Die Gartenlaube (1896)/Heft 8
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Nr. 8. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Fata Morgana.
(7. Fortsetzung.)
Professor Leutold nahm es ernst mit seinen ägyptischen Studien, und die Stätte des alten Theben, der „hundertthorigen Stadt“, lieferte ihm unerschöpflichen Stoff dazu. Er gab sich mit nie rastendem Eifer seinen Forschungen hin und ertrug mit jugendlicher Rüstigkeit die damit notwendig verbundenen Strapazen. Fast täglich war er drüben bei den Königsgräbern und quartierte sich bisweilen sogar für die Nacht in einem der nahegelegenen Fellahdörfer ein, um die tägliche Ueberfahrt über den Nil und den zeitraubenden Ritt zu ersparen. Er fand dabei einen treuen Gefährten an Sonneck, der sehr zufrieden war, die lange Zeit des Wartens doch nicht ganz thatenlos verbringen zu müssen, und selbstverständlich war Reinhart Ehrwald der stete Begleiter der beiden Herren bei diesen Ausflügen. Der Professor hatte einige neue Entdeckungen gemacht, hoffte, noch weitere zu machen, und so waren die drei Wochen, die man nun schon in Luksor weilte, ungemein schnell vergangen.
[118] Wer sich aber durchaus nicht glücklich und zufrieden fühlte, das war Herr Ellrich, der mit jedem Tage melancholischer wurde.
Der Aufenthalt am Nil hatte so schön für ihn begonnen, ein günstiges Geschick führte ihn mit dem berühmten Professor Leutold zusammen, der mit all den tausendjährigen Mumien auf du und du stand, und mit dem noch weit berühmteren Sonneck, der Afrika so gemütsruhig durchquerte wie andere eine Landpartie machen. Die beiden Herren hatten seine bescheiden geäußerte Bewunderung freundlich aufgenommen, ihm bisweilen an ihren Ausflügen teilzunehmen erlaubt, und der rührende Eifer, mit dem er sich zu allen möglichen Dienstleistungen hergab, gewann ihm ihr ganzes Wohlwollen.
Aber das Glück dauerte nur etwa acht Tage, da tauchte der Störenfried auf, dieser unselige Doktor Bertram. Nicht als ob dieser Herrn Ellrich irgendwie zu nahe getreten wäre, er behandelte ihn im Gegenteil stets mit der ausgesuchtesten Höflichkeit; aber Fräulein Mallner hatte ihre Drohung wahr gemacht und den Landsmann zu einem Schutz- und Trutzbündnis gezwungen, das ihm gar keine Zeit mehr übrig ließ, sich den Berühmtheiten anzuschließen. Er versuchte es vergebens, sich dagegen aufzulehnen. Ulrike nahm ihn beim Wort. Er mußte stets zur Hand sein, wenn der Feind sich im Anzuge befand, und das war eigentlich immer der Fall.
Der junge Arzt bekundete nämlich ein dringendes Bedürfnis, seinen Freund Ehrwald alle Tage zu besuchen, und das ging so weit, daß er sogar diese Besuche machte, wenn der Freund gar nicht da war, sondern sich in Theben befand. In diesem Falle pflegte sich der Doktor stundenlang im Zimmer Reinharts einzuquartieren, den er natürlich ins Vertrauen gezogen hatte, und benutzte den kleinen Balkon dieses Zimmers als Beobachtungswarte. Sobald sich die Damen nur blicken ließen, war er da und ließ sich weder durch Grobheit noch durch List fortbringen. Fräulein Ulrike ihrerseits verteidigte mit grimmiger Energie die Witwe ihres seligen Bruders gegen diese frevelhafte Werbung; es gelang dem Doktor nie, die junge Frau auch nur eine Minute lang allein zu sprechen, und wenn der Cerberus, wie er höchst unehrerbietig die Dame nannte, wirklich einmal wich, dann mußte Herr Ellrich diesen beneidenswerten Posten einnehmen.
Es war noch ziemlich früh am Morgen, als Fräulein Ulrike Mallner und ihr Verbündeter im Garten des Hotels auf und nieder gingen. Selma war augenblicklich nicht bei ihnen, sondern befand sich in ihrem Zimmer, um auf Weisung ihrer Schwägerin einen Brief an den Inspektor von Martinsfelde zu schreiben. Da der Feind zu so früher Stunde noch nicht anzurücken pflegte, so konnte man es wagen, die junge Frau auf kurze Zeit allein zu lassen; übrigens behielt man den Eingang des Hauses scharf im Auge.
„Also Sie gehen mit nach Karnak?“ fragte Herr Ellrich. „Ich glaubte anfangs, es sei ein Irrtum, denn Sie machen ja sonst niemals Ausflüge.“
„Herr Sonneck hat uns aufgefordert,“ versetzte Ulrike, „und da er in einigen Tagen abreist, mochte ich es ihm nicht abschlagen.“
Herr Ellrich machte ein betrübtes Gesicht, er hatte gehofft, bei dem Ausfluge wenigstens einige Stunden lang ein freier Mann zu sein, nun war es wieder nichts damit.
„Unsere Gesellschaft wird ziemlich zahlreich sein,“ hob er wieder an. „Professor Leutold, die Herren Sonneck und Ehrwald, wir drei und die beiden englischen Familien aus dem Hotel, die sich anschließen wollen. Eine ganze Kavalkade!“
„Und er ist natürlich auch dabei,“ ergänzte Fräulein Mallner, die sich in der letzten Zeit angewöhnt hatte, den Gegenstand ihres Hasses nur mit dem Fürwort zu bezeichnen.
Ellrich schüttelte den Kopf. „Der Doktor? Ich glaube nicht, daß er mitreitet, er weiß ja gar nichts von dem Ausfluge, der erst gestern abend beschlossen wurde.“
„Er weiß alles!“ erklärte das Fräulein düster. „Und er erfährt auch alles. Es nützt gar nichts, wenn ich mit Selma zurückbleibe, dann belagert er uns hier im Garten. Wissen Sie denn schon, welche neue Bosheit dieser Mensch wieder ausgebrütet hat? Da Ehrwald abreist, hat er dessen Zimmer mit Beschlag belegt und siedelt in einigen Tagen über, dann haben wir ihn vom Morgen bis zum Abend hier. Aber wir werden unsere Maßregeln nehmen, Wir werden Selma vor ihm retten, ich verlasse mich ganz auf Sie!“
„Nein, bitte, das thun Sie nicht,“ fiel der kleine Herr in einem Tone ein, den er für sehr energisch hielt, der aber ziemlich kleinlaut war. „Ich – ich halte das wirklich nicht länger aus.“
Das Fräulein blieb mit einem plötzlichen Ruck stehen.
„Was halten Sie nicht aus?“
„Das ewige Aufpassen und Schildwachstehen“ – er nahm einen Anlauf zur Kühnheit – „schließlich bin ich doch nicht deswegen nach Afrika gekommen! Ueberhaupt: der Doktor, ich habe gar nichts gegen ihn, er ist ein netter Mann, Frau Mallner findet das auch und ich glaube, sie will sich gar nicht retten lassen.“
Die kecke Behauptung sollte ihm übel bekommen, er entfesselte damit einen Sturm ohnegleichen. Ulrike geriet außer sich bei der Andeutung einer solchen Möglichkeit und goß die Schale ihres Zorns nicht bloß über Selma und den Doktor, sondern auch über den ganz schuldlosen Ellrich aus.
Da traten zwei wohlbekannte Gestalten in den Garten, der Doktor und Ehrwald, der ihn abgeholt hatte. Sie grüßten ganz unbefangen und „er“ trieb die Bosheit so weit, freundschaftlich an seine Feindin heranzutreten.
„Guten Morgen, Fräulein Mallner! Schon fertig zum Ausfluge? Wir brechen ja erst in einer Stunde auf, ich reite natürlich mit.“
„Das habe ich mir gedacht,“ sagte das Fräulein und warf ihm einen Basiliskenblick zu. Er lächelte sehr vergnügt.
„Ja, ich war sogleich bereit, als mein Freund Ehrwald mich aufforderte. Wie befindet sich Frau Mallner? Hoffentlich gut! Auf Wiedersehen, meine Herrschaften!“
Ulrike würdigte ihn keiner Antwort, sondern ging im Sturmschritt davon und zwang ihren bisherigen Verbündeten mit einem gebieterischen: „Kommen Sie mit!“ ihr zu folgen. Das war aber auch für den sanftmütigen Herrn Ellrich zu viel. Erst wurde er schlecht behandelt und dann befahl man ihn zur Begleitung in solchem Tone, und das noch dazu vor den Ohren der feindlichen Partei, die höhnisch dazu lächelte. Er ging zwar mit, aber nur bis zum Eingang des Hauses, da setzte er sich störrisch auf die Terrasse, behauptete, er sei müde, und wälzte finstere Entschlüsse in seiner sonst so gutmütigen Seele.
„Der Blick hätte mich eigentlich spießen sollen, glücklicherweise bin ich gut gepanzert,“ sagte der junge Arzt lachend, als die beiden außer Hörweite waren. „Es bleibt also dabei, ich nehme Ihr Zimmer, wenn Sie abreisen; übrigens muß die Sache jetzt zur Entscheidung kommen. Mit einer bloßen Belagerung ist die Festung nicht zu nehmen, das sehe ich nachgerade ein. Da heißt es stürmen!“
„Armer Doktor, Ihnen wird es schwer gemacht,“ spottete Ehrwald. „Sie müssen sich Ihr künftiges Eheglück sauer verdienen, ein anderer hätte da längst den Mut verloren.“
„Ja, ich habe mir den Kampf mit dem Drachen auch leichter gedacht,“ meinte Bertram. „Aber ich bin nun einmal entschlossen, den Sankt Georg zu spielen und die gefangene Prinzessin zu erlösen.“
„Haben Sie denn schon Gewißheit, daß man sich von Ihnen erlösen lassen will?“
„Gewißheit? – Nein! Aber es giebt eine Art von Freimaurerei, die sich mit Blicken und Zeichen verständigt, die habe ich mit Erfolg angewandt, auch meist Antwort erhalten. Ich glaube, ich kann den Sturm wagen.“
„Dann hätte Frau Mallner Ihnen aber Gelegenheit zum Alleinsein geben müssen,“ warf Reinhart ein. „So etwas ist doch zu erzwingen, wenn man ernstlich will.“
„Gewiß, aber Selma hat gar keinen eigenen Willen, sie ist so grenzenlos verschüchtert, daß sie es kaum wagt, mir zu antworten, wenn ich in Gegenwart der andern mit ihr spreche.“
Ehrwald warf spöttisch die Lippen auf. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Doktor, aber das giebt eine etwas langweilige Ehe. Eine Frau, die überhaupt keinen Willen hat und immer Ja sagt – das hielte ich nicht vier Wochen aus!“
„Das ist Geschmackssache,“ sagte der junge Arzt trocken. „Mir ist es gerade recht, wenn meine künftige Frau keinen anderen Willen kennt als den meinigen. Vorläufig steht sie allerdings noch unter der Schreckensherrschaft von Martinsfelde. Und wenn nun noch das unselige Koffergespenst auftaucht –“
„Koffergespenst? Was meinen Sie damit?“
„Den seligen Herrn Mallner, diesen alten Egoisten, der das arme verwaiste Kind schändlicherweise geheiratet hat, ohne es auch nur zu fragen. Ich möchte ihm noch nachträglich den Hals dafür umdrehen! Er wird wohl seiner liebenswürdigen Schwester ähnlich gewesen sein. Dafür hat sie auch sein Andenken mit in den Koffer gepackt und läßt bei jeder Gelegenheit das Gespenst auftauchen. Die arme Selma wird damit halb tot gequält. Wie oft sich dieser Selige schon in seinem Grabe umgedreht hat, das ist gar nicht mehr zu zählen!“
[119] „Sie reden sich ja in eine förmliche Wut hinein,“ lachte Reinhart. „Machen Sie doch der Sache ein Ende!“
„Das will ich auch und womöglich noch heute. Ehrwald, Sie haben mir damals bei Ihrem Duell einen Gegendienst versprochen, jetzt nehme ich Sie beim Wort! Ich muß Selma allein sprechen und der Ritt nach Karnak bietet vielleicht Gelegenheit dazu. Halten Sie mir die Leibgarde vom Halse, nur eine halbe Stunde lang, mehr brauche ich nicht, um ins Reine zu kommen!“
„Das ist ein schwieriger Auftrag,“ sagte Ehrwald bedenklich, „indessen, ich will es versuchen. Dann müssen Sie aber den sanften Herrn Ellrich auf sich nehmen, ich habe genug mit Fräulein Ulrike zu thun, die fordert den ganzen Mann.“
„Abgemacht, wir teilen uns in die Aufgabe. Unserem Landsmann werfe ich irgend einen Hieroglyphenköder hin. Ich erzähle ihm von einer neuen und höchst merkwürdigen Entdeckung, die Sie gestern in Theben gemacht haben, dann geht er Herrn Sonneck und dem Professor einstweilen nicht von der Seite und ich kann die Zeit benutzen. Da sitzt er ja noch! Ich mache mich sofort an ihn.“
Die beiden jungen Männer trennten sich und Bertram schritt nach der Terrasse. Dort saß Herr Ellrich in der That noch, tiefgekränkt und wehmütig. Es war ihm erst nachträglich recht zum Bewußtsein gekommen, wie schmählich er behandelt worden war, und mit welchem Undank seine Aufopferung belohnt wurde. Welch ein Recht hatte denn diese gewaltsame Landsmännin eigentlich, ihn so zu tyrannisieren, und warum ließ er sich das gefallen? „Ja, warum lasse ich mir das gefallen?“ wiederholte er ganz laut, verstummte aber erschrocken, denn in diesem Augenblick trat Doktor Bertram herzu und redete ihn an.
„Nun, Herr Ellrich, Sie sitzen ja so einsam und melancholisch da! Was haben Sie denn?“
„Mir geht es schlecht,“ versetzte der Gefragte in dumpfem Tone.
„Was? Sie sind doch nicht etwa krank? Lassen Sie mich einmal Ihren Puls fühlen.“
Der kleine Herr wehrte die Hand des Arztes ab und schüttelte traurig den Kopf. „Das ist es nicht. Ich meine nur, ich werde so schlecht behandelt.“
„Sie? Von wem denn?“
Herr Ellrich sandte einen anklagenden Blick zu den Fenstern des ersten Stockes empor, aber trotz dieser etwas verschleierten Antwort wurde er sofort verstanden.
„Von Fräulein Mallner? Nicht möglich, Sie sind ja ihr treuester Bundesgenosse!“
„Ja, das war ich bis jetzt, aber wenn man so behandelt wird!“
Der Doktor zog einen Stuhl heran und ließ sich nieder. „Das ist ja merkwürdig, das müssen Sie mir erzählen,“ sagte er.
Herr Ellrich war gerade in der Stimmung, sein Herz auszuschütten. So begann er denn zu klagen über den unfreiwilligen Verzicht auf die geliebten wissenschaftlichen Ausflüge, über die Tyrannei, der er sich hatte beugen müssen, und kam immer wieder auf die schlechte Behandlung zurück, die er für all diese Mühe und Aufopferung geerntet hatte. Bertram hörte mit unendlicher Teilnahme zu und tröstete ihn liebevoll über sein Mißgeschick.
„Ja, Sie haben mir das Leben recht schwer gemacht in den letzten vierzehn Tagen,“ sagte er, „aber ich habe es Ihnen nie nachgetragen, denn ich wußte, Sie standen unter höherer Gewalt.“
Herr Ellrich fand diese Gesinnung sehr edelmütig, aber das brachte ihn nur noch mehr auf und mit einem Anfall von Heldenmut rief er: „Ich werde aber dies Joch abschütteln – ja, das werde ich!“
„Bravo!“ sagte der Doktor. „Ich habe das längst von Ihnen erwartet. Sie sind die begabtere, die höhere Natur, Sie dürfen sich nicht unterordnen.“
Der kleine Herr war ganz gerührt von dieser Auffassung. Er sah erst jetzt ein, wie unrecht er dem jungen Manne gethan hatte, der nun fortfuhr: „Ich darf wohl annehmen, daß es Ihnen kein Geheimnis mehr ist, warum ich immer wieder versuche, mich den Damen zu nähern. Mein Gott, es ist doch kein Unrecht, wenn man liebt und den Gegenstand seiner Neigung zu besitzen wünscht!“
„Nein, das ist im Gegenteil höchst vernünftig,“ erklärte Ellrich. „Sie und Frau Mallner sind jung, und die Jugend will ihr Recht haben. Ich hätte es Ihnen überhaupt nie bestritten.“
„Aber das ist ja herrlich!“
„Und ich werde ihr jetzt zeigen, daß ich so denke. Ich bleibe von jetzt an neutral. Erklären Sie sich, Herr Doktor, machen Sie Ihren Antrag, heiraten Sie in Gottes Namen! Meinen Segen haben Sie!“
„Danke ergebenst,“ sagte der junge Arzt und wollte dem Segnenden freundschaftlich die Hand schütteln, aber dieser wich erschrocken aus und blickte wieder zu den Fenstern hinauf.
„Um Gottes willen! Wenn sie das sähe –“
„Nun, was thut denn das? Ich denke, Sie wollen das Joch abschütteln?“
„Ja, aber – aber nicht gleich. Ich muß mich dazu doch erst sammeln!“
„Gut, so sammeln Sie sich, und wenn der, die – ich meine, wenn unsere verehrte Landsmännin wieder versucht, Sie schlecht zu behandeln, dann wenden Sie sich nur an mich, ich werde schon mit ihr fertig werden.“
Damit stand Doktor Bertram auf und trat in das Haus. Herr Ellrich blickte ihm bewundernd nach. Das war ein Mann! Der fürchtete sich vor keinem Menschen, nicht einmal vor Fräulein Ulrike Mallner.
Aber auch der junge Arzt war sehr befriedigt von dieser Unterredung, und als er die Treppe zu Ehrwalds Zimmer hinaufstieg, war er mit sich einig, daß der Hieroglyphenköder, mit welchem er auf dem Ausflug Herrn Ellrich unschädlich zu machen gedacht hatte, gar nicht mehr nötig sei.
Eine halbe Stunde später versammelte sich die Gesellschaft zum Aufbruch. Auf dem Platz hinter dem Hotel standen die Reitesel mit ihren Führern, aber es dauerte immer noch eine Weile, bis alles zur Stelle und in Ordnung war. Sonneck half ritterlich seinen beiden Landsmänninnen beim Aufsteigen. Selma schwang sich mit seinem Beistande leicht und gewandt auf das weißgraue Eselchen, das für sie bestimmt war und mit seinem bunten Zaumzeug einen sehr munteren Eindruck machte, dagegen kam ihre Schwägerin erst nach Ueberwindung von allerlei Schwierigkeiten in den Sattel. Zwar stand der große schwarze Esel, der den historischen Namen Ramses führte, wie ein Lamm und der Führer, ein halberwachsener brauner Bursche, mit einem schlauen Gesicht und listigen, kohlschwarzen Augen, zeigte sich ungemein dienstfertig, aber es kostete einige Mühe, der Dame, die zum erstenmal ritt, den Gebrauch des Steigbügels und des Zügels klarzumachen. Endlich thronte sie oben und spannte feierlichst ihren unzertrennlichen Begleiter, den riesigen Sonnenschirm, auf. Sie wollte schlechterdings nicht begreifen, daß dies beim Reiten besser unterbleibe, sondern behauptete, sie werde den Sonnenstich bekommen ohne das gewohnte Schutzdach. Man ließ ihr schließlich den Willen und Sonneck gab das Zeichen zum Aufbruch.
Ehrwald und Doktor Bertram waren bereits im Sattel, sie hielten dicht nebeneinander und sprachen leise und angelegentlich. Eben als der Zug sich in Bewegung setzte, sagte Reinhart: „Also ich nehme die Sache auf mich. Ibrahim ist ein schlauer Bursche, ich kann mich auf ihn verlassen. Benutzen Sie Ihre Zeit gut – und nun vorwärts!“
Die Gesellschaft war ziemlich zahlreich, aber es dauerte nicht lange, so teilte sie sich in zwei Hälften. Sonneck und die englischen Herren mit ihren Damen, die sämtlich gute Reiter waren, hielten es nicht aus, im Schritt zu reiten, sie trabten lustig vorwärts und waren schon nach kurzer Zeit eine ganze Strecke voraus. Professor Leutold dagegen ritt langsam und bedächtig, Herr Ellrich und die beiden Damen desgleichen. Es war nur merkwürdig, daß Ehrwald, sonst stets der erste bei solchen Ausflügen, sich diesmal zum Nachtrab hielt. Er ritt neben Fräulein Mallner und verschwendete seine ganze Liebenswürdigkeit an sie, leider ohne Erfolg. Als Freund des Doktor Bertram war er gleichfalls verfemt und erhielt die unliebenswürdigsten Antworten.
Selma dagegen, die leicht und furchtlos im Sattel saß, war so heiter als es die Gegenwart der gestrengen Schwägerin nur zuließ. Sie trug noch immer schwarze Kleidung, weil ihr keine andere erlaubt wurde, aber der helle Strohhut mit dem weißen Schleier war doch ein Zugeständnis, das man dem Klima hatte machen müssen, und das Gesicht der jungen Frau blickte rosig und lieblich darunter hervor. Sie war vollends aufgeblüht in den letzten Wochen, und heute strahlte ihr ganzes Antlitz vor Freude über dies ungewohnte Vergnügen.
Fräulein Mallner bewachte sie und den Doktor wie ein Argus; die Ruhe des Feindes, der sich selbstverständlich auch im Nachtrab befand, täuschte sie durchaus nicht. Er hatte zwar keinen Versuch gemacht, Selma beim Aufsteigen zu helfen, und jetzt ritt er ganz friedlich neben dem Professor und unterhielt sich mit ihm, aber
[120][121] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [122] dahinter barg sich sicher eine neue Heimtücke. Sie saß förmlich dräuend auf ihrem Esel und harrte augenscheinlich nur auf ein Opfer, an dem sie ihren Grimm auslassen konnte.
Den Beschluß des Zuges machte Herr Ellrich, der sich in ziemlich niedergedrückter Stimmung befand. Er hatte zwar gar keine Gewissensbisse wegen seiner Fahnenflucht, aber um so größere Furcht vor der Entdeckung derselben. Er „sammelte“ sich noch immer zu der bevorstehenden Rebellion.
Der Ritt ging durch das weite, offene Land. Zur Linken der Nil, der jetzt, wo die Sonne noch nicht hoch stand, wie ein breites silbernes Band schimmerte, zur Rechten, noch von blauem Morgenduft umwoben, die fernen arabischen Gebirge. Hier und da erhoben sich einzelne Palmengruppen und in der Ferne zeigte sich bereits das Ziel, die Tempelruinen von Karnak. Darüber wölbte sich der Himmel im tiefsten, klarsten Blau und heller Sonnenglanz erfüllte die ganze Landschaft.
„Ein herrlicher Morgen!“ sagte Reinhart zu seiner Nachbarin. „Wir hätten nur etwas früher aufbrechen sollen, die Sonne fängt schon an, sich lästig zu machen, und wir haben heute den dreiundzwanzigsten Dezember – nach deutschen Begriffen ein merkwürdiges Klima!“
„Ein verrücktes Klima ist es!“ rief Ulrike ärgerlich. „Jetzt haben wir in Martinsfelde zwanzig Grad Kälte und dichtes Schneegestöber!“ Sie seufzte, als empfände sie Sehnsucht nach den eben geschilderten Annehmlichkeiten, und fuhr dann zornig fort: „Und das nennt sich nun hier Weihnachtszeit! Aber in diesem Wüstenlande ist ja alles verkehrt, sogar die Jahreszeiten sind aus Rand und Band. Hier schwitzt man schon am frühen Morgen und noch dazu auf einem Esel. Es ist ein schändliches Vergnügen, das Reiten!“ Sie ritt stumm in dräuender Haltung weiter, blickte mit unendlicher Verachtung auf den braven „Ramses“ nieder, der sich diese Geringschätzung durchaus nicht anfechten ließ und ruhig vorwärts trottete. Der kleine braune Führer trabte nebenher und schaute mit seinen listigen schwarzen Augen unverwandt zu Reinhart empor, bis dieser ihm ein paar arabische Worte sagte.
Auf einmal blieb „Ramses“ stehen und war nicht mehr vorwärts zu bringen. Alles Reißen und Zerren half nichts, er schien den weiteren Dienst verweigern zu wollen.
„Oho, was ist denn das? Ibrahim, was hat das Tier?“ rief Ehrwald und griff nun selbst in die Zügel; das hatte aber nur zur Folge, daß der Esel sich in einer ganz merkwürdigen Weise herumdrehte und mit dem Kopf nach rückwärts zu stehen kam. In demselben Augenblick gab ihm Ibrahim einen tüchtigen Schlag und nun lief „Ramses“ allerdings, aber in der verkehrten Richtung; der Junge, anstatt ihn aufzuhalten, rannte mit gellendem Geschrei hinter ihm drein und machte die Sache dadurch nur ärger. Reinhart warf sofort sein Tier herum und galoppierte nach, er erreichte den Flüchtling auch nach wenigen Minuten, aber dieser sah das als eine Aufforderung an, gleichfalls zu galoppieren. Er griff tüchtig aus und wie die wilde Jagd ging es nach Luksor zurück.
Die Zurückgebliebenen hatten natürlich Halt gemacht und Selma rief in tödlichem Schrecken: „Um Gottes willen – Ulrike! – Das Tier geht mit ihr durch!“
„Nicht doch, es galoppiert nur ein wenig,“ beruhigte sie der Doktor, der sofort an ihrer Seite war. „Ehrwald ist ja dabei, da geschieht nichts, wir können ganz ruhig weiter reiten. Nicht wahr, Herr Professor?“
„Jawohl!“ versetzte der Professor in kühlem Tone. „Aengstigen Sie sich nicht, Frau Mallner, wenn Ehrwald dabei ist, hat die Sache keine Gefahr. Sehen Sie, er bringt das Tier ja schon zum Stehen! Wir kommen zu spät nach Karnak, wenn wir uns zu lange aufhalten. Ich reite weiter.“
„Ich auch!“ rief Herr Ellrich kühn. Man sah, allerdings in ziemlich weiter Entfernung, daß die Tiere standen und daß Ehrwald aus dem Sattel sprang, trotzdem weigerte sich Selma, weiter zu reiten, und wollte durchaus warten. Da beugte sich der Doktor zu ihr hinüber und sagte so leise, daß nur sie ihn verstehen konnte: „Machen Sie es uns doch nicht so schwer! Ehrwald opfert sich ja nur auf, für mich – für uns beide.“
Die junge Frau wurde purpurrot, sie fing erst jetzt an, den Zusammenhang zu begreifen, und in höchster Verwirrung stammelte sie: „Wenn nur – wenn nur keine Gefahr dabei ist!“
„Nicht die mindeste, mein Wort darauf. Ehrwald hat die Verantwortung übernommen. Kommen Sie!“
Selma warf noch einen Blick zurück, sie sah, daß Ulrike jetzt mit Hilfe des jungen Mannes abstieg, und nun widerstrebte sie auch nicht länger, der kleine Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Inzwischen hatte Fräulein Mallner ihren Wüstenritt mit ihren beiden Begleitern gemacht. Ramses hatte galoppiert, was er nur konnte; zur Rechten rannte Ibrahim und schrie aus vollem Halse: „Yalla! Yalla!“ Zur Linken jagte Reinhart, bereit, jeden Augenblick einzugreifen, wenn die Sache gefährlich wurde, aber er unterschätzte die Energie der Dame, die sich bei diesem Abenteuer durchaus nicht furchtsam, aber um so wütender zeigte. Als nun vollends ihr Sonnenschirm wie ein Luftballon davonflog und sich ausgespannt auf dem Wüstenboden niederließ, da hätte sie beinahe eine wirkliche Gefahr heraufbeschworen, indem sie den unschuldigen Esel zu prügeln begann. Sich mit der Rechten am Sattelknopf festhaltend, puffte sie mit der Linken den armen „Ramses“, der das jedoch übelnahm. Er machte einen so bedenklichen Sprung, daß Ehrwald nichts übrig blieb, als in die Zügel zu greifen und ihn zum Stehen zu bringen.
Sie machten Halt. Ulrike war vorläufig noch atemlos. Ehrwald wetterte und schalt auf arabisch mit Ibrahim, der das anscheinend sehr zerknirscht hinnahm. Aber nach Verlauf von einigen Minuten bekam das Fräulein die Sprache wieder und nun brach das Ungewitter los. „Das ist ja eine heillose Wirtschaft hier in dieser Wüste! Die Sonnenschirme gehen verloren und die Esel gehen durch. Und dieser braune Range rennt und schreit wie besessen, anstatt zuzugreifen, der dümmste Bauernjunge in Martinsfelde hätte sich klüger benommen.“
„Ja, Ibrahim hat vollständig den Kopf verloren, ich habe ihn auch deswegen tüchtig ausgescholten,“ sagte Reinhart, aber nun kam die Reihe an ihn. Ulrike, anstatt sich für die geleistete Hilfe dankbar zu zeigen, fuhr ihn an: „Nun, Sie haben sich auch nicht viel klüger benommen! Sie galoppierten ja eine ganze Weile neben mir, ohne die Hand zu rühren. Warum griffen Sie nicht gleich in die Zügel?“
„Das war mir leider nicht möglich. Aber ich glaube, es ist besser, Sie steigen ab, dem Tiere muß irgend etwas sein, ich werde nachsehen.“
Fräulein Mallner war diesmal ausnahmsweise einverstanden mit dem Vorschlag, sie stieg mit Reinharts Hilfe ab und sah sich nun erst nach der anderen Gesellschaft um. Sie gewahrte mit namenloser Entrüstung, daß man von ihrer Abwesenheit gar keine Notiz nahm, sondern ruhig weiter ritt. Wer weiß, was da geschah!
Ulrike geriet in die äußerste Ungeduld und als die Untersuchung des braven „Ramses“, der jetzt wieder lammfromm dastand, noch immer kein Ende nahm, fuhr sie dazwischen.
„Sind Sie denn noch nicht fertig? Wir müssen aufsteigen, die anderen sind schon weit voraus.“
„Ich fürchte, Sie können den ‚Ramses‘ nicht wieder besteigen,“ erklärte Reinhart mit bedenklicher Miene. „Dem Tiere ist durchaus nichts, aber es scheint bösartige Mucken zu haben, und das kann gefährlich werden. Wir wollen gleich einmal die Probe machen.“
Er setzte sich quer auf den Damensattel und ritt eine kurze Strecke weit, aber unter seiner Hand fing der Esel augenblicklich an zu bocken und vorn und hinten auszuschlagen, die Sache sah äußerst gefährlich aus.
„Ich dachte es mir!“ sagte der junge Mann, indem er wieder herabsprang. „Sie werden den Ausflug aufgeben müssen, Sie hatten ja ohnehin keine Lust dazu.“
Fräulein Mallner sah ihn argwöhnisch an, in ihrer Seele tauchte ein dunkler Verdacht auf, die Sache gehe nicht ganz mit rechten Dingen zu.
„Das würde Ihnen und dem Doktor wohl passen?“ fragte sie höhnisch. „Es fällt mir gar nicht ein, zurückzubleiben. Geben Sie mir Ihren Esel, wir tauschen die Sattel und Sie werden mit dem bösartigen Vieh schon fertig werden.“
„Mein Esel trägt keinen Damensattel, er ist nur für Herren zugeritten,“ behauptete Reinhart mit der größten Bestimmtheit. „Wenn Sie durchaus auf den Ritt bestehen, dann müssen wir Ibrahim nach Luksor zurückschicken und ein anderes Tier holen lassen. Es kann aber eine Stunde dauern, bis er zurückkommt.“
„Und wenn es zwei Stunden dauert, ich will nach Karnak, ich warte!“
Mit dieser energischen Erklärung setzte sich Ulrike zum Schrecken ihres Begleiters mitten in den Wüstensand, gleichzeitig machte sie Ibrahim durch Zeichen begreiflich, er solle ihren Sonnenschirm holen, [123] der in nicht allzuweiter Entfernung lag. Das war nun allerdings eine verzweifelte Lage für Ehrwald, er konnte doch füglich nicht auf und davon reiten und das Opfer seiner Intrigue mutterseelenallein hier zurücklassen, und der unschuldige „Ramses“ war nun einmal für boshaft und gefährlich erklärt worden, man mußte notgedrungen dabei stehen bleiben. Reinhart machte noch einige Versuche, die energische Dame umzustimmen, aber vergebens, sie blieb sitzen, und so ergab er sich denn in das Unvermeidliche. Er sandte Ibrahim mit seinem Esel nach Luksor zurück und schalt ihn der Form wegen noch einmal aus. Der Junge trabte davon, immer noch ganz zerknirscht, mit gesenktem Kopfe, er war aber kaum hundert Schritte weit entfernt, da streichelte er seinen „Ramses“, als wollte er ihn für das ausgestandene Ungemach entschädigen, und lachte wie ein Kobold.
Reinhart überreichte inzwischen mit einer ritterlichen Verbeugung den zurückgebrachten Sonnenschirm, dann setzte er sich gleichfalls in den Wüstensand und sagte: „So, Fräulein Mallner, nun haben wir eine Stunde Zeit – nun wollen wir uns freundschaftlich unterhalten!“ –
Sonneck und seine Begleiter waren längst in Karnak eingetroffen, aber sie warteten auf den Professor, der versprochen hatte, den Führer zu machen, und der denn auch eine Viertelstunde später mit dem übrigen Nachtrab anlangte. Es wurde ihnen zuvörderst die Abwesenheit der beiden Zurückgebliebenen erklärt; sie kamen jedenfalls bald nach und konnten sich dann der Gesellschaft anschließen, die sofort die Wanderung durch die Tempelruinen begann. Aber schon nach wenigen Minuten waren Herr Doktor Bertram und Frau Selma Mallner verschwunden, was freilich nur Sonneck und Herr Ellrich bemerkten. Der erstere lächelte still vor sich hin und der letztere hielt gewissenhaft die versprochene Neutralität ein. Er wich nicht von der Seite des Professors und – ließ der Jugend ihr Recht.
So war mehr als eine Stunde vergangen, die Gesellschaft wanderte in den weit ausgedehnten Tempel- und Säulenhallen umher, staunte die Macht und Größe einer versunkenen Welt an und lauschte andächtig den Erklärungen des Professors. Aber zweie gab es, für die all diese Größe und Weisheit verloren war. Sie hatten weder Auge noch Ohr für die tote, mächtige Vergangenheit, sie hatten nur mit der lebendigen Gegenwart zu thun.
Fern am Rande des Tempels, wo eigentlich gar nichts zu sehen war und wohin sich nur selten der Fuß eines Besuchers verirrte, saß das junge Paar, vor sich die weite, sonnenbeglänzte Landschaft, über sich den tiefblauen Himmel, und auf den alten tausendjährigen Trümmern blühte ein junges neues Menschenglück empor.
Selma saß auf einer umgestürzten Säule und neben ihr Doktor Bertram, der den Arm zärtlich um sie gelegt hatte. Das blonde Köpfchen ruhte an seiner Schulter und die blauen Augen blickten zu ihm empor, aber es standen ein paar Thränen darin.
„Ja, ich bin Dir gut!“ sagte die junge Frau, einfach und innig. „Und ich bin Dir so dankbar für Deine Liebe. Mich hat ja niemand lieb gehabt seit meiner frühsten Kinderzeit, wo die Eltern starben, ich habe es immer nur hören müssen, daß man mir Gnade und Barmherzigkeit erwies, die ich eigentlich gar nicht verdiente, und ich bin so unglücklich gewesen in dem düsteren Hause von Martinsfelde – so grenzenlos unglücklich!“
Bertram streichelte leise das blonde Haar; man hätte nicht geglaubt, daß die Stimme des sonst so übermütigen jungen Mannes einen so ernsten, weichen Klang haben könne wie jetzt, als er antwortete: „Mein armes, süßes Kind! Ich weiß es ja, wie einsam und trostlos Dein Dasein gewesen ist, aber jetzt ist die schlimme Zeit vorbei, jetzt kommt der Sonnenschein. Ich werde es meiner Selma schon zeigen, daß das Leben auch Glück gewährt.“
Das glückselige Lächeln, mit dem Selma zu ihm aufschaute, verriet, wie unbedingt sie dieser Versicherung glaubte, und sich fester an ihn schmiegend, flüsterte sie: „Du sagst ja, ich sei gesund und würde es bleiben. Damals, als ich krank wurde, wäre ich gern gestorben, aber jetzt – jetzt möchte ich so gern leben!“
„Das wollte ich mir auch ausbitten!“ rief der Doktor. „Ich fange ja auch jetzt erst an zu leben. Ich bin allerdings frei gewesen und lustig durch die weite Welt gefahren, aber das Beste hat mir doch gefehlt, das halte ich erst jetzt in den Armen, und nun will ich es auch festhalten, mein Leben lang!“
Damit küßte er seine Braut, das heißt, er fing damit an und hörte vorläufig nicht auf, während er ab und zu ihr leise zärtliche Worte in das Ohr flüsterte, und Selma ließ sich das ohne Widerstreben gefallen, die beiden hatten die ganze Welt vergessen.
„Ich gratuliere von ganzem Herzen!“ ertönte plötzlich Ehrwalds Stimme, der hinter einer Säule auftauchte. „Bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich störe, aber ich muß das Sturmsignal geben – sie ist im Anzuge!“
„Hat nichts mehr zu sagen, wir sind einig!“ rief der Doktor, indem er freudestrahlend aufsprang. „Ehrwald – hier meine Braut!“
Selma hatte sich gleichfalls erhoben und empfing errötend den wiederholten Glückwunsch Reinharts, der jetzt zum Aufbruch drängte. „Und nun hin zu der Gesellschaft und die Verlobung bekannt gemacht! Sie haben noch zehn Minuten Zeit und es ist am besten, die Sache wird gleich veröffentlicht.“
Bertram war durchaus einverstanden mit diesem Vorschlag, ihm war es nicht entgangen, daß Selma bei der Nachricht von der Ankunft ihrer Schwägerin erschrocken zusammenfuhr. Wenn die Verlobung öffentlich verkündet war, gab es keinen Widerspruch mehr. Sie kehrten alle drei zu der Gesellschaft zurück.
Inzwischen hielt Ulrike Mallner ihren Einzug durch das Thor des Tempels. Der zweite Ritt war ohne Hindernis verlaufen, aber der Ritter, der bisher getreulich bei ihr ausgehalten, hatte sie kurz vor dem Ziele verlassen, um das „Sturmsignal“ zu geben. Er überließ es Ibrahim, ihr aus dem Sattel zu helfen.
Sie brauchte die Gesellschaft nicht erst zu suchen, ein lautes, fröhliches Stimmengewirr zeigte ihr den Weg, aber beim Eintritt in die große Säulenhalle blieb sie stehen, als sei sie, wie die Frau des seligen Loth, in eine Salzsäule verwandelt. Die ganze Gesellschaft drängte sich um einen einzigen Mittelpunkt, das war er, der Doktor, mit Selma an seinem Arme! Alles gratulierte und schüttelte ihnen die Hände und Herr Ellrich, dieser Verräter, war mitten darunter! Ulrike sah es mit einem einzigen Blick, die Schlacht war verloren, der Feind hatte gesiegt!
Er zögerte auch nicht, diesen Sieg zu benutzen. Kaum gewahrte er seine Gegnerin, so ging er mit seiner Braut auf sie zu und sagte mit einer wahrhaft vernichtenden Artigkeit: „Sie finden hier ein Brautpaar, Fräulein Mallner. Selma hat mich durch ihr Jawort sehr glücklich gemacht, wir erlauben uns, auch um Ihren Glückwunsch zu bitten.“
Und Selma, die schüchterne willenlose Selma, schien im Bewußtsein des Schutzes, den sie genoß, auf einmal mutig geworden zu sein. Sie zitterte nicht und sank nicht in den Boden, als sie der Blick ihrer Schwägerin traf, sie bestätigte vielmehr das Unglaubliche, leise aber doch mit ziemlich fester Stimme:
„Ja, liebe Ulrike, ich habe mich soeben verlobt.“
Der selige Martin hatte sich nach der Versicherung seiner Schwester im Laufe der letzten Monate sehr oft in seinem Grabe umgedreht, und zwar pflegte er dies nach derselben Quelle gewöhnlich dreimal hintereinander zu thun. Jetzt hatte das keinen Zweck mehr, er blieb ganz ruhig liegen, seine Rolle als Gespenst war ausgespielt. Sprachlos nahm Ulrike die Erklärung Selmas entgegen.
Glücklicherweise beugte der Professor der peinlichen Scene vor, die kommen mußte, wenn jetzt Ulrike das Wort für ihre Erregung fand. Er machte der jungen Frau scherzhafte Vorwürfe, daß seine altägytischen Erklärungen durch ihre Verlobung einen ganz modernen Schluß erhalten hätten und daß er sich das nicht gefallen lassen könne. Währenddessen fand der Doktor endlich Zeit, Ehrwald heimlich die Hand zu drücken.
„Ich danke Ihnen,“ sagte er leise, „das war ein Freundschaftsstück.“
„Aber das heißeste, das ich je geleistet habe!“ gab Reinhart lachend zurück. „Eine volle Stunde habe ich im Wüstensande gesessen mit dieser liebenswürdigen Dame und mich schlecht behandeln lassen wie Herr Ellrich – die Schuld von damals ist mit Zinsen heimgezahlt.“
Ulrike hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt. Sie wäre am liebsten wie ein Racheengel zwischen die beiden getreten, aber soviel Besinnung besaß sie doch, sich zu sagen, daß, wenn Selma überhaupt den Mut hatte, sich ihrer Bevormundung zu entziehen, sie machtlos war. Doch ein Opfer wenigstens mußte sie haben und so stürzte sie sich auf den armen Ellrich und schleppte ihn bis an den Fuß einer fernen Säule.
„Auf Sie habe ich mich verlassen!“ raunte sie ihm mit halberstickter Stimme zu. „Aber Sie haben mein Vertrauen schmählich getäuscht. Sie haben dabei gestanden und ohne Einsprache alles mit angesehen!“
„Nein, dabeigestanden habe ich nicht,“ erklärte Herr Ellrich, der [124] sich nun endlich genügend „gesammelt“ hatte und kühn die Rebellion begann. „Das haben die Herrschaften ganz allein unter sich abgemacht. Aber gratuliert habe ich, und ich war der erste, der es that!“
Ulrike rang nach Atem, um ihrer Entrüstung freien Lauf zu lassen, da trat Sonneck heran.
„Fügen Sie sich ins Unvermeidliche, Fräulein Mallner,“ sagte er begütigend. „Sehen Sie nur, wie glücklich das junge Paar ist, und gönnen Sie ihm doch dieses Glück! Ich habe es stets für ein Unrecht gehalten, daß Sie so hartnäckig widerstrebten. Ich war von Anfang an auf Seiten des Doktors.“
Ulrike sah ihn an, der Blick sagte deutlich: Auch Du, der Einzige, den ich für einen Menschen gehalten habe! Dieser letzte Schlag machte sie verstummen, sie wandte sich nur und schritt in die tiefste Tiefe der Säulenhalle, aber sie mußte es doch noch mit anhören, welche Rache Herr Ellrich für seine lange Sklaverei nahm. Er trat nämlich in die Mitte des Kreises und rief so laut er nur konnte: „Das Brautpaar soll leben – hoch!“
Und „hoch!“ hallte es von allen Seiten wieder, die ganze Gesellschaft fiel freudig ein, sogar die Eselsjungen draußen, die neugierig hereinschauten, schrieen mit. Sie verstanden zwar durchaus nicht, was da drinnen vorging, aber sie merkten doch, daß es etwas sehr Vergnügliches war.
Hutten in Rom.
Es sprach zum jungen Hutten
Herr Eitelwolf vom Stein:
„Dir weiß ich neue Waffen,
Ein andrer Ruhm sei Dein
Als mit dem Schwert in Händen
Zu messen Deine Kraft –
Jetzt fordert tapfre Kämpen
Die Wissenschaft.
Horch, wie so mächtig rauschet
Der Bildung frischer Quell!
Wie strahlt die Morgenröte
Der neuen Zeit so hell!
Tauch’ Deine junge Seele
In diese Flut nur dreist,
Und geh’ hervor als Ritter
Vom freien Geist!“
Drauf der gelehrte Burgherr
Den Jüngling unterwies –
Nicht wie man Schädel spaltet,
Auf Gegner führt den Spieß,
Nein, wie Latein und Griechisch
Man lernet wohlbedacht,
Wie man erkämpft voll Eifer
Des Wissens Macht.
Der Schüler war gelehrig …
Zwar ließ er nicht vom Schwert,
Doch hielt als Waffe höher
Er seine Feder wert.
Mit scharfen Epigrammen
Von klassischem Latein
Ins Heer der Obskuranten
Wie fuhr er drein!
Im Lederwams des Ritters
Ein fahrender Scholar –
An manchem Musenhochsitz
Er nun zu Gaste war.
In Platos lichte Weisheit
Ward er da eingeführt –
Hat elegant auf griechisch
Jetzt disputiert.
Dann aber zog’s ihn mächtig
Zur Stätte höchsten Ruhms,
Nach Rom, der stolzen Wiege
Des Humanistentums.
Erlauchte Professoren
Verhießen ihre Gunst,
Hier wollt’ er Meister werden
In seiner Kunst.
Doch wo einst Deutschlands Fürsten
Zum Kaiser man gekrönt,
Hört’ er den deutschen Namen,
Sein Vaterland verhöhnt,
Sah er die Ablaßgelder,
In Deutschland aufgebracht,
Verprassen und die Spender
Noch schnöd’ verlacht.
Und jäh stieg ihm zur Stirne
Das heiße Blut empor,
Als Kaiser Max, der treue,
Umsonst den Sieg beschwor,
Als er vor Frankreichs Heeren
Die Waffen strecken hieß,
Weil ihn des Reiches Hilfe
Im Stiche ließ.
Da hielt es ihn nicht länger,
Er wollte heim im Flug.
Auf einem Ritt sein Rappe
Ihn bis Viterbo trug.
In seiner Seele klangen
Kernworte, wild und stark,
Die Deutschen zu ermannen
In Geist und Mark.
Doch aus der Herberg scholl ihm
Entgegen andrer Klang,
Französische Gesandte
In Siegesüberschwang,
Die saßen lustig tafelnd
Gar protzig im Gemach,
Berauschend sich beim Weine
An Deutschlands Schmach.
Sie achten nicht des Gastes
Im Lederkoller schlicht,
Sie sehen nicht, welch Feuer
Aus seinen Augen bricht.
Sie prahlen und sie lästern
Laut weiter, frech und frank …
Da greift ans Schwert Herr Hutten,
Da zieht er blank.
Es hatte lang’ gefeiert
Der alterprobte Stahl,
Nun springt hervor er flammend
Als wie ein Wetterstrahl …
„Genug, Ihr Herr’n, der Worte!
Es gilt – setzt Euch zur Wehr!
Ich bin ein deutscher Ritter –
Hie Deutschlands Ehr’!“
Sie lachen … „Der – ein Ritter? …
Hallo – er meint es ernst! …
Gieb Raum, zieh’ ab in Frieden,
Eh’ Du uns kennenlernst!“
Da auf den ersten nieder
Herrn Ulrichs Klinge saust
Und streckt ihn jäh zu Boden …
Den andern graust.
Es giebt der Zorn den Hieben
Des Ritters grimme Wucht,
Noch trifft sein Schwert den zweiten.
Doch schon auf heller Flucht …
Er aber senkt die Waffe
Und blickt sie liebreich an.
„Gelt, das war deutsch geredet? …
So nun fortan! …“
Als dann im Heimatlande
Der Geisteskampf entbrannt,
Und Hutten kühn sein Denken
In Lied und Schrift bekannt,
Da hat sein höchstes Meinen
Er schlicht auf deutsch gesagt,
Deutsch klang hinfort sein Wahlspruch:
„Ich hab’s gewagt!“
Johannes Proelß.
Kaiser Friedrich – ein Freund des Turnens.
Die zahlreichen Jubelfeste, in welchen unsere Nation die Tage des großen Kriegs bis zu dem herrlichen Sieg und höchstem Lohn, der Gründung des Deutschen Reiches, im Geiste noch einmal erlebte und nachfühlte, haben in allen Gauen des Vaterlandes auch das Gedächtnis an den Helden neubelebt, der in hervorragendster Weise mit dem Schwert auf dem Schlachtfelde und mit weitem Scharfblicke im Rate der Fürsten die Einheit Deutschlands schaffen half, dessen Name für ewige Zeiten ruhmvoll unter den Begründern des neuen Reiches genannt werden wird. Kaiser Friedrich – er verstand nicht nur den Feind zu besiegen, sondern auch die Herzen zu bezwingen! Wie er das Vertrauen und die Liebe des Volkes zu gewinnen gewußt hatte, das bezeugt ja einer seiner volkstümlichsten Beinamen: „unser Fritz“. So nannte das greise kaiserliche Elternpaar seinen Sohn, und „unsern Fritz“ nannten ihn auch mit stolzer Freude deutsche Bürger in Nord und Süd. Was aber dem damaligen Kronprinzen so große Sympathien sicherte, war, außer dem Ruhme, der seine ritterliche Gestalt umgab, vor allem die lebhafte Teilnahme, die er an allen Regungen des nationalen Lebens bezeigte, sein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse des Bürgerstandes, sein Bestreben, die Entwicklung des deutschen Volkes auf der festen Grundlage besonnener Freiheit zu fördern. Die harmonische Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes bildete den Gegenstand seiner steten Fürsorge. Neben der freien Entfaltung des Geistes wollte er auch den Leib gekräftigt wissen. Er befolgte damit einen Grundsatz, der im Hause Hohenzollern seit jeher geübt wurde. Für unsere Zeit, die sich ernstlich bemüht, der drohenden Entnervung weiter Volksschichten durch Pflege zweckmäßiger Leibesübungen bei Jung und Alt zu begegnen, kann darum die leibliche Erziehung, die Kaiser [125] Friedrich zu teil wurde und die er später als Vater seinen Söhnen geben ließ, in mancher Hinsicht als Vorbild dienen.
In diesem Sinne mögen die Erinnerungen an die Beziehungen Kaiser Friedrichs zur Turnkunst und der Turnerschaft aufgenommen werden; als ein eifriger Anhänger desselben hat er sich ja selbst bekannt. Bei Gelegenheit der Turnvorstellung der königl. Turnlehrerbildungsanstalt in Berlin am 19. März 1886 bemerkte der damalige Kronprinz in einer Ansprache an die Zöglinge, von jeher sei er ein großer Freund des Turnens gewesen, schon 1838, „als man das Turnen noch von einer anderen Seite angesehen.“
Welche Verdienste Kaiser Wilhelm I. um die Förderung des Turnwesens sich erworben, ist schon in den früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ geschildert worden (vgl. u. a. Jahrg. 1888, S. 319). Kein Wunder also, daß er auch seinem Sohne von dessen frühester Jugend an eine sorgfältige körperliche Ausbildung geben ließ. Als Turnlehrer des Prinzen wurde Philipp Feddern berufen; er war ein einfacher Mann, ursprünglich Tischler, der dann dem Turnen, das er als Knabe auf dem Jahnschen Turnplatz in der Hasenheide liebgewonnen hatte, sich zuwandte. Allgemein beliebt und geachtet wegen seiner Biederkeit und mit Bescheidenheit gepaarten Tüchtigkeit, wegen seines sittlichen Ernstes, den er aber mit heiterem Sinn und froher Sangeslust sehr wohl zu vereinen wußte, ein aufopfernd treuer Freund, wahrhaft verehrt von der Jugend, steht Feddern noch heute, lange nach seinem Tode, in einem liebevollen Andenken bei seinen ehemaligen Schülern, die nunmehr ergraute Männer geworden sind.
Dieser Mann war wie geschaffen für den jungen Prinzen Fritz! Im Winter fanden die mit größter Regelmäßigkeit erteilten Turnstunden in Berlin statt, in einem Saale des von den Eltern bewohnten Palais. Dieser Saal war mit einfachem Turngerät, wie man solches damals auf dem Turnplatze gebrauchte, versehen. Im Sommer war’s freilich viel schöner. Da lebte man in Babelsberg, dem herrlichen Sitz an der Havel. Der Prinz bewohnte mit seinem Erzieher ein besonderes am Wasser gelegenes Häuschen. Unmittelbar daneben war das Badehaus, aus welchem man sofort in die freie Havel schwimmen konnte. Auch ein kleines Segelboot besaß der Prinz. So erlangte er schon in früher Jugend Fertigkeit im Schwimmen, worin er bekanntlich ein Meister war.
In der Nähe des Schlosses war in einem Eichenhain der Turnplatz angelegt. Hier wurde bei günstigem Wetter geturnt, bei ungünstigem ging man in einen Saal und trieb Hantel- und Stabübungen, auch Fechten, obwohl dieses von dem Fechtmeister am Kadettenkorps, Beneke, besonders gelehrt wurde. Zweimal in der Woche fuhr Feddern hinaus nach Babelsberg, sehr selten fiel eine Stunde aus. Am Turnen beteiligten sich noch einige Altersgenossen des Prinzen. Ein regelmäßiger und sehr eifriger Mitturner war der Erzieher, Ernst Curtius, der seitdem so berühmt gewordene Gelehrte, welcher, ein früherer Schüler Fedderns, es an Gewandtheit allen zuvor that, auch noch später als Professor in Göttingen das Turnen fortsetzte.
Prinz Fritz bewies bei dem Turnen dieselbe Treue und Gewissenhaftigkeit wie in allen übrigen Dingen, und so leistete er auch gleichmäßig Gutes.
Oft sahen die Eltern des Prinzen dem Turnen zu; auch der Prinzessin Luise gab Feddern Turnunterricht; sie entwickelte große Gewandtheit und Anmut in ihren Bewegungen.
Ein überaus schönes, ja herzliches Verhältnis bestand zwischen dem Prinzen und seinen Lehrern. Oefter wurden dieselben zu gemeinschaftlichem Essen eingeladen. Feddern, der stets im sogenannten altdeutschen Rock mit einer Reihe Knöpfe und bis oben zugeknöpfter Weste zur Turnstunde kam, fühlte sich anfangs unbehaglich, er versuchte, der Ehre der Teilnahme am Essen auszuweichen. Aber in liebenswürdigster Weise wurde er bedeutet, daß er als einer der Lehrer nicht fehlen dürfe, und so erschien er, ohne Anstoß zu erregen, in der gewohnten Tracht. Nur einmal mußte er sich zum Frack bequemen; das war 1848 in Charlottenburg bei der Konfirmation des Prinzen, zu der und dem darauf folgenden Galadiner König Friedrich Wilhelm IV. auch die Lehrer des Prinzen befohlen hatte. „Ja,“ hieß es, „Feddern, da mußt Du im Frack erscheinen.“ Er war in großer Verlegenheit, denn er besaß gar keinen Frack. „Frackverleihanstalten“ kannte man noch nicht. Es wurde ihm nun bedeutet, er möge nur kommen wie sonst. Das that er. In Charlottenburg aber nahm ihn ein Kammerdiener in Empfang, bekleidete ihn mit dem bereit gehaltenen Frack, band ihm eine weiße Binde um und machte ihn so salonfähig. Nach dem Diner legte er beide Kleidungsstücke wieder ab; das war das einzige Mal in Fedderns Leben, daß er einen Frack getragen.
Wie Prinz Fritz, so erhielten auch Prinz Friedrich Karl und der junge Prinz Albrecht von Feddern Turnunterricht, bis er – in der Nacht des 4. Juni 1849 – plötzlich an der Cholera erkrankte. Es war gerade Turntag. Ueberaus peinlich war es ihm, daß er nicht nach Potsdam fahren konnte. Sein Sohn mußte nach dem Bahnhof gehen, um nach Babelsberg die Nachricht zu besorgen, daß der Vater wegen Krankheit heute nicht kommen könne. Als er zurückkehrte, war dieser bereits verschieden. Elf Tage darauf starb auch die Mutter; für die verwaisten und vermögenslosen Kinder sorgten zunächst gute Freunde. Aber auch die Prinzen vergaßen ihren Lehrer nicht; sie ließen den Sohn Fedderns später auf ihre Kosten studieren.
Nach Fedderns schmerzlich beklagtem Tode übernahm Turnlehrer [126] Ballot den Turnunterricht, aber nur auf wenige Monate, da der Prinz inzwischen mündig wurde.
Ein weiter Schritt vom Jahre 1849 bis zum Jahre 1866! Wer Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre das „Neue Palais“ in Potsdam besuchte, dem fiel in den den kronprinzlichen Herrschaften zu ausschließlicher Benutzung vorbehaltenen Gartenanlagen ein hochragender Mast mit allem Zubehör auf. Derselbe diente nicht etwa als Schmuck, sondern turnerischem Zweck.
Eine Reihe von Jahren ist dahin geschwunden. Der schlanke Jüngling ist zum herrlichen Manne von leuchtender männlicher Schönheit herangereift. Er hat die englische Königstochter aus innigster Neigung heimgeführt. Sie hat ihn mit heranblühenden Kindern beschenkt. Das älteste Kind, ein junger Prinz, Wilhelm wie der königliche Großvater geheißen, dessen Liebling er auch wurde, war am 27. Januar 1866 sieben Jahre alt geworden. Nun sollte er die gymnastischen Uebungen beginnen, wie einst der Vater in demselben Alter. Premierlieutenant von Dresky, ein unübertroffener Meister in allen Leibeskünsten, erhielt den Auftrag, die körperliche Ausbildung des kleinen Prinzen zu leiten. 1868 kam der sechsjährige Prinz Heinrich hinzu.
Besonders für letzteren, den künftigen Seemann, wurde jener oben erwähnte Schiffsmast aufgerichtet. Er war ein Abbild des Fockmastes des königlichen Schiffes „Hela“, genau in derselben Höhe, mit derselben vollen Takelage auf der Werft in Danzig gearbeitet. Der Mutter des Prinzen, der Kronprinzessin Viktoria Wunsch war es gewesen, daß ein solcher Mast beschafft werde.
Derselbe kam an, er erhielt die geeignete Stelle; ringsum wurde genau in der Größe und dem Umfang des Schiffes der Rasen aufgestochen, so daß der Mast dastand, wo er in dem Schiff gestanden hätte. Zur Befestigung der Strickleitern dienten zu beiden Seiten am Rande des angedeuteten Schiffes angebrachte Schiffsborde. So waren dieselben Uebungen ermöglicht, welche von den Kadetten auf dem Schiff selbst auszuführen sind. Zum Schutz gegen etwaigen Sturz war unter dem Mast ein Netz über die Breite des Schiffes ausgespannt, es hatte aber, wie gleich bemerkt werde, kein einziges Mal seine Bestimmung zu erfüllen, trotzdem Schüler und Lehrer oft genug bis zur äußersten Spitze geklettert sind. Dieser Mast nun war für den Prinzen Heinrich bald ein Lieblingstummelplatz. Nichts Schöneres kannte er, als da hinaufzuklettern, sich oben im Mastkorb aufzuhalten. So gewann er in zartester Jugend schon den künftigen Beruf lieb. Anfangs leitete Herr von Dresky selbst die Uebungen, später wurde ein Matrose von der Matrosenstation im Jungfernsee bei Potsdam mit dem besonderen praktischen Schiffsunterricht beauftragt; Herr von Dresky behielt aber das eigentliche Turnen und das Fechten.
In der Nähe des Schiffes richtete der Lehrer auch einen Turnplatz ein und versah ihn mit den nötigen Turngeräten: mit Klettergerüst, Reck, Barren, Schwebebaum, Springvorrichtung.
An den Turnplatz schloß sich eine Hindernisbahn an, mit zwei Springgräben zum Hoch- und Weitsprung, einer Traverse (Erdwall), einer Barriere, einem Balanciergraben, einem Erdwall mit Pallisadierung. Auch ein Scheibenstand wurde hergerichtet. Im Winter stand im sog. Prinzessinnenpalais in Berlin ein Saal mit entsprechenden Einrichtungen zum Turnen bereit. Später diente dazu die ehemalige Aula des von dem Kronprinzen erworbenen Grundstückes des Französischen Gymnasiums.
So wurde von den Prinzen unter der Leitung des Lehrers aufs eifrigste geturnt, mit Stoß- und Hiebwaffen und Bajonettgewehr gefochten und geschwommen. Prinz Wilhelm war schon im zweiten Sommer ein rüstiger Schwimmer, er wurde ein trefflicher Schütze, ein passionierter Hiebfechter. Prinz Heinrich trieb mit besonderer Vorliebe alle die körperlichen Uebungen, die dem künftigen Seemann zu statten kommen. Der Unterricht des Herrn von Dresky erstreckte sich aber noch auf weiteres.
Der mittlere freie Raum, um den die Hindernisbahn herumführte, wurde benutzt, um den Prinzen Unterweisung in der Herstellung fortifikatorischer Arbeiten zu geben. Auf einer Tafel war zuvor der Grundriß aufgezeichnet, die technischen Bezeichnungen wurden angeschrieben und dann die Arbeiten ausgeführt. Eine kleine Lünette wurde von beiden Prinzen selbst aufgeschüttet; sie wurde mit Zugbrücke, Blockhaus und Geschützen versehen. Das zugehörige Material: Schanzkörbe u. s. w., wurde in einer besonderen Hütte aufbewahrt. Diese Lünette wurde in jedem Sommer einmal regelrecht belagert, durch Laufgräben angegriffen und erobert.
Dank einer solchen Erziehung wurden die beiden Prinzen ungemein kräftige, auch körperlich leistungsfähige und ausdauernde Knaben und Jünglinge. So ging’s bis zum Jahre 1874, bis zur Uebersiedlung der beiden Prinzen nach Kassel.
Auch den Prinzessinnen ließ der Vater von Herrn von Dresky Turnunterricht erteilen, der Prinzessin Charlotte vom 8. Jahre bis kurz vor ihrer Verheiratung, den anderen Prinzessinnen bis zu deren Einsegnung.
Es waren Frei-, Stab- und Hantelübungen und mannigfache Uebungen im Schwingen und Springen. Auch mit den Schwimmbewegungen, soweit dies auf dem Lande möglich ist, machte der Lehrer die Prinzessinnen vertraut; im Wasser schwammen sie unter Anleitung ihrer Mutter, welche des Schwimmens kundig war und großen Wert auf dasselbe als eine überaus kräftigende und gesundheitfördernde Uebung legte. Aber auch das Turnen schätzte dieselbe, und zwar in seinem vollen Umfang, auch das Turnen an Turngeräten.
Es ist ein schönes Bild, das sich uns zeigt, dieses frische, fröhliche Jugendleben unter den Augen der kronprinzlichen Eltern, welche kein größeres Glück kannten als den Verkehr mit ihren Kindern.
Wie sehr Kaiser Friedrich das Turnen schätzte, habe ich eine lange Reihe von Jahren hindurch zu beobachten Gelegenheit gehabt. Nicht allein war er mit seltenen Ausnahmen, die stets durch ganz besondere Abhaltungen veranlaßt waren, bei den Turnvorstellungen der königl. Central-Turnanstalt und späteren Militär- und Turnlehrer-Bildungsanstalt anwesend, sondern er ließ auch anderweit sich gern das Turnen vorführen. Er war ein besonderer Freund der Reigen und oft war seine erste Frage, wenn er in den Turnsaal eintrat: „Was werden Sie uns denn heute für einen Reigen vorführen?“
Unvergeßlich sind solche Vorstellungen für alle geblieben, welche das Glück hatten, daran teilnehmen zu dürfen. Wenn die Thüre geöffnet wurde und die hohe Gestalt des Kronprinzen hereintrat, wenn er mit leichtem Kopfnicken und bezauberndem Lächeln die Anwesenden begrüßte, so war es, als wenn ein Sonnenblick durch den Saal ging. Zunächst begrüßte er die ihn an der Thür empfangenden Herren mit Handschlag, ließ sich die Hilfslehrer vorstellen und wandte sich dann zu den in Reih’ und Glied aufgestellten Eleven. Den Flügelmann maß er mit den Augen, dessen Größe mit der seinigen vergleichend; er stellte sich wohl auch neben ihn, Schulter an Schulter, und es gab nicht viele, die dem Kronprinzen an Größe gleichkamen. Er ging, geleitet von dem Minister, dem Direktor und dem Unterrichtsdirigenten, die Reihe entlang, sich von den Einzelnen den Namen, die Stellung und den Wohnort nennen lassend. Es war erstaunlich, wie er bei jedem eine passende Anknüpfung fand. Er sprach mit jedem, wußte bei jedem Beziehungen zu finden. Dabei verging aber die Zeit, und es kam wohl vor, daß der Adjutant an den Aufbruch erinnerte, bevor das vorbereitete Turnen beendet war. Wenn möglich, gab er dann noch eine Viertelstunde zu; wenn der Adjutant aber bemerkte, daß der Kronprinz zu einer bestimmten Zeit zu Hause erwartet werde, dann mußte die Vorstelluug beschleunigt werden, aber den Reigen wollte er noch jedenfalls sehen. Derselbe war stets so eingerichtet, daß bei der Schlußstrophe ein Halbkreis gebildet wurde. Dann sagte wohl der Kronprinz: „Ich soll wohl wieder eine Rede halten?“ Und wenn dann bemerkt wurde, daß die Eleven sich glücklich schätzen würden, wenn Kaiserliche Hoheit sie einer kurzen Ansprache würdigen wollte, so ging er in den Halbkreis und sprach mit lauter und sonorer Stimme Worte der Anerkennung für ihre wackeren Leistungen. Einmal gab er auch eine Kraftprobe. Die Eleven stemmten schwere Gewichte in die Höhe. Da bückte er sich, nahm einen sechzigpfündigen Hantel und hob ihn ohne jegliche Anstrengung in die Höhe.
So hielt es Kronprinz Friedrich Wilhelm Jahre lang, noch bis zum Jahre 1887. Am 24. Februar hatte die Militär-Turnanstalt dem Kronprinzen ihre Uebungen vorgeführt. Damals war derselbe ganz heiser, so daß er kaum sprechen konnte und uns, die wir dastanden, aufforderte, ihn zu unterhalten, was wir auch nach Kräften thaten. Dann kam er zur Turnvorstellung der Turnlehrer-Bildungsanstalt am 18. März. Da war es mit der Stimme bedeutend besser. Sie erschien nur etwas belegt, aber wie sonst laut und verständlich. Niemals habe ich den Kronprinzen so frisch und munter gesehen.
Ueber anderthalb Stunden blieb er in der Anstalt und hielt [127] dann an die Eleven folgende Ansprache: „Meine Herren! Sie haben Vorzügliches geleistet. Wenden Sie das Gelernte in derselben Weise auch in Ihrer Schulpraxis an! Ich freue mich, daß die Jugend so bewährten Händen anvertraut wird, und hoffe, daß Sie in Ihrem Beruf dieselbe Disziplin handhaben werden, wie Sie sie hier gezeigt haben. Ich sage Ihnen hiermit Lebewohl! Mögen wir uns einmal wiedersehen, wo das Schicksal nur immer uns zusammenführt, sei es im Frieden, sei es im Kriege. Gott sei Dank, daß die Aussichten jetzt so friedlich sind!“ Das war das letzte Mal, daß ich den Kronprinzen in der Nähe gesehen, daß es mir vergönnt war, seine Stimme zu hören, daß ich einen Händedruck von ihm erhalten. Es kamen traurige Zeiten. Endlich kehrte er als todkranker Kaiser zurück. Da sah ich ihn noch einmal unter den Linden mit der Gemahlin im geschlossenen Wagen. Auf meinen ehrerbietigen Gruß neigte er in gewohnter Huld dankend das Haupt. Es war seine letzte Ausfahrt nach Berlin.
Geschichten des Herrn Direktors.
Ein Schulmann, der es treu mit seinem Beruf meint, bekommt auf seinem Lebenswege aus manchem bitteren Quell zu trinken, und wer ein halbes Jahrhundert der Jugend gedient und sich einen Orden dritter Klasse mit der Zahl Fünfzig zugezogen hat, der darf annehmen, daß er den Berufsärger in allen Sorten und Jahrgängen kennt. Ich habe Haare dabei lassen müssen; die ich noch an Schläfen und Scheitel trage, sind schlohweiß geworden; und es mag sein, daß an dem Ausfallen der einen und dem Ergrauen der anderen auch die Erfahrungen mit schuld sind, die ich mit einigen Musterschülern machen mußte: Jungen, die ihren Weg von der Sexta bis zum Abgangszeugnis als stille und sittsame Tugendbolde durchmaßen, um dann vor dem ersten kräftigen Hauche des freien Lebens abzufallen wie wurmige Obstblüten, oder als Streber und Feiglinge unserm Herrgott die Welt zu verhunzen. Aber ausgelassene, bengelhafte Burschen – was man so gemeinhin einen Thunichtgut nennt –, du lieber Gott, ich habe ihrer genug gehabt, aber ich denke nicht, daß mir um ihrer einen ein graues Haar gewachsen ist. Auch nicht um Paul Haselberg.
Zwar ein wilder Schlingel war er und unter keine Disciplin zu bringen. Schlanke, kräftige Glieder, urscharfe Sinne und einen rotborstigen Kopf voll sonderbarer Anschläge hatte er aus seiner Heimat mitgebracht, irgend einer sagenhaft abgelegenen Moorlandschaft da draußen im Flachland, wo zwischen Wallhecken und Tümpeln unzählige scheckige Rinder weiden und die Menschen in einsamen langgiebligen Häusern mit roten Schindeldächern noch ungefähr so leben, wie sie Tacitus kennenlernte. Ich hätte mir Paul Haselberg ganz gut in diese Welt hinein denken können und gewiß alles, was er dort trieb und anstiftete, nur als eine nützliche Illustration zum bessern Verständnis meines Tacitus begrüßt. Daß er aber das Leben eines jungen Germanen auch in den Klassenzimmern und Alumnatsälen fortsetzen wollte, wurde die nie versiegende Quelle der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir, zumal nachdem ich als sein Ordinarius und als Inspektor des damals noch bestehenden Alumnats doppelt für den elternlosen Schlingel verantwortlich geworden war. In einer Hinsicht freilich erleichterte er mir das Leben sehr; seit ich seinen Rotkopf aus der mir ganz besonders anvertrauten Herde hervorleuchten sah, bedurfte es vorkommenden Falles keiner Untersuchung mehr, um bei irgend einer Massenversündigung gegen die Schulgesetze den Rädelsführer herauszufinden; Paul Haselberg hatte von vornherein den Verdacht gegen sich, und er machte auch kaum jemals einen Versuch, diesen Verdacht zu entkräften, und nahm seine Strafe stets mit einer ruhigen Gelassenheit hin. Er schien sie als die ordnungsmäßige Begleichung eines Geschäfts zu betrachten, bei dem er der Lieferant war und seine Nichtsnutzigkeiten die Ware vorstellten.
Ich gestehe, daß ich unpädagogisch genug war, an dieser Gemütsruhe, die vor allem völlig davon absah, einen Kameraden mit in die Tinte zu reiten, eine gewisse Freude zu haben; und jedenfalls bewies auch er durch baldige Erneuerung, daß er mit dem Geschäftsverhältnis zufrieden war. „Nachtragig“ war er überhaupt nicht, zeigte sich stets bereit und vergnügt, wenn er für meine Frau – wir wohnten im Alumnat – einen Gang oder sonst eine kleine Besorgung übernehmen durfte, und behandelte insbesondere unser Nesthäkchen, die Ilse, mit einer Art ritterlichen Fürsorge, die denn allerdings sehr an die Grazie seiner vierfüßigen Landsleute draußen auf den Moorweiden erinnerte.
Na, dumm war er ja nicht, und er hatte sich denn auch glücklich trotz aller Verweise, Arreststrafen und sogar eines gelinden consilium abeundi bis in die Obertertia heraufgesessen. Hier aber stolperte er – über einen Strohhalm, wenn man einige seiner früheren Streiche in Vergleich zieht. Sein Maß war eben voll. Wir hatten damals gerade eine frische Kraft an die Spitze unseres Provinzialschulkollegiums bekommen, einen sehr umsichtigen Herrn, der neben anderen Reformen vor allem auch die Einführung gesundheits- und anstandsfördernder Klassenausstattungen ins Auge faßte. Mit Reskript Nr. 4711 wurde demgemäß an jedes Gymnasium eine Anzahl schön lackierter und sehr geräumiger Spucknäpfe versandt, die an geeigneter Stelle in den einzelnen Klassen aufzustellen und „im Bedürfnisfalle“ zu benutzen seien. Unser Direktor ließ die netten Dinger einstweilen vom Pedell auf den Speicher tragen, und dort standen sie noch, als eines Freitagsnachmittags die Anzeige eintraf, daß der Herr Schulrat andern Morgens die Anstalt inspizieren werde. Nun kamen die amtlichen Gefäße zu Ehren. Der Direktor ließ sie noch selbigen Nachmittags vor seinen eigenen Augen in den Ecken aufstellen; sogar im Kreuzgang – unser Gymnasium war damals noch in dem alten halbverfallenen und sehr lichtarmen Augustinerkloster untergebracht – fanden ihrer zwei ein Ehrenplätzchen, und alle wurden gemäß Bestimmung des Reskripts schön halbhoch mit Wasser gefüllt. Es sah ordentlich feierlich aus.
Am folgenden Morgen traf denn auch der hohe Besuch pünktlich ein. Der Direktor – natürlich im Frack wie wir Lehrer alle – hatte die Schüler vollzählig, nach Klassen geordnet, auf dem Schulhof Aufstellung nehmen lassen, in militärischer Haltung; auch das gehörte zu den Neigungen des neuen Vorgesetzten und durfte nicht versäumt werden. Ich verbrachte einige peinliche Minuten, da mein Flügelmann fehlte – Paul Haselberg; glücklicherweise kam er noch im letzten Augenblicke mit einigen anderen angesetzt – es blieb keine Zeit, sie über die Ursache der Verspätung zu befragen, denn bereits erschien zur Rechten des Direktors der Gewaltige, sichtlich angenehm überrascht von der tadellosen Paradeaufstelluug. Dann folgte die übliche Vorstellung des Kollegiums – eine kurze Ansprache des Rates, worin er uns unter anderem die tröstliche Mitteilung machte, daß in der Angelegenheit des Neubaues unserer Anstalt „Erwägungen schwebten“ – sie haben noch ein Vierteljahrhundert länger geschwebt; inzwischen könne ja immerhin schon manches zur sanitären Hebung und zur Verschönerung der Räume geschehen.
Der Direktor beeilte sich zu versichern, daß er in dieser Hinsicht es an nichts fehlen lasse, und als er den Vorgesetzten an der Spitze des Kollegiums in das Gebäude geleitete, wußte er den Weg so zu nehmen, daß die berühmten Gefäße im Kreuzgang gar nicht zu übersehen waren. Der Besuch öffnete den Mund zu einer lobenden Bemerkung – und schloß ihn wieder, stumm vor Staunen, wir aber kämpften mit erstickenden Lachanfällen – in den schönen blaulackierten Vasen schwamm je ein munteres Paar Goldfischchen, und wie die weitere Besichtigung ergab, war auch in allen Klassenzimmern das betreffende Gerät gleicherweise in ein Aquarium verwandelt!
Dieser Streich brach unserm Paul Haselberg – denn natürlich war er es wieder gewesen – den Hals; es wurde ihm nicht einmal als mildernder Umstand angerechnet, daß er sein ganzes Taschengeld darauf verwandt hatte, in einer unfern des Gymnasiums aufgeschlagenen Jahrmarktsbude den anmutigen Klassenschmuck einzuhandeln.
Seine Relegierung trug er übrigens mit einer Gelassenheit, die mich fast auf den Verdacht brachte, daß er es auf dieses Ende abgesehen hatte, um seinen Lieblingswunsch – zur See zu gehen – endlich erfüllt zu sehen; und in der That mußte sich sein Vormund [128] auch schließlich zu dieser ultima ratio verstehen. Vor seiner Abreise nach Bremen besuchte er mich noch einmal und dankte meiner Frau und mir ganz höflich und herzlich „für alle Nachsicht“. Mich rührte das ordentlich, ich ließ es nicht an guten Ermahnungen fehlen, er hörte sie ernsthaft an und versuchte sogar zum Abschied unserer dreijährigen Ilse einen Kuß zu geben.
Bei alledem traute ich seinen guten Vorsätzen und zumal dem Versprechen, uns „auch mal zu schreiben“, nur sehr mäßig. Aber nach Jahr und Tag bekam ich von ihm einen ganz netten, ausführlichen Brief von drüben aus Amerika; es gehe ihm jetzt soweit gut, auf der See habe es ihm nicht gefallen, aber er sei jetzt „beim Vieh“ und verdiene seinen Unterhalt, – ob er mir dann und wann einmal wieder schreiben dürfe, um nicht das Deutschschreiben zu verlernen? Na, ich schickte ihm denn eine entsprechende Antwort – nach irgend einem Neste mit einem großartigen Namen in Kansas oder da herum, und von da an bekam ich regelmäßig Nachrichten von ihm, – nicht allzu oft, aber immer erfreulich nach Stil und Inhalt. Meine Kollegen trauten der Sache nicht recht, und als ich ihnen nun gar so etwa sechs Jahre nach seiner Abreise einen Brief von dem jungen Manne zeigte, des Inhalts: er habe seine Farm verkauft, sei als Lieutenant in ein deutsches Freiwilligen-Regiment eingetreten und schon auf dem Marsche nach Süden, gegen die Secessionisten, – da waren sie so ziemlich einig darin: dies wird des Raben Ende sein. Aber in der Schlacht bei Richmond kommandierte er ein Bataillon und hatte sich, wie er fröhlich schrieb, „mit einer Schmarre quer über den Kopf das Majorspatent erworben“, und ein paar Jahre nach dem Krieg saß er mitten in dem Lande, das er für die Union mitzurückerobert hatte, irgendwo in Texas als Farmer und Viehzüchter, aber „en gros“, so zu sagen schon mehr Vieh-Baron. Und immer derselbe frische, treuherzige Ton in seinen Briefen, dieselbe Anhänglichkeit an die alte Heimat bei aller verständigen Würdigung der neuen. Meine Kollegen fingen an, Respekt vor dem Thunichtgut zu bekommen; ich hatte ihn schon längst, und es überraschte mich nicht, als ich nun während unserer großen Kriegszeit in den Zeitungen, die er mir sandte, seinen Namen immer obenan bei den Sammlungen und sonstigen Veranstaltungen der Deutschamerikaner seines Distrikts fand, noch immer Paul Haselberg, nicht Hazelmount oder so.
Dann ein paar Jahre nach dem Kriege – unsere Ilse war inzwischen zu einer stattlichen Jungfrau erblüht, die an Stelle ihrer frühverstorbenen Mutter mein kleines Heim regierte, und ich war zum Direktor „aufgestiegen“ – da meldete sich eines Tages ein Besuch von drüben, ein würdig aussehender, noch ziemlich junger Herr, der mir einen Brief von meinem früheren Schüler überreichte und sich als Kollege auf der Studienreise vorstellte; er sei beauftragt, nach seiner Rückkehr drüben ein „College“ nach deutschem Muster einzurichten, und möchte unter anderem auch meine Ansichten und Methode kennenlernen, auf Wunsch und Empfehlung von „Mister Hesselberg“; das ehemalige Schreckenskind unseres Alumnats war jetzt Mayor in jener allem Anscheine nach mächtig aufgeblühten Stadt und auch in Schulangelegenheiten ein größerer Herr als mancher Schulrat bei uns daheim. Der amerikanische Kollege wurde ordentlich beredt, als er uns – mir und Ilse – die Verdienste seines Vorgesetzten auseinanderzusetzen suchte.
Und schließlich ein Jahr darauf kam er selber; zu Besuch in meinem Hause, das hatte ich mir ausbedungen. Es war zu Anfang der großen Ferien, meine zwei ältesten Enkel – die Söhne von meinem Ältesten waren just tags vorher angelangt und brachten ihn mir jubelnd ins Haus: er hatte sie unterwegs getroffen und, wie er lachend sagte, „gleich das Pädagogenblut erkannt.“ Aber war der Mensch stattlich geworden! Breit und hoch, mit einem prächtigen blonden Vollbart, zwar die roten Haare über der breiten Narbe von anno 1865 noch immer widerborstig, „das hält sich, das liegt nun mal in der Rasse“, meinte er.
An dem ersten Abend – die Jungens waren von ihrer Tante diesmal mit einiger Mühe endlich zu Bett kommandiert worden – saßen wir noch lange beisammen, unser Gast, ich und Ilse; sie war ihm aus unserem Briefwechsel der letzten Jahre schon besser bekannt, hatte auch ein paarmal für mich geschrieben. Es gab viel zu erzählen, und er erzählte gut. Das Gedächtnis dieses Menschen erschien mir ebenso wunderbar wie sein treues, echt niedersächsisches Gedenken an die Zeiten und Stätten der Jugend. Es rührte mich wahrhaft, als er sogar noch allerlei Brocken aus dem Schulsack auskramte und verschiedene lateinische Genusregeln mit Feierlichkeit deklamierte; nur ein paarmal mußte Ilse verbessernd eingreifen. Aber von seinem Gedächtnis sollte ich noch eine merkwürdigere Probe kennenlernen. Folgenden Morgens führten wir unseren Gast in dem ferienöden Schulbau herum – es war noch immer das alte Kloster – „und hier, das ist unsere Obertertia von damals“, sagte er. „Richtig,“ erwiderte ich, „nur ist jetzt die Oberprima drin; aber das Zimmer ist noch wie früher.“ „O, warten Sie,“ meinte er, „dann muß da hinten neben der Bank, in einer Nische unterm Fenster, ja auch noch die Eselsbrücke zum Julius Cäsar liegen, die ich damals dort versteckt habe. Ich wollte sie der Klasse vermachen, aber Sie relegierten mich zu schnell.“ Das reizte mich nun doch etwas. „Sie werden vergeblich suchen,“ sagte ich, „meinen Sie, die Klassenzimmer würden bei uns nicht revidiert und sauber gehalten? Ihre Eselsbrücke – von der ich übrigens leider erst heute höre! – wird längst verschwunden sein, wie alle Hilfsmittel ihresgleichen. An meiner Anstalt haben die Schüler keinen Anlaß, sich solcher Mittelchen zu bedienen, und sie thun es auch nicht!“ Aber während ich noch spreche, kriecht mein Amerikaner schon unter dem Fenster herum, und wie er sich aufrichtet, hält er so ein paar nichtsnutzige grüne Hefte in der Hand und zeigt sie ruhig lächelnd meiner Ilse. „O, sehen Sie, Fräulein, aber es ist nicht die meinige, diese hier sind nicht für den Cäsar, sie sind für den Sophokles, ja, und Tacitus. Und sie sind noch sehr neu!“
Na, was das dann noch für ein Nachspiel nach den Ferien gegeben hat, für gewisse andere Leute – das gehört ja wohl nicht hierher. Die Nische habe ich gleich zumauern lassen. – Wir Drei haben aber einige sehr vergnügte Wochen miteinander verlebt; und erst die beiden Jungens! Die waren gar nicht mehr aus dem Zimmer zu bringen, wenn unser Gast anfing zu erzählen, von dem Leben drüben auf den Viehranchos und aus dem großen Bürgerkriege. „Lieber Freund,“ sage ich eines Abends, „Sie verderben mir die Jungen noch ganz. Heute haben sie wieder den ganzen Nachmittag Cowboy gespielt, und nächstens werden sie mir wohl noch durchbrennen, oder wenn das nicht ist, stecken sie meinem Kollegen in ihrer Vaterstadt wenigstens die ganze Sexta und Quarta an mit ihren abenteuerlichen Spielen.“ Da lächelt er so in seiner Art. „O,“ meint er, „ich denke, es macht nichts, wenn die Bubcn etwas wild sind. Wissen Sie – ich selber möchte Ihnen noch einmal so einen rechten Streich spielen, ehe ich abreise.“ Die Ilse lacht, und ich lache auch und sage: „So? Das ist ja noch schöner. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier unter meiner Disciplin stehen. Einen Streich werden Sie mir ja wahrscheinlich spielen – denn das weiß ich von früher, wenn Sie das mal wollen, so thun Sie’s auch – aber dann bekommen Sie auch Ihre Strafe: Sie werden mir das Brückenbaukapitel aus dem Cäsar schriftlich ins Deutsche übersetzen, und eher lasse ich Sie nicht wieder fort.“ „Das ist hart!“ meinte er, und da hatte er ja wohl recht, denn was dieses Kapitel angeht, so weiß jeder, der mal in Tertia saß, was es bedeutet, dazu alle Vokabeln aufzuschlagen. Wie er mich so erschrocken ansieht, sage ich: „Nun, Sie können sich meinetwegen von meiner Tochter helfen lassen!“ Und das durfte ich schon sagen – denn was eines alten Schulmeisters Tochter ist, die lernt so wie so mit der Zeit schon einiges mit, aber die Ilse hat ja ordentlich Latein bei mir gehabt – warum? Nun, es machte ihr Freude, und mir auch – und alsdann kann’s ja mal nicht schaden, obzwar, wenn man’s obligatorisch machte auf unseren Mädchenschulen – na, ich möchte den Posten nicht haben! …
Ein paar Tage darauf, wie ich auf meinem Studierzimmer sitze, fällt mir der Scherz wieder ein, und wie das so geht, fällt mir auch gleich ein, daß ich schon längst eine Stelle im Cäsar nachsehen wollte. Wie ich aber nach dem Buche greife, ist’s aus dem Regal verschwunden, und ich suche und suche vergebens. „Ilse,“ frage ich bei Tisch, „weißt Du nicht, wo mein „Caesar de bello Gallico“ steckt – weißt Du, die Ausgabe von Nipperdey, in Großoktav?“ „Die habe ich, Herr Direktor, und auch Ihr Lexikon dazu,“ bemerkt mein Amerikaner ganz gelassen, „ich übersetze an meiner Strafarbeit. Aber es ist sehr schwer, Fräulein Ilse wird mir viel müssen helfen.“ „Aber Mensch,“ sage ich, „Sie werden doch nicht …?“ „Ich werde,“ antwortet er – „ich werde Ihnen ja auch den Streich spielen!“
Tags darauf frage ich meinen ältesten Enkel: „Junge, wo steckt Deine Tante?“ „Die sitzt mit Onkel Paul beim Lernen, im Gartenzimmer,“ antwortet er. Und richtig, wie ich da hineingehe,
[129][130] sitzt unser Gast da am Tisch vor Büchern und Papier, die Ilse guckt ihm über die Schulter ins Buch und fragt, wie sie mich hört: „Du, Vater, das mußt Du uns aber schon erklären“ – aber ich zog mich schleunigst wieder zurück – denn unter uns, so ganz leicht ist mir die Erzählung Cäsars von seinem Brückenbau auch nie gewesen. „Laß die beiden allein fertig werden,“ sagte ich zu mir.
Und das wurden sie denn auch: denn ein paar Tage darauf, als ich nichtsahnend auf meinem Zimmer sitze, geht auf einmal die Thür auf und mein Amerikaner steht da, Hand in Hand mit der Ilse, hält mir einen beschriebenen Bogen Papier hin und sagt: „Hier, Herr Direktor, ist die Strafarbeit aber ich fürchte, Sie werden viel Fehler darin finden. Und seien Sie nicht böse, daß ich Ihnen den Streich gespielt habe – ich habe mich nämlich mit Ihrer lieben Tochter verlobt!“
Nun, da war ja schließlich nichts mehr gegen zu machen. Es ist mir freilich hart gefallen, sehr hart, mein Kind von mir fort zu lassen, über das Weltmeer hin; aber sie hoffte ja so gewiß, dort, an seiner Seite ihr Lebensglück zu finden – ich durfte es mit ihr hoffen – und sie hat es gefunden. Besucht habe ich die beiden nie, trotz all ihrer Bitten – es ist doch ein zu langes Ende Weg für einen alten Mann; aber sie selber sind ja alle drei oder vier Jahre mal zu mir gekommen – und jetzt zum Herbst kommen sie wieder: sie bringen ihren Aeltesten mit, der soll in der alten Heimat studieren – denn er will absolut Philologe werden, was doch eigentlich ein merkwürdiges Stück ist von einem Amerikaner und ein schöner Beweis, daß so ein richtiges deutsches Philologenblut gar nicht kleinzukriegen ist – es schlägt immer wieder durch. Na, dem werde ich aber einmal ein nettes Stück Uebersetzungskunst von seinen Eltern zeigen! Dieses Brückenkapitel! Ich habe es mit roter Tinte korrigiert – es ist mehr rot als schwarz daran. Einundzwanzig ganze und dreizehn halbe Fehler – „durchaus ungenügend!“
Liktor Kallmeyer! – Manchem früheren Schüler unseres alten Gymnasiums zu St. Augustin werden diese zwei Worte das ganze Bild der Schulzeit wieder vor die Seele rufen, deutlicher und vielleicht auch angenehmer als es der Name irgend eines Lehrers vermöchte. Vierzig Jahre lang war der ehemalige Unteroffizier Pedell an unserer Anstalt. Während dieser langen Zeit verwuchs seine Persönlichkeit so ganz mit dem Gymnasium, daß man sich eigentlich eins ohne das andere nicht mehr denken konnte. Generationen von Schülern hatte er Jahr um Jahr, von der Sexta bis zur Prima alltäglich mit dem Geläut der Schulglocke zur Pflicht gerufen, unzählige mehr oder minder berufseifrige Pädagogen hatten sein Gesichtsfeld durchkreuzt, und als einmal jemand bei einer Bismarckfeier darauf hinwies, daß unser großer Staatsmann vier preußischen Königen nacheinander gedient habe, bemerkte der Alte selbstbewußt: „Na, wissen Sie, ich stehe jetzt hier auch schon unter dem vierten Direktor!“ Seitdem wollten einige vorwitzige Leute ihm den Spitznamen „Kanzler Kallmeyer“ anheften.
Aber die geschmacklose Erfindung verschwand alsbald vor einer besseren, als ihn nämlich unser Primaner Mahrholtz – er ist jetzt ein angesehener Maler – in Wasserfarben malte, wie er als römischer Liktor mit dem Beil und dem Rutenbündel im Arme vor mir herschritt. Ich habe es dem Mahrholtz damals scharf verwiesen, denn es schickt sich nicht, daß ein Schüler – selbst an einem humanistischen Gymnasium – seinen Direktor in altrömischer Tracht darstellt, noch dazu mit der Glatze eines Cäsar, und das Blatt habe ich natürlich konfisziert, aber sorgfältig aufbewahrt und oft mit Vergnügen betrachtet; denn die Ausführung war gar nicht übel, und die Idee auch nicht. Wenn unser Kallmeyer vor der Andacht auf den Katheder stieg, um die Bibel zurechtzulegen und im Winter die Wachskerzen anzuzünden, – wenn er bei Schulfeierlichkeiten vor dem Rednerpulte stand, mit all seinen Dienstschnallen und militärischen Ehrenzeichen auf dem schwarzen Rock, aufmerksam des Augenblickes harrend, wo er als Erster mit hochgehobener Rechten in das von dem Redner zum Schluß ausgebrachte Hoch auf Seine Majestät einfallen werde, – oder wenn er mit einem klirrenden Schlüsselbund von mittelalterlich grausigem Aussehen irgend einen armen Sünder in das Karzerstübchen geleitete, – stets war seine hagere Erscheinung von einer Würde umflossen, die sich wirklich nur mit dem Amtsbewußtsein eines römischen Liktoren vergleichen ließ. Ihren vollsten Ausdruck aber fand diese Würde in Mienen und Haltung des Alten, wenn er zu Beginn und Ausgang der Stunden, den Blick auf die große Schuluhr gerichtet, an das Glockentürmchen auf dem Klosterhof trat und das Läutseil ergriff. In diesem Augenblick fühlte er sich vollkommen als die entscheidende Persönlichkeit, den Herrn über Freiheit und Schicksal aller dreihundertfünfzig Schüler an St. Augustin.
Mit der Zeit hatte sich von dem Selbstbewußtsein auch etwas in seine Ausdrucksweise gemischt, was sich besonders darin zeigte, daß er mir gegenüber von meinen direktorialen Sorgen und Obliegenheiten stets nur in der ersten Person Pluralis sprach: „Herr Direktor, wir werden heute nachmittag wohl Hitzferien machen müssen,“ – „Herr Direktor, wir müssen einmal die Schulgesetze in Erinnerung bringen, unsere Jungens werfen beim Spielen mit Steinen,“ – „wollen Herr Direktor nicht vergessen, daß wir heute um sechs Uhr Konferenz haben.“ Wenn das Abiturientenexamen nach Wunsch ausgefallen war, so sagte er: „Na, Herr Direktor, diesmal haben wir ja einen guten Jahrgang gehabt,“ – hatte es aber wenig Befreiungen vom „mündlichen“ oder gar einige Zurückgewiesene gegeben, so sah er mich wehmütig tröstend an und meinte: „Nun, Herr Direktor, nächstes Jahr werden wir wohl besser abschneiden!“ Denn er hatte ein Herz für die Schüler wie für die Schule, und ein guter Examensabschluß war ihm so etwas wie eine persönliche Auszeichnung.
Nachgerade waren wir beide grau geworden, ich fing an, mich auf das Leben im Pensioniertenstand vorzubereiten, – nur den Einzug in unser neues Gymnasium, dessen Bau gerade damals begonnen hatte, wollte ich noch abwarten, um dann einer jüngeren Kraft Platz zu machen. Der alte Kallmeyer wollte lange nichts von dergleichen wissen – „Herr Direktor, wir halten es noch eine Weile aus!“ Die Sorge ums Brod war es nicht, die ihn an seinem kleinen Amte festhielt; seine Tochter – ein hübsches braves Mädchen, die blonde Heldin mehrerer Jahrgänge Primanerlyrik – war mit einem Gärtner verheiratet, einem wohlhabenden Manne, der draußen eine knappe Stunde vor der Stadt wohnte, und sie hätten es längst gern gesehen, daß ihr Vater nicht mehr den Schulhof ausspritzte und die Schulglocke zog – aber wie gesagt, er wollte nicht dran. Eines Tages aber, bei der Andacht, da konnte er es mit dem Stehen nicht mehr aushalten und mußte sich vorn auf einer Schülerbank niederlassen. Tags daraus trat er bei mir an und meldete mir sein Abschiedsgesuch. „Es geht nicht mehr, Herr Direktor – da müssen wir eben hinter die Front.“ Er sagte mir das in militärischer Haltung und möglichst stramm, aber seine Stimme zitterte wunderlich, und seine braune, runzlige Hand auch.
So wurde er denn pensioniert – einen kleinen Orden bekam er auch – und ein jüngerer Anwärter, frisch vom Militär, trat an seine Stelle. Der Alte zog hinaus zu seiner Tochter; daß er es dort gut hatte, wußte ich unbesehen, und er sah auch recht sauber und wohlgepflegt aus, als ich ihm ein paar Monate später in der Stadt begegnete; aber es war doch etwas Gedrücktes in seinem Wesen. „Na, Kallmeyer, wo fehlt’s denn?“ fragte ich. „Ach, Herr Direktor,“ meinte er seufzend, „die Schule fehlt mir. Da draußen auf dem Gütchen, die Stille, und immer einen guten Tag um den andern – wissen Sie, das ist nichts für uns. – Ich muß sehen, daß ich wieder näher an die Schule komme.“
Das verstand ich nun erst nicht. Einige Wochen darauf aber hörte ich, daß er sich in einem Hause unfern der Schule ein Zimmerchen gemietet habe. Er hatte es nicht länger auf dem Lande ausgehalten. Nun konnte er doch alle Tage im Fenster liegen und sehen, wie die Schüler mit ihren Ranzen vorbeieilten und lärmten.
Eines Tages, um die Zeit der großen Morgenpause, stand er am Gitter des Schulhofes. „Nun, Kallmeyer,“ sagte ich, „immer munter?“ Er sah aber gar nicht munter drein. „Herr Direktor,“ seufzte er ganz kläglich, „es fehlt mir noch immer.“ „Was denn?“ Da deutete er traurig nach dem Glockentürmchen, wo der neue Pedell gerade die Klappthür öffnete und das Seil ergriff: „Das Läuten fehlt mir, Herr Direktor! Alle Tage hör’ ich es von dem Neuen, und ich selber hab’ es vierzig Jahre lang gethan – das ist hart!“
Ich erzählte meinen Kollegen von dem sonderbaren Schmerz des alten Liktoren. Sie lachten darüber, besonders die jüngeren. Aber eine Zeit lang darauf besuchte mich seine Tochter und klagte mir mit [131] thränenden Augen ihr Leid. Der Vater vergehe ganz in der Sehnsucht nach seiner Schulglocke, Tag und Nacht lasse es ihm keine Ruhe und der Arzt habe schon angedeutet, es werde ihm wohl die letzte Kraft vor der Zeit nehmen oder gar den Verstand. Ob ich ihm denn um Gottes willen nicht den Willen thun und ihn wieder läuten lassen wolle.
Das war nun eine wunderliche Sache. Ich selber war ja gern bereit, und die Kollegen nahmen es schon auf sich, die Sache den Schülern unauffällig zu erklären. Aber nun wollte der Neue nicht. Es sei ein Eingriff in seine Dienstpflichten, meinte er, und es schade seiner Reputation bei den Schülern und in der ganzen Stadt, wenn es aussehe, als ob er nicht einmal pünktlich genug sei, um zu läuten. Mit Mühe brachte ich ihn in einigen Tagen herum – eine kleine Geldsammlung unter den Kollegen – der Mann hatte glücklicherweise gerade Geburtstag – mußte nachhelfen. Während dieser Zeit hatte ich noch ein paar Besuche von der Tochter zu überstehen, und der Alte strich den ganzen Tag um den Schulhof herum, ganz blaß und gebückt und immer nur nach dem Glockentürmchen ausspähend.
Als er nun aber das Läutseil wieder anfassen durfte – diese Freude! Sogar der Neue wurde gerührt davon. „Herr Direktor,“ meinte er, „es ist mir jetzt ganz recht. Einem alten Kameraden muß man schon etwas zugute halten. Und wenn er mal nicht pünktlich ist, so werde ich schon aushelfen.“ Aber das war nicht nötig. Der alte Kallmeyer hatte während seiner ganzen Dienstzeit die Glocke nicht pünktlicher bedient als jetzt. Und ordentlich aufzuleben schien er bei ihrem dünnen, grellen Klang.
Eines Tages aber – es war ein paar Wochen vor dem Abiturientenexamen, dem letzten in unserem alten Klosterbau; das neue Gebäude war fertig, mit einem schönen Glockentürmchen und einer neuen Glocke darin – da winkte mir der Alte beim Vieruhrläuten so heimlich zu und deutete nach seiner Glocke hinauf. „Herr Direktor,“ flüsterte er, „sie hat einen Sprung!“ „Das weiß ich lange,“ sagte ich, „das müssen Sie doch auch wissen, man hört es ja schon seit Jahren!“ Aber er schüttelte den Kopf und meinte, er habe es nie vorher gemerkt.
Tags darauf fehlte der Alte beim Schulaufang; der Neue mußte für ihn einspringen. Ich schickte gleich nach der Wohnung des alten Liktors. Der Bote kam zurück mit einer Empfehlung von der Tochter: der Vater sei plötzlich schwer erkrankt, man habe sie noch in der Nacht hereinberufen.
Das gab mir ordentlich einen Stich ins Herz. Es war ja auch für mich wieder eine Mahnung, einer von den Boten des Todes, von denen das alte Volksmärchen erzählt, die er so höflich vor sich her zu einem schickt und die man so achtlos vorüberläßt.
Und da hat mir meine Prima – meine letzte – eine große Freude gemacht. Der Sprecher kam zu mir und verriet mir namens seiner Kameraden, daß sie schon vor Wochen heimlich sich an den Maler Mahrholtz gewandt und bei ihm – wohl mehr für gute Worte als Geld – ein Bild bestellt hatten, welches sie dem alten Liktor bei der Feier des Abschieds vom alten Gymnasium schenken wollten: es stellte ihn selber dar, wie er das Läutseil in der Hand, den Blick nach der Schuluhr gerichtet, seines Amtes waltete. Das Bild war just tags zuvor eingetroffen, nun baten sie, daß ich es – wenn der Arzt erlaube – mit ihnen unter Beisein meiner Kollegen jetzt schon dem Kranken überreichen möge.
„Eine reine Freude schadet nie,“ meinte der Arzt, und so haben wir dem Alten – man hatte ihn auf das Gütchen seiner Kinder hinausgebracht – das Bild folgenden Tages feierlich überreicht. Gewiß, eine reine und große Freude war es für ihn. Es hat immer an seinem Lager gestanden während der paar Wochen, die er noch so still und schmerzlos auslebte. Jetzt hängt es – ein Vermächtnis des Alten an die Schule – in dem neuen Konferenzzimmer.
Als ich ihn zuletzt besuchte, konnte ich ihm noch die Meldung bringen, daß meine letzten Abiturienten alle bestanden hatten. Da blickte er mit dankbarem Lächeln auf das Bild und flüsterte: „Es war aber auch ein sehr guter Jahrgang, Herr Direktor!“
Vier Tage darauf – an einem schönen, goldduftigen Frühherbsttage haben wir ihn bestattet, auf dem alten Augustinerkirchhof, unfern der Schule. Alle Schüler, das Kollegium an der Spitze, holten ihn von der Stadtgrenze ein. Das umflorte Schulbanner wurde über seiner Gruft gesenkt; und als der Prediger geendet, da klang – wie es der Alte sterbend gewünscht – von dem Klosterbau herüber durch die weiche Abendluft noch einmal das klingelnde, schmächtige Geläut des Schulglöckchens und mischte seinen hellen Ruf in das dumpfe Geräusch der niederkollernden Erdschollen.
Es waren Abschiedsklänge auch für mich. Als sich im nächsten Schuljahr die Pforten des neuen Gymnasiums öffneten, da hielt ein neuer Direktor die erste Andacht ab – und ein neues Glöckchen läutete sie ein.
Blätter und Blüten.
Ein Ehrentag deutscher Arbeit in Siebenbürgen. (Mit Abbildung S. 132.) Seit den letzten zwei Jahrzehnten sind die Siebenbürger Sachsen den Reichsdeutschen vertraute Freunde geworden, und zwar hat im besondern die „Gartenlaube“ wiederholt in Wort und Bild über das Leben und Streben unserer Stammesgenossen im fernen Osten und über ihr Ringen um die Erhaltung der deutschen Eigenart berichtet. In den letzten sonnigen Septembertagen des verflossenen Jahres wurde nun in Hermannstadt ein Fest gefeiert, das sich zu einem Ehrentag deutscher Arbeit gestaltete. Es galt, das fünfzigjährige Jubiläum des Siebenbürgisch-Sächsischen Landwirtschaftsvereins zu verherrlichen, dessen segensreiche Wirksamkeit in wirtschaftlicher und nationaler Beziehung die vollste Anerkennung verdient. In den vierziger Jahren, da im Volksleben überall neue Kräfte sich regten, wurde jener Verein von warmherzigen Volksmännern ins Leben gerufen; das Jahr 1848 machte jedoch seinem Wirken einstweilen ein Ende und einer seiner Vorkämpfer, Stefan Ludwig Roth, mußte seine Hingabe für die Interessen des sächsischen Volkes mit dem Leben büßen; 1849 wurde er wegen angeblichen Landesverrats erschossen.
Mit dem Eintreten ruhigerer Zeiten begann der Landwirtschaftsverein seine Thätigkeit wieder und hob sich unter der trefflichen Leitung eines ausgezeichneten Mannes, des hochverdienten Josef Freiherrn Bedeus von Scharberg. Es wurden landwirtschaftliche Schulen gegründet, die Viehzucht gehoben, das Kreditwesen organisiert und eine Zeitschrift, die „Landwirtschaftlichen Blätter“, ins Leben gerufen, die, belehrend und unterhaltend zugleich, den siebenbürgisch-sächsischen Bauern die moderne Landwirtschaft als Kunst und Wissenschaft vermittelt. Die wirtschaftlichen Verdienste und der deutsche Patriotismus Scharbergs wurden auch anderwärts anerkannt, außer anderen Ehren wurde ihm die zu teil, daß ihn die Heidelberger Universität gelegentlich ihres 500jährigen Jubelfestes zum Ehrendoktor der Rechte ernannte.
Diesem Manne brachte nun das Sachsenvolk am 28. September vorigen Jahres eine eigenartige Huldigung dar. Aus allen Gauen Siebenbürgens hatten sich Bauern und Bäuerinnen mit ihren Kindern eingefunden, um sich einem Festzug anzuschließen, in dem 3000 Bauern, von Künstlerhand geleitet, ein Stück deutscher Kulturarbeit sozusagen bildlich darstellten. Da ritt voran ein Bürgerbanderium mit den flatternden alten Standarten der Sachsen, ihnen folgten Stolzenburger Bauern zu Pferde in der farbenreichen Volkstracht. Hinter einer Bauernkapelle zogen allerlei bunte Gruppen, die Landwirtschaft in den vier Jahreszeiten darstellend. Den glänzendsten Punkt dieses Festzuges boten indessen die Neudorfer Bauern mit ihrem „Hochzeitszug“. Auf ihren prachtvollen reichgeschirrten Pferden saßen ergraute Männer und stattliche Burschen wie angegossen, schwenkten die Hüte und riefen ihr „Vivat, die Braut soll leben!“ Diese selbst saß verschämt im reichen sächsischen Schmuck im Wagen und nahm lächelnd die Huldigungen, die ihr in Form von reizenden Blumensträußchen aus allen Fenstern zuflogen, entgegen. Aus den vielen Typen dieses Festzuges haben wir gerade ein siebenbürgisch-sächsisches Brautpaar in der schmucken Nationaltracht herausgegriffen und führen es unseren Lesern auf der nächsten Seite im Bilde vor.
Der Festzug war verrauscht und am Abend des nächsten Tages brachten 800 Bauern ihrem verehrten Führer von Scharberg einen Fackelzug dar. Da richtete dieser edle Förderer der deutschen Kulturarbeit in Siebenbürgen an die Bauernschaft folgende Worte: „Wenn die Wurzel sich kräftig erweist, wird der Baum unserer Volksgemeinschaft forttreiben und grünen in dem mannigfachen Bestande von Laub- und Nadelgehölz, das in dem weiten Garten unseres Vaterlandes sich üppig aneinander drängt. So will ich denn dem zuversichtlichen Glauben mich hingeben, daß die Wurzel noch fort und fort gesund und lebenskräftig sich erhalten werde. Gott segne unsere sächsische Bauernschaft!“ Sicher findet dieser Wunsch kräftigen Wiederhall überall, wo deutsche Herzen schlagen! *
Preußische Gardejäger auf einem Jagdzug im Wildpark von Compiègne. (Zu dem Bilde S. 117.) Der große, etwa 15 Quadratkilometer umfassende Park von Compiègne diente seit alten Zeiten den Königen von Frankreich als Lieblingsjagdgrund und auch Kaiser Napoleon III. pflegte in ihm gern Jagden abzuhalten. In den Februartagen 1871 stand in dem Parke ein Kommando des preußischen Gardejägerbataillons – lauter gelernte Forstleute – welches mit dem Abschuß von Wild für das deutsche Hauptquartier in Versailles betraut wurde. Nach einem solchen Jagdzuge, dessen Ergebnis eine gute Jagd genannt werden konnte, wurde ein Bauer aus dem nahen Pierrefonds, dessen gewaltiges 1390 von Ludwig von Orléans gegründetes Schloß im Hintergrunde unseres Bildes sichtbar ist, mit Pferd und Wagen zum Transport requiriert. Nachdem die Jagdbeute aufgeladen war und einer der Gardejäger auf [132] dem Wagen Platz genommen, ging es die etwas holperige Straße nach Compiègne zu. Schon nach einer kurzen Strecke stieß der zweirädrige Karren heftig gegen einen Stein, was das Platzen eines morschen Gurtes, der die Gabel hielt, zur Folge hatte. Der Karren kippte nach hinten um und schleuderte die ganze Beute sowie den oben sitzenden Jäger zur Seite. Gelächter auf der einen und Schimpfen auf der anderen Seite war die Folge dieses unfreiwilligen Intermezzos. Inzwischen war ein französischer Forstmann, der sich bitter über die angebliche Verwüstung des Wildstandes beklagte, herangetreten, wurde aber freundlichst aufgefordert, beim Wiederaufladen des Wildes zu helfen. An jenem Jagdzug nahm auch ein Sergeant des sächsischen 1. Jägerbataillons „Kronprinz“ Nr. 12, Gustav Balzer, teil, der, gleichfalls gelernter Forstmann, die Malerei als Autodidakt betrieb. Er benutzte später den humoristischen Vorfall, dessen Augenzeuge er geworden, als Motiv zu einem großen Oelgemälde, das er am 16. Juni 1894 dem Gardejägerbataillon in Potsdam zum Jubiläum seines 150jährigen Bestehens stiftete. Unsere Illustration ist eine Wiedergabe dieses Gemäldes – zugleich eine Jagderinnerung aus der Zeit des großen Krieges.
Auf dem Rialto. (Zu dem Bilde S. 129.)
„Fahr’ mich hinüber, junger Schiffer,
Nach dem Rialto fahre mich!“ ...
Das ist ein altes Lied, ein heimisches Volkslied, das schon von unseren Vätern und Müttern gesungen wurde. Was sie sich schwärmend bei dem „Rialto“ dachten, ist schwer erfindlich; uns Kindern war’s ein Klang wie ein anderer auch, wie etwa der von dem rätselhaften „Fridolin“. Vielleicht hätten wir in Großvaters schweinslederner Bibliothek eine alte Scharteke aufgestöbert: „Das Jetztlebende Italia, das ist kurtze doch gründliche Beschreibung des Welschlands. Gedruckt zu Lindau im Bodensee. In Verlegung Theodori Hechtens. 1681.“ In diesem wohl ältesten „Bädeker“ über Italien ist dann zu lesen, was fast wörtlich auch der jüngste schreibt: „Der große Canal ist sehr breit, aber er ist nicht gerad, sondern gehet Schlangen-weise durch die Statt Venedig, so eine Zierd der gantzen Christenheit ist. Die Bruck Realto, so über diesen Canal gehet, stehet in der Mitten und ist die kühnste Bruck, so man sehen kann, denn es ist nur ein Bogen, wunderbarlich lang, breit und hoch und seynd vier Reyen Läden darauff, biß an der Zahl acht und viertzig, sambt 3 schönen Gassen vor die fürübergehende. Und diese Bruck ist ein Wunder der Welt.“
Der Zweck dieser Brücke ist, die beiden durch den Großen Kanal geschiedenen Hauptteile Venedigs miteinander zu verbinden, und bis über die Mitte unseres Jahrhunderts hinaus war sie die einzige, solche Verbindung herstellende Brücke. Sie bestand schon – allerdings nur aus Holz – als das älteste Venedig begann, sich aus den Lagunen zu heben. Erst sehr spät von 1588–1591, unter dem Dogen Pasquale Cicogna, stellte Meister Antonio da Ponte sie aus weißem Stein von Istrien her. Sie ruht auf 12000 Pfählen, ist 48 m lang, 22 breit und spannt sich in einem einzigen, fast 28 m weiten Bogen über die Flut. Noch immer trägt sie ihre Budenreihen wie in alter Zeit, noch immer entwickelt auf ihr sich ein ameisenähnliches Leben vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, denn sie führt zum Gemüse- und Früchte-, wie zum Fischmarkt, zu dem Tribunal, dem Assisenhof und zahlreichen anderen öffentlichen Anstalten; die bekannten Fabbriche Vecchie und Nuove, letztere von Sansovino 1555 erbaut, sind in der Nähe.
Und wenn wir hier nicht die interessanten Schillerschen Figuren wandeln sehen:
„Den düstern Räuber und den heitern Spielmann,
Den Säumer mit dem schwerbeladnen Roß –“
denn in diesen Gassen, auf diesen Brücken wandeln keine Rosse – so schieben sich hier tausend viel interessanterer Figuren wie in einem bunten Puppentheater durcheinander. Das ist ein Drängen und Treiben wie im Karneval, unten in den Gondeln, oben auf den Treppen; und wenn man nicht genau hinsieht, so möchte man meinen, die Alte sei zu neuem lustig-phantastischem Leben erwacht. Dies Leben ist aber im Grunde dasselbe kleine, beschränkte geblieben, das 1787 Goethe fand, als er das unglaubliche „Gehecke“ der engen, sehr schmutzigen Gäßchen durchwandelte, und das ihn zu dem Ausrufe bewegte: „Du lieber Gott, was doch der Mensch für ein armes gutes Tier ist!“
Diese „armen guten Tiere“, diese nichts mehr zu nagen habenden Biber leben noch heute, noch heute leben auch die von Goethe so reizend besungenen Lacerten oder Eidechsen:
„Wer Lacerten gesehn, der kann sich die zierlichen Mädchen
Denken, die über den Platz fahren dahin und daher.
Schnell und beweglich sind sie, und gleiten, stehen und schwatzen,
Und es rauscht das Gewand hinter den eilenden drein.“
Damals mochte das Gewand noch rauschen, sagt doch auch der obengenannte „Bädeker“ von den Frauen und Mädchen der Lagunenstadt: „Das Weibsbild tritt herein in stoltzem Habit; es ist gesunden Leibes, frewdig und bei Leuthen Redsprächig.“ Das letztere darf heute noch gelten, denn die Tochter Venedigs ist lustig-gesund, aber Seide und Brokate und Gold und Ambraschmuck sind mit der alten republikanischen Herrlichkeit dahingegangen! Das ist heute alles Baumwolle und mit dem Rauschen ist’s aus. Aber in den Augen und von den blühenden Lippen liest der Fremdling die alte königliche Geschichte der Stadt und wenn des Südens Abendsonne ihr Gold über das bißchen Kram auf der Rialtobrücke gießt, dann verwandeln die Kürbisse, Krautköpfe und Melonen sich in köstliche orientalische Warenballen und der argverschossene Prachtmantel der Königin von der Adria flammt wieder wie neuer Purpur.Woldemar Kaden.
Die neue Statue der „Berolina“. (Zu dem Bilde S. 125.) Im Jahre 1889 suchte König Humbert seinen kaiserlichen Verbündeten in der Reichshauptstadt auf, der Fürst des italienischen Südens den jungen Herrscher an der nordischen Spree, und groß war allenthalben die Begeisterung, die ihn grüßte. Die Stadt wurde u. a. auch durch gewaltige gipserne Bildwerke geschmückt; eins davon, Hundriesers „Berolina“, die dem Monarchen Blumen streut, gefiel in seiner glücklichen Improvisation so sehr, daß man nach verrauschter Festwoche beschloß, es dauernd der Stadt zu erhalten. Fast sieben Jahre sind seitdem vergangen – aber nun steht auch die stolze Schönheit in Metall getrieben, nun winkt sie nicht mehr allein Königen ein Willkommen zu, sondern allen, die mit der Bahn in das sausende Geschwirr der Weltstadt einfahren, hier ihr Glück zu versuchen. Sie hat ihren Platz auf dem Alexanderplatze erhalten, da wo die Altstadt, das „Centrum“ beginnt.
Das günstige Urteil, das die Berolina bei ihrem ersten Debut zu verzeichnen hatte, wird auch heute fast uneingeschränkt aufrechterhalten bleiben dürfen. Auf eckigem Porphyrsockel, der machtvoll aus dem Gewühl des Alltags aufstrebt, erhebt sich die gewaltige und doch wahrhaft anmutige Gestalt. Die eichenlaubumkränzte Mauerkrone schmückt ein stolzes Haupt, dessen vornehmes Profil Schönheit und Klugheit zu gleicher Zeit verrät. Ein Schuppenpanzer umschmiegt den Leib, über ihn hin flutet der um die Schulter gezogene prächtige Mantel; ungemein glücklich, ohne alle Theaterpose ist die lebhafte Geste der grüßenden Hand, und die Bewegung der Rechten, die sich auf den mit dem Berliner Bären verzierten, hohen Schild stützt, verdient nicht minder reiches Lob. Das Kunstwerk in seiner Gesamtheit muß jedenfalls zu den gelungensten gezählt werden, die sich Berlin in den letzten Jahren aufbaute; trotz der kolossalen Maße – die Gestalt ist 61/2, das Postament 71/2 m hoch – und bei aller Schlichtheit ist es von gewinnender Grazie. Neben dem schaffenden Künstler verdient Meister Peters, der die Berolina in Kupfer getrieben hat, Dank und Anerkennung.
Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (7. Fortsetzung). S. 117. – Preußische Gardejäger auf einem Jagdzug im Wildpark von Compiègne im Februar 1871. Bild. S. 117. – Ulrich von Hutten im Kampf mit französischen Edelleuten in der Schenke zu Viterbo. Bild S. 120 und 121. – Hutten in Rom. Gedicht von Johannes Proelß. S. 124. (Zu dem Bilde S. 120 und 121. – Kaiser Friedrich – ein Freund des Turnens. Erinnerungen von Dr. C. Euler. S. 124. – Die Statue der Berolina auf dem Alexanderplatz zu Berlin. Bild. S. 125. – Geschichten des Herrn Direktors. Nacherzählt von Ernst Lenbach. 2. Der Amerikaner. S. 127. 3. Liktor Kallmeyer. S. 130. – Auf dem Rialto zu Venedig. Bild. S. 129. – Blätter und Blüten: Ein Ehrentag deutscher Arbeit in Siebenbürgen. S. 131. (Mit Abbildung S. 132.) – Preußische Gardejäger auf einem Jagdzug im Wildpark von Compiègne. S. 131. (Zu dem Bilde S. 117.) – Auf dem Rialto. Von Woldemar Kaden. S. 132. (Zu dem Bilde S. 129.) – Die neue Statue der „Berolina“. S. 132. (Zu dem Bilde S. 125.)
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Beilage zu No 8. 1896.
Graf Eberhard im Bart. Zu den Gedächtnistagen dieses Jahres gehört derjenige des Todes von Graf Eberhard im Bart, des ersten Herzogs von Württemberg, der am 24. Februar vor 400 Jahren starb, dessen Ruhm aber noch heute im Volke lebt. Noch heute lernt jedes Schwabenkind als eine Art Nationalhymne das Lied von dem „Grafen im Barte“ singen, den die anderen deutschen Fürsten deshalb als den „reichsten“ preisen, weil er im sichersten Besitz der Treue seines Volkes lebt. Graf Eberhard, der zum Unterschied von seinen Vorgängern seinen Zunamen erhielt, war einer der friedfertigsten und gerechtesten Fürsten in jener kriegerisch bewegten Zeit, die vom Kampf der aufblühenden Städte gegen das entartete Rittertum ihren Charakter erhielt. Er gab dem Lande Württemberg, das im letzten Jahre seiner Regierung von Kaiser Maximilian I. zum Herzogtum erhoben ward, eine von liberalem Geist getragene Verfassung, um welche es andere deutsche Staaten in weit späterer Zeit noch beneideten. Die Unteilbarkeit des Landes regelte er durch Grundgesetze für ewige Zeiten, die Ueberwachung der Verträge und die Festsetzung der Steuern übertrug er den drei Ständen; für Stuttgart und Tübingen setzte er Städteordnungen ein, in den Klöstern stellte er bessere Zucht wieder her, der Wissenschaft war er ein eifriger Förderer, als Hauptmann des Schwäbischen Bundes wirkte er für den Frieden auch jenseit der Landesgrenzen, treu stand er zum Kaiser. 1445 als Sohn des Grafen Ludwig des Aelteren geboren, war er schon im 14. Lebensjahre an die Regierung gelangt. Bei solchem Mißverhältnis zwischen Lebensreife und Macht zunächst auf schlechte Bahnen geraten, wurde er durch eine Pilgerfahrt nach Jerusalem der späteren hohen Auffassung seiner Fürstenpflichten zugeführt. Die Beliebtheit, die er sich im Laufe der Jahre bei seinem Volke erwarb, war in der That so groß, wie es aus Justinus Kerners Ballade „Der reichste Fürst“ hervorgeht. Der hier verherrlichte Ausspruch ist historisch; Eberhard that ihn bei Gelegenheit seiner feierlichen Belehnung mit der Herzogswürde auf dem Reichstag zu Worms im Juli 1495 bei einem Festmahl. „Ich darf rühmen, daß ich in jedes Unterthanen Schoß sicher schlafen kann,“ so lauteten nach Melanchthons Zeugnis des Fürsten Worte. Zu seinem Gedächtnis ist im Hofe des Alten Schlosses zu Stuttgart ein Reiterstandbild errichtet, das dem malerischen Reiz seiner stimmungsvollen Umgebung sich passend einfügt. Nach Ludwig Hofers Entwurf in Erz gegossen, wurde es 1859 enthüllt. Die nebenstehende Abbildung läßt einen Teil der schönen Säulenarkaden erkennen, welche den Hof des Alten Schlosses umrahmen.
Das dritte deutsche Reichswaisenhaus zu Schwabach ist in seinem Bestehen gesichert und die „Deutsche Reichsfechtschule“ kann nunmehr zum Bau eines vierten Hauses für arme Waisen schreiten. Diesen Erfolg hat man zum großen Teil der Nächstenliebe des Rechtsanwalts Wilhelm Engerer zu danken, der dem Reichswaisenhause Schwabach sein Vermögen von rund 100000 Mark vermachte. W. Engerer wurde im Jahre 1836 zu Cadolzburg in Bayern als Sohn eines Gutsbesitzers geboren. In Erlangen besuchte er das Gymnasium, sowie die Universität. Im Jahre 1855 begann er das juristische Studium; er ließ sich 1869 als Kgl. Advokat in Bayreuth nieder. 1875 wurde er nach Traunstein versetzt, wo er bis zum Jahre 1889 verblieb. Kränklichkeit nötigte ihn, seinen Beruf aufzugeben. Er konnte sich aber nicht erholen; im Herbst 1893 wurde er von einem Schlaganfalle betroffen, an dessen Folgen er starb. Möchte doch das Beispiel dieses Wohlthäters auch bei anderen Kinderlosen von Vermögen Nachahmung finden!
Das „Neue bayrische Koch- und Haushaltsbuch“ von Anna Klein (Nürnberg, Groß) gehört zu den empfehlenswerten Führern für junge Hausfrauen und strebsame Köchinnen. Soviel das geschriebene Wort die mündliche Belehrung über die wichtige Frage „wie es gemacht wird?“ zu ersetzen vermag, ist hier geboten. Die Rezepte sind durchgängig nach guter Erfahrung verfaßt und geben alles, was die feine bürgerliche Küche erfordert, in wünschenswertester Vollständigkeit: Fleisch- und Fischgerichte, das Heer der süddeutschen Mehlspeisen und Bäckereien, die Zeitdauer zum Fertigwerden, sowie die genaue Angabe der Zuthaten. Der Anhang „Nützliches und Praktisches für Küche und Haus“ hilft einer Menge von kleinen Uebelständen und Schwierigkeiten ab. Vollständige Anweisung zum Einmachen und zur Bereitung von „Gefrorenem“ ist ebenfalls in dem hübsch ausgestatteten Buche zu finden, das zum Schluß eine Anzahl weißer Blätter enthält, auf welchen die Hausfrau eigene Erfahrungen dem Schatz der gedruckten mühelos anreihen kann.
Aspinalls Enamel (Emailfarben). Die von uns in der Beilage zu Nr. 5 d. J. erwähnten Emailfarben sind unter anderem auch zur teilweisen Bemalung und Füllung von Holzbrandarbeiten sehr geeignet. Man läßt das gebrannte Ornament hell stehen und füllt den Grund
mit Aspinalls Farben (wenn man eine Spur von Oelfarbe darunter mischt, kann man sie in jeder gewünschten Schattierung abtönen). Sie müssen zierlich aufgetragen werden, in der Art von Glas-Email, und dann gut austrocknen. Spiegelrahmen z. B. sehen mit zartblauer oder seegrüner Füllung außerordentlich hübsch aus. Auch große Blumentöpfe lassen sich mit diesen Farben zu eleganten
Topfhüllen umgestalten. Zuerst überstreicht man sie mit Leimwasser und läßt sie trocknen. Dann kommen eine gleichmäßige Schicht weißer Emailfarbe und auf diese, nachdem sie gleichfalls trocken ist, dunkelblaue und gelbe Ornamente in Delfter oder auch italienischer Majolikamanier. An vortrefflichen
Vorlagen fehlt es nicht bei dem großen Reichtum derartiger Werke, und das Einrichten der Motive für die Topfrundung macht nicht viel Schwierigkeit. Der fertige Gegenstand sieht außerordentlich hübsch aus und kann mit Wasser gereinigt werden. Bn.
Gefahren der künstlichen Gebisse. Für die Ernährung vieler Leute, welche das Unglück hatten, ihre Zähne zu verlieren, ist die Anschaffung eines künstlichen Gebisses wünschenswert, ja notwendig. Es wird aber dabei viel zu wenig darauf geachtet, daß das Tragen desselben mit Gefahren für die Gesundheit verbunden ist. Namentlich kann das Verschlucken
eines solchen Gebisses sehr schlimme Folgen nach sich ziehen. Neuerdings erklärte Professor Krönlein in Zürich in einem Vortrage, daß ihm 37 Fälle bekannt geworden seien, in welchen infolge dieses Verschluckens die schwere Operation der Oesophagotomie (Speiseröhreschnitt) ausgeführt werden mußte.
Von den Verunglückten genasen 29, während 8 starben. Professor Krönlein knüpfte daran eine Mahnung an die Träger falscher Gebisse, die in weiteren Kreisen bekannt zu werden verdient: man solle niemals versäumen, künstliche Gebisse beim Schlafengehen abzulegen und schadhaft gewordene sofort ausbessern zu lassen. In letzterer Hinsicht wird namentlich vielfach gefehlt. *
Zeitungsrollen aus Rohrmatten. In Hafenstädten, wohin manche ausländische Dinge leichter als irgendwo sonst hin ihren Weg finden, sind chinesische kleine Rohrmatten überall käuflich, die man dort vielfach zu einer einfachen originellen Zeitungsrolle verwendet. Man rollt sie rund zusammen, vergoldet sie mit Goldbronze und Siccativ und bindet sie oben nach dem Trocknen an beiden Seiten mit farbigen Seidenbandstreifen zusammen. Für die Mitte wird ein Stück farbiger Plüsch in Form eines Schildes geschnitten, schräg darüber mit Plattstich das Wort „Zeitungen“ gestickt, dann mit kleiner Schnur umrandet, worauf man es auf der Rolle befestigt. Man leitet zum Aufhängen des Ganzen zuletzt eine farbige, zum Bande passende Seidenschnur durch die Rolle, die man in der Mitte zu mehreren Oesen zusammennäht. He.
Statistik der Stierkämpfe. Im Laufe des Jahres 1895 wurden in Spanien, Portugal und Frankreich 731 Stierkämpfe veranstaltet. In denselben fanden 3657 Stiere und eine noch größere Anzahl von Pferden ein trauriges Ende. Die von französischen und spanischen Blättern veranstaltete Statistik verschweigt leider die Zahl der Menschenleben, die geopfert wurden, um einen der niedrigsten „menschlichen“ Instinkte zu befriedigen.
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