. Schick’ den Kerl raus.“
„Er ist schon fort“ beruhigte Hanna mit einem Wink nach dem Diener, der im nächsten Augenblick die Thür von draußen schloß.
„Das fehlte gerade noch, daß du dich amüsieren gingest, während ich hier krank liege,“ fuhr Ludwig fort. Er hatte die Augen geöffnet, in dem ungewohnt bleichen Gesicht glühten sie tiefer als sonst. Böse sah er sie an.
„Eben, das find' ich auch,“ entgegnete Hanna ruhig, mit einem leichten Lächeln. „Selmas Anfrage ist ziemlich naiv.“
„Naiv!“ er ruckte ungeduldig mit dem Kopf. „Ich hätte nur nicht dabei gewesen sein sollen als sie anfragen ließ – – rutsch, hättest du dich gedrückt, aber schleunigst, auf französisch. Kenn’ euch doch, ihr Weiber, vergnügungssüchtige.“
„Reg’ dich nicht auf, Ludwig,“ bat Hanna, sich über ihn beugend.
„Ich rege mich nicht auf. Du regst mich auf.“
„So soll ich dich lieber allein lassen?“
„Nein, hier bleibst du und widersprichst mir nicht in einem fort. – Setz’ dich, steh’ nicht so über mir wie eine Gewitterwolke, das ängstigt mich. Nicht da auf den Stuhl, da kann ich dich nicht ordentlich sehen. Hierher, auf den Bettrand.“
Mit unklarer, wankender Stimme hatte er immer schneller gesprochen. Jetzt drückte er das Gesicht wieder in die Kissen. „Verfluchte Welt!“ stöhnte er.
Der Frost schien überstanden zu sein, das schüttelnde Zittern wenigstens ließ nach, hörte endlich ganz auf. Eine Weile blieb es still im Zimmer, bis auf die tiefen, lauten Atemzüge des Kranken.
„Wie fühlst du dich?“ fragte Hanna ängstlich nach dieser langen Pause, mit einem Blick in sein Gesicht, das unruhig, gequält aussah, bleich, aber nicht mehr von der ersten, grünlichen Blässe.
„Scheußlich. Gemein Zerschlagen. Als wenn ich vom Kirchturm heruntergefallen wäre und mir alle Glieder gebrochen hätte.“
„Aber das Frieren ist doch vorbei?“
„Natürlich ist es vorbei. Das siehst du doch. Warm wird mir jetzt. Geradezu heiß. Nimm das glühende Scheusal da heraus, man verbrennt sich ja daran. Vor die Thür damit, ich will es nicht mehr im Zimmer haben, es glüht mich von da drüben her noch an! Setz’ dich wieder. Sachte! Wenn das Bett sich rührt, spür’ ich es in allen Gelenken. Was drückt mich da im Rücken? Teufel, ich kann ja kaum die Arme heben. Deine verdammte Pelzdecke ist es. Einen förmlichen dicken Klumpen hast du da hingestopft. Ungeschickt!“
„Wart’, wart’, ich mach' es besser; lieg' still, ich schiebe sie dir ganz sacht darunter. So?“
„Nichts! Nimm sie ganz weg, sie ist zu schwer, sie liegt mir ja wie ein Berg auf der Brust. Ueberhaupt Pelz, dies Gefühl auf der Haut! Brand!“
Als Meinhardt kam, war das Fieber schon sehr stark. Das Thermometer zeigte 39 und 8. Die Untersuchung dauerte nicht lange.
„Influenza, und zwar gehörig,“ sagte der alte Herr nachdem er sich mit Hanna in das anstoßende Zimmer zurückgezogen hatte. „Gliederweh und Kopfschmerz werden noch zunehmen. Wir wollen ihm Antipyrin geben.“
„Er klagt doch auch über Schmerzen in der Brust“
„Was er so nennt, ist vorläufig nur die starke Empfindlichkeit am Schwertfortsatz, eines der entscheidenden Merkmale der Influenza. Auch das wird das Antipyrin hoffentlich mildern. Leider darf ich die Dosis seiner dummen Herzgeschichte wegen nicht so kräftig geben, wie ich möchte.“
„Er leidet sehr, nicht wahr? Hören Sie, wie er stöhnt!“
„Er leidet, ja und ganz tüchtig. Stöhnen thun wir Männer nun zwar bald, eher als ihr zarten Frauen. Aber immerhin – die Influenza ist wirklich ein niederträchtiger Tückebold, packt an allen Enden zugleich an.“
„Ist Ludwigs Zustand gefährlich, Doktor? „Für den Augenblick nicht. Aber freilich auch nicht gleichgültig. Sehr quälend und unangenehm ist er jedenfalls. Das starke Fieber und die dazugehörigen Teufeleien werfen sich auf so eine Kraftnatur mit besonderer Vehemenz. Für die nächsten Tage wappnen Sie sich nur mit Geduld, meine liebe, gnädige Frau.“
„An meiner Geduld soll es schon nicht fehlen. Wenn ich nur nicht auch gleichzeitig noch das ganze Haus voll Besuch hätte. Vor acht Tagen erst sind sie gekommen – unsere Breslauer – und sechs Wochen ungefähr wollten sie bleiben.“
„Das ist fatal. Sie müssen sie hinausgraulen!“
„Wie kann ich das?“
„Einfach. Sie erzählen ihnen, daß Ihr Mann Influenza hat – und Sie werden sehen, wie geschwind die Leutchen Fersengeld geben.“
„Das bezweifle ich. Die Schwester wird den Bruder pflegen helfen wollen. Sie hat zwar erst gespottet, daß er sich anstelle, aber wenn sie hört, daß es ernst ist –“
„Macht sie sich mit Kind und Kegel aus dem Staube, verlassen Sie sich darauf.“
„Nicht so fest, lieber Doktor. Selma hat den Bruder gern, wenn sie sich auch oft streiten, das liegt so in der Natur der Thomasse. Ich werde noch Not haben, meinen Platz zu behaupten.“
„Warten wir es nur ab. – Ich komme abends natürlich noch heran. Jetzt haben wir – wieviel? – gleich Sechs. Um Sieben Temperatur messen, ja? Antipyrin also vorläufig ein Gramm. Machen Sie ihm kalte Kompressen auf die Stirn. Verträgt er einen Eisbeutel – geben Sie ihn ihm. Hat er Durst – leichte Citronenlimonade. Essen wird er nicht wollen. Nun sag' ich ihm Adieu, er möchte es übelnehmen, wenn ich hinten herum davonginge.“
Meinhardts Prophezeiung traf pünktlich ein.
„Influenza?“ rief Frau Selma erschrocken, als Hanna mit dieser Botschaft das Plaudergeschwirr am Theetisch unterbrach. Das junge Volk – es waren noch zwei Freundinnen da – flog auf wie ein Schwarm Tauben.
„Schlimm?“ fragte die Mama, indem sie sich gleichfalls erhob.
„Schlimm genug, denn er hat böse Schmerzen, der Arme, und sehr hohes Fieber.“
„Und du kommst direkt von ihm? Hierher? Aber Hanna!“
„Ja, wie denn sonst? Ich gehe auch gleich wieder hinaus. Ich wollte euch nur selber sagen, wie es steht.
„Aber Hanna! Wie kannst du uns alle so der Gefahr der Ansteckung aussetzen! Das ist wirklich nicht sehr rücksichtsvoll. Und nach einem Blick in Hannas Augen, die mit unbehaglicher Hellsichtigkeit auf ihr ruhten, fügte sie hastig hinzu. „Mir, als Familienmutter, darfst du diese Besorgnis nicht übelnehmen –“
„Die Influenza soll hier gerade jetzt recht bösartig auftreten, mischte sich Männe in das Gespräch.
„Hat es den Onkel arg erwischt?“ fragte Evchen vom andern Ende des Zimmers her.
„Es ist ein sehr heftiger Anfall.“
Langsam ging Hanna der Thür zu, durch die sie hereingekommen war. Und nach ihrer Schwägerin zurückgewendet. „Ludwig hat nach dir gefragt, aber ich halte es für besser, wenn du dich ganz fern von ihm hältst.“
[791] „Aber selbstverständlich!“ Frau Eggebrecht machte eine erschrocken abwehrende Bewegung.
Linchen hatte indessen eifrig mit Männe geflüstert.
„Was uns beide betrifft,“ sagte sie nun hastig, „wir wandern aus. Ich fürchte mich entsetzlich vor Ansteckung. Ich könnte die ganze Nacht kein Auge zuthun. Ich würde sicher krank, wenn ich hier im Hause bliebe, und dazu bin ich denn doch nicht hergekommen. Thu du, was du verantworten kannst, Mama, – ich ziehe mit Männe in das Palasthotel.“
„O Gott, Mama,“ sagte Evchen weinerlich. „Und wenn ich es nun kriege!“
Frau Eggebrecht gab sich einen kleinen Ruck.
„Du siehst, liebe Hanna“, sagte sie in einem Ton, der aus Verlegenheit und Würde gemischt war, „ich bin in diesem Augenblick nicht mein eigener Herr. Wäre ich allein hier, so hielte mich nichts zurück, mich in die Pflege des Bruders mit dir zu teilen. Als Mutter habe ich andere Pflichten. Und schließlich – wenn ich mir es recht überlege, so thun wir dir eigentlich nur einen Gefallen, wenn wir dich vorläufig von unserer Gegenwart befreien – –“
„Wenn ich ehrlich sein soll, ja,“ sagte Hanna mit einem Lächeln, das Evchen noch nachträglich als frivol und herzlos erklärte. „Ich könnte in den nächsten Tagen nur eine sehr schlechte Wirtin sein und müßte eure Verpflegung ganz dem Wohlwollen der Dienstleute überlassen. So wäre es also schon besser für alle Teile, wenn wir uns erst nach Ludwigs Genesung wieder vereinigten.“
Noch bevor Meinhardt abends zum zweitenmal erschienen war, hatte die Einquartierung mit Sack und Pack die Festung geräumt.
Vom Theater aus siedelten die Herrschaften gleich ins Palasthotel über, von wo aus man sich ja so und so oft am Tage telephonisch unterhalten konnte. Das war eine große Beruhigung für Frau Selma, die sich ja „natürlich“ nur der Kinder wegen zu dieser Fahnenflucht entschlossen hatte. So wie sie am andern Morgen nur die Augen offen habe, werde sie anklingeln.
Daß dies erst gegen Mittag geschah, war Schuld der Migräne, die sie der Sorge um den Bruder verdankte und die ihnen zum Schrecken aller zuerst als die schon vollzogene Ansteckung erschienen war. Zum Glück hatte sich diese Befürchtung als grundlos erwiesen, und nach einem Dutzend Austern und einigen Gläsern Sekt – –
August, der am Telephon stand, grinste lautlos. „Das wird die gnädige Frau sehr beruhigen. Gnädige Frau lassen sich bei Frau Bankdirektor entschuldigen, daß sie nicht selbst an den Apparat kommen, aber gnädige Frau können den Herrn nicht allein lassen – jawohl – – die Nacht war sehr unruhig – – nein, gnädige Frau sind überhaupt nicht zu Bett gegangen – – der Herr fühlt sich sehr schlecht – – große Schmerzen, ja – – der Sanitätsrat sind sehr besorgt wegen der Lungenentzündung, das Fieber will nicht nachlassen, und die Medizin verträgt der Herr nicht – – jawohl, gestern abend noch einmal, und heute ganz früh, und in einer halben Stunde werden Herr Sanitätsrat wieder erwartet – – gewiß, gnädige Frau wird sofort wieder melden lassen.“ – „Besten Dank.“ „Bitte sehr.“
Wahres Glück, daß dir deine Austern doch geschmeckt haben, brummte August vor ich hin, indem er abläutete und den Hörer anhängte.
Mit seinen langen, leisen Zweistufenschritten begab er sich dann wieder hinauf, um neben dem Krankenzimmer für jeden Ruf bereit zu sein. Thomas duldete ihn nur widerwillig in seiner Nähe, er wollte niemand als seine Frau um sich haben.
Jetzt lag er mit zurückgeworfenem Kopf und halbgeöffnetem Mund in einem leichten Fieberschlummer, dem ersten seit Ausbruch der Krankheit, also seit beinahe vierundzwanzig Stunden. Zum erstenmal auch hatte sich Hanna ordentlich neben ihm niedersetzen können, um auszuruhen. Sie war bis dahin nicht von ihrem angewiesenen Posten auf seinem Bettrand gewichen. Nun schmiegte sie den müden, schmerzenden Rücken an die Sessellehne. Leise wagte sich der verscheuchte Schlaf aus dem Winkel und breitete lächelnd seine Schwingen auch über ihre wachsamen Augen. Die Lider wurden ihr immer schwerer, der Kopf sank zur Seite. Wie durch einen Nebel sah sie Ludwigs entstelltes, gequältes Fiebergesicht, seine machtlos ausgestreckte, von einem unsichtbaren Feind gefällte Kraftgestalt, hörte sein hastiges, lautes Atmen. Sie wußte noch: Er schläft, das wird ihm gut thun nach dieser entsetzlichen Nacht, nach dieser Ruhelosigkeit, diesen Schmerzen. Wenn er aufwacht, wird ihm besser zu Mut sein.
Dann schlief sie schon selbst. Traumlos, bleiern, erschöpft, nur zu leicht erschöpfbar.
Stimmengeräusch weckte sie, sie zuckte zusammen und richtete sich auf. Niemand war da. Der Kranke lag unverändert, aber mit einem neuen, fremden Ausdruck von Angst in den Zügen. Die geschlossenen Augenlider zuckten. Hatte er im Schlaf gesprochen? nach ihr gerufen?
Ganz plötzlich überkam sie ein schauerliches, eiskaltes Furchtgefühl, als ob jemand hier im Zimmer gewesen wäre, derweil sie geschlafen hatte, und etwas Böses, Feindliches gethan hätte. Jemand – – wer denn? Das Märchen von Andersen fiel ihr ein, das von der „Geschichte einer Mutter,“ wie sie da am Bett ihres kranken Kindes sitzt und von Müdigkeit überwältigt einschläft und der Tod hereinkommt und das Kind mitnimmt in das unbekannte Land – –
Sie strich mit der zitternden Hand über die Stirn. Wenn ihr am ersten Tage der Krankheit ihre Nerven schon solche Streiche spielten, wie sollte das dann im Verlauf noch werden? Sie mußte sich unbedingt zusammennehmen. Nur das Frösteln nach diesem kurzen Erschöpfungsschlaf, aus dem sie aufgefahren war, hatte ihr das peinliche Schreckgefühl verursacht. Weiter war es nichts. Und Ludwig hatte im Traum gesprochen. Jetzt bewegte er wieder die Lippen, flüsterte, murmelte unverständliche Worte. Schwerfällig hob sich die eine Hand und griff tastend um sich her. Hanna erfaßte sie, sofort schlossen sich die glühenden Finger wie Klammern um die ihren und blieben dann auf der Bettdecke ruhen, als ob sie gefunden hätten, was sie suchten. Auch das Flüstern und Murmeln hörte auf. Lauter, hastiger und angstvoller klangen dafür die kurzen Atemzüge.
Nach einem Weilchen öffnete er plötzlich die Augen.
„Du –“ sagte er rauh, geradeaus ins Leere starrend.
„Hier bin ich.“ Hanna rührte sacht ihre in seiner Hand gefangenen Finger, sie beugte sich auch vor, damit er sie sehen könne.
„Hat der Schlaf dir gut gethan?“
„Was denn?“ Er wandte langsam den Kopf zu ihr. Das Atmen schien ihm Mühe zu machen, mehr als vorher, er sprach in kurzen Absätzen. „Ich habe ja – gar nicht geschlafen.“
„Nicht? Ich dachte,“ sagte sie nachgiebig. „Du lagst so schön ruhig, und hattest die Augen zu.“
„Ich – dämmerte nur. – Hab’ alles gehört.“
Hanna lächelte. „Viel Lärm kann ich nicht gemacht haben. Ich war nämlich selbst ein bißchen eingenickt.“
„Also – wie kannst du behaupten – daß ich – geschlafen hätte?“
„Es schien mir so, und weil es mir so schien, machte ich auch die Augen zu. Aber sprich lieber nicht, es strengt dich an. Trink’ lieber einen Schluck. Der Mund ist dir gewiß trocken. Komm’.“
Von ihr unterstützt, richtete er sich mühsam auf. Sie hielt ihm das Glas an die Lippen, das er gierig leerte. Stöhnend preßte er dann die Faust an die Seite.
„Schmerzen – hab' ich hier! – Jeder Atemzug ist – Qual – Zu wenig Luft überhaupt – –“
Hanna schlang den Arm um seinen Nacken und ließ ihn, dicht neben ihm auf den Bettrand sitzend, sich an sie lehnen. Sie fühlte seine brennende Stirn an ihrer Wange; von seinem stoßweisen Atmen wurde ihr Körper leise mitbewegt.
„So ganz aufrecht ist dir leichter, nicht?“ sagte sie sanft, seine Hand streichelnd und die geballten Finger langsam [792] lösend. In ihrem Herzen war jetzt nur eine Empfindung: großes Mitleid. Er war sehr krank. Das mütterliche Gefühl der Pflegerin dem Schwachen gegenüber hüllte alle Scheu in weiche Schleier.
„Nach was siehst du so aufmerksam?“ fragte sie, weil er den Kopf zur Seite niederbeugte.
Als er ihre weichen kühlen Finger mit dieser liebkosenden Bewegung auf seiner Faust gespürt hatte, war er leicht zusammengezuckt. Auf ihre Frage antwortete er nicht. Er betrachtete nur unverwandt die beiden ungleichen Hände, die große bräunliche, die sich von der kleinen, zartweißen streicheln, glätten, bändigen, ausstrecken ließ.
„Merkwürdig,“ murmelte er endlich.
„Was ist merkwürdig?“ fragte Hanna.
Der Blick, mit dem er jetzt die fieberisch glühenden Augen zu ihr erhob, machte sie tief betroffen. Es war etwas Schmerzliches darin, aber ein Schmerz ohne Zorn, wie sie ihn noch nie in ihnen gesehen hatte.
„Wenn du das – heute kannst – –“ stieß er abgebrochen heraus, „warum – hast du's denn – nicht schon früher – gethan?“
Hanna konnte nicht antworten. Von heißer Röte übergossen saß sie da, wie gebannt durch die seltsame Trauer in diesem wohlbekannten und doch plötzlich so fremden Gesicht. Der Schauder des Widerwillens, mit dem seine körperliche Nähe sie bisher stets erschreckt hatte, war in diesem Augenblick verschwunden, geschmolzen unter dem Strom brennenden Mitleids, das ihre Seele ganz erfüllte. Jählings aufschießende Reue über doch Versäumtes, Unversuchtes machte sie zittern, ließ sie vergessen, was ihr an Unbill widerfahren war.
Sie neigte sich und küßte ihn auf den Mund.
Er schloß die Augen und lag ganz still – ohne daß er den Kuß erwidert hatte. Nur seine Hand schlang sich fest um die ihre. Sie fühlte den jagenden Puls darin. Nach einer Weile bewegte er leise den Kopf.
„Der erste,“ hauchte er.
Er schlug die Augen wieder auf, doch nicht zu ihr, mit demselben fremdartig traurigen Ausdruck, der sie schon so erschüttert hatte, sah er geradeaus zur Decke hinauf.
Sie drückte seine Hand fester, hob sie auf und schmiegte sie an ihre Wange. Er atmete ein paarmal mühsam. „Nie hast du mich von – selbst geküßt – bis heute –“
„Verzeih’ mir,“ bat sie mit kaum mehr beherrschter Stimme, heiße Thränen liefen ihr über das Gesicht. Sie küßte ihn rasch zweimal, dreimal auf die fieberglühenden, trocknen Lippen. Nun lächelte er sie an, aber auch in seinem Lächeln war ein fremder Zug.
„Thut dir leid, was? – Mir auch. –“ Er hustete einigemal kurz auf. – „Uebrigens anständig – von dir“, fuhr er heiser und gequält fort, „hast keine Angst vor … Ansteckung?“
„Ich fürchte mich vor nichts, Ludwig. Aber sprich nicht mehr, es thut dir Schaden.“
Er schüttelte den Kopf.
„Sollte dich – eigentlich – totküssen und mitnehmen. – Wäre mir – schon das – –“
Ein neuer Hustenanfall, trocken, hart, deckend, anhaltender als vorher, jagte ihm das Wort vom Munde weg. Ganz aufgerichtet, nach Luft ringend, die Brust von Schmerzen zerrissen, saß er in seinem Bett.
Meinhardt trat herein, er hatte nicht erst geklopft. Mit Hanna, die den Kranken im Rücken unterstützte, tauschte er einen ernsten Blick.
„Na, na,“ sagte er, als der Husten endlich schwieg und Ludwig ächzend zurücksank, „das klingt ja unliebenswürdig. Gut, daß wir es mit so einem famosen Brustkasten zu thun haben. Der hält schon gegen. Was sagt denn der Puls?- -- Hm. Ja. – Gemessen haben Sie wohl schon?“
„Gerade bevor er einschlief. Er hat übrigens kaum eine halbe Stunde geschlummert. 39 und 4. Schon wieder viel höher als morgens früh.“
„Dazu hat das Fieber heute noch das gute Recht. Haben Sie Phenacetin gegeben?“
„Er verträgt es ebensowenig wie das Antipyrin, lieber Doktor. Was thut man da nur?“
Ludwig machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. Hanna bemerkte es. „Was willst du?“ fragte sie. freundlich, sich über ihn beugend. „Du meinst, es ist dir widerlich?“
Er nickte. „Quacksalbereien“, brachte er mühsam heraus. „Nehme nichts mehr – machen Einem bloß übel“
Der Sanitätsrat, der den Eigensinn seines Patienten kannte, runzelte die Stirne.
„Es wäre mir lieb, wenn Sie doch noch einen Versuch machten. Vielleicht überlegen Sie sich es bis zum Abend. Ihre Temperatur herabzusetzen ist sehr nötig. Schmerzen werden Sie auch genug haben. Jetzt wollen wir Sie abhorchen. und dann eine Einwicklung machen.“
(Fortsetzung folgt.)
Marthas Briefe an Maria.
(3. Fortsetzung)
- 19. Dez. Schönes stilles Schneetreiben vor meinem Fenster. Der Gatte sitzt in seinem Arbeitszimmer über einer wissenschaftlichen Abhandlung für ein medizinisches Journal. Mir ist immer wohl in seiner Nähe, auch wenn die Thür zwischen uns geschlossen ist. Dein lieber Brief liegt auf meinem Schreibtisch vor mir, was könnte mir noch zum inneren Frieden fehlen?
Und so ergreife ich mit Vergnügen die Feder, um Dir zu berichten, daß ich die letzte Zeit in glücklicherer Stimmung zugebracht habe, als ich mich seit lange entsinnen kann.
Zuerst aber zu Deiner Frage, ob ich nie daran gedacht habe, zu „schreiben“, zu schriftstellern, wie es heutzutage tausend Frauen und unvermählten Fräuleins ein Trost in ihrer Einsamkeit und eine oft reiche Erwerbsquelle geworden ist.
Ja, Liebste, ich habe daran gedacht, in meinem dritten Ballwinter, als ich die Gespräche meiner Tänzer nachgerade auswendig wußte und der Duft der Cotillonsträußchen mir herzlich fade vorkam. Es ging mir freilich nicht viel anders mit den Novellen aus weiblicher Feder, die ich in Feuilletons und Wochenschriften hie und da gelesen hatte. Das könntest Du allenfalls auch, sagte ich mir. Das Rezept ist so einfach – nimm einen reizenden jungen Maler – oder Lieutenant, oder Ingenieur, oder Referendar –, ein „entzückendes“ junges Mädchen – Tochter eines hohen Beamten, Generals, Millionärs, Konsistorialrates – laß sie zwei Stunden miteinander zusammen sein, – auf einem Ball, einem ländlichen Fest, in einem Badeort, und über Ibsen, Nietzsche, Richard Wagner naive Gespräche führen, die sie für geistreich halten, – die Herzen finden sich, die Eltern aber sind grausam, ein widerwärtiger alter Bewerber erscheint auf der Bildfläche, Thränen, Verzweiflung – vielleicht ein Entführungsversuch, den der fatale alte Spekulant, dem es nur um die reiche Mitgift zu thun ist, vereitelt, tiefstes Unglück des edlen Liebenden, er fordert den Nebenbuhler, aber ehe es zum Schießen kommt, legt sich der Zufall, der Gott der Liebenden ins Mittel, entlarvt den alten Sünder und macht das junge Paar glücklich.
Diese allbekannten Elemente der landläufigen Frauenzimmerromane lassen sich leicht durch kleine Vertauschungen und Verschiebungen so unendlich variieren, wie man die Kunst erfunden hat, mit Würfeln Sonette anzufertigen. Und da es immer ein großes Publikum giebt, das dergleichen zusammengewürfelte
[793][794] „spannende Geschichten“ mit herzklopfendem Interesse verschlingt, ist es kein Wunder, daß selbst begabte Frauen, die anfangs ein inneres Bedürfnis zum Fabulieren fühlten, so lange sie aus ihrem eigenen Leben den Stoff zu ihren Erzählungen nehmen konnten, die Sache mit der Zeit fabrikmäßig betreiben, da sie ihre Rechnung dabei finden.[1]
Auch ich, so alltäglich mein äußeres Leben verlaufen war, hatte ja allerlei innere Kämpfe durchgemacht und fühlte mich berufen, der Welt „zu sagen, was ich leide“. Hatte ich doch auch im deutschen Aufsatz immer die beste Censur bekommen. Schreiben können wir ja fast alle, wenn wir auch nicht ordentlich lesen lernen, da zu dieser Kunst die Uebung im Denken gehört. Und so setzte ich mich eines Morgens nach einer besonders langweiligen Soiree wohlgemut hin und fing meine erste Novelle an. Keine in dem gewöhnlichen Stil, sondern eine satirisch-humoristische, von der ich nur noch so viel weiß, daß ihre Heldin ein tapferes junges Mädchen war, die ihr Lehrerinnenexamen machen wollte und einer „berückenden“, eitlen und ganz unbedeutenden Bankierstochter das Herz ihres Verlobten abtrünnig machte. Bis dann schließlich Buridans Esel, zwischen die zwei Heubündel gestellt, das größere und nahrhaftere vorzog, ohne daß der armen Verschmähten das Herz darum brach. Eine hübsche kleine Galerie von Karikaturen, zu denen meine Tänzer die Modelle geliefert hatten, bildete den Hintergrund.
Ich war sehr zufrieden mit diesem Erstling meiner litterarischen Thätigkeit und sandte das Manuskript an die Redaktion eines weitverbreiteten Journals.
In den sechs Wochen, bis der Bescheid eintraf, entwarf ich im Kopf schon den Plan einer zweiten „Lebensstudie“, wie ich meine novellistischen Exerzitien bescheidentlich nannte, und sah mich dabei in anderer Frauenlitteratur um, da man doch gut thut, sich über die „Technik“ bei bewährten Meistern zu unterrichten. Ein glücklicher Zufall führte mir zwei Bücher der Ebner-Eschenbach in die Hand, „Bozena“ und „Das Gemeindekind.“
Als ich diese beiden Meisterwerke gelesen hatte, mit heißen Wangen und in fieberhafter Weltentrücktheit, und nun an meine eigene Schreiberei dachte, war mir zu Mut, wie wenn ich mit Juwelen behangen in eine Gesellschaft getreten wäre und ein guter Freund käme auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: Wie können Sie sich in solchem Putz hier sehen lassen und sollten doch wissen, daß die Steine Straß und das Gold Talmi ist!
Da kam denn auch mein Opus zurück. Ich dachte, in dem begleitenden Brief werde ungefähr dasselbe stehen. Der Schreiber schien aber keine Ahnung gehabt zu haben, daß der Schmuck nicht echt war. Er lobte vielmehr Stil und Charakterzeichnung und bedauerte nur, daß „die Tendenz nicht in den Rahmen ihrer Zeitschrift passe“, bat aber um fernere Zusendungen.
Ich war froh, an der Schwelle abgewiesen zu sein, ehe ich mich öffentlich meiner Thorheit zu schämen gehabt hätte. Das Manuskript wanderte in den Ofen. Ich war für alle Zeit von dem Wahn, der Kranz des Dichters lasse sich „im Spazierengehn“ erringen, geheilt.
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Der letzte Brief ist unterbrochen worden, ich habe ihn abgeschickt, ohne ihn noch einmal durchzulesen. Weihnachten ist vor der Thür, es giebt viel zu thun für unseren Heiligabend, da ich meinem lieben Mann doch allerlei selbstverfaßte Ueberraschungen zugedacht habe (keine langwierigen Stickereien, die mir nie gelingen wollten, mein bißchen Malkunst mußte herhalten für ein kleines Frühstücksservice, da diese Morgenstunde die einzige gemeinsame ist, auf die ich sicher rechnen kann).
Und dann, wir haben noch einen Weihnachtsgast geladen, einen neugewonnenen Hausfreund, von dem ich Dir schon längst hätte erzählen sollen.
Ein junger Russe, Dimitri von L., der mit zweiundzwanzig Jahren sich in Berlin den Doktorhut aufgesetzt hat, nach so eifrigen Studien – Philosophie und Naturwissenschaften – daß seine Gesundheit schwer darunter leiden mußte.
Denk’ nur, wie seltsam sich das gefügt hat! Er war an jenem Abend, als ich meinen Mann kennenlernte, mit unter den Zuhörern und empfing gleich mir einen so tiefen Eindruck von seinem Geist und Charakter, daß er, als die Nervenkrankheit bei ihm ausbrach, zu keinem der berühmten Berliner Aerzte ging, sondern hieher reiste, meinen Mann zu konsultieren, Da er sehr reich, verwöhnt, von früh an sein eigener Herr war und an jener Willensschwäche leidet, die mehr oder weniger allen Slaven im Blute liegt, fühlte er, daß er einer strengen Zucht bedurfte, wenn er genesen sollte, und daß er niemand williger unbedingt gehorchen würde, als diesem zur Zeit noch unberühmten Distrikts- und Armenarzt in unserer bayrischen Provinzstadt.
Seit vier Monaten ist er nun hier und hat sich als der fügsamste, geduldigste Patient erwiesen, wofür denn auch der Lohn nicht ausgeblieben ist. Denn die schlimmsten Symptome seiner Neurasthenie sind schon im Schwinden begriffen, die Nervenschmerzen in den Extremitäten haben fast gänzlich aufgehört, seine Melancholie hellt sich zusehends auf, und die körperlichen Uebungen, die mein Mann ihm vorgeschrieben hat, ermüden ihn so wohlthätig, daß er auch die Enthaltung von geistiger Arbeit, die ihm anfangs eine Qual war, kaum noch dumpf empfindet.
Nun ist es rührend, mit anzusehen wie dankbar er zu seinem „Retter“ hinaufblickt. Wenn er mit ihm zusammen ist – er ist unser regelmäßiger Tischgast an den Sonntagen, und meine anfängliche Sorge, ob diesem Sybariten meine einfache Küche genügen möchte, ist längst geschwunden, er hat eine reizende Art, jedes Gericht, das „Matuschka Meta“ ihm vorsetzt, zu loben – dann erscheint sein sehr bleiches Gesicht, das mit dem langen, tiefschwarzen Bart an den slavischen Christus-Typus erinnert, so harmlos fröhlich wie das eines wohlerzogenen Knaben, der bei guten Leuten zum Essen eingeladen ist.
Kommt dann ein wissenschaftliches Thema aufs Tapet, so leuchten ihm freilich die Augen wie die eines geistvollen reifen Mannes. Aber ich brauche nur, als seine Pflegemama, den Finger aufzuheben, um ihn vor allzu angestrengtem Denken zu warnen, so wird er wieder zum heiteren jungen Menschen, der uns mit Erzählungen aus seiner Heimat und Jugend unterhält, mit unserem Kätzchen spielt und mit drolliger Schüchternheit fragt, ob er von einer Schüssel, die ihm besonders schmeckt, wohl noch zum drittenmal nehmen dürfe.
Daß er an unserer Kathi eine Eroberung gemacht hat, ist hiernach kein Wunder. Aber auch mein Mann schätzt ihn sehr, hat eine hohe Meinung von seiner philosophischen Begabung und seinen Kenntnissen in Physik und Physiologie und freut sich immer, wenn er in unser kleines „Salönchen“ eintritt und fragt, ob er zum Thee dableiben dürfe.
Mir ist er lieb geworden, schon weil er meinen Hellmuth so innig verehrt. Ich werde, wenn im Frühling seine Kur beendet ist und er nach Petersburg zurückkehrt, die Lücke sehr empfinden. Zumal er in der letzten Zeit – seit etwa sechs Wochen – sich um meine eigene Bildung ein Verdienst erwirbt, das ich ihm ewig danken werde.
Davon aber im nächsten Brief. Ich will mich nicht wieder verführen lassen, doppeltes Porto zu bezahlen und Dich Wehrlose mit sechzehn Seiten zu überrumpeln.
Du Glückliche, daß Du für drei liebe Buben den Weihnachtsbaum zu rüsten hast! Ein Mistelzweiglein mußt Du mir durchaus in Deinen nächsten Brief einlegen.
Am heil. Dreikönigstag.
Ich feiere diesen katholischen Festtag, da ich in Bayern lebe und einen Katholiken zum Mann habe – er läßt mich übrigens, so viel ich noch Protestantin bin, gewähren, da er selbst sich mit seinem Gott außer der Kirche zurechtfindet. Heute mittag aber haben wir drei (Dimitri war mit uns) die traditionelle Torte mit der Bohne gegessen, Dimitri ist Bohnenkönig geworden
[795] und hat sich außer seiner Königin mit einem einzigen Unterthan begnügen müssen.
Nun komme ich auf eine Plauderstunde zu Dir, liebstes Herz, die Männer sind spazieren gegangen, Kathi hat ihren Ausgang, ich und das Miezchen hüten das Haus. Draußen eine so stille, klare Wintersonne, wie es in mir still und klar aussieht nur um viele Grade wärmer. Und in der Ecke des Wohnzimmers, wo mein Schreibtisch steht, sieht's aus wie in einer tropischen Gartenlaube, zwei schöne Palmen, herrliche Orchideen, dazwischen duftet ein Rosenstrauch mit vielen halbaufgeschlossenen Blüten – Maréchal Niel!
Du hast mich wohl nicht im Verdacht, daß ich mir diesen Luxus von erspartem Wirtschaftsgelde angeschafft habe oder daß Hellmuth so unvernünftig gewesen sei, mir eine so ausschweifende Weihnachtsbescherung zu machen. Die ganze Herrlichkeit kommt von Dimitri. Wir hatten ihn, als wir ihn zum Heiligabend einluden, geloben lassen, daß er uns nicht beschenken wolle. Eine Blume wird aber doch erlaubt sein, Matuschka? hatte er errötend gefragt. Das konnten wir ihm nicht abschlagen, und so hat er die Erlaubnis mißbraucht. Ich war ernstlich böse. Aber da ich seine kindliche Freude sah, meinen kahlen Arbeitswinkel so herrlich geschmückt zu sehen, mußte ich wohl Gnade für Recht ergehen lassen.
Diese Russen sind geborene Verschwender, mit ihrer Gesundheit wie mit ihrem Gelde. Denk' nur, der Kathi hat er zu Weihnachten eine goldene Uhr geschenkt. Das gute Tier hat vor Freude fast den Verstand verloren, zumal sie heimlich in den Geber verliebt ist, seit er ihre Dampfnudeln für die Blüte der Kochkunst erklärt hat.
Nun aber muß ich Dir doch endlich erzählen, wieso ich diesem guten, kindlich harmlosen Menschen in einer sehr ernsten Sache ewigen Dank schuldig geworden bin.
Es war im November, an einem sehr melancholischen Regentage. Mein Mann war über Land gerufen worden, ich hatte noch stundenlang auf ihn zu warten. Um der grauen Oede in mir und um mich zu entfliehen, nahm ich ein Buch aus seiner Bibliothek, dessen Titel mich schon lange reizte, obwohl Hellmuth mir gesagt hatte, es sei griechisch oder böhmisch für mich – „Kants Kritik der reinen Vernunft“. Also uns Frauen traut man das Verständnis für „rein Vernünftiges“ nicht zu! dacht’ ich in meinem gekränkten Selbstgefühl und wollte meinen hochmütigen Herrn Gemahl damit überraschen, daß ich dies Buch zu meiner Lieblingslektüre erwählte.
Ich war aber nicht weit darin gekommen, so merkt’ ich, daß er mit seinem Abraten nur allzu sehr recht gehabt hatte. Kaum eine ferne Ahnung dämmerte mir auf, was es mit den philosophischen Kunstausdrücken a priori, synthetisch, analytisch usw. für eine Bewandtnis habe, und nachdem ich mir eine Weile vergebens den Kopf zerbrochen hatte, überkam mich ein so unselig hilfloses Gefühl, wie ein Kind, das sich in einen wilden Wald gewagt hat und, da es nicht aus noch ein weiß, sich auf einen Stein niedersetzt und zu weinen anfängt.
Da ging die Thür auf und Dimitri trat ein. Er wollte Hellmuth in einer wissenschaftlichen Frage zu Rate ziehen, denn jetzt fing er wieder an, sich leicht zu beschäftigen. Als er mich mit nassen Augen über dem Buche sitzen sah, fragte er erst scherzend, welcher Roman mich so tief gerührt habe.
Ich konnte nicht ausweichen, wollte es auch nicht. Es war mir eine zu große Wohlthat, endlich einen Menschen zu finden, dem ich meine Not klagen konnte, – da ich, wie Du weißt, meinen Mann damit verschone, – einen Menschen, der mir vielleicht helfen konnte.
Er hörte mich mit der ernstesten Teilnahme an. „Ja, Matuschka,“ sagte er endlich, „Ihr Gemahl hat recht, dies Buch wird Ihnen vielleicht für alle Zeit ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Es giebt auch unter Männern, die sonst im methodischen Denken geschult sind, nicht allzu viele, die in den Geist des Weisen von Königsberg bis zur letzten Tiefe eindringen. Aber auf dem Wege zu diesem Gipfel liegen viele Punkte, die auch für eine nachdenkliche Frau zu erklimmen sind, wenn sie ihren Geist nur beharrlich trainiert, wie es Alpenwanderer mit ihrem Körper thun müssen. Es würde mir die größte Freude sein, wenn ich Ihren Führer dabei machen dürfte – vorausgesetzt, daß Ihr Gemahl damit einverstanden ist. Denn eine so hohe Meinung er von Ihnen hat, er könnte doch auch zu den Männern gehören, die glauben, allzu angestrengtes Grübeln über die Welträtsel streife den Schmelz von einer Frauenseele.
Du begreifst, Liebste, wie mich diese Worte glückselig machten zumal ich Hellmuth kannte, daß er mir in meiner inneren Entwicklung alle Freiheit ließ. Und als er abends heimkehrte und sich an einem heißen Grog ein wenig restauriert hatte, trugen wir – ich hatte Dimitri nicht fortgelassen – ihm unseren Studienplan vor. Der Gedanke, daß ich mir ein Privatissimum über Geschichte der Philosophie lesen lassen sollte, kam ihm zuerst etwas abenteuerlich vor. Als ihm aber Dimitri auseinandergesetzt hatte, wie er es damit meine, leuchtete ihm die Sache sehr ein und er bedauerte nur, daß er selbst nie Zeit gehabt hatte, meinem „geistigen Hunger“ die rechte Nahrung zu suchen.
Freilich erfuhr er jetzt zuerst, wie lange ich schon mit Schmerzen empfunden hatte, daß auch die Frau nicht vom Brot allein lebt.
Und nun begannen gleich am folgenden Nachmittag unsere „Trainier-Uebungen und wurden ohne Unterbrechung täglich fortgesetzt. Eine neue Welt ging mir auf, als ich erfuhr, wie in den frühesten Zeiten der griechischen Welt weise Männer sich bemüht hatten, die ungeheure Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter ein Prinzip zu sammeln, einen Urquell nachzuweisen, aus dem alle Dinge durch Mischung und Sonderung sich herausgebildet hätten, wie sie damit vom rein Sinnlichen begannen, erst das Wasser, dann die Luft oder Erde und Feuer als den Urstoff der Welt bezeichnend, dann zu geistigeren Anschauungen fortschritten, Liebe und Streit, sogar die scheinbar so unsinnliche Zahl als das weltbildende Prinzip hinstellten, und so immer höher hinauf, bis zu den Ideen des Plato.
Nie im Leben habe ich eine größere innere Befriedigung gefühlt, als da mir nach und nach so viele dunkle Begriffe gelichtet wurden, ich das Erwachen des Menschengeistes aus dem anfänglichen unbeholfenen Tasten zu immer sichrerer Erkenntnis an mir selber nacherleben durfte und nun große Namen, die in der allgemeinen „Bildung“ nur Schatten geblieben waren, mit klaren Zügen leibhaftiger Verkörperung vor mich hintraten. Auch die ewigen Probleme des Weltzusammenhanges, die noch heute die scharfsinnigsten Denker beschäftigen, verloren ihr unheimliches Ansehen, da ich sie in ihrem embryonischen Beginn, dann in ihrer naiven Jugendentwicklung betrachten durfte. Ich will nicht sagen, daß ich alles sogleich begriff und nichts mißdeutete. Aber das Ringen nach Verständnis war doch nicht mehr unfruchtbar und hoffnungslos und ich durfte den herrlichen Stich der „Schule von Athen“, der über dem Arbeitstisch meines Mannes hängt, ohne allzu tiefe Beschämung bedachten, da die einzelnen Gestalten darauf nicht mehr mich an meine Unwissenheit erinnerten.
An jedem Vormittag, wenn ich mein Hauswesen besorgt hatte, arbeitete ich das Pensum schriftlich aus, das wir am Tage vorher absolviert hatten.
Der neuen Lektion ging dann die Vorlesung des „Protokolls“ voran. Dimitri hatte nur selten einen Irrtum zu berichtigen, was mich nicht wenig freute.
„Hören Sie, Frau Meta,“ sagte er neulich, „wenn wir mit dem ganzen Kursus durch sind, müssen Sie mir Ihr Heft geben. Ich redigiere es dann noch ein wenig und ergänze hie und da eine Lücke, denn ich bin der Meinung, es eigne sich dazu, gedruckt zu werden. Was Ihnen wertvoll gewesen, sollte noch so manchen Ihres Geschlechts erwünscht sein, zur ersten Einführung in ein Gebiet, das Frauen sonst verschlossen zu bleiben pflegt.
Ich stimmte ihm natürlich mit Freuden bei, nur sollte er seinen Namen dazu geben. – „Es würde dann höhere Ansprüche auf wissenschaftlichen Wert machen,“ versetzte er. „Ich dächte, wir betitelten das Büchlein ,Ein Privatissimum über Geschichte der Philosophie für Frauen, nachgeschrieben von Matuschka'. Wir lachten beide und ich sagte: „Wer weiß, ob die Studentin Ihre gute Censur auch verdient, wenn wir in die neuere Zeit gelangen, z.B. nur bis Spinoza vor dessen Philosophie ich stets, ich weiß nicht warum, eine Art Furcht gehabt habe wie vor einem bodenlosen Abgrund, da er für einen Gottlosen verschrieen wird, der selbst so klare Denker wie Lessing verführt habe.
[796]
„Sie werden sich wundern,“ erwiderte er, „wie grundlos diese Furcht gewesen sein wird, wenn Sie an diesen herrlichen Menschen näher herantreten.“
Ihre Vorstellung von ihm ist nur ein Rest Ihrer flachen, gedankenlosen Mädchenerziehung, bei der es keine sündhaftere Verirrung gab, als sich einen Gott zu denken, der nicht im Katechismus stand. Diesem edelsten aller Sterblichen kann man eher zum Vorwurf machen, daß ihm in seinem Gottesbegriff die ganze Welt verschwand. Aber von der ,intellektuellen Liebe‘ zu diesem Allgott, die in seinem einsamen Herzen glühte, wissen freilich nur wenige von denen, die täglich zu ihrem ‚lieben Gotte‘ beten.“
Verzeih, Liebste, ich habe mich fortreißen lassen, Dir beinahe selbst ein philosophisches Kollegium zu lesen. Weß das Herz – und auch der Kopf – voll ist, deß fließt die Feder über. In der nächsten Zeit werde ich Dich mehr in Ruhe lassen. Das „Heft“ nimmt den größten Teil meiner freien Zeit in Anspruch, und seit vom Herausgeben die Rede ist, muß ich mich ganz anders zusammennehmen, als da ich nur Notizen zum eigenen Repetieren machte.
Wünsche mir Glück, Liebste. Ich habe ja endlich gefunden, was mir not thut!
Und immerhin ist es für das eine versagte Glück ein Ersatz, den ich dem Himmel nicht genug danken kann.Deine M.
Am 15. Januar.
Dein Getreuer Eckartsbrief, liebste Mary, trifft soeben in meiner Arbeitsstunde bei mir ein. Ich lasse Sokrates, der mir gerade zu schaffen machte, einen Augenblick warten, um Dich über Deine schwesterliche Sorge umgehend zu beruhigen.
Nein, Liebste, Du siehst Gespenster. Wenn Du so einem Privatissimum beiwohntest, würde Dir nicht von fern der Gedanke kommen, mein eheliches Glück könne auch nur einen Augenblick dadurch gefährdet werden. Für mich ist Dimitri nur der verehrte Lehrer, der meinen Kopf beschäftigt, nicht mein Herz. Für ihn bin ich – Matuschka, sein Mütterchen, das, wenn sich’s nicht um Philosophie handelt, ihm an Autorität, Erfahrung, Lebensweisheit weit überlegen ist und überdies – die Frau seines Freundes und Lebensretters, dem sein junger Hausfreund für viele geistige und leibliche Wohlthat Dank schuldig ist. Der Hausherr selbst ist und bleibt der einzige und unumschränkte Herr und Gebieter in meinem Herzen, und zwischen mir und dem „Dritten im Bunde“ kann von einer anderen als geschwisterlichen Neigung nie die Rede sein, auch nicht von der leisesten sogenannten platonischen Liebe, höchstens von der „intellektuellen“, wie Spinoza sie verstanden hat.
So! und nun sage ich, wie Du zuweilen thatest, wenn ich Dir mit meinen Backfischsorgen in der Freiviertelstunde. den Kopf warm gemacht hatte: „Beruhige Dich!“ und fahre fort in der schwierigen Aufgabe, zu erklären, warum man sagen konnte, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückgeführt.
Farewell, dearest! Deine alte getreue M.
(Schluß folgt.)
[797]
Auf Lederstrumpfs Spuren.
Lederstrumpf! – Ich bin überzeugt, daß der bloße Klang dieses Namens bei Millionen von Deutschen den süßen Traum der Jugend, die Erinnerung an eine Zeit wachrufen wird, wo es zu ihren liebsten Beschäftigungen gehörte, mit Coopers Lederstrumpfgeschichten stundenlang in einem Winkel zu sitzen und von den Thaten „Wildtöters“ und des Häuptlings Chingachgook zu lesen. Wer hätte in jenen Jahren nicht selbst einmal „die große Schlange“ oder Uncas „den flinken Hirsch“ gespielt und dabei vergessen, die Schularbeiten zu erledigen, für welche Versäumnis anderen Tags dem „flinken Hirsch“ Arrest oder wohl gar eine gesalzene Tracht Prügel zudiktiert wurde.
Da wir Menschen uns gern an das erinnern lassen, was in den Tagen der Jugend unsere Herzen bewegte, so darf ich wohl auch hoffen, daß manche Leser der „Gartenlaube“ mir gern in jene Gegenden folgen werden, die einst der Schauplatz der Thaten Lederstrumpfs waren.
„Wie,“ so höre ich fragen, „ist denn Lederstrumpf nicht eine der Phantasie Coopers entsprungene Romanfigur, die in Wirklichkeit nie existierte?“ Ich kann diese Frage ebensowohl bejahen wie verneinen, denn Lederstrumpf ist eine erdichtete Figur, aber die sie kennzeichnenden Züge sind einer historischen Persönlichkeit entnommen. Es läßt sich nachweisen, daß James Fenimore Cooper, als er im Jahre 1822 „die Pioniere oder die Ansiedler an den Quellen des Susquehannah,“ den zuerst erschienenen Teil seiner Lederstrumpfsgeschichten, schrieb, für seinen Nathanael Bumppo eine bestimmte Persönlichkeit als Vorbild benutzte, den als Jäger und Indianerkämpfer, noch mehr aber als ersten Pionier des Staates Kentucky berühmt gewordenen Daniel Boone. Dieser um das Jahr 1735 in Pennsylvanien geborene Mann war einer der ersten jener kühnen, wetterfesten, im Kampf mit Indianern und den Bestien der Urwälder gestählten Vorläufer der Kultur, welche die Gipfel der Alleghanys erstiegen und die Blicke über jene Wildnis hinwegschweifen ließen, durch deren Wälder und Prairien die Flüsse in einem westwärts gerichteten Laufe dem sagenhaften Mississippi zueilten.
Büffelherden, die nach Tausenden zählten, weideten damals ungestört auf den berühmten Grasebenen des heutigen Kentucky, die Wälder bargen zahllose Hirsche, Bären, Biber und andere kostbare Pelztiere, und zu gewissen Jahreszeiten verfinsterten sich die Lüfte durch die endlosen Scharen der Wändertauben. Mächtig angezogen durch den Anblick dieser Terra incognita, stieg Boone von den wolkenumzogenen Höhen hernieder, um in den Wäldern am Quellgebiet des Kentucky eine versteckte Blockhütte aufzuschlagen und der Jagd obzuliegen. Boone war von fünf ebenso kühnen Männern begleitet, die aber alle von den Indianern umgebracht wurden oder in Gefangenschaft derselben gerieten. Mehrere Monate verbrachte Boone allein in der unendlichen Wildnis, ward im Jahre 1760 aber ganz unerwartet von seinem Bruder aufgefunden, mit dem er nach seinem früheren Wohnsitz zurückkehrte. Das geschah aber nur, um die Familien der beiden zur Uebersiedlung in die menschenleere Wildnis zu bewegen. Fünf andere Familien sowie vierzig wohlbewaffnete Männer schlossen sich dem Zuge an, der aber, noch ehe er das Ziel erreichte, in harten Kämpfen mit den Indianern sechs Mann, sowie alles Vieh einbüßte. Entmutigt durch diesen schweren Verlust, gab die kleine Karawane die Reise nach Kentucky auf und ließ sich in Südwest-Virginien nieder; Boone hingegen drang später an der Spitze einer neuen Schar abermals bis in die im Herzen von Kentucky gelegene Wildnis vor und gründete im Juni 1775 am Ufer des Kentuckyflusses die aus rohen Blockhütten bestehende, wohlbefestigte Niederlassung Boonesborough. Die Geschichte derselben war während des ersten Jahrzehntes eine fast ununterbrochene Kette der erbittertsten Kämpfe mit den Indianern, die zu verschiedenen Malen in gewaltigen Haufen die Ansiedlung wochenlang belagerten und ihr die schwersten Verluste zufügten.
Besonders gefahrvoll war die Belagerung, welche Boonesborough im Sommer 1778 zu bestehen hatte, wo während des amerikanischen Befreiungskrieges die Engländer alle unter ihrem Einfluß stehenden Indianerhorden aufboten, um mit Hilfe derselben die freiheitsdurstigen Unterthanen der englischen Kolonien entweder zum Gehorsam zurückzuführen oder gänzlich zu vernichten. Eine derartige, von acht englischen Offizieren befehligte Indianerbande erschien auch vor Boonesborough, um es mit Feuer und Schwert vom Erdboden zu vertilgen. Mehr als 500 Köpfe stark, begannen die Angreifer einen förmlichen, mit [798] der teuflischsten Hinterlist durchgeführten Belagerungskrieg wider die von Pallisaden umgebene, kaum von einem halben hundert Männer verteidigte Urwaldfestung. Als alle Anstürme und Versuche, sie durch feurige Pfeile in Brand zu setzen, abgeschlagen wurden, versuchten die Belagerer durch einen in der Nacht gegrabenen unterirdischen Gang einzudringen. Boone aber grub mit seinen Tapferen einen Gegengang und pflanzte in demselben eine mit Kugeln und Nägeln vollgepfropfte hölzerne Kanone auf, um die Angreifer bei ihrem Eindringen sofort niederzuschießen. Als aber die Belagerer erkannten, daß ihr Anschlag entdeckt und den Ansiedlern nicht beizukommen sei, entschlossen sie sich endlich zum Abzug, zumal sie bereits 37 Tote und zahlreiche schwer Verwundete zählten. Die Belagerten die mit einem Verlust von nur 2 Toten, sowie mit mehreren Verwundungen davongekommen waren, sammelten nach dem Abzug der Feinde über 125 Pfund Bleikugeln, die aus den Pallisaden und den Wänden der Blockhütten herausgeschnitten wurden.
Noch gefährlicher war ein Angriff, den vier Jahre später eine mehrere hundert Mann starke Indianerbande gegen die in diesem Teil Kentuckys gelegenen Ansiedlungen, besonders gegen Bryan Station ausführten, wo sich drei Schwäger Boones niedergelassen hatten. Die Indianer standen unter der Leitung eines Weißen, Simon Girty, der, als Kind von den Senecas geraubt und bei den Shaunies großgewachsen, in sich die ganze Verschlagenheit und Grausamkeit der Rothäute mit den Lastern der Weißen vereinigte. Boone kam mit seinen Leuten den Bedrohten zu Hilfen und es gelang, die Indianer abzuschlagen, In der Hitze der Verfolgung aber fielen die Ansiedler in einen Hinterhalt und verloren gegen 50 Mann.
Wie gefahrvoll das Leben der Pioniere der Kultur in diesen Landstrichen war, lehrt die Thatsache, daß in Kentucky allein während der Jahre 1783 bis 1790 gegen 1500 Weiße durch Indianer umgebracht wurden. Schließlich aber behaupteten die zähen Hinterwäldler doch das Feld und zwangen, besonders als sie durch Zuzüge aus dem Osten Verstärkung erhielten, die Rothäute zu einer dauernden Aufgabe ihres Gebietes. In den vielen Gefechten erhielt Boone manche Wunde und geriet mehrmals in die Gefangenschaft der Wilden, wußte aber durch List dem drohenden Tode am Marterpfahl stets zu entrinnen.
Weniger gut verstand er es, sich der weißen Spekulanten zu erwehren die nach Vertreibung der Indianer ins Land kamen. Sie brachten ihn und andere der Pioniere durch gefälschte Papiere um Hab’ und Gut, so daß Boone im Jahre 1792 voll Mißmut Boonesborough verließ und sich nach den westlich vom Mississippi gelegenen Prairien wandte, die er, den Pelztieren nachgehend, meist allein bis an den oberen Missouri durchstreifte.
Nach Bestehung zahllosen Abenteuer starb der wackere Jäger hochbetagt um Sommer des Jahres 1820 am Femme Osagefluß in Missouri. Seine Ueberreste sollten dem Staat, dessen erster Ansiedler er gewesen war, doch erhalten bleiben, denn als die Bürger der von Deutschen in Kentucky gegründeten Stadt Frankfort im Jahre 1845 einen neuen Friedhof anlegten, meinten sie, daß derselbe nicht schöner eingeweiht werden könne, als wenn man auf ihm die Gebeine des ersten weißen Bewohners von Kentucky zur ewigen Ruhe bette. Dem Plan folgte alsbald die Ausführung, denn noch in demselben Sommer begab sich eine Abordnung der Frankforter nach Missouri. Die Ueberreste Boones wurden in einen neuen Sarg gelegt und nach Frankfort gebracht, wo sie am 20. August auf einem das Thal des Kentucky überschauenden Hügel unter Begehung würdiger Feierlichkeiten aufs neue beigesetzt wurden. Einige Jahre später schmückte man das Grab mit einem Denkmal, auf dessen vier Seiten Begebenheiten aus den Kämpfen Boones mit den Indianern, sowie aus seinem Ansiedler- und Jägerleben dargestellt sind.
Daß die Persönlichkeit Boones dem Schriftsteller James Fenimore Cooper vorschwebte, als er seine berühmten Lederstrumpfromane schrieb, ist nicht bloß aus einer mündlichen Aeußerung Coopers bekannt, sondern geht auch aus der unverkennbaren Aehnlichkeit des Namens Daniel Boone (sprich Buhn) mit Nathanael Bumppo, dem Namen Lederstrumpfs, hervor. Ferner stimmt die Personalbeschreibung, die Cooper in den Romanen „Die Ansiedler“ und „Die Prairie“ von Leberstrumpf entwirft, vollkommen mit einem Porträt Boones überein, welches von dem amerikanischen Maler Chappel gemalt wurde und lange Jahre im Besitz einer Newyorker Verlagsfirma war. Boone ist auf diesem Bilde als ein bereits in hohem Alter befindlicher Mann und in dem Anzug dargestellt, der von den abgehärteten Grenzjägern seiner Zeit allgemein getragen wurde. Derselbe bestand aus einem aus grobem Zeug ober gegerbtem Hirschleder gefertigten Rock, der oft am Nacken und an den Schultern mit Pelzwerk oder aber mit einer Garnierung von 8 bis 10 Centimeter langen, dünnen Lederfransen besetzt war. Die letzteren dienten weniger als Schmuck, sondern ersetzten dem Jäger die häufig benötigten Bindfaden. Ueber den kurzen, grobwollenen Beinkleidern und den derben Strümpfen wurden fast bis an den Leib reichende Ledergamaschen getragen, deren Nähte häufig gleichfalls mit Fransen versehen waren, eine Nachahmung der indianischen Sitte, die „Leggins“ oder Beinkleider mit den Kopfhaaren erschlagener Feinde zu besetzen. Die Füße staken in Mokassins aus weichem Hirschleder, die wie die Gamaschen und der lederne Rock durch eine besondere den Indianern abgelernte Gerbung völlig wasserdicht waren. Die Kopfbedeckung bestand zumeist aus einem mützenartig verarbeiteten Fuchsfell, dessen Schwanz über den Rücken des Jägers hinabhing.
An Waffen führte der Jäger außer einem breiten, haarscharfen Messer, das über der Brust in einer sofort erreichbaren Tasche stak, eine Büchse, sowie ein leichtes Beil, den Tomahawk. Der letztere, ein in den Wäldern unentbehrlicher Gegenstand und im Handgemenge eine äußerst brauchbare Waffe, wurde an einem breiten, die Hüften umspannenden Gurt getragen, an dem auch die Kugeltasche hing. Zur Aufbewahrung des Pulvers diente ein Ochsenhorn, das an einem Riemen befestigt und der rechten Seite des Jägers so angepaßt war, daß es die Bewegungen desselben nicht hinderte und sich auch nicht im Gestrüpp verfangen konnte. Nicht selten waren Waffen und Pulverhorn nach indianischer Weise mit Perlstickereien oder Bemalung geschmückt. Ein wachsamer Hund bildete mitunter den Begleiter des Jägers.
Vergleicht man die Personalbeschreibung, die Cooper in seinen „Ansiedlern“ und in der „Prairie“ von dem alten Lederstrumpf und seinem treuen Hektor entwirft, mit dem von Chappel gemalten Bilde, so ist kaum zu bezweifeln, daß das letztere dem Schriftsteller im Original oder in einer Nachbildung bekannt [799] gewesen ist. Nicht minder scheint ein Nachruf, den der Gouverneur des Staates Missouri, Morehead, den Manen Boones widmete, zur Kenntnis Coopers gekommen zu sein, denn die in dem Nachruf gegebene Charakteristik Boones spiegelt sich aufs deutlichste in der Lederstrumpffigur wieder. „Ohne eine irgendwie bemerkenswerte Erziehung genossen zu haben,“ so sagte der Gouverneur in dem Nachruf, „hat Boone doch einen Platz unter den ausgezeichnetsten seiner Zeitgenossen eingenommen. Er vereinigte in sich viele hervorragende Eigenschaften Klugheit, Mut, Vorsicht und eine ungewöhnliche physische Kraft. Niemals schrak er vor Gefahren zurück, niemals erlag er den Anstrengungen und Mühen seines gefährlichen Berufs; selten gelang es jemand, ihn zu überrumpeln. Seine Gewohnheiten waren einfach und nicht verletzend, eine gewisse Rauheit ausgenommen, die allen Jägern eigen ist. Seine persönliche Erscheinung bot nichts besonders Hervorragendes, sein Ausdruck war mild und zufrieden. Ein Jäger durch und durch, lebte und starb er in einem Blockhaus, von allen Habseligkeiten seine sichere Büchse als das wertvollste Besitztum preisend.“
Es ist von hohem Interesse, zu sehen, wie Cooper diese Personalbeschreibung der Figur des Helden seiner Lederstrumpfromane unterlegte. Nimmt man diese Romane zur Hand, so möchte man zur Vermutung kommen, daß die fünf Abteilungen „Wildtöter“, „Der letzte der Mohikaner“, „Pfadfinder“, „Die Ansiedler an den Quellen des Susquehannah“ und „Die Prairie“ in der hier gegebenen chronologisch richtigen Reihenfolge geschrieben worden seien. Das ist aber nicht der Fall. Von allen Lederstrumpfromanen erschien der vierte, „Die Ansiedler“, zuerst, und zwar im Jahre 1823. Drei Jahre später, am 4. Februar 1826, folgte Nummer 2 der Serie, „Der letzte der Mohikaner“, 16 Monate darauf Nummer 5, „Die Prairie“. Dann verstrichen nicht weniger als 13 Jahre, bevor Cooper mit den beiden Romanen „Pfadfinder“ (1840) und „Wildtöter“ der Serie die Abrundung gab. Entstanden demnach die einzelnen Abschnitte zusammenhangslos und in ganz verschiedenen Zeiträumen, so erscheint es um so bewundernswerter, daß Cooper es trotzdem verstand, der Figur seines Helden ein so einheitliches Gepräge zu verleihen, daß sie wie aus einem Gusse, wie ein völlig abgerundetes Meisterwerk vor uns steht. Im „Wildtöter“ lernen wir diesen Helden als einen vollkommenen Neuling auf dem Kriegspfade kennen. Er hat, in den Wigwams der Delawaren verweilend, sich insbesondere einem jungen Häuptling jenes Stammes, Chingachgook, angeschlossen und findet in Gemeinschaft mit demselben am See „Glimmerglas“ zum erstenmal Gelegenheit, seine Kraft und seine auf vielen Jagdzügen erworbene Geschicklichkeit zu bethätigen. Scharfblick, Aufrichtigkeit und gewinnende Herzensgüte machen die Grundzüge seines Charakters aus, in dem sich die Tugenden der Weißen mit den besseren Eigenschaften der roten Urbewohner Amerikas in der glücklichen Weise mischen.
Im „Letzten der Mohikaner“ und im „Pfadfinder“ steht Lederstrumpf in voller Manneskraft, als kühner, furchtloser Jäger vor uns. Wald und Himmel sind ihm ein offenes Buch. Jeder Laut, der die Stille des Urwalds unterbricht, jeder aus seiner Lage gerückte Stein, jeder geknickte Zweig vermitteln ihm die Kunde über gewisse Vorgänge. Niemals verläßt ihn seine Kaltblütigkeit; aus den gefährlichen Lagen weiß er stets einen Ausweg zu finden.
In den „Ansiedlern an den Quellen des Susquehannah“ erscheint Lederstrumpf als alter Mann, der auf den Hügeln am Glimmerglas sein einsames Blockhaus aufgeschlagen hat. Er, der ein volles Menschenalter vor der Ankunft der ersten Ansiedler die den See umschließenden Wälder durchstreifte und dies endlose Jagdrevier als sein alleiniges Eigentum betrachten durfte, muß nun voll Mißvergnügen sehen, wie die Ansiedler rücksichtslos das Wild zusammenschießen und die Bäume niederschlagen, die er so sehr geliebt. Die Natur, die ihm allezeit eine Freundin und Ernährerin war, gilt diesem Schwarm der Eindringlinge als eine Feindin, die niedergerungen werden müsse. Was Wunder, daß Natty Bumppo mit diesen Menschen nicht zu leben vermag, daß die Luft in ihren Straßen ihn beengt und er gleich dem verjagten Wild hinaus in die Weite zieht, der sinkenden Sonne nach.
Zuletzt zeigt Cooper uns den äußerst betagten Lederstrumpf als einsamen Trapper inmitten der überwältigenden Großartigkeit der westlichen Prairien. Seine körperliche Kraft ist verfallen, der Geist hingegen ist rein und geläutert wie die Luft der ihn umgebenden Steppe. Er ist nicht mehr der leicht erregbare, verdrießlich den Einbruch der Ansiedler wahrnehmende Trapper. Während er nicht aufhört, zu bedauern, hat er aufgehört, anzuschuldigen. Er weiß, daß die majestätische Feierlichkeit der Natur nicht lange ungestört bleiben wird, denn in jedem von Osten her kommenden Windstoß hört er das Knarren der Wagenräder, den Klang der Aexte, das Rauschen niedersinkender Bäume, die den Marsch der unaufhaltsam vordringenden Civilisation verkünden. Er weiß, daß dieselbe nicht aufzuhalten ist, und er hat dabei gelernt, sich in das Unabwendbare mit würdiger Ergebung zu fügen. Er hat keine Wünsche mehr, sondern sieht dem nahen Ende, dem Grab unter dem wehenden Prairiegras mit einer so ruhigen Fassung entgegen, wie der von harter Tagesarbeit ermüdete Arbeiter nach Sonnenuntergang dem besten Freund, dem Schlaf, entgegensieht.
So stellen Coopers Lederstrumpfromane ein völlig abgerundetes Gesamtbild, ein Drama in fünf Aufzügen dar, dessen Held anerkanntermaßen eine der fesselndsten, eigenartigsten und edelsten Schöpfungen der amerikanischen Litteratur ist. Die Lederstrumpfromane begründeten den Weltruf ihres Dichters. Sie wurden nicht nur in fast alle europäischen, sondern sogar auch in verschiedene asiatische Sprachen übersetzt. Die Zahl der in der Originalsprache erscheinenden Ausgaben und Nachdrucke ist eine geradezu überraschende und wächst, seitdem die Romane frei wurden, von Jahr zu Jahr. Auch in Deutschland erlebten sie viele Auflagen in mehr als fünfzehn verschiedenen Uebersetzungen. Besonders die Menge der Bearbeitungen für die Jugend ist erstaunlich.
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Roman von Adolf Wilbrandt.
(Schluß.)
Fritz Waldeck, der von den Oelbäumen zurückkam, sah den aufgeregten Arthur mit dem gebärdenreichen Italiener im Hausgarten reden, darauf ins Haus hineinstürmen. Einen Augenblick sah er ihnen verwundert nach, dann fiel er in seine Gedanken zurück. Er wußte nicht, was thun, noch wohin mit sich … An der Mauer der Nachbarvilla hatte er gestanden, in die immergrünen Kronen der Steineichen hinaufgesehn, auf das Zwitschern der Vögel da oben gehorcht, einen befreienden Gedanken hatten sie ihm nicht herabgezwitschert. Sollte er bleiben? Sollte er fort? Diese Menschen grade jetzt verlassen, war das nicht wie Feigheit, wie Flucht? Aber konnte er Gertrud wieder vor die Augen treten, nach dem, was er ihr gesagt? – Ach, dachte er, die Zähne aufeinanderbeißend, das ist auch ein Elend, wenn so auf einmal die Schwäche über einen kommt, die gemeine Schwäche, die Redseligkeit, – und was man ewig verschweigen wollte, bricht so wie aus dem Vesuv da plötzlich, unaufhaltsam hervor! Er ging wieder zum Felsgarten, zur Meerterrasse hin, die Augen auf den Weg gesenkt. Gertrud sah ihn kommen, die noch an der Brüstung stand. Von einer jähen Scheu ergriffen, trat sie hinter das nächste Gebüsch, das dicht zusammengewachsen war und sie ganz verdeckte. Ahnungslos, wie nah‘ sie ihm war, kam er auf die Brüstung zu. Jetzt wäre sie gern davongeschlichen, ins Haus zurück, von dort her schritt aber eben eine hohe und breite Gestalt heran, Vater Rutenberg. Vor dem scheute sie sich auch – ach, sie war so unglücklich. Den Kopf noch tiefer in das Gebüsch steckend, als möchte sie sich vor der ganzen Welt verbergen, blieb sie stehn, ganz still, wie ein Vogel in der Hand.
„Herr, ich suche Sie ja!“ sagte Rutenberg mit seiner kräftig herzlichen Stimme, als er näher kam. „Der Oberappellationsrat sagt mir, Sie wollen fort. Das hat keinen Sinn! Das kann ich nicht dulden. Das ist unnatürlich. Gestern abend gekommen – gestern nacht Versöhnung – und am andern Morgen, eh‘ man sich recht in die Augen gesehn hat, wieder adieu und fort!“
„Ich fühle das wohl,“ erwiderte Fritz beklommen, „alles, was Sie sagen. – Verzeihen Sie, Herr Rutenberg, dennoch muß ich fort. – Wenn es auch sonderbar aussieht, daß ich Sie bei dieser Gefahr – –“
„Den Vesuv meinen Sie?“ Rutenberg verzog die Lippen ein wenig, „ach, den lassen Sie nur! Den Herrn fürcht‘ ich nicht! – Aber warum müssen Sie fort? Was gegen die Natur ist, soll der Mensch nicht müssen. Eben hab‘ ich Sie gefunden – will Sie nicht verlieren. Gehn Sie mir nicht fort!“
Fritz Waldeck konnte sich nicht länger enthalten zu seufzen, aber nicht wie ein schwacher Mensch, sondern wie ein starker seufzt. „Herr Rutenberg,“ sagte er, aus dem Seufzer einen Entschluß machend, „Ihre Güte beschämt mich so sehr. Was kann ich darauf andres thun, als die Wahrheit sagen. – Als ich die Ehre hatte, Sie zum erstenmal zu sprechen, da sagte ich Ihnen – in Ihrem Zimmer – daß ich das Unglück gehabt hätte, mich in Ihre Tochter –“
Rutenberg starrte ihn an, Fritz sprach nicht weiter. „Zu verlieben!“ ergänzte endlich Rutenberg selbst. „Ja freilich. Das hatt‘ ich ganz vergessen. Ueber der Reise und allem. Verzeihen Sie!“
Ach mein Gott! dachte Gertrud hinter ihrem Busch.
„Herr Rutenberg, warum sollte Ihnen etwas so Unwichtiges im Gedächtnis bleiben? – Aber daß ich nun wieder fort möchte, das begreifen Sie. Wenn Sie mich so herzlich, so vertrauenweckend ansehn, muß ich Ihnen alles sagen … Ich hab‘ schon – beinahe Uebermenschliches ertragen, Herr Rutenberg. Da ist dieser andre – Herr van Wyttenbach. Ich hab‘ vor Ihrer Tochter geheuchelt, als sie nach ihm fragte, hab‘ ihn zehnmal besser vor ihr gemacht, als er ist, hab‘ alles Erbärmliche, Lächerliche verschwiegen – während ich doch wußte, daß – –“ Er verstummte wieder. Er fühlte, daß er wieder dieser weichen Redseligkeit verfiel, die ihn heute verfolgte, die ihn zornig machte. Das Blut stieg ihm ins Gesicht.
O Gott! dachte Gertrud und zitterte, sie war so erschrocken, daß sie fast in die Büsche gegriffen, sich verraten hätte. Was sagt er? „Alles Erbärmliche – Lächerliche …“
„Aber nun so zuzusehen,“ nahm Fritz wieder das Wort, nachdem er sich gesammelt hatte, „ich meine, so dabeizustehn – verzeihen Sie, wenn ich das nicht ertrage, so stark bin ich nicht!“
„Fritz Waldeck,“ sagte Rutenberg, schlug ihm auf die Schulter und lächelte ihm so recht aus dem Herzen zu, „Sie sind stark genug. Ich war in Ihren Jahren lange nicht so stark, kann ich Ihnen sagen. Was Sie da andeuten, das versteh‘ ich ja, aber glauben Sie mir – ich will auch nur andeuten – verzagen Sie nicht zu früh! Das Jahr hat seinen April, aber auch die Menschen …“
Zum Glück sprach der ahnungslose Vater, dessen Tochter drei Schritte entfernt stand, nicht weiter. Schilcher kam vom Gasthof heran, diesmal keine Depesche, aber doch wieder ein Blatt Papier in der Hand. Es war zusammengefaltet, wie zu einem Briefchen. Er hob es einen Augenblick, dann sagte er in tiefem Ernst. „Herr van Wyttenbach läßt sich empfehlen, er ist mit Pasquale ausmarschiert – weil so ein Berg keine Vernunft hat!“
Diesmal vergaß die arme Gertrud doch, wo sie war. Ein Laut der Empörung brach ihr aus der Kehle.
So schnell, wie siebzehn Jahre es können, nahm sie sich dann zusammen und trat hervor, als käme sie eben irgendwoher gegangen, nur waren leider ihre rosigen Wangen ganz in Rot getaucht. „Was ist?“ fragte sie. „Ich komme von der Mauer, wo die Rosen stehn. Was erzählst du von Wyttenbach?“
„Sein teures Leben hat er gerettet,“ antwortete Schilcher, der dabei keine Miene verzog. „Vor seinem Ausmarsch hat er das da beim Kellner, beim Pepino, zurückgelassen für Fräulein Rutenberg.
Er überreichte ihr das Briefchen; sie nahm es mit leise zitternder Hand.
Sie brauchte es nur zu entfalten, es war nur ein kleines Blatt; mit fliegenden Augen las sie, so daß niemand mitlesen konnte:
„Ich habe für Sie und für uns alle Vernunft, liebes Fräulein Gertrud; ich ziehe in die Berge voran und mache Ihnen Quartier. Ich werde Sie retten, und wenn auch wider Ihren Willen. Arthur v. W.“
Schilcher, der diese Zeilen auch gelesen hatte – Pepino hatte ihm das Blatt offen übergeben – wandte sich zu Rutenberg, während sie noch eben las: „Weiß Trudel schon?“
„Was?“ fragte Rutenberg. Gertrud horchte auf.
„Daß Doktor Wild diesen Ausbruch des Vesuv nur erfunden hat? Daß wir also in aller Ruhe roten oder weißen Capri trinken können, und die Rückkehr des vorsichtigen Herrn van Wyttenbach erwarten?“
Fritz Waldeck machte große Augen. „Sagen Sie das im Ernst? Erfunden?“
„Zu dienen,“ erwiderte Schilcher. „Und offenbar gut erfunden: denn der ‚Vernünftigste‘ von uns sieht jetzt diesen bösen Vesuv mit dem Rücken an!“
„Mit dem Rücken an,“ wiederholte er behaglich und rieb sich die Hände. In diesem Augenblick sah er wirklich wie ein Nußknacker und zwar wie ein böser aus.
Nur wer ihm so recht in die Augenwinkel guckte, konnte da das heimliche, tiefversteckte Onkellächeln sehn, mit dem er auf die Trudel blickte.
Trudel konnte es nicht bemerken, sie hatte die Augen geschlossen. So hatte sie sich noch nie geschämt wie jetzt, vor dem Vater, vor Schilcher, vor dem „Verliebten“, vor der ganzen Welt. Niemand, niemand mehr sehn! – Und gestern nacht wollt‘ ich mit ihm fliehn, fuhr ihr durch den Kopf, durch die Brust. O die Schande! Die Schande!
Sie öffnete die Augen so viel, daß sie den Weg erkennen konnte, und wankte zum Hause zurück. Es rief sie zum Glück niemand mehr an; niemand sprach zu ihr. Alles hinter ihr war still, wunderlich und wohlthuend still. Sie kam zum Haus, die Treppe hinauf, durch den leeren Salon in ihr Zimmer. Das zerknitterte Blatt noch immer in der Hand, warf sie sich auf ihr Bett.
Wie lange sie da lag, das empfand sie nicht, vielleicht waren es nur wenige Minuten, ihr war's eine Ewigkeit. In ihrem Elend, das in dem wüsten Kopf hämmerte und im Herzen brannte, mußte sie wohl überhört haben, daß die Thür leise aufging, zu ihrem Staunen – zum Erschrecken war sie zu unglücklich – begann jemand, ihr Haar zu berühren, ihren Kopf zu streicheln. Sie zuckte wohl zusammen, die Hände nahm sie aber doch nicht vom Gesicht, sie schlossen sie so gut ab von der Welt. Endlich zog sie ihr jemand von den Augen weg. Sie sah das gute Gesicht ihres Vaters, mit dem weichsten, mitleidigsten Ausdruck über sie gebeugt. Es ward ihr so wohl und so weh, nicht zum Aushalten. Ach, dachte sie, wär' ich tot!
„Hm!“ Nur so ein mitfühlendes Summen kam nach einer Weile von Vater Rutenbergs Lippen.
Sie schwieg und rührte sich nicht.
„Trudel!“ fing er nach einer großen Stille wieder an, so, wie man wohl spricht, um etwas zu sagen. „Waldecks Sohn will fort.“
„Ich weiß,“ stieß sie hervor. Ihre Glieder begannen sich wie gequält zu winden. „Ja, ja. Er soll fort! – Was mag er nun von mir denken, und von- –“ Sie zerdrückte wieder das zerknitterte Blatt. – „Laß ihn fort! Laß ihn fort!“
„Gewiß. Ich halt‘ ihn ja nicht.“ Wild kann seine alten Späße nicht lassen. „Kind! Trudel! Du weinst!“
Sie schluchzte. „O, wie schäm‘ ich mich! – Ach, sieh mich nicht an, Vater. – Nie, nie, nie will ich ihn wiedersehn! – Diesen andern mein‘ ich; den der fort ist, ‚ausmarschiert‘, den Feigling, den –“ Das Schluchzen wollte sie fast ersticken als wäre sie noch ein Kind. „Ich kann nicht mehr leben, Vater!“ rief sie, als sie wieder freien Atem hatte. „Ich kann nicht mehr leben!“
Rutenberg streichelte wieder langsam, sanft, beruhigend über ihr seidiges Haar und den heißen Kopf. „Mit siebzehn Jahren kann jeder einmal nicht mehr leben, Trudel. und doch giebt es so viele Leute über siebzehn; darum hoff‘ ich auch noch, dich zu behalten. Find‘ dich nur erst wieder zurecht –“
„Vater!“ fiel sie ihm ins Wort, „du kannst mich nicht so verachten, wie ich mich verachte! – Ich hab‘ ihn lieb gehabt, Vater! Ich hab‘ mit ihm fliehen wollen – dich verlassen, Vater! – Sei nicht mehr gut zu mir, sprich nicht mehr so freundlich mit mir, jag' mich fort. Jag‘ mich fort – aber nicht zu ihm. Jag‘ mich in den Tod!“
„Werd' mich wohl hüten, Gertrud,“ sagte Rutenberg lächelnd. „Hab‘ ich dich nicht wieder? Mein armes Mädel war blind geworden – ist nun sehend worden. Na, und wenn die Augen noch etwas wund und krank in das Licht hineinsehen, – ach, das giebt sich, Trudel. Wir halten sie noch ein bißchen in der Dämmerung …“ Er legte ihr seine großen, warmen, liebevollen Hände auf die nassen Augen. Das that ihr gut. Sie lag still. Sie schluchzte auch schon nicht mehr.
„Ja, siehst du,“ fuhr er nach einem quälenden Schweigen mit streichelnder Stimme fort, „Vater und Tochter bleiben in der Dämmerung beisammen, – als gute Kameraden, die sie immer waren und immer wieder sein werden. Und wenn wir dann die Sonne wieder leiden können, dann werden wir uns wundern, Trudel, wie herrlich sie ist! – Es giebt ja übrigens auch noch andre, junge Leute, mein‘ ich. Da steht dann vielleicht ein andrer mitten in der Sonne‘ weißt du, einer, den sie nicht ausbleicht, der ihr Licht verträgt, weil er echt ist. Und der uns so liebt, wie wir ihn lieben, der uns glücklich macht. Kann ja alles kommen, Trudel. Eilen thut's ja nicht, verhältnismäßig jung wie du doch noch bist. Aber wenn wir diesen andern haben, dann laß die Gedanken an diesen heutigen Morgen nur kommen, wir lächeln dann darüber, wie über eine zerbrochene Puppe aus der Kinderzeit, – und schauen in die Sonne!“
Gertrud nahm eine seiner Hände und zog sie an ihre Lippen. „Ach, wie bist du gut,“ sagte sie. Vor Scham schluchzte sie doch wieder auf. „du hast ihn nicht geliebt, Vater! – Ich kann nie zurück! Kann mich zu Hause nie wieder sehen lassen! Nie, Vater, nie!“
„Vielleicht doch einmal, abwarten … Es eilt uns ja nicht. Wir können ja noch reisen, wir wollten ja auch. Italien hat noch allerlei. Rom zum Beispiel, durch Rom sind wir ja eigentlich doch nur durchgefahren. Weißt du, was ich denke? Daß du meine tapfere Tochter bist, und daß es schade wäre, wenn die andern merkten, was Trudel hier erlebt hat. Daß du dich darum lieber nicht verstecken, dir das alles nicht zu sehr merken lassen solltest …“
Sie seufzte. Er verstand den Seufzer; es war ein erster Versuch, sich zu ermannen, sich zu überwinden. „Sollt‘st also lieber aufstehn, mein‘ ich. Und die Augen waschen Und dann wieder in den Speisesaal oder in den Garten gehn, wo die andern sind, wie eine Römerin und dich so furchtbar anständig, so groß benehmen, daß keiner ahnt, wie es in dir aussieht. Vornehm wär‘ das, Trudel! Ehre würd's dir machen! – Willst du‘s versuchen, Kind?“
„Ach!“ seufzte sie noch einmal. „Du glaubst nicht, wie mir ist, zum Sterben. – - Wie bist du aber gut zu mir. Ich möcht‘ immerfort deine Hände küssen – - Ach, ich will‘s versuchen!“
„Nun also! Ich geh' voraus, zu den andern. Du sammelst dich, noch ein bißchen. Wasser über die Augen, frischen Mut in die Brust. Bist ja meine Trudel. Schilcher soll sich wundern, wie schnell du wieder hoch bist. Es ist merkwürdig, was ein tapferer Mensch alles anstellen kann, mit dem sogenannten Tod im Herzen – Trudel, so lieb hast du noch nie gelächelt. – Gieb mir einen Kuß. – Du mein einziges, mein geliebtes Kind!“
Sie hob die Arme, umschlang ihn, ihre heißen Lippen lagen fest, dankbar, Tapferkeit versprechend, auf den seinen. Dann irrte seine Hand noch einmal über ihr Gesicht. Sie nickte ihm nur noch zu, sprechen mochte sie nicht. Er nickte auch und ging sacht hinaus.
Als Rutenberg in den Speisesaal kam, war dort niemand mehr, nur Pepino erschien. den letzten, verspäteten Frühstückstisch abzuräumen und meldete ihm, die Herren seien schon wieder im Garten, auf der Meerterrasse. Er ging ihnen nach. Wie gut er auch seine Leute kannte, einen Augenblick wunderte er sich, doch Schilcher schleppte eben zwei Stühle aus einer Laube auf die freie Terrasse, nahe an die Brüstung, Wild zog einen Tisch heran, Lugau hatte zwei Spiele Karten in der Hand. „Der Tisch ist gut!“ rief Wild. „Die allgemeine Situation ist gut. Lugau, fassen Sie gefälligst mit an!“
Rutenberg lachte auf, trotz all der Rührung im Vaterherzen. „So wahr ich lebe, ich glaube, ihr wollt hier Whist spielen!“
„Wo denn sonst?“ fragte Wild. „Wo kann man denn besser einen Robber machen, als hier, über dem Mittelländischen Meer, in der Götterluft, im Angesicht des Vesuv? kurz vor seinem Ausbruch? – Die andern Fremden sind alle ausgezogen, stören thut uns niemand. Apropos! wie steht es mit dem Vesuv? Soll die Komödie noch weitergehn? Oder erfolgt die Auflösung schon in dieser Nummer?“
„Gertrud weiß es schon,“ erwiderte Rutenberg. „der junge Waldeck auch, aber – der andre noch nicht. Fritz Waldeck – wo ist denn der? Wo habt ihr den gelassen?“
„Ist auf sein Zimmer gegangen,“ antwortete Schilcher, der die Stühle stellte, der Tisch stand schon da.
„Also am hellen Tag, auf einer Felsenterrasse am Golf von Neapel, da wird gespielt?“
Lugau legte die Karten auf den Tisch, breitete das eine Spiel aus. „Schlichter kann man es ja gar nicht mehr erwarten. Wir hatten uns übrigens geschworen, Wild und ich, am ersten Morgen in Sorrent zu spielen. Schilcher, Sie waren also noch am Geben, und Sie haben den Strohmann. Setzen Sie sich gefälligst, und dann geben Sie!“
„Ich gebe,“ sagte Schilcher, so trockenen Ernst auf dem Gesicht wie sonst, setzte sich und nahm die Karten. Vor innerer Unruhe rückte er aber auf seinem Stuhl, bewegte die mächtigen Brauen und forschte mit den fragenden Augen auf Rutenbergs Gesicht herum. „Nun?“ flüsterte er, als der endlich herankam und seinen Kopf gegen Schilchers Schulter neigte. „Warst du bei der Trudel?“
Rutenberg nickte und nahm ein Fädchen von Schilchers Rock, als hätte ihn das gestört. „All right?“ flüsterte er dann.
„All right?“ fragte Schilcher und begann zu geben.
„Ja. Wir haben gesiegt, Alter. Es giebt keinen Arthur mehr! Ich geh' jetzt zu Waldeck Sohn. – – All right!“
Rutenberg schlug ihm in seiner Freude auf die Schulter und ging gegen das Haus zurück.
[803] All right …
Schilchern war zu Mut, als elektrisiere man ihn; ein wunderbares Gefühl trieb ihn von seinem Stuhl in die Höhe. Eine himmlische Heiterkeit – er mußte wenigstens das Gesicht verziehn, wenn er nicht lachen sollte. Er wiederholte inwendig: Es giebt keinen Arthur mehr … Es giebt keinen Arthur mehr …,
„Aber was machen Sie, Schilcher?“ sagte Lugau, der gleich Wild am Tisch saß und auf seine Karten wartete. „Geben Sie doch weiter.“
„Ja, ich gebe weiter. Natürlich …“
Schilcher saß schon wieder; er gab. Die Karten, als wären sie auch wahnsinnig heiter geworden, flogen auf den Tisch. Also unsre Trudel geheilt! dachte er und schleuderte wieder eine Karte hin. Es kam immer mehr Schwung, mehr Feuer in seinen Arm … Unsre Trudel geheilt! Hahaha! Und der Feind geschlagen! – Mit Wasser und mit Feuer haben wir ihn hinausgetrieben – haben wir ihn – haben wir ihn – haben wir ihn – Juchhe! Eine Art von Gesang war in seiner Seele; bei jedem „haben wir ihn,“ das er dachte, flog eine Karte auf den Tisch.
„Schilcher,“ sagte Wild, „mir scheint, Sie geben jetzt auf italienische Art. Die südliche Lebhaftigkeit ist bereits in Sie eingedrungen!“ – Er nahm seine Karten auf, Lugau desgleichen. Schilcher dagegen vergaß seine Pflicht, nachdem er gegeben hatte; er horchte nach dem Hause zurück, ihm war, als hörte er Gertrud kommen. Langsam und vorsichtig wandte er dann den Kopf dorthin.
Wild klopfte endlich mit einem Knöchel seines fetten kleinen Fingers auf den Tisch. „Nun, Herr Oberappellationsrat Schilcher? Sehn Sie gefälligst Ihren Strohmann an, haben Sie die Güte!“
„Den Strohmann, versteht sich,“ entgegnete Schilcher und nahm die Karten des Strohmanns auf. Hatte er sich getäuscht oder nicht? Er horchte immer wieder. Er steckte die Karten zurecht, ob sie gut oder schlecht waren, das ward ihm freilich nicht bewußt. Er sah nur mehr rote als schwarze … Mehr rote als schwarze! sagte er sich und lugte in den Garten zurück.
Ja, nun kam sie wirklich; die schlanke, lange Gestalt, bald von der Sonne angestrahlt, bald im Schatten der Gebüsche, wandelte heran. Es lag etwas in ihren Schultern – und wie sie den Kopf hielt – das seine Freude dämpfte und ihm vorn auf der Brust Mitleidsgefühle machte. Ja, ja, armer Kerl! dachte er. Jetzt ging sie an ihm vorbei und suchte ihn anzulächeln; es ward aber nicht viel daraus. Auch das Sprechen, das ihre Lippen versuchten, gelang doch noch nicht. Als sie bei ihrer Steinbank an der Brüstung angekommen war, schien ihr die Kraft zu vergehn; sie glitt nieder, von den Männern abgewandt, und legte sich eine Hand vor die Augen, das arme Köpfchen lehnte sich an die Brüstung an.
Wild warf unzufriedene Blicke auf den zerstreuten kleinen Herrn. „Es scheint,“ murmelte er zu Lugau hinüber, „wir sollen heut’ wieder mit Hindernissen spielen …“
„Ich spiele also aus!“ rief Lugau und warf seine Karte mit einigem Nachdruck hin.
„Und ich bediene!“ rief Schilcher, der die Karten des Strohmanns so rasch wie möglich auf dem Tisch hinbreitete. Dann nahm er eine davon und warf sie neben Lugaus Karte.
„Was machen Sie?“ sagte Wild. „Sie haben ja Treff.“
„Ja. Ich habe ja Treff. Ich bitte um Entschuldigung!“
Schilcher verbesserte seinen Irrtum – so hatte er sich wohl noch nie versehn, seit er Whist spielte – und gab den Treffbuben aus dem Strohmann hin. Ihm war nun, wie wenn er das Mädel leise weinen hörte. Sie wird doch nicht! dachte er erschrocken. Vor den Mannsbildern da … Ah, das thut sie nicht. So ist Trudel nicht. Das war eine Täuschung!
Er horchte von neuem; nein, sie weinte nicht. Es war offenbar nur sein eignes Gefühl, das ihm sagte: jetzt weint sie inwendig … Dieses verwünschte Gefühl ließ ihn auch nicht stillsitzen; er stand wieder auf. Ohne an Treff oder Coeur zu denken, ging er zu der Steinbank hin und beugte sich auf Gertruds angelehnten Kopf, so daß sein vortretendes Kinn fast ihr Haar berührte. „Trudel!“ sagte er leise. „Uebers Jahr sind wir wieder lustig. – Ganz, ganz lustig!“
Er bog sich um ihr Gesicht herum und küßte sie auf den Mund.
„Aber was ist mit dem Schilcher?“ sagte Wild und drehte seine schwerfällige Gestalt nach der Brüstung zu; von dem Kuß hatte er nichts gesehn noch gehört. „Herr Oberappellationsrat –!“
„Hab’ nur der Gertrud angedeutet,“ erwiderte Schilcher trocken, „es könnte dem Strohmann gut thun, eine Flasche Capri zu tanken. Und den andern auch –“
„Ja, ja!“ fiel ihm rasch das Mädchen ins Wort, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stand auf.
Lugau schmunzelte „Herr, da haben Sie recht!“
Gertrud begann auch schon zu gehn; als sie nun aber ihren Vater mit dem jungen Waldeck herankommen sah, legte sich ihr eine Beklemmung auf die Brust; an ihnen vorbeizugehn, fehlte ihr der Mut. „Meine Freunde,“ nahm Rutenberg das Wort, sowie sie auf die freie Terrasse traten, „dieser junge Freund unseres Hauses wünscht sich zu empfehlen: er will fort, nach Pompeji zurück, zu seiner archäologischen Bande.“ Mehr für Schilcher und die aufhorchende Gertrud setzte er hinzu: „Vielleicht sehn wir ihn in Rom noch wieder; jedenfalls aber zu Hause. Da besucht er uns; er hat mir’s versprochen!“
Fritz Waldeck nickte stumm. „Ich – ich muß nun fort,“ sagte er darauf mit schwacher Stimme. Er nahm zum Abschied Rutenbergs Hand. „Mein Freund!“ stammelte er leise. „Mein Vater!“
Rutenberg zog ihn an die Brust; sie umarmten sich. Gertrud sah gerührt über die Schulter hinüber, dann blickte sie aber wieder vor sich hin. Sie wartete, bis Fritz zu ihr kam; als er sein Abschiedswort an sie richtete, reichte sie ihm die Hand und schaute ihm mutig in die Augen. Es schien ihr plötzlich passend oder gut zu sein, wenn sie lächelten; so lächelte sie ihn denn an. „Auf Wiedersehn!“ sagte sie. „Spätestens zu Hause!“
„O, ich hoffe!“ antwortete er und ließ ihre Hand zögernd aus den Fingern.
Schilchers stiller Blick ruhte mit einem tiefen Wohlgefallen auf dem hochgewachsenen, schmucken Paar; und was für gute Augen sie beide haben! dachte er. Wie gut sie zu einander passen. Wenn die ein Paar werden – dann betrink’ ich mich!
„Gut Freund,“ sagte er, so herzlich wie sein holziger Baß es hergab, als Waldeck Sohn nun auch von ihm seinen Abschied nahm. Fritz grüßte die Whistspieler und ging. Gertrud sah ihm nach; sie hatte den Capriwein vergessen, den sie holen wollte.
Der junge Mann war übrigens noch nicht verschwunden, als Pasquale, an ihm vorbei, zwischen den Büschen herankam, schon von weitem lächelten seine kohlschwarzen Augen der Eccellenza, dem Schilcher, zu. Mit ehrbarem Ernst brachte er dann aber seine Meldung vor: „Wollte nur berichten, Eccellenza, wir sind wieder da. Aber Humor schlecht!“ Er hob malend die Arme und verzerrte das Gesicht „Wütend! Furioso!“
„Wer ist wieder da?“ fragte Wild, der seine auf den Tisch gelegten Karten eben wieder aufgenommen hatte.
„Herr van Wyttenbach,“ antwortete Schilcher. Gertrud fuhr zusammen.
„Schilcher hat gewonnen!“ rief nun Rutenberg rasch. „Er gewinnt doch immer! – Nämlich, dieser Schilcher hatte gegen mich gewettet, der diabolischen Beredsamkeit Wilds werde es gelingen, unsern jungen Freund, Herrn van Wyttenbach, mit Hilfe des Vesuvs in die Berge zu treiben. Unser junger Freund versteht Spaß; das wird sich schon finden. Jedenfalls hat Wilds Talent gesiegt!“
Die Whistbrüder lachten. Hinter seinem Rücken hörte Rutenberg leises Kleiderrauschen, dann ein Flüstern der bekannten lieben Stimme an seinem Ohr. „Ich will ihn nie wieder sehn!“ sagte sie leise. „Gieb ihm das! Du!“
Das nicht nur zerknitterte, jetzt auch zerrissene Blatt, das Arthur ihr heute geschrieben hatte, schob sich in seine Hand.
Wild war unterdessen aufgestanden, seine Augen glänzten humoristisch triumphierend im Kreis herum. „Na? Werd’ ich nun anerkannt? – – Aber Schilcher bedient nicht. Schilcher, Sie haben noch immer nicht aus der Hand bedient!“
„Ich bediene also“, entgegnete Schilcher würdevoll und spielte aus.
„Mein Stich,“ sagte Lugau – „Nochmals Treff!“ Mit seinem bekannten kurzatmigen Schwung warf er Treffkönig hin.
[804]
Bebenhausen im Winter. (Zu dem Bilde S. 789.) Nicht weit von der Universitätsstadt Tübingen liegt in schönem Waldrevier, am südlichen Ende des alten „Reichsforstes Schönbuch“ das Kloster Bebenhausen, von den alten kunstgeschichtlich berühmten württembergischen Klöstern neben Hirsau und Maulbronn das bedeutendste. Gegründet von den Pfalzgrafen von Tübingen zu Ende des 13. Jahrhunderts, erlebte es seine erste Blütezeit im 14. Jahrhundert unter den Aebten Wilhelm von Lustnau und Peter von Gomaringen, eine weitere kurz vor der Reformation, als es von den Pfalzgrafen, die an dem mächtig aufstrebenden Kloster arm geworden waren, an die Herzöge von Württemberg fiel. Der Glanz künstlerischer Bauthätigkeit Schwabens ist in jenen Zeiten vielfach an den Namen des Cisterzienserordens geknüpft, wie dieser in Maulbronn den Uebergangsstil von der Spätromanik zur Gotik zur edelsten Blüte entfaltet hat, so in Bebenhausen die mittlere Romanik und hernach die Gotik und die Spätgotik. Als klassisch in seiner Art ist aus der ersten Blütezeit Bebenhausens das Sommerrefektorium in der Kunstgeschichte anerkannt, nicht minder als der spätgotischen der Glockenturm, der auch auf unserem Bilde am Horizont sich hervorhebt.
Aber nicht die Kunst allein macht das altersgraue Kloster zu einer entzückenden Stätte, herrlicher noch ist die umgebende Natur, in deren Waldesfrische es eingebettet liegt. Am Fuße der höchsten Erhebung des Schönbuchs, des Brombergs, liegt es in einem reizenden Thalgrund, wo der Goldersbach und der Seebach zusammenfließen. Der Wanderer, der, von Tübingen oder von Stuttgart her kommend, das Kloster in der stillen Waldlichtung vor sich auftauchen sieht, ist wie von einem Wunder überrascht, ob es ihm im Glanze der Mittagssonne erscheint oder im verklärenden Licht einer Mondnacht. Und gleich groß sind die Reize dieser Natur im lachenden Sommer, wie in der Winterpracht. Gerade in der kälteren Jahreszeit aber erlebt das Kloster jetzt seine glänzenden Tage. Denn nach der langen Reihe von Aebten – auch evangelische Aebte hat Bebenhausen als Klosterschule (d. h. Vorschule des berühmten Tübinger Stifts), bis zum Beginn dieses Jahrhunderts gehabt – ist es jetzt unter königlichen Herren zu einem prächtigen Jagdschloß geworden. Schon König Friedrich von Württemberg hat es 1810 zu einem solchen gemacht, sein Enkel, der 1891 verstorbene König Karl, hat es vom Ulmer Dombaumeister Beyer mit ausgesuchtem Geschmack restaurieren lassen, und jetzt ist es ein Lieblingsaufenthalt des jagdliebenden Königs Wilhelm, der dort alljährlich einigemal mit seinen Gästen dem edlen Weidwerk obliegt. A. F.
Waldmeisters Brautfahrt. (Zu dem Bilde S. 796.) Im Jahre 1851 hat Otto Roquette durch das phantastische, poesievolle Rhein-, Wein- und Wandermärchen „Waldmeisters Brautfahrt“ seinen Ruf als Dichter begründet. Die frische Schilderung des fröhlichen Lebens am Rhein und die Verherrlichung der deutschen Weine hat in jugendfrohen Herzen den lebhaftesten Anklang gefunden. Im Laufe der Jahre ist „Waldmeisters Brautfahrt“ zu einer der verbreitetsten deutschen Dichtungen geworden und das Büchlein hat an die siebzig Auflagen erlebt. Nun erscheint es vor seinen alten Freunden in einem neuen, einem wahren Prachtgewande. In A. Schmidhammer hat sich ein Künstler gefunden, der den Sinn der Roquetteschen Dichtung glücklich erfaßt und zu den märchenhaften Schilderungen treffliche Illustrationen zu schaffen vermochte. Dieselben bilden einen echt künstlerischen und reizvollen Schmuck der Prachtausgabe von „Waldmeisters Brautfahrt“ die soeben im Verlage der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart erschienen ist. – Diesem Werke ist unsere Illustration auf S. 796 entlehnt. Die Scene stellt die Huldigung dar, die Prinz Waldmeister und seiner Braut, Prinzessin Rebenblüte, in der Nacht vor Pfingsten auf den Höhen des Rüdesheimer Berges von den deutschen Weinen und den Feldblumen dargebracht wird. Bei dieser Gelegenheit giebt Roquette eine treffliche Charakteristik der Weine, die sich zur Beglückwünschung des Brautpaares eingefunden haben. Er führt uns vor der Moselweine blonde Jünglingsschar, die Traubensöhne des Ahrthals in ihrer dunklen Schöne, durchströmt von Flut und Feuer, die „Abgeordneten des Pfälzer Landes“, joviale runde Herren mit freundlichen, vergnügtesten Gesichtern, vor allem die goldenen Jünglinge vom Rheingau unter Steinbergers Führung. Der Neckarwein spielt den lustigen Rat, und mit liebenswürdigem Humor werden die Vertreter der nördlichsten Marken des deutschen Weinbaues eingeführt, darunter auch der aus „Schläsigen vom Grüneberger Steine“. Ein Blick auf unsere Illustration belehrt uns, wie packend der Zeichner die Schilderung des Dichters wiederzugeben verstand. Ueber allen diesen Gestalten steht König Feuerwein, der, während die Sonne aufgeht, seine Kinder und seine Reben segnet.
„Und sieh, des Festes Feier ist vollbracht.
Auf alle Welt das schöne Pfingsten lacht –
– – – – – – – – – –
Noch ist die blühende goldene Zeit,
Noch sind die Tage der Rosen.“
Ein strittiger Fund. (Zu dem Bilde S. 801) Frühzeitig hat der Winter an den Ausläufern des Uralgebirges seinen Einzug gehalten, und mit der wachsenden Schneedecke steigt die Not der Tiere des Waldes. Selbst Meister Braun, der sonst die Pflanzenkost vorzieht, wird zum grimmigen Räuber. Bevor er sich einschlägt, d. h. das Lager für seinen Winterschlaf aufsucht, will er sich noch stärken, lauert den Haustieren auf und sucht nach gefallenem Wild. Am Waldesrande erhält er Witterung, und da er vom Holze geht, erblickt er wirklich an dem Abhang eines Hügels eine gedeckte Tafel. Dort liegt eine eingegangene Hirschkuh – aber auch andere Gäste haben sich bei ihr eingestellt. Zwei Wölfe sind es, die sich gerade anschicken, ihren Hunger zu sättigen. Wild brummend, schreitet der Bär ihnen entgegen, und bald wird um das arme Opfer des Winters ein bitterer Kampf entbrennen. Für die Wölfe ist das eine recht fatale Begegnung, denn sie werden vor dem ergrimmten Bär den Kürzeren ziehen müssen.*
Die Stalagmiten der Armandhöhle. (Mit Abbildung.) In dem Departement Lozère in Frankreich wurde neuerdings eine interessante Tropfsteinhöhle entdeckt und von dem bekannten Höhlenforscher Martel besucht und beschrieben. Louis Armand, ein Schlosser in Rozier, der seit dem Jahre 1888 Martel auf dessen Forschungszügen begleitete, fand in dem Gebirge, etwa zwei Kilometer von dem Dorfe La Parade entfernt, ein Loch, das allem Anschein nach den Zugang zu einer Höhle bildete. Ende September dieses Jahres schickte sich Martel an, die Höhle in Begleitung von Armand und Viré zu untersuchen. Die Ergebnisse der Forschung, die drei Tage in Anspruch nahm, sind in der Zeitschrift „L’Illustration“ veröffentlicht worden. Der Zugang zu der Höhle, die nach dem Entdecker die Armandhöhle genannt wurde, liegt 965 m über dem Meere. Er führt zunächst in einen senkrechten 75 m tiefen Schacht, der in eine schräg abfallende 100 m lange, 50 m breite und 35 bis 40 m hohe Grotte mündet. Von dieser senkt sich ein zweiter 87 m tiefer Schacht vorwärts und findet in einem Trümmerhaufen von Felssteinen seinen Abschluß. Die Gesamttiefe der Höhle beträgt 214 m. Besonders interessant ist die Grotte, denn in ihrem unteren Teil birgt sie einen förmlichen Urwald der herrlichsten Stalagmiten. Gegen zweihundert schlanke Säulen steigen hier in blendender Weiße zur Decke empor und täuschen dem Besucher den Anblick eines Palmenwaldes vor. Diese Stalagmiten dürften die höchsten der Welt sein. In Agtelek in Ungarn und in Dargilan (Lozère) giebt es Stalagmiten, die eine Höhe von 18 bis 20 m erreichen. Von den Stalagmiten der Armandhöhle sind gegen dreißig Stück noch höher und der höchste erhebt sich, wie Messungen vermittels einer Montgolfiere ergaben sogar 30 m über dem Boden der Grotte. Unsere Abbildung giebt die Photographie eines Teiles dieses unterirdischen „Urwaldes“ wieder.
Das letzte Stelldichein. (Zu dem Bilde S. 793.) Es ist Herbst geworden – Scheidenszeit, wie golden die tiefstehende Sonne ihren Schein durch den lichtgewordenen Wald auch werfen mag. Und Scheiden heißt es auch für die beiden jungen Menschen hier, die lange Wochen nichts anderes dachten, als daß sie sich liebten, grenzenlos und endlos! Aber unüberwindlich sind die äußeren Hindernisse, die sich ihrer Vereinigung entgegenstellen. In fassungslosen Thränen lehnt das Mädchen über der Bank und reisefertig, steht der Mann vor ihr. Wenige Augenblicke noch und sein Schritt wird zwischen den Stämmen verhallen, während sie im herbstlichen Walde weinend zurückbleibt. Aber, wie todestraurig ihr jetzt zu Mute ist und was auch hinterher kommen mag an Sehnsucht und Herzenseinsamkeit, daß diese wonnevollen Sommerwochen nicht gewesen sein möchten, das wird sie nie und nimmermehr wünschen!
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
- ↑ Nach unseren langjährigen redaktionellen Erfahrungen sind die hier gerügten litterarischen Mängel keineswegs ausschließlich den Erzählungen minder begabter Schriftstellerinnen eigentümlich, sondern man begegnet ihnen auch häufig genug in Novellen und Romanen männlicher Autoren. Die Redaktion.