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Die Gartenlaube (1896)/Heft 40

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 40.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

     (2. Fortsetzung.)

3.

Den zweiten Stock des neuen, zwar kleinen, aber sehr geschmackvoll erbauten Hauses gegenüber der Volksschule bewohnte die verwitwete Baumeister Eichberg mit ihrer Tochter Hermine, und an diesem Abend, in der Stunde, in welcher Lisbeth im Römerschen Hause weilte, waren Mutter und Tochter in dem geräumigen und freundlich ausgestatteten Wohnzimmer bei einander. Der Raum zeigte die Einrichtung eines Damenzimmers, das weniger durch Kostbarkeit als durch Zierlichkeit wirkt. Viele schöne Malereien und Stickereien sprachen von dem Fleiße der Bewohnerinnen, und die Fülle wohlgepflegter Pflanzen und Blumen erhöhte den Eindruck des Behagens und der Gemütlichkeit darin.

Ein schöner Flügel nahm die Längswand des Zimmers ein. Er war geöffnet und die niedrigen Klavierlampen, die neben dem bereits mit Noten belegten Pulte brannten, schienen des Spielers zu harren. Durch die geöffnete Thür sah man im Speisezimmer einen mit drei Couverts gedeckten Theetisch, an dem sich ab und zu die Mutter zu schaffen machte.

Hermine saß am Fenster und sah auf die dürftig beleuchtete Straße hinaus. Ein Zug von Unruhe lag auf dem blassen Gesichte des Mädchens, dem die dunkelblonde, glatte Haartracht und die großen, schwarzen Augen ein fast krankhaft zartes Ansehen verliehen. Wenn sie eine Frage der Mutter beantwortete, bemühte sie sich, ihren Zügen einen gleichmütigen Ausdruck zu geben; aber mit jeder Minute, bei jedem Geräusch auf der Straße oder im Hause wurde ihre Erregung sichtbarer.

„Eben schlägt es acht Uhr, Hermine,“ sagte die Frau Baumeister, „jetzt kommt er nicht mehr. Laß uns zu Abend essen, Kind!“

Eine minutenlange Pause – dann erwiderte jene vom Fenster her, ohne den Kopf zu wenden: „Wir sind so sehr durch seine Pünktlichkeit verwöhnt. Es kann doch auch einmal etwas dazwischen kommen, und er hat noch stets abgeschrieben, wenn er verhindert war.“,

„Das heißt,“ meinte die Mutter zurück, „er hat die letzten drei Freitage sich brieflich entschuldigt, ohne Zeit zu finden, es persönlich zu wiederholen, da nimmt er es wohl als selbstverständlich an, daß wir ihn nicht mehr erwarten.“

„Du bist empfindlich, Mutter!“

„Es war doch sonst anders,“ gab diese zurück, „versäumte er je eine Höflichkeit? Benutzte er nicht jede Gelegenheit, um anzusprechen? Und diese verabredeten Freitage für euer vierhändiges Spiel hielt er

Im Zoologischen Garten.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

[670] fest, trotz aller Sommerhitze. Nun plötzlich, ohne sichtbaren Grund diese Aenderung – ich meine, da hat man doch Ursache zur Empfindlichkeit und zum Nachdenken!“

Hermine war aufgestanden, näherte sich der Mutter und schlang ihre Arme um sie, mit ihrer fast überschlanken Gestalt die kleine, rundliche Frau beinahe um Haupteslänge überragend. Diese seufzte. „Ich hätte nie einwilligen sollen in diese Verabredung,“ sprach sie im Tone des Selbstvorwurfs.

„Aber, Mama! Sind Dir diese Freitagabende nicht auch lieb geworden? Waren wir nicht froher und lustiger hier als in jedem Konzertgarten, und freutest Du Dich nicht auch schon immer vorher auf die Plauderstündchen bei Tische?“

„Nun ja, das will ich ja gern zugeben, er ist ein amüsanter und interessanter Gesellschafter, und – – “

„Und ein lieber Mensch, Mutti, nicht wahr, ein lieber Mensch!“ sie drückte den Kopf der Mutter fest an ihre Brust, wobei sie vermied, ihr ins Antlitz zu sehen.

Diese seufzte laut und entwand sich der Umarmung.

„Das ist’s eben, da liegt’s!“ sagte sie, mit Anstrengung einen harten Ton annehmend. „Warum mußte er hier eindringen und unseren Frieden stören? Es fiel mir wie eine Ahnung kommenden Unheils aufs Herz, als Du mir damals im Mai aus Ilmenau von dieser Bekanntschaft schriebst. Und wie ganz anders war dort Deine Meinung von ihm! Schriebst Du mir nicht als das allgemeine Urteil seiner Berliner Bekannten, er sei berüchtigt durch sein gewissenloses Spiel gerade mit ernsteren, schwer zugänglichen Mädchen, die er mit allen Mitteln für sich zu interessieren verstehe, um dann, wenn wieder eine Eroberung geglückt ist, mit klingendem Spiel zu einer anderen Fahne überzugehen. Und dieser gewissenlose Roué – –“

„Aber, Mama, dieses böse Wort habe ich doch wohl nicht gebraucht! Ueberhaupt hätte ich Dir nichts davon schreiben sollen, wenn ich auch zunächst den Mitteilungen der Berliner Damen Glauben schenkte. Denn als ich ihn selbst kennenlernte, wußte ich sofort, wie ungerecht ihr Urteil war. Dieser ernste, zurückhaltende Mann, der nur seiner Kur lebte, trotzdem gerade der große Kreis junger und hübscher Damen im Hause viel Geselligkeit bot, ein Mädchenjäger – wie lächerlich! Erst als wir einmal an einem Konzertabend eine längere Unterhaltung über Richard Wagner gehabt, schloß er sich dem musikalischen Teil der Gesellschaft mehr an und ergötzte uns nun oft durch sein herrliches Spiel.“

„Und dann musiziertet ihr täglich zusammen, er wurde Dein Begleiter auf allen Spaziergängen, und als in jener Zeit seine Versetzung von Berlin verfügt wurde und ihm die Wahl zwischen zwei Städten blieb, entschied er sich für Deinen Wohnort.“

„Aber doch nicht um meinetwillen, Mama – ich bitte Dich! Er pries allerdings den freundlichen Zufall, der es ihm nun gönnte, wie er sagte, die gemeinschaftliche Ausübung der geliebten Kunst und“ – um ihre bleichen Lippen spielte ein glückliches Lächeln – „die angenehme Bekanntschaft fortzusetzen; aber er hat doch wahrlich nichts gesagt, was mir irgendwie Berechtigung gab, mehr anzunehmen.“

„Nein, sicher – gesagt nicht, wohl aber gethan.“

„Besinne Dich nur, Mutti, wie schnell Dein Urteil über ihn sich wandelte, als Du ihn kennenlerntest. Wie freundlich schon bei seinem ersten Besuch Du ihn empfingst!“

„Ja, was blieb mir denn anderes übrig, nach den vielen Aufmerksamkeiten, die er für Dich gehabt, nach der Art, wie er Dich auf der Reise umsorgt hatte! Nach meinem Wunsche waren wahrlich diese regelmäßigen musikalischen Abende nicht – ich denke, Hermine, das weißt Du noch?“

„Und Du hattest doch hernach auch so viel Freude und Interesse daran!“

„Ja, freilich. Nachdem er es so lebhaft zeigte, wie wertvoll sie ihm waren, wie er jede, auch die lockendste Aufforderung ablehnte, um sie nicht zu versäumen, wie er um jede Minute geizte, die er länger bleiben durfte – da vergaß ich leider jene Warnung.“

„Ach – Mutter – – “

„Ich sah ja auch, wie es um Dich stand – wie Du nur in dem Gedanken an ihn, nur für diese Stunden des Beisammenseins lebtest, und wie die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft Dein ganzes Wesen erfüllte. Konnte ich da noch zwischen euch treten, konnte ich da noch den Versuch machen, Dein Herz von ihm zu lösen?“

Hermine war auf einen Stuhl gesunken und barg ihren Kopf zwischen den Händen.

„Ich habe ihm auch geglaubt,“ fuhr die Mutter fort, „ich gestehe es, ich habe mich trotz allem und allem durch sein Thun täuschen lassen. Er schien so glücklich hier, war so unermüdlich in jenen zarten Galanterien, die mehr Liebe verraten als alle Worte, und er sah es doch, wie Du dabei fühltest – konnte ich denken, daß ein Mann in seinen Jahren ein solch’ frivoles Spiel mit dem Herzen eines Mädchens treiben würde?“

Das leise Zittern, das Herminens Körper überflog, verriet es, daß sie weinte, aber obwohl das Mitleid, mit dem der Blick der Mutter auf ihrem Kinde ruhte, sich vertiefte, fuhr sie, ihrer Stimme Festigkeit gebend, fort: „Freilich hat mir immer zu denken gegeben, daß er es stets vermied, öffentlich mit uns zusammen zu sein. In den Konzertgärten, auf der Promenade wurde uns immer nur ein Gruß, nie ein Wort zu teil. Aber, was man hofft, glaubt man so leicht; ich dachte, gerade weil er es ernst mit Dir meinte, wollte er Dich vor etwaigem Gerede schützen. Aber es war nur die Vorsicht des herzlosen Egoisten!“

„Wie hart bist Du, Mutter,“ schluchzte das Mädchen leise.

In dem Augenblick ertönte im Flur die Glocke; Hermine sprang auf und machte eine Bewegung, als wollte sie dem Einlaßbegehrenden entgegen eilen. Die Mutter hielt sie zurück und ging hinaus, um selbst die Thüre zu öffnen. Vor derselben stand ein Diener in Livree und reichte mit den höflichen Manieren eines gutgeschulten, herrschaftlichen Lakaien ihr einen Brief hin.

„Vom Herrn Regierungsrat von Walden mit seiner ergebensten Empfehlung.“

Frau Eichberg trat ins Zimmer zurück und warf, während ihre Lippen vor Erregung zitterten, mit einer Miene der Geringschätzung den Brief auf den Tisch.

„Also einer Entschuldigung würdigt er uns doch noch!“

Ein vorwurfsvoller Blick aus Herminens Augen traf die Mutter, während sie hastig nach dem Couvert griff, es öffnete und halblaut las:

„Hochverehrte, gnädige Frau! Leider muß ich wieder für mein Nichterscheinen um Verzeihung bitten. Dringliche amtliche Arbeiten und eine Einladung, die, vom Chef kommend, doch mehr ein Befehl ist, zwingen mich – etc.“

Hermine atmete auf, ihre blassen Wangen hatten sich gerötet. „Siehst Du, Mutti, sind das nicht Gründe genug? Ist ein Mann denn so frei wie wir Frauen? Im Sommer konnte es leicht anders sein, weil die Geselligkeit ruhte. Nein, nein,“ rief sie und schlang die Arme um die Mutter, „Du sollst mir das Vertrauen auf seine Redlichkeit nicht nehmen. Ich will – will nicht an ihm zweifeln –

Kannst Du des Freundes Thun nicht mehr begreifen,
Dann fängt der Freundschaft frommer Glaube an.“


4.

Heute war endlich der erste Ball im Klub, und in allen zur Gesellschaft gehörenden Familien der Stadt rüstete man sich zu dem Vergnügen.

Auch in der Familie des Geheimen Oberfinanzrat Brückner herrschte zu Ehren dieses Festes eine heitere Geschäftigkeit. Lisbeth hatte den ganzen Vormittag an den zierlichen Unterkleidern Elfriedens geplättet, nun wirbelte diese auf weißen Atlasschuhen in den kurzen, spitzenbesetzten Röckchen im Salon auf und ab, um sich, wie sie versicherte, die Glieder für den Tanz geschmeidig zu machen. Dabei lachten ihre Augen so kindlich froh, das ganze Persönchen atmete so viel Lust und Leben, daß die ältere Schwester mit sichtlichem Wohlgefallen ihrem Treiben zuschaute. Endlich warf sich die unermüdliche Tänzerin hochatmend auf den Stuhl, der vor den großen Spiegel gerückt war.

„Schnell, schnell, Lisbeth, frisiere mich nun! Jetzt hast Du mich fest – hernach habe ich wieder keine Geduld.“

Lisbeth trat auch eilig hinzu, löste die langen, schwarzen Flechten und ließ den Kamm durch das glänzende, seidenweiche Haar gleiten; dabei schalt sie lächelnd: „Wie thöricht, Elfe, Dich so abzujagen! Als ob’s heute abend nicht ohnehin genug der Anstrengung würde! – Ueberhaupt! Wie viel wirst du noch tanzen in Deinem Leben!“

„Wer weiß!“ meinte jene. „Und als Frau hat man doch nur die halbe Freude davon –“

„Was fällt Dir ein, Kind? – als Frau!? Freue Dich Deiner Jugend und denke noch nicht an Heirat! So gut wird’s Dir doch nirgend, wie Du es im Elternhause hast.“

[671] Elfe rümpfte leicht das Näschen. „Ich würde ja doch nur heiraten, wenn ich es besser bekäme – das ist doch selbstverständlich.“

„Aber wenn Dein Herz dagegen Einspruch erhebt?“

„Man muß sein Herz mit seinem Verstande in Einklang zu bringen suchen, sagt Mama, und ich finde, sie hat recht. Warum seufzest Du, Lisbeth?“

Die Schwester machte eine ablehnende Bewegung.

„Sieh, Lisbeth,“ fuhr das junge Mädchen fort, „ich habe es gewiß gut hier, das weiß ich – ihr liebt mich ja alle so sehr und verhätschelt und verwöhnt mich, und es ist ja auch sehr nett bei uns – aber es ist doch auch vieles, was mir gar nicht gefällt –“

Lisbeth horchte auf und sah sie gespannt an.

„Dieses ewige Komödiespielen, als ob wir reich wären, und dabei das Sparen und Knickern! – Warum müssen die Weingläser auf den Mittagstisch gestellt werden, die man nie gebraucht, und die Flasche dazu, die niemals geöffnet wird? Warum muß der Bureaubote den Diener bei uns vorstellen, während er kaum mehr für uns thut, als die Visitenkarten herein bringen? Und Mamas falsche Diamanten ärgern mich auch so – darum will ich heiraten, damit alles echt bei mir ist: der Diener, auch der Wein und die Diamanten.“

„Und daß das Beste echt sein muß in der Ehe, daran denkst Du nicht?“

„Das beste – was denn?“

„Die echte Liebe muß man in die Ehe mitbringen, ohne die ist kein Glück.“

„Ach,“ meinte Elfe überlegen, „Papa und Mama haben sich aus Liebe geheiratet und lieben sich ja heute noch so sehr – darum sind Mamas Brillanten doch nicht echt geworden! Siehst Du, Lisbeth, weil Du solche altmodischen Ansichten hast, deshalb bist Du auch unverheiratet geblieben, und unverheiratet zu bleiben, das denke ich mir nun als das schrecklichste!“

„Wenn Dein Herz einmal erwacht, Du kleines, dummes Ding, dann wirst Du anders darüber denken, dann wirst Du sagen: Ihn oder keinen – und tausendmal lieber keinen als einen, von dem das Herz nichts weiß.“

Elfe sah sinnend vor sich hin, dann strich sie mit der Hand über die Stirn. „Das hilft nun alles nichts mehr – jeder muß wissen, was er kann,“ sagte sie, „aber wir wollen nicht weiter darüber reden.“

Die kunstvolle Frisur war nun auch vollendet, sie griff nach dem Handspiegel, beschaute sich von allen Seiten, rückte das Kränzchen ein wenig mehr zu Gesichte und schlüpfte dann schnell in das weiße, luftige, über glänzende Seide gearbeitete Ballkleid, das Lisbeth dann an Brust und Schultern mit Blumenranken besteckte.

Da wurde die Thür geöffnet, die Frau Geheimrätin rauschte herein, in hellgrauer Moirérobe mit endloser Schleppe, Taille und Rock reich mit wertvollen Spitzen garniert, und im Haar und an der Brust glänzten Sterne von geschliffenen Steinen, die wohl auch der Sachverständige mit bloßen Augen kaum als Nachahmung erkannte. Sie warf einen befriedigten Blick auf die liebreizende Gestalt ihrer Tochter und reichte ihr mit vielsagendem Lächeln ein unter rosa Seidenpapier verborgenes Bouquet, das diese sofort von seiner Hülle befreite, um eine zwischen die Blumen gesteckte Karte zu lesen. Während dem wandte sich die Mutter an Lisbeth.

„Für Dich ist eben dieses Telegramm angekommen.“

„Aus D.?“ rief diese erschreckt, riß das Blatt auf und stieß dann einen Freudenschrei aus.

„Bei Römers ist ein kleines Mädchen eingetroffen,“ sagte sie, ganz erfüllt von dieser frohen Botschaft.

Die Frau Geheimrätin nahm von dieser Mitteilung keine Notiz, aber Elfe schlang den Arm um die Schultern der Schwester.

„Da freust Du Dich wohl sehr. Zeige einmal her! – Eine kleine Lisbeth soeben angelangt“ – las sie halblaut; „sieh, Liesel, das ist doch nett, sie haben das Kind nach Dir genannt.“

Die Mutter war indessen an den Tisch getreten, hatte die Karte aufgenommen und blickte in größter Verwunderung und offenbar sehr enttäuscht auf dieselbe.

„Von Lieutenant Lüdeke – wie kommt der dazu?“

„Nun,“ meinte Elfe, „schließlich hat er gerade soviel Recht, sich niedlich zu machen, wie jeder andere. Ein entzückendes Bouquet, nicht wahr? Diese köstlichen Blumen – und nicht zu groß und nicht zu klein, so recht dazu geschaffen, in der Hand getragen zu werden.

„Das darfst Du aber nicht, Elfe!“ rief die Mutter erregt, „er könnte unliebsame Schlüsse daraus ziehen,“ und leiser setzte sie hinzu: „was würde Walden dazu sagen?“

„Das ist mir ganz gleich,“ meinte Elfe kurz und warf den Kopf in den Nacken; „wenn ich nicht die Blumen, die mir ein anderer schickt, tragen soll, müßte er diesem doch mit der gleichen Aufmerksamkeit zuvorkommen.“

Man klopfte – Lisbeth öffnete die Thür und reichte ein zweites Bouquet Elfrieden hin, wohl dreimal so groß als das zuerst erhaltene und mit überaus kostbarer Manschette von Atlas und Spitzen garniert.

Die Frau Geheimrätin strahlte, als sie die Karte gelesen, doch Elfe zog die Stirne kraus und machte ein böses Gesicht.

„Was fange ich mit dem Dinge an?“ sagte sie kläglich – „Walden scheint noch in seinem Leben kein Ballbouquet gesehen zu haben! Wie könnte ich mich wohl damit schleppen, das wäre ja die reine Last. Ich bin froh, daß ich schon versorgt war.“

„Aber, Herzchen, was fällt Dir ein?“ rief die Mutter lebhaft, „natürlich mußt Du dieses nehmen. Was geht Lüdeke uns an? Sage ihm ein paar höfliche Worte, dann hat er seinen Dank.“

„Nein,“ meinte Elfe eigensinnig, „ich thue es nicht; ich habe jenen Strauß zuerst bekommen, er gefällt mir viel besser, und – ich mag Walden nicht verwöhnen.“

„Sei nicht kindisch – Du verdirbst Dir den Abend – ich würde Dich eher zu Hause lassen, als solchen Fehler begehen.“

Sie legte leicht den Arm um Elfe, zog sie näher an sich heran und sprach leise auf sie ein.

„Nun,“ sagte diese darauf, „dann nehmt mir die künstlichen Blumen vom Kleide ab – wenn es denn sein muß, will ich alle tragen.“

Und mit zierlicher Handhabung zerpflückte sie das große Bouquet, bog sehr geschickt kleinere Sträuße zusammen, die sie selbst am Kleide und im Haar befestigte, und nickte nun wieder heiter ihrer Mutter zu, die völlig befriedigt diesem Wechsel zugesehen hatte. –

Im Ballsaal ertönte bereits die Musik und die Gesellschaft war fast vollzählig versammelt, als die Familie Brückner eintrat. Regierungsrat von Walden erwartete sie am Eingange und reichte nach den üblichen Begrüßungen der Frau Geheimrätin den Arm, während Elfe, trotz aller anderen Aufforderungen, den ihres Vaters genommen hatte.

„Sie sehen, ich habe mich mit Ihren Blumen geschmückt,“ lachte Elfe dann Walden an, „noch dankbarer kann man doch wahrlich nicht sein.“

Er blickte entzückt auf sie und den Blumenschmuck, murmelte einige Worte und machte sein Recht auf ihre Tanzkarte geltend. Sie guckte auf das Blättchen, als er seinen Namen schrieb.

„Nicht zu unbescheiden,“ mahnte sie schelmisch, als er einen zweiten Tanz notieren wollte, und legte den Fächer hindernd auf die Karte, um, nach einem bittenden Worte von ihm, denselben zögernd zurückzuziehen.

„So sagen wir also noch: die erste Quadrille,“ gab sie zu und erwiderte dann das freudige Aufleuchten seiner Augen mit solchem tiefen und zärtlichen Blick, daß er ein plötzliches Herzklopfen verspürte.

Ueber den Saal kam soeben mit federnden Schritten ein jugendlich schöner Offizier auf sie zu. Ihn erblickend trat sie von Walden fort und wendete sich um, damit dieser bei ihrem Gespräch mit jenem nicht ihr Gesicht beobachten könne. Sie hatte Lieutenant Lüdeke ihre Tanzkarte hingereicht und machte ihn auf verschiedene Zeichen aufmerksam, die sie an den einzelnen Stellen gemacht hatte.

„Das sind Ihre Tänze. Sind Sie nun zufrieden?“

„Glücklich bin ich, grenzenlos glücklich! – Und Sie tragen auch mein Bouquet -– ich danke Ihnen tausendmal! Hier auch,“ er zog verstohlen ein Papier hervor, „ein Poem, das die Blumen begleiten sollte, aber ich fürchtete Ihren Zorn.“

Sie lächelte, schlug die Augen auf und ließ diese eine Sprache reden, die er übersetzen konnte, wie er es sich wünschte.

„Stecken Sie nur das interessante Blatt weg,“ sagte sie lächelnd, „es findet sich später wohl Gelegenheit, es mir zu geben. Wir stehen ja gerade wie auf dem Präsentierteller. Und darum möchte ich auch bitten, strahlen Sie mich nicht so verliebt an – der ganze Saal sieht es ebensogut wie ich.“

„Wenn Sie wüßten, wie bezaubernd Sie sind, Elfe!“ und ganz leise hauchte er: „meine süße Elfe.“

Sie zog mißbilligend die Stirn zusammen.

„Das alles dürfen Sie mir morgen Nachmittag sagen, wenn wir uns zufällig um fünf Uhr in den Anlagen begegnen sollten.

[672]


Vorbereitung zur Wallfahrt in der Vorhalle der Großen Moschee zu Damaskus.
Nach dem Gemälde von G. Bauernfeind.

[673] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [674] Aber jetzt achten Sie doch wirklich ein wenig auf Ihre Mienen, und – bitte, bitte, bekümmern Sie sich heute so wenig als möglich um mich, sonst – müßten Sie morgen vergeblich warten.“ – Und wieder dieser innige Blick.

Er verbeugte sich und ging, während sie auf das kleine Fräulein Annie von Giersbach zulief, das eben vor der Geheimrätin einen Courknix, wie ihn der Tanzlehrer ihr eingeübt, vollführte.

„Ach, ich bin Ihrem Herrn Bruder so dankbar, daß er Papa diesen Ball für mich abgerungen hat,“ rief sie mit glückstrahlendem Lächeln Elfe entgegen, „es ist doch zu köstlich hier – und nun kommt gleich der Walzer. – Tanzen Sie auch so gern Walzer? – Freilich, einen tüchtigen Tänzer muß ich dabei haben – es ist doch eigentlich der schwerste Tanz – kommen Sie nie aus dem Takt?“

„Nein,“ sagte Elfe und kräuselte die Lippen etwas geringschätzig, „ich tanze nun den zweiten Winter, da macht man sich um den Walzertakt keine Sorgen mehr.“

„Wir haben immer geübt,“ erzählte Annie weiter, ohne von der Herablassung Notiz zu nehmen, „Mama und ich walzten an jedem Abend um den Eßtisch und gestern mußte sogar Papa heran, während Mama den Donauwalzer dazu sang.“

„Das muß ja ein köstliches Vergnügen gewesen sein,“ meinte Elfe und sah sich etwas gelangweilt um, „aber da kommt ja Leo – nun wünsche ich, daß es ihm glückt, ein würdiger Nachfolger Ihres letzten Walzertänzers zu werden.“

„O, er tanzt gewiß noch viel besser als Papa,“ flüsterte Annie und erwiderte die Verbeugung des Herrn Referendars nun auch mit einem so nach allen Regeln ausgeführten Knix, daß dieser etwas verblüfft auf diese Bestrebungen der kleinen Dame schaute.

Er reichte ihr den Arm und sie traten in die Reihen der Tanzenden, und bald war es seiner Unterhaltungsgabe geglückt, den offiziellen Ton, den sie, erfüllt von der Feierlichkeit des ersten Balles, angeschlagen hatte, in natürliche Bahnen zu leiten.

Die Frau Geheimrätin blickte immer wieder und wieder sehr mißfällig auf das plaudernde Paar, das über der lustigen Unterhaltung ganz seine Umgebung vergaß und dessen helles Lachen zuweilen sogar bis zu ihr herüber tönte.

„Nein, dieser Junge, was hat er nur an dem Backfisch,“ sagte sie ganz ärgerlich vor sich hin, „ich glaube wirklich, er kokettiert mit dem Kinde nur, um seine Unabhängigkeit von meinem Einflusse zu beweisen. Wie Grimms das wohl aufnehmen werden? Dora ist so empfindlich in diesem Punkte, ich fürchte wirklich, er verschlägt sich dort damit alle Aussichten. Und das nun so ruhig mit ansehen zu müssen! Ach, wie viel schwerer sind doch Söhne zu leiten als Töchter!“

„Also, wenn Sie wirklich nur noch einen Tanz über hier bleiben, dann müssen Sie mir noch eine Tour versprechen,“ bat Leo nach Beendigung des Walzers, während er seine Tänzerin in sehr, sehr langsamem Schritte zu ihrem Platz zurückführte.

„O, sehr gern,“ sagte Fräulein Annie, „das ist reizend, nun freue ich mich auch auf den nächsten Tanz! Ich dachte erst, ich machte mir nichts daraus, wenn Papa jetzt schon nach Hause ginge, das schönste ist ja doch vorbei – ich meine nämlich den Walzer,“ erklärte sie, voll Verlegenheit über ihre eigenen Worte erglühend.

„Aber wie wollen Sie das machen? Es schickt sich doch nicht, daß der Herr seine eigene Dame stehen läßt, um sich eine andere zu holen.“

„So, schickt sich das nicht? Haben Sie das auch in der Tanzstunde gelernt?“

Sie nickte ernsthaft. „Sie dürfen es auch nicht. Papa würde schelten, wenn ich die Veranlassung zu solcher Unhöflichkeit wäre.“

„So mache ich es anders. Mit dem Herrn Papa wollen wir es nicht verderben. Ich habe den Tanz noch frei und behalte ihn auch, dann kann ich mich wohl durch eine Extratour entschädigen.“

Ein herzliches Lächeln dankte ihm.

„Wie nett Sie immer sind; wirklich, so ist uns geholfen.“

Aber der Frau Geheimrätin war garnicht damit geholfen. Leo lehnte in der Thür zum Nebensaal, sah dem Tanze zu und holte sich dann einmal – nein, zweimal nach einander die kleine Giersbach zu einer Extratour. Das mußte doch auffallen! Da war ja völlig ein Gerede provociert! Was macht der alte Oberst wohl für ein Gesicht dazu, und – Grimms! Die Kommerzienrätin pflegte sonst sie immer zuerst zu begrüßen, heute war sie noch nicht heran gekommen. Was man für eine Not mit dem Jungen hat! – ach, welche Aufregungen solch ein Ball für eine Mutter mit sich bringt!

Endlich kam die Pause. Giersbachs traten alle an, um sich zu empfehlen, und Leo lehnte nun wieder an einer Säule, ohne sich um seine weiteren Verpflichtungen zu kümmern. Da plötzlich – die Geheimrätin atmete auf – schien er sich dieser zu erinnern, denn er schritt jetzt auf eine Gruppe zu, die am Ende des Saales neben einer Ottomane plaudernd stand. Ihr Mittelpunkt war Fräulein Dora Grimm, ein großes, blühendes Mädchen mit sehr voller, eleganter Figur und einem Stumpfnäschen in dem runden Gesicht, das sie so hocherhoben trug, als wollte sie damit sagen: wie schlecht es hier riecht! Sie unterhielt sich sehr lebhaft mit einem Hauptmann von flotter, schöner Erscheinung, der freilich schon im Kampfe des Lebens viel Haare hatte lassen müssen und für diesen Mangel nun durch einen schneidigen Schnurrbart, an dem er beständig drehte, die Mitwelt entschädigte.

Herr Leo Brückner trat grüßend heran. Man dankte, aber Fräulein Dora Grimm hielt das begonnene Gespräch mit dem Offizier fest und nahm keine Notiz von seiner Annäherung, ja sie ging so weit, sich auf das Sopha niederzulassen und dem Hauptmann mit einer Handbewegung den zweiten Platz anzubieten. Den interessierte aber offenbar ein anderer Kreis im Saale mehr, und nachdem er stehend das Gespräch zu Ende geführt hatte, beurlaubte er sich.

Leo war zu Seiten des Diwans getreten und wartete schweigend auf diesen Augenblick; nun jener gegangen, beugte er sich ein wenig näher und fragte mit einem etwas sehr sicheren Tone: „Und welche Tänze haben Sie für mich notiert, gnädigstes Fräulein?“

„Daß ich nicht wüßte,“ war die kühle Antwort, „ich erinnere mich nicht, darum gebeten worden zu sein.“

Er lachte, und sie wandte ihr Gesicht ganz von ihn: ab.

„Wollen Sie mir nicht gütigst Ihre Tanzkarte gestatten, ungnädigstes Fräulein?“

„Warum?“ tönte es zurück, „sie wird mit der Ihren doch wohl nicht in Einklang zu bringen sein; auf diese hat für den heutigen Abend wohl ganz und gar Fräulein von Giersbach Beschlag gelegt?“

„Aha,“ er pfiff leise durch die Zähne, „nun verstehe ich erst: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“

Eine dunkle Blutwelle flog über ihr Gesicht.

„Was heißt das nun wieder auf Deutsch?“

„Sehr einfach, meine Gnädigste: Sie sind eifersüchtig, Schönste der Schönen!“

„Sie sind unverschämt, Herr Referendar!“

„Herr Gott, es fällt nur gar nicht ein. Ich will nur das, was Sie mir verwahrt haben. Geben Sie mir schnell Ihre Karte, ich kann sie Ihnen doch nicht aus dem Gürtel ziehen; da kommt eben Dorguth an, der bettelt Ihnen, wenn Sie sich länger zieren, noch einen Tanz ab, und dann ärgern Sie sich ja wieder den ganzen Abend darüber, daß Sie ihn selbst sich so verkümmert haben.“

Herr Assessor Dorguth war näher getreten und beeilte sich, seine ergebenste Bitte um einen Tanz ihrer Berücksichtigung zu empfehlen.

Sie hatte die Karte hervorgezogen und hielt sie verdeckt in der Hand.

„Nichts mehr zu haben, Herr Kollege, bereits alles ausverkauft,“ antwortete statt ihrer Leo.

„Wirklich, gnädiges Fräulein?“ beharrte der andere. Sie zog die Schultern hoch mit einem bedauernden Lächeln, obwohl sie noch einen Augenblick vorher entschlossen war, den dreisten Usurpator zu strafen, und der Assessor nahm daraufhin seinen Rückzug. Dann aber wandte sie sich scheinbar sehr entrüstet an Leo: „Was soll denn das eigentlich heißen? Mit welchem Rechte erlauben Sie sich, über mich zu verfügen?“

„Einen Augenblick!“ erwiderte er kaltblütig, zog aus ihrer Hand die nur lose gehaltene Karte und als er darauf an drei Stellen ein L. B. eingeschrieben fand, nickte er ihr mit herausforderndem Selbstbewußtsein zu.

„Na, natürlich!“ sagte er, „und da beginnt auch gerade meine Quadrille. Warum sperren Sie sich dann erst, wenn Sie doch so gütig an mich gedacht.“ Und er ergriff ihre Hand, zog sie durch seinen Arm und ging, immer dieselbe festhaltend, durch den Saal.

Und die Frau Geheimrätin lächelte jetzt ganz beruhigt: „Dieser Leo, wie er sich seinen Platz ertrotzt! – wahrhaftig er ist unwiderstehlich, mein lieber, schöner Junge!“ (Fortsetzung folgt.)

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Henri Dunant, der Begründer der Genfer Konvention.

Auf goldenen Tafeln, auf denen die Wohlthäter der Menschheit verzeichnet stehen, prangt auch der Name Henri Dunant, der Name des Begründers eines Werkes, das zu den Ruhmestiteln unseres Jahrhunderts zählt, des „Roten Kreuzes“.

Wenn man heute die Größe und umfassende Bedeutsamkeit dieser Schöpfung, ihre Ausdehnung über alle Kulturländer des Weltalls sich vor Augen hält, dann erscheint es fast unglaublich, daß all dies der Initiative eines einzigen Mannes zu danken ist, und zwar eines Mannes, der weder durch Stellung und Rang, noch durch Einfluß dazu berufen schien, ein Werk von so epochemachender Bedeutung ins Leben zu rufen. … Aber die Vollmacht, die ihm die Vorsehung mit auf den Weg gegeben hatte, war schwerwiegender als Rang und Einfluß – die echte, rechte Menschenliebe, die Begeisterung für das Gute und Edle, der Glaube an seine Berufung, die Idee, welche der Geist der Humanität ihm eingab, ins Werk zu setzen.

Henri Dunant ist am 8. Mai 1828 zu Genf, der Schweizer Stadt, die durch Bildung und Wohlthätigkeitssinn von jeher ganz besonders ausgezeichnet war, geboren.

Vor etwa 40 Jahren wies ein damals sensationelles Vorkommnis dem jungen Dunant den Pfad, den er nunmehr auf dem Gebiete der Caritas, der werkthätigen Nächstenliebe, zu seinem und der Menschheit Ruhm zu wandeln hatte. Die Engländerin Miß Florence Nightingale hatte im Krimkriege durch ihre Organisation der Krankenpflege Wunder gewirkt und die Pflege der Verwundeten im Kriege erst in ein gewisses System gebracht. Dieses Beispiel einer Frau wirkte anfeuernd auf den jugendlichen Dunant, als dieser nach Ausbruch des österreichisch-italienischen Krieges im Jahre 1859 auf das Schlachtfeld von Solferino eilte, um hier aus eigenen Mitteln und ganz auf sich angewiesen eine Verwundetenhilfe zu organisieren.

Henri Dunant.
Nach einer Aufnahme von Otto Rietmann in St. Gallen.

An den Namen Solferino knüpft sich nun der Beginn der großen Bewegung vom „Roten Kreuz“, die dazu bestimmt war, die Welt zu erobern, und auch heute noch nicht abgeschlossen ist, denn viele, sehr viele von den großen Wohlthätigkeitsgedanken, die Dunants Seele bewegten, sind noch in die That zu übertragen.

Auf dem Schlachtfeld von Solferino wurde zum erstenmal, von dem entflammenden Beispiel des jugendlichen Dunant wachgerufen, bei der Pflege der Verwundeten die Parole ausgegeben „Tutti fratelli!“ („Alles Brüder!“) und von den Einwohnern Cartigliones den Oesterreichern die gleiche Hilfe geleistet wie den Italienern und Franzosen. Hier wuchs aber auch in der Seele Dunants der heilige Entschluß, nicht eher zu ruhen, als bis die Neutralität, die Unverletzlichkeit der Verwundeten auf den Schlachtfeldern durch internationale Verträge den kriegführenden Völkern zur Pflicht gemacht worden.

Er hatte die Aufopferungsfähigkeit der Frauen kennengelernt und auf die Frauen aller Nationen suchte er nun sein Werk in erster Reihe zu stützen. In Wort und Schrift wirkte er für seine Ideen, er veröffentlichte unter dem Titel „Souvenir de Solferino“ ein Büchlein, welches den Zweck verfolgte, die Zeitgenossen für die Frage der Verwundetenpflege zu erwärmen, und diesen Zweck glänzend erreichte.

Sein Büchlein zündete in den Herzen aller, die für Humanität und Philanthropie zu begeistern waren; es ward in alle europäischen Sprachen übersetzt und trug den Namen Dunant in alle Länder. Aber dieser schriftstellerische Erfolg genügte der Feuerseele Dunants nicht; er, ein Seher und Prophet der praktischen Nächstenliebe, wird auch ihr glühender Apostel, der durch die Welt reist, um Jünger zu werben.

Er gewann in seiner Vaterstadt Genf die „Gemeinnützige Gesellschaft“, an deren Spitze thatkräftige Männer, wie General Dufour und Moynier, standen, für seine Ziele; er reiste zu Kongressen und an die Fürstenhöfe Europas, um die Mächtigen der Erde seinen Ideen geneigt zu machen; er wurde nicht müde, Schwierigkeiten, die besonders von seiten der Militärverwaltungen ihm erwuchsen, zu überwinden, und er, ein einzelner Privatmann, setzte es durch, daß im August 1864 die Delegierten der Kulturnationen in Genf zusammentraten, um die berühmte segensreiche „Genfer Konvention“ abzuschließen, welche die Neutralität der Kriegsverwundeten und ihrer Pfleger zur Sache des Völkerrechts machte.

Allerdings waren ihm hochmögende Gönner und Gönnerinnen erwachsen, von denen besonders die Kaiserin Augusta (damals noch Königin von Preußen) und ihre hochherzige Tochter, die Großherzogin von Baden, enthusiastisch für den Gedanken des „Roten Kreuzes“ eintraten. Dunant selber schreibt dem Eingreifen dieser edlen Frauen den hauptsächlichsten Teil des Erfolges zu.

Jetzt darf er die Freude erleben, daß sein Werk, das er allein begonnen, im Herzen von Hundertausenden der Besten unter den Zeitgenossen Wurzeln gefaßt hat und weiter emporblüht. Reiht sich doch jetzt dem Wirken des „Roten Kreuzes“ – abseits von den Zwecken für den Kriegsfall – auch vieles ein, was Dunants Seele ahnungsvoll voraussah, als er verkündete: „Der Einzelne ist ohnmächtig gegenüber der Riesengestalt, die Unglück und Elend heißt. Um nur einigermaßen zu helfen, muß man die ganze Menschheit gegen diese dunklen Schattengestalten in die Schranken rufen. Freilich nur sehr nebelhaft und verschwommen tauchte bei mir schon im Jahre 1849, als 21jährigem jungen Manne, der Gedanke an die Gründung eines großen internationalen Bundes zur Linderung des Unglücks aller Arten auf. Der Gedanke bat mich seither nicht mehr verlassen.“

Unter dem Banner des „Roten Kreuzes“ werden jetzt auch heilsame Friedenswerke geübt, welche die Not lindern sollen; die mächtige Bewegung zur Errichtung von „Volksheilstätten vom Roten Kreuz“, welche schon eigene Vereine und ein eigenes weitverbreitetes Organ (das „Rote Kreuz“ in Berlin) ins Leben rief, giebt davon beredtes Zeugnis.

Henri Dunant darf mit freudigem Stolz auf sein Lebenswerk blicken, aber nicht so freudig dürfen die Zeitgenossen den Lebensabend des Mannes betrachten, dem so unendlich Großes im Reiche der werkthätigen Menschenliebe zu danken ist.

Den größten Teil seines Vermögens hat der edle Menschenfreund an die Verwirklichung seiner humanitären Ziele gesetzt – widrige Schicksalsumstände haben ihm den anderen Teil geraubt, als verarmter Mann lebt derjenige, dem die Welt eine unschätzbare Wohlthat zu verdanken hat, fern von seiner Vaterstadt, deren Namen er mit unvergänglichem Ruhm geschmückt, jetzt im Spital von Heiden.

Den Lebensabend Dunants zu einem angenehmen und sorgenlosen zu gestalten, ist eine Ehrenpflicht aller Zeitgenossen, die ihm so hohen Dank schulden!

Es sind Sammlungen für ihn eröffnet worden und unter anderem nimmt auch die Geschäftsstelle des „Roten Kreuzes“ in Berlin, Lindenstraße 23, Gaben entgegen. Es ist schlimm genug, daß ein solcher Aufruf an die Oeffentlichkeit überhaupt nötig wurde. Hoffen wir wenigstens, daß nunmehr die Erinnerung an eine Ehrenschuld aller Kulturvölker nicht fruchtlos verhalle und in kürzester Zeit Dunant, dem Wohlthäter der Menschheit, eine würdige Ehrengabe überreicht werde! Dr. Max Bauer.     


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Ein „Kirtag“ in Niederösterreich.

Von V. Chiavacci.0 Mit Illustrationen von W. Gause.

Ja, am Sunntag is der Kirtag,“ lautet eine Redewendung, die nicht nur in Niederösterreich, sondern auch in Wien häufig gebraucht wird, wenn jemand eine unbescheidene Forderung stellt, die man nicht gewähren will. „Bei dö Leut’ is jeden Tag Kirtag,“ sagt der Volksmund von jenen Menschen, die ein sorglos lustiges Leben führen, das mit ihren sonstigen Verhältnissen nicht in richtigem Einklang steht. „Wann die Katz’ aus’n Haus is, hab’n die Mäus’ Kirtag,“ lautet ein anderes Sprichwort. Der Kirchtag (Kirtag, Kirta’) ist also ein Freudenfest, das in seinem Namen alle Vorstellungen von Lustbarkeit, üppiger Lebensführung, sorglosem Daseinsgenuß vereinigt, das beliebteste und verbreitetste Volksfest, das mit größeren oder geringeren Abweichungen fast in allen katholischen Ländern gefeiert wird. In einigen Gegenden Niederösterreichs, namentlich im Viertel „Unterm Wienerwald“, wird bei diesem Volksfeste ein besonderer Pomp entfaltet.

Der Kirchtag gilt dem Kirchenpatron und wird in den verschiedenen Gemeinden an festgesetzten Tagen des Sommers oder des Herbstes begangen. In den Umgebungen von Wien gewinnt er an Mannigfaltigkeit und Reiz durch die Beteiligung der Wiener Sommerfrischler an dem ländlichen Vergnügen. Manche Gemeinden wissen ihre Kirchtage so glanzvoll und so unterhaltend zu gestalten, daß sie alljährlich eine große Zahl Wiener herauslocken zu Tanz und Lustbarkeiten aller Art. Die ländliche und städtische Jugend kennt auf dem Tanzboden keinen Standesunterschied und manche feine Dame, die auf den Elitebällen der Residenz als Ballkönigin glänzt, fühlt sich ganz behaglich unter der Führung eines helläugigen, munteren Burschen, der sie in seinem Arme federleicht und gewandt durch die fröhliche Menge walzt. Das erzeugt viel lautere Fröhlichkeit und ungezwungenen Verkehr, doch auch manch trübe Stunde und böse Eifersuchtsscenen bei den ländlichen Schönen sowohl als auch bei den zurückgesetzten Burschen. Freilich wird die Sache selten tragisch; denn es ist ja nicht jeden Tag „Kirtag“ und am anderen Tage erscheint den Teilnehmern das fremdartige Intermezzo wie eine im Nebel verduftende Fata Morgana, die noch eine Zeit lang die Phantasie beschäftigt, aber bald wieder im Einerlei des Alltagslebens untergeht.

Auf der Kegelbahn.

Diese Kirchtage in den Landgemeinden der Umgebung von Wien nahmen früher durch den Zuzug der Wiener Bevölkerung zum Teil bedeutende Dimensionen an. Einzelne davon waren Jahrzehnte hindurch geradezu Wiener Volksfeste. Zu diesen gehörte der „Brigitta-Kirchtag“, welcher alljährlich unter riesenhafter Beteiligung der Wiener in der Brigittenau, einem allerdings hart an der Gemarkung Wiens an der Donau gelegenen Orte, abgehalten wurde. Die älteren Wiener erzählen Wunder von diesem Monstrefeste mit seinem bunten Jahrmarktstreiben. Die jüngere Generation weiß davon nichts mehr; denn der Brigittakirchtag wurde schon in den fünfziger Jahren von der Behörde untersagt, weil es bei den großen Menschenansammlungen zu groben Excessen gekommen war. Ein gleiches Schicksal, wenn auch viel später, traf den „Mariabrunner Kirchtag“, der alljährlich am 8. September, am Feste Mariä Geburt, auf dem Hadersdorfer Berg bei Mariabrunn stattfand. Mariabrunn liegt ungefähr zwei Wegstunden von Wien entfernt nächst Weidlingau im anmutigen Wienthale. Schon am Vortage zogen ganze Wagenkolonnen vor die Mariahilfer Linie hinaus auf den Hadersdorfer Berg. Dort wurden Hütten, Zelte und Buschenschenken aufgeschlagen, aus rohem Holz gezimmerte Tische und Bänke hergestellt, und wenn der Morgen dämmerte, war längs des Waldessaumes eine ganze Stadt von Buden und Hütten emporgewachsen. Ebenfalls schon in der Morgendämmerung bewegten sich unübersehbare Kolonnen durch die westlichen Bezirke Wiens auf der Linzer Straße über Penzing, Baumgarten, Hütteldorf nach Mariabrunn, alles am Wege verzehrend und austrinkend wie ein Nomadenvolk auf der Wanderung – nur daß sie bar bezahlten, was sie verzehrten. Stieg die Sonne leuchtend und wärmend am wolkenlosen Himmel empor, so wuchs die Armee der ausziehenden Wiener nicht selten auf 60- bis 70 000 Menschen an.

Mit Kind und Kegel zogen sie aus, meist in größeren Trupps beisammen; denn die Hausgenossen schlossen sich einander an und der lang herbeigesehnte Tag in der schönen Gottesnatur löste dann manchem schüchternen Galan die Zunge zu einem Geständnis, das in der nüchternen Umgebung der Werkstatt oder der Familienstube nie dem Gehege seiner Lippen entschlüpft wäre. Der weitaus größte Teil zog zu Fuß hinaus, doch kamen die Wohlhabenderen auch in Fiakern gefahren, und die Lenker der damals so beliebten „Zeiselwagen“ pflegten ihre Menschenfracht mit unglaublicher Raumausnützung unterzubringen. Dank diesem Fremdenzuzug wimmelte es auf dem Hadersdorfer Berg von Menschen. Von weitem schon konnte man ein Brausen und Rauschen, ein Singen und Klingen vernehmen, das beim Näherkommen betäubend und sinnverwirrend wirkte. Ein singender Berg! In den Hunderten von Buschenschenken, Wirtschaften und Hütten waren ebensoviele Orchester, „Quartette“ und „Terzette“ untergebracht und aus dem Walde, tönte die Harmonika, das „picksüße Hölzel“ (Flöte) und die „Winsel“ (Geige). Diese sonderbare Symphonie wurde noch durch die [677] unermüdlich gespendeten Beiträge der sämtlichen Werkelmänner (Drehorgelmänner) Wiens verstärkt. Dazwischen sang, pfiff und schrie ein jeder, was er wollte, die Verkäufer priesen ihre Waren an, die Kinder jauchzten und tollten. An vielen Orten waren Tanzböden errichtet, Kirchtagsbäume und andere Kurzweil. Aus den besagten Gründen werden diese „Monstrekirtage“ nicht mehr abgehalten. Nichtsdestoweniger bleibt auch das Bild eines von der Großstadt nicht beeinflußten ländlichen Festes anziehend genug. Und einen solchen Kirtag wollen wir schildern.

Die Ernte ist geborgen, die Hauptarbeit gethan und Wochen vorher rüstet sich die ganze Einwohnerschaft zu dem Freudentage. Da wird gewaschen und gerieben, gescheuert und gefegt und die weibliche Einwohnerschaft späht nach jedem Stäubchen in Küche und Keller, in Stube und Stall; denn jedes einzelne Haus des Dorfes muß blinken und gleißen und geschmückt sein zum Empfang der Festgäste aus den Nachbargemeinden. Verwandte und Freunde kommen ins Haus, und da ist es Ehrensache, daß sich der Tisch „biegt“ von der Fülle des Gebotenen. Der große Kirchenplatz hat sich mittlerweile in einen Jahrmarkt verwandelt. Wie ganz anders, wie feiertäglich und bewegt sieht der alte Platz nun aus! Fast ist er nicht mehr zu erkennen in seiner wunderlichen Toilette. Wo das Auge nur hinblickt, überall Ungewohntes, Sehenswertes, Begehrenswertes für jung und alt! Schon in aller Morgenfrühe verkünden die Kirchenglocken feierlich den Beginn des Festes. Die Sonne blinkt freundlich in die Stube, wo die „Miazl“ mit klopfendem Herzen vor dem kleinen Spiegelscherben sitzt und mit der Anordnung ihrer Zöpfe nicht fertig wird. Denn heute soll der Nazz von Jakobsdorf herüberkommen. Und der Nazz, den sie bei der G’frörer Mahm’ kennengelernt hatte, war am Jakobsdorfer Kirchtag nicht nur sehr freundlich mit ihr gewesen, er war ihr auch in der Thomasnacht „erschienen“, als sie den „Bettstaffel“ getreten und dabei den unfehlbar wirkenden Spruch gebetet hatte:

„Bettstaffel, i tritt di,
Heiliger Thomas, i bitt’ Di:
Laß m’r erschein’
Den Liebsten mein!“

Kirtagsmarkt in Niederösterreich.

Darauf hatte sie sich mit dem Kopf zu Füßen gebettet und richtig war er ihr im Traum erschienen. Sie hatte es nicht anders erwartet.

Auch ihr zehnjähriges Brüderchen, der Sepp, war heute schon mit dem ersten Hahnenschrei aus dem Bette. Er fuhr in sein Höslein, rieb sich die Augen und klimperte vergnügt mit den zehn Kreuzern, die er für den „Kirta“ zum Verprassen bekommen hatte. Diese „Summe“ öffnete seiner kindlichen Phantasie Thür und Thor. Auch sonst hatte er heute allen Grund, den „Protzenbauer“ hervorzukehren; denn sein älterer Bruder, der Hiesl, war mit dem Grubner Hans zum „Hüttenburschen“ gewählt worden. Und der Hüttenbursch’ ist eigentlich neben dem Herrn Pfarrer derjenige, der den „Kirtag“ macht. Die beiden Hüttenburschen oder „Kirtagsburschen“ haben unumschränkte Vollmacht, den Kirtag beim Wirt „aufzunehmen“. Da wird alles vorher mit dem Wirte abgemacht, was er zu kochen und zu braten hat, für wie viel Personen er sich rüsten muß und in welchen Grenzen er sich mit den Speise- und Getränkepreisen zu halten hat. Die Hüttenburschen haben auch die Musikanten zu dingen, und ihrem Geschmack bleibt es überlassen, innerhalb der vorhandenen Mittel die Tanzhütte möglichst pompös auszustatten. Die Tanzhütte ist ein Holzgerüst, dessen Jnnenraum mit Laubwerk, Fahnen, Blumenguirlanden, farbigen Lampions, Papierketten ausgeschmückt ist; auch die Außenseite ist möglichst pompös verkleidet. Manchmal wird im Wirtslokale selbst oder auf dem freien Platz hinter dem Wirtshaus getanzt. Vor dem Festplatz wird der beliebte „Kirtabam“, ein hoher abgeästeter und geschälter Fichtenstamm, errichtet, der oben mit ähnlichem Flitterwerk wie der Christbaum aufgeputzt ist und an dessen Spitze irgend ein begehrenswerter Gegenstand, eine Flasche „Strohwein“, ein blumengeschmückter Schinken, oder gar ein seidenes Busentuch befestigt ist. Solch ein Gegenstand bildet dann den Inhalt der ehrgeizigen Wünsche der Dorfschönen und mancher Bursche vermißt sich mit einem feierlichen Versprechen, das Kleinod für seinen Schatz herabzuholen.

Der kleine Sepp horcht jetzt auf und ist mit einigen lustigen Sprüngen vor dem Thore draußen. Er hat den Musikanten gehört, der die Schläfer aus dem Bette bläst. Sepp ist nicht mehr der [678] Erste auf dem Platze. Ueberall öffnen sich die Thore, und Bauer und Bäuerin, Bursch’ und Dirn’ treten im schönsten Sonntagsstaat heraus. Bald ist das Gewühl auf dem weiten Platze ein großes; denn auch aus den benachbarten Ortschaften kommen die Gäste in Scharen herbei und wechseln Gruß und Händedruck und nehmen gemeinsam am Frühgottesdienst teil. Nachmittags spielt die Musikbande dem Herrn Pfarrer auf; dann gehen sie zum Bürgermeister und den einzelnen Honoratioren des Ortes, überall ein Stücklein spielend und ein Gläschen trinkend. Angeführt werden die Musikanten von den fidelen „Kirtaburschen“ und der kleine Sepp wirft sich stolz in die Brust, als er seinen leibhaften Bruder an der Spitze der Musikbande sieht, den Hut mit Blumen und Bändern geschmückt, die Weinflasche und das gefüllte Glas in den Händen, wie er von Haus zu Haus geht, überall einen „Juchezer“ losläßt, dem Bauern und der Bäuerin zutrinkt und sie zum Kirchtag einlädt. Große Augen macht er, der kleine Sepp, daß der Hiesl das alles so herausbringt, ganz ohne „Schenirer“, wie ihm die Worte nur so von den Lippen fließen und was für lustige Einfälle er dabei hat. Nur einmal, ein einziges Mal, verläßt den Hiesl seine Geistesgegenwart: als er nämlich vor der Zenz’, des Bürgermeisters Töchterlein, steht und sie um den ersten Tanz bittet, da dreht er ganz verlegen den Hut herum, schlenkert mit den Füßen und wird „brinnrot“ im Gesicht. Das kann sich der kleine Sepp nicht erklären, doch nimmt er sich vor, es genau so zu machen, wenn er einmal „Kirtabursch’“ werden wird.

Vor dem Gasthaus nach dem Markte.

Und jetzt geht er, die Hände in den Hosentaschen und mit seinem Geld klimpernd, über den Markt. In der Thoreinfahrt des Wirtshauses sind Lebzelterstände errichtet, die für ihn des Anziehenden genug bieten. Lange bleibt er sinnend davor stehen und überlegt, ob er sich einen lebzeltenen Reiter, „Katarrhzelteln mit Gedichten“ oder „Busserln“ oder ein „Rumflascherl“ aus Zucker kaufen soll. Er widersteht aber der Versuchung und geht weiter. Auf dem Kirchenplatze – Bude an Bude. Was giebt es da alles zu schauen, zu wünschen, zu begehrenl Immer wieder bleibt er stehen, klimpert mit seinem Gelde und reißt sich los. Da giebt es Spielwaren, Soldaten, Tiere, dort Hosenträger, Mützen, weiter unten den Geschirrmarkt mit allerliebsten kleinen Häferln und Gläschen; dort sieht er gar einen Gummiball, wie er ihn schon lang gewünscht, und hier einen Magnet, wie ihn der Hansl hat, der damit die Taschenmesser magnetisiert, welche dann wieder Stahlfedern und Eisenspäne anziehen. Wie hat sich der Hansl damit in Respekt gesetzt! Wenn er so einen Magnet hätte – aber nein, er klimpert mit dem Gelde und geht weiter. Und nun steht er vor dem Ringelspiel! Der Schimmel, der Löwe, die Giraffe! Wird er da widerstehen können, wenn abends das Werkel (Drehorgel) spielt und die Kameraden sich auf den wilden Tieren stolz herumtummeln? Er faßt seinen Schatz krampfhaft an und wendet sich ab – er ist ja ein Bäuerlein, das sich nicht so leicht vom Gelde trennt. –

Davon merkt man allerdings nichts, wenn man das lebhafte Markttreiben betrachtet, das sich schon seit den Morgenstunden entwickelt hat. Die Einwohnerschaft sowohl als auch die Besucher aus der Nachbarschaft haben heute gespickte Börsen und den guten Vorsatz, „aufzuhauen“ und „Haare zu lassen“. Heute hat auch der ärmste Bursch die „Spendierhosen“ an, und wo giebt es denn einen Burschen, der an diesem Tage nicht einen Schatz zu bedenken hätte? Der kleine Sepp steht bei den Verkaufsbuden und sieht zu, wie da die Gulden fliegen, und er reißt Mund und Augen auf: denn daß es soviel Geld überhaupt giebt, hätte er sich nicht vorgestellt! Und dazu kommt noch das Geld, mit dem er in der Tasche klimpert! Unglaublich! – Daß die Krämer und Kleinhändler mit ihrer Losung zufrieden sind, kann man am Nachmittage sehen, wo sie sich im Gasthaus und auf dem Platz vor demselben unter den Bauern gütlich thun und den Abend erwarten, um nach gethaner Arbeit dem Tanzvergnügen zu huldigen.

Nach dem „Segen“ beginnt das eigentliche Fest. Kaum ist der letzte Kirchengast ins Freie getreten, hört man schon den hellen Klang der fallenden Kegel; denn am „Kirtag“ messen sich die Matadoren dieses edlen Sports und oft giebt es ein heißes Ringen zwischen dem Champion eines Nachbardorfes und dem einheimischen Meister. Oft geht es um bedeutende Beträge und die Leidenschaft des Spiels reißt manchen zu unsinnigen Einsätzen und Wetten hin, die mitunter ansehnliche Summen, den Ertrag wochenlangen Fleißes verschlingen. Mit banger Erwartung und Thränen in den Augen steht das „Dirndl“ dabei, wenn sie zusehen muß, wie ihr „Bua“ mit hochrotem Gesicht und glühenden Augen einen Gulden nach dem andern in den Sand wirft und immer häufiger Patzer macht; dabei stürzt er ein Glas nach dem andern hinunter und ist kaum mehr seiner Sinne mächtig. Mit welch frohem Gemüt waren sie ausgezogen und wie ganz anders hatte sie sich die Freuden dieses Festes ausgemalt…

Nun kommen die Festgäste gezogen in einzelnen Gruppen und Paaren und jedesmal spielt ihnen die Musik ein Stückchen auf. Zuletzt kommen der Herr Pfarrer und die Honoratioren des Ortes, die mit einem Tusch empfangen werden. Bald drehen sich die Paare lustig im Tanze und in dem Wirbel von Freude und Lebenslust klingen die Geigen, laute „Juchezer“ und „Pascher“, übermütige [679] Scherzworte fliegen hinüber und herüber und in den Zwischenpausen treten die kecksten Bursche vor die Musikanten hin und singen Vierzeiler, die das Orchester sofort begleitet. Zunächst werden die Musikanten geneckt. Hans, der Hüttenbursch’, dichtet ein G’stanzl:

„Dö Spielleut’ versaufen
Den letzten Knopf Geld,
Lass’n Weib und Kind laufen
Blosfüaßi durch d’ Welt!“

Darauf zerrt der Mahder Wastl die alte „Traudl“ aus der Küche herein, stellt die sich Sträubende vor die Musikanten, patscht in die Hände und singt:

„Hätt’ i nur, hätt’ i nur
Mei Kalb und mei Kuah
Net verspielt und verthan,
Würd’ i heut’ no’ Dein Man’.“

Lautes Gelächter und Beifall lohnen den Spaß und die alte Traudl watschelt unter lustigen Zurufen der Gäste, so schnell sie ihre Füße tragen, in die Küche zurück.

Nun wird die Freude eine allgemeine. Nach dem Tanz kehren die „Dirndln“ zu ihren Kameradinnen zurück. Der Bursch’ giebt seiner Tänzerin einen Handschlag, den diese erwiedert. Unter ven Bäumen sitzen die verheirateten Männer mit Weib und Kind – die Honoratioren unter der großen Linde. Sie beobachten von da aus den Tanz und führen manch ernste Zwiesprach mit einander. Nach dem dritten Tanz stößt die Bürgermeisterin ihre Freundin, die Wendlerin, in die Seite und sagt: „Du, mir scheint, dö machen ernst.“

„Kimmt m’r selber so für,“ antwortet die Wendlerin und blickt wohlwollend auf das hübsche Paar, das jetzt, eifrig plaudernd, bei einander steht.

Die beiden Väter zwinkern sich verständnisvoll zu.

„I siach schon lang zua,“ sagt der Bürgermeister, „no war’ ja soweit guat,“ schmunzelt er, „den Moarhof (Maierhof) gib i dem Madl und ’n Viehstand dazu, mit Ausnahm’ von der G’scheckerten –“

Das „Heimgeigen“.

„Nachbar, wia’s liegt und steht; da wird nix weg g’nehma,“ fuhr ihm der Wendler dazwischen und die beiden Alten kamen nun in ein eifriges Gespräch und karteten mit einander die vermögensrechtlichen Bedingungen ab, unter denen sie den Bund ihrer Kinder gut heißen würden.

Der Hiesl war inzwischen mit dem flachshaarigen Töchterlein des Bürgermeisters viel früher einig geworden. Die Kameradinnen tuschelten und kicherten zusammen, als sie die beiden draußen unter dem Marienbild, vom Lichte des Vollmonds überflutet, Hand in Hand stehen sahen. Er sprach so eifrig zu ihr und sie kehrte sich so verschämt ab – der Hiesl ist der hübscheste Bursch im Ort, der flinkste Tänzer weit und breit – nur eins war ihm heute nicht gelungen: den „Kirtabam“ hat ein anderer abgeräumt für seinen Schatz. Das war der Jakobsdorfer Nazz, aber er konnte ihm darob nicht böse sein; denn das seidene Busentuch bekam die Miazl, seine Schwester. Dafür hatte er mit dem „Gotscheber“ (Südfrüchtehändler) auf „grad’ oder ung’rad“ um den ganzen Korb gespielt – so lange, bis er den Korb gewonnen hatte – freilich hätte er für dasselbe Geld einen echten Schmuck kaufen können. Den Korb schüttete er, wie ein Füllhorn des Glücks, vor seiner Zenzi aus, und als er, sich unbeachtet wähnend, seinem Schatz ein flüchtiges „Busserl aufipappen“ wollte, da fiel die Musik mit einem donnernden Tusch ein, daß die tanzenden Paare wie versteinert stehen blieben …

Der Morgen dämmerte schon, als sich der Hiesl mit seiner Zenz „hamgeigna“ ließ. Die Musikanten, nicht eben in schönster Harmonie blasend, voran, das glückliche Pärchen hinterdrein – der Hiesl hielt in dem rechten Arm seinen Schatz, in der Linken schwang er sein Glas und „juchezte“ so laut er konnte:

„Mei Schatz hat a Fürta (Schürze)
So weiß wie der Schnee,
Und i kann von Kirta
Vor Rausch nimmer geh’.“

Das war in Anbetracht der besonderen Umstände gar nicht so schlecht gereimt. Die Zenz nahm ihm die gehobene Stimmung auch gar nicht krumm. Machten doch auch die Alten hinter ihnen, die das Opfer gebracht hatten, bis zum Morgen auszuharren, bedenkliche Pendelschwingungen! „Aber Kirta und Verlöbnis, söl’ geht in d’ Füaß,“ lallte der alte Wendler mit einem leichten Zungenschlag.

Am nächsten Sonntag, am „Nachkirta“, da gab es um zwei glückliche Paare mehr auf dem Tanzboden; denn auch der Jakobsdorfer Nazz hatte es mit der Miazl ins Reine gebracht.

Der kleine Sepp hatte sich nicht entschließen können, sein Kapital schon am „Kirta“ zu verprassen; dafür raffte er sich am „Nachkirta“ zu einem Entschlusse auf. Er fuhr auf der Giraffe um drei Kreuzer nach Konstantinopel und ließ sich um fünf Kreuzer die Haare schneiden. Was er mit den restlichen zwei Kreuzern that, wollte er nicht sagen und wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben.

Und der „Lamplwirt“, bei dem der „Kirtag“ abgehalten worden war, wog schmunzelnd ein „Sackl Guldenstücke“ in der Hand und sagte zu seiner Alten: „So a Kirta is was Schöns! Alle Sunnta kinnt’n m’r halt an’ Kirta braucha, was?“


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Die Hygieine des Mundes und des Rachens.

Von Dr. Rudolf Haug.

Viele glauben, die Nase sei zu nicht viel anderem da, als um uns mit den verschiedenen Düften und Gerüchen bekannt zu machen. Das ist allerdings eine, aber durchaus nicht die wichtigste Aufgabe der Nase. Viel wichtiger sind andere Bestimmungen im Haushalte unseres Körpers, denen sie zu dienen hat. Sie hat vor allem die Atmung zu regulieren. Dies geschieht einerseits dadurch, daß die Luft, die aus der für gewöhnlich weit unter der Temperatur unserer Eigenwärme stehenden Atmosphäre eingeatmet wird, während des Durchstreichens durch die Nasenhöhlengänge auf einen für die Zwecke des Organismus gerade brauchbaren Temperaturgrad erhöht, also vorgewärmt wird. Anderseits fällt der Nase die Aufgabe zu, die eingeatmete Luft von all den ihr anhängenden organischen und unorganischen Verunreinigungen zu säubern; die Nase filtriert die Luft. Außerdem wird in ihr die trockene atmosphärische Luft noch zu gleicher Zeit vollständig mit Wasserdampf gesättigt. Instinktiv paßt sich unsere Atmung der umgebenden Luft an: in freier reiner Bergesluft, im Walde atmen wir möglichst tief; in einer rauchig stinkenden Fabrikatmosphäre halten wir unwillkürlich unseren Atem an; unsere Nase schützt uns vor einer drohenden Erstickungsgefahr.

Nur eine gesunde Nase erfüllt diese für das Wohlbefinden durchaus unerläßlichen Bedingungen; ist sie aber erkrankt, dann ist der Leidende genötigt, durch den Mund zu atmen, und das ist ungemein schädlich, weil die eingeatmete Luft jetzt beinahe ohne Vorwärmung, ohne Filtration und nur mit sehr geringem Feuchtigkeitsgehalt unmittelbar in die Atemwege hineingebracht wird und so teils reizend, teils austrocknend, kurzum dahin wirkt, die Vorbedingungen zur leichten Erkrankung zu schaffen.

Ist aber einmal die Atemführung durch die Nase beeinträchtigt, so muß notwendig all das, was mit der Nase zusammenhängt, ebenfalls eine Einbuße in der Ausübung seiner Funktion erleiden, und hierher gehört in erster Linie das Ohr. Das Ohr, besonders aber die Paukenhöhle, welche die für das Hören so wichtigen drei Gehörknöchelchen, Hammer, Amboß und Steigbügel, enthält und die nach außen, gegen den Gehörgang zu, durch das Trommelfell abgeschlossen ist, steht durch die Eustachische Röhre in direkter Verbindung mit dem Nasenrachenraum; ein normales Funktionieren dieses Abschnittes ist daher für ein gutes Gehör Grundbedingung. Die Funktion dieser Röhre besteht aber in einer von Zeit zu Zeit, während eines der immer unwillkürlich sich wiederholenden Schluckakte, eintretenden Lufterneuerung; durch sie wird das Trommelfell und die Gehörknöchelchenkette in der für das normale Hören notwendigen Stellung und Spannung erhalten.

Es liegt daher auf der Hand, daß bei einem so innigen anatomischen und physiologischen Zusammenhange Störungen des Nasenrachenabschnittes einen üblen Einfluß auf das Ohr nehmen müssen. Vor allem sind es die katarrhalischen Erkrankungen, die das Ohr in Mitleidenschaft ziehen. Schon während des gewöhnlichen heftigen Schnupfens tritt zuweilen eine eigene Benommenheit des Gehörs auf einer oder beiden Seiten ein; es klingt einem die eigene Stimme, als ob sie aus einem Keller käme. Ein oder das andere Mal gesellen sich hierzu dumpfes Ziehen und Stechen gegen das Ohr zu oder im Ohr selbst; insbesondere treten solche schmerzhafte Empfindungen auf nach einem der beim Katarrhe so häufigen gewaltsamen Schneuzversuche. Man will dadurch die verstopfte Nase freimachen, will sich Luft schaffen, aber die Wirkung ist doch nie die erwünschte und kann es auch nie sein, weil sich die dünne salzig-ätzende Absonderung der kranken Nasenschleimhaut sehr rasch wieder ergänzt und durch den heftigen Druck gerade das Gegenteil der gewollten Entlastung eintritt; es muß sich naturgemäß ein vermehrter Blutandrang und als Folge davon eine vermehrte Schwellung der Schleimhaut einstellen, die, da der Schneuzversuch alle Augenblicke wiederholt wird, zu einer noch viel ärgeren Verstopfung, zur gänzlichen Undurchgängigkeit der Nase führen muß. Gewöhnlich ergeben sich dann die Leute, nachdem sie sich von der dauernden Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen überzeugt haben, ermattet und resigniert in ihr Schicksal und damit haben sie das für ihren augenblicklichen Zustand verhältnismäßig Geeignetste gethan.

Aber dieses gewaltsame Schneuzen kann noch aus einem andern Grunde schadenbringend, gefährlich werden. Während desselben wird der Mund fest zusammengepreßt und gleichzeitig werden die beiden Nasenöffnungen geschlossen gehalten; infolgedessen wird die im Nasenraume befindliche Luftsäule auf einen abnorm hohen Druck gebracht und muß, da sie nach außen weder durch die Nase noch durch den Mund entweichen kann, durch die vermittelnden Eustachischen Röhren nicht bloß in die Ohren gelangen, sondern geradezu gewaltsam hineingeschleudert werden. Nun kommt noch ein weiterer Umstand dazu. Die Luft allein als solche würde wohl nicht viel Schaden anrichten, aber gleichzeitig mit ihr wird ein Teil der Absonderungsprodukte der kranken Schleimhaut mitgerissen. Dieselben können reizend oder ansteckend auf das Ohr einwirken, und die Folge des heftigen Schneuzens ist alsdann eine Ohrenentzündung.

Selbstverständlich muß nicht jedesmal dieser Ausgang erfolgen, aber Thatsache ist und bleibt es, daß eben auf diesem Wege ein gut Teil aller akuten Ohrenentzündungen zustande kommt. Insbesondere sind es auch die sogenannten Kinderkrankheiten, Masern, Scharlach, Röteln, Diphtherie, die häufig sich auf diese Weise ins Ohr fortpflanzen.

Also Vorsicht beim Schneuzen überhaupt und ganz besonders bei allen Erkrankungen der Nasenhöhle und des Mundes! Am besten und empfehlenswertesten ist das Schneuzen bei möglichst offengehaltenem Munde oder nicht vollständigem Verschluß beider Nasenseiten; wird bloß das eine Nasenloch zugehalten, dann kann keine solche Luftverdichtung sich bilden.

Nicht minder gefährlich als die akuten Nasenkatarrhe sind für das Ohr die chronischen, d. h. die aus akutem Stadium erst hervorgegangenen und durch Vernachlässigung oder infolge einer besonderen Anlage der Befallenen in die Länge gezogenen Erkrankungen des Nasenrachenraumes. Sie erstrecken sich dann in der Dauer immer über viele Monate, ja viele Jahre, und es kommt durch sie leicht zu Funktionsstörungen in den Ohren, besonders zu mehr oder weniger hochgradiger Schwerhörigkeit, die sich bei Nichtachtung langsam, aber sicher, beinahe bis zur Taubheit steigern kann; dabei bestehen sehr häufig die für den Patienten so außerordentlich quälenden Geräusche des Summens, Brummens, Klingens, Läutens, Pfeifens, die, Tag und Nacht oft gleichmäßig fortdauernd, die Nachtruhe zu rauben vermögen. Während wir derartige Erscheinungen zumeist, eben infolge der langen Dauer ihres Bestandes, bei Erwachsenen oder älteren Kindern vorfinden, machen sich bei jüngeren Kindern andere Momente bemerkbar, die hier als ursächlich wirksam für die ins Chronische sich ziehenden Ohrenerkrankungen auf katarrhalischer Grundlage in Betracht kommen.

Fangen wir mit der Nase an, so bildet der sogenannte Stockschnupfen oft den Ausgangspunkt einer Ohrenerkrankung; weniger häufig sind im Vergleich zu den Erwachsenen bei den Kindern echte Polypenbildungen in der Nase Ursache dazu. Dagegen geben einfache Schwellungszustände mit Massenzunahme der Schleimhaut in den vorderen Partien, besonders aber die bei einem sehr großen Bruchteil der Kinder am Boden der Nasenrachenhöhle, also ganz nach innen und oben zu entstandenen weichen Wucherungen, außerordentlich häufig Veranlassung zu Ohrenerkrankungen.

Diese Wucherungen rufen nicht nur Ohrenleiden hervor, sondern haben noch einen weiteren, viel schwerer wiegenden, verderblichen Einfluß auf die gesamte körperliche und geistige Entwicklung, wie ja das durch nun tausendfache Beispiele von allen Seiten und aus beinahe allen Ländern erhärtet ist.

Kinder, die mit ihnen behaftet sind, können, infolge der Verlegung der Nasenwege von hinten her, keine Luft mehr durch die Nase bekommen, atmen also immer bei geöffnetem Munde. Bei Nacht fallen derartige Patienten, die gewöhnlich im Lebensalter von 5 bis 15 Jahren stehen, ihren Geschwistern und Eltern zur Last durch ihr unaufhörliches furchtbar rasselndes Schnarchen. Besteht die Erkrankung einige Zeit, so macht sie sich bald an der Stimme bemerkbar: dieselbe wird völlig klanglos, matt und dann näselnd; derlei Kinder sprechen alles näselnd, besonders die Worte, in denen der Buchstabe N öfters enthalten ist. Sie können nicht schneuzen, nicht singen, das Gesicht bekommt durch den immer geöffneten Mund, durch die unendlich gelangweilten, frühmüden, schlaffen Gesichtszüge und die matten glanzlosen Augen, durch die

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Kirtagstanz in Niederösterreich.
Nach einer Originalzeichnung von W. Gause.

[682] immer trockenen, spröden, rissigen, oft aufgeworfenen Lippen einen blöden, zuweilen sogar unsäglich dummen Ausdruck. Schließlich, bei längerer Dauer, wird auch der Knochenbau des Gesichtsschädels stark verändert, was sich durch eine eigenartige Verbilduug des Oberkiefers (er weist eine Spitzbogenform auf) nebst falscher Stellung der Zähne offenbart. In der Schule können diese Kinder dem Unterrichte nur schwer folgen, sie werden hier wie zu Hause für unaufmerksam, faul und dumm gehalten, werden gescholten und gestraft, und doch können sie nichts, gar nichts dafür; sie sind krank und können einfach nicht folgen, weil sie nicht gut hören, weil zudem der jugendlich frische Geist gewaltsam darniedergedrückt ist.

Und ähnlich, wie sich am Gesichte die Erkrankung ausprägt, ist ihre Wirkung auf die Entwicklung des Körpers selbst erkenntlich; er wird in seinem natürlichen Wachstume in gewisser Beziehung gehemmt; statt daß die Brust, wie es um diese Zeit der Fall sein sollte, an Umfang zunimmt, zumal im Tiefendurchmesser, flacht sich der Brustkorb ab, er wird schmal, enge; gar manches engbrüstige Kind verdankt seine für die Zukunft so folgenschwere körperliche Verbildung neben der geistigen Minderwertigkeit gerade den Wucherungen in den Nasenschleimhäuten, der Ausschaltung der normalen Nasenatmung. Wer diese der Natur entnommene Schilderung auch nur für etwas übertrieben halten sollte, der möge die armen Kleinen vor der Behandlung und nach einer richtig durchgeführten Heilung ansehen: sie sind nachher einfach nicht mehr zu erkennen; aus dem totenblassen, schmächtigen, trägen und scheinbar dummen Knaben ist ein prächtiger, lebhafter, frischer Junge geworden. In ähnlicher Weise, wenn auch nicht in so hohem Grade wie diese Wucherungen am Nasenrachendache, üben die entweder gleichzeitig mit diesen oder auch allein für sich vorhandenen vergrößerten Mandeln einen ungünstigen Einfluß auf die Atmung, die Sprache und das Gehör. Ebenso dürfen wir nicht außer acht lassen, daß alle Personen, die mit zu großen, geschwollenen Mandeln behaftet sind, eine große Neigung für alle möglichen Halsentzündungen, von dem einfachen leichten Schluckhalsweh bis zur schweren Diphtherie, aufweisen.

Kann man nun auch diesen bedenklichen Erkrankungen erfolgreich zu Leibe gehen, so wäre es doch viel besser, man trachtete danach, sie überhaupt nicht zum Entstehen kommen zu lassen.

Vom Munde und Nasenrachenraume gehen die Folgeerkrankungen aus; es muß also vor allem danach gestrebt werden, ihn vollkommen gesund und widerstandsfähig zu machen und ihn dann so zu erhalten. In erster Linie steht hier also die Hygieine des Mundes und Rachens.

Da haben wir zunächst das Gurgeln und die Reinigung der Zähne, des Mundes in Betracht zu ziehen. In den meisten Kulturländern wird ja gegurgelt, aber lange nicht in dem Maße, wie es geschehen sollte, ja es giebt trotz aller Verfeinerung der Sitten noch Leute genug, die bloß dann zum Gurgeln die Zuflucht nehmen, wenn sie Halsweh haben oder wenn es ihnen der Arzt verordnet.

Was zum Gurgeln genommen wird, ist eigentlich im großen und ganzen ziemlich gleichgültig: frisches kaltes Wasser, dem man unter Umständen eine kleine Portion Kochsalz oder doppeltkohlensaures Natron oder auch eine kleine Menge einer antiseptisch wirkenden Flüssigkeit zusetzt, genügt völlig bei gesundem Nasenrachenraume. Aber in Betreff der Zeit, wann zu gurgeln ist, wird viel gesündigt. Zunächst und allgemein muß das Gurgeln nicht nur zur Zeit eines Krankseins, sondern tagtäglich gehandhabt werden. Und hier genügt es wiederum nicht, sich einmal am Tage den Mund zu reinigen, es muß als Grundsatz für die Pflege des Halses und Mundes gelten, daß die Reinigung nicht bloß morgens nach dem Aufstehen, sondern auch mittags nach der Mahlzeit und insbesondere, das ist das hauptsächlichste, abends vorm Zubettgehen erfolge. Also mindestens dreimal während des Tages! Das muß in Fleisch und Blut übergehen, zur unentbehrlichen Gewohnheit werden und das kann es, wird es auch werden, weil der Erfolg nicht auf sich warten läßt; das Resultat ist ein gesunder, gegen Erkältungs- und Ansteckungseinflüsse jeder Art außerordentlich widerstandsfähiger Mundraum.

Ich habe eben gesagt, die tägliche Generalreinigung durch Zahnputzen, Mundspülen und Gurgeln solle abends erfolgen; das steht im Widerspruche mit den Gepflogenheiten der meisten. Trotzdem beharre ich darauf, und zwar, wie ich glaube, nicht mit Unrecht. Denn man wird mir wohl bei einfach nüchterner Betrachtung zugeben müssen, daß es geradezu unvernünftig, unsinnig ist, an den Organismus die Zumutung zu stellen, er solle all die Keime, die organischen und unorganischen Verunreinigungen, die sich tagsüber naturnotwendig während der wiederholten Arbeit des Kauens, Trinkens, Atmens im Rachenraume angesiedelt haben, unbeschadet konservieren, ihnen noch während der ganzen Dauer der Nachtruhe Gelegenheit zu geben, recht üppig zu wachsen und üble Folgen zu erzielen. Wie unsinnig das ist, diese giftigen Spaltpilze so wirken zu lassen, kann jeder leicht daran erkennen, daß er, wenn er sich frühmorgens erhebt, gewöhnlich einen abscheulich unangenehmen Geschmack im Munde fühlt. Doppelt notwendig ist diese abendliche Reinigung bei Personen, die unter tags viel geraucht oder abends Spirituosen in den verschiedensten Formen zu sich genommen haben.

Es wäre nun aber gründlich falsch, annehmen zu wollen, es brauche zu anderen Tageszeiten nichts mehr zu geschehen: frühmorgens muß die Reinigung, wenn auch vielleicht nicht so energisch bezüglich des Zahnputzens, wiederholt werden, da sich während des Schlafes wieder gar mancherlei angesiedelt und zersetzt hat, und ebenso sollte es zur Regel gemacht werden, nach der Mittagsmahlzeit den Mund wenigstens mit Wasser ein paarmal gut auszuspülen.

Wer diese Maßregeln befolgt, wird den günstigen Einfluß gar bald an sich beobachten können; der fade, pappige Geschmack, der sonst erst nach dem Frühstück verging, kommt überhaupt nicht mehr; die Speisen schmecken viel besser, und infolge hiervon wird auch die Ernährung zuweilen in einer sehr günstigen Weise beeinflußt; die Zahnschmerzen werden immer seltener; die häufigen Halsentzündungen treten immer weniger auf und verschwinden ganz: kurz es macht sich allmählich eine große Aenderung im günstigen Sinne allgemein bemerkbar.

Wenn ich mich bisher über die Zeit der lokalen Reinigung ausgesprochen habe, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß es durchaus nicht gleichgültig ist, wie man gurgelt.

Die allgemein bisher beliebte Art des Gurgelns ist grundfalsch: es ist zur Uebung geworden, sich zu gurgeln, indem man den Kopf, nachdem der Mund mit der betreffenden Flüssigkeit mehr oder weniger stark gefüllt ist, möglichst weit nach rückwärts neigt und nun das bekannte Gurgelgeräusch erschallen läßt. Das hat aber keine Bespülung der tieferen Halspartien, die eben gerade getroffen werden sollen, zur Folge, sondern wirkt, da hierbei die Flüssigkeit nur bis an den Gaumen gelangt, höchstens als Mundspülung. Also ausreichend ist diese übliche Art auf keinen Fall.

Vor allem merke man sich, daß das Gurgelgeräusch, das manche für die Hauptsache ansehen, vollständig unnötig ist; man braucht gar nichts zu hören. Zweitens nehme man einen kleinen, keinen großen Schluck der Gurgelflüssigkeit, lege den Kopf blos halbweit, nicht ganz, zurück und lasse nun die Flüssigkeit langsam, ohne jedes weitere Zuthun von selbst sich nach abwärts senken; so sinkt sie dann in den Hohlraum hinunter und wird nun, da sich jetzt die Muskeln des Schlundes unwillkürlich anfangen zusammenzuziehen, während einer leichten Vorwärtsneigung des Kopfes mit ziemlicher Gewalt nach oben gepreßt, also zum Munde, teils wohl auch einmal zur Nase herausgeschleudert. Auf diese Weise wird das ganze Schlundrohr gewissermaßen ausgequetscht und es werden zugleich der anhängende zähe Schleim, die abgestorbenen Schleimhautpartien, die aus den Zähnen gespülten Speisereste, kurz alle Verunreinigungen, energisch mitgerissen; bei dieser Art Gurgelung werden auch die Mandeln gehörig in den Bereich einer wirklichen Reinigung gezogen.

Das zur Spülung verwendete Wasser sollte womöglich immer von frisch kühler Temperatur sein. Bei der Mundspülung allein, wie sie nach dem Zahnputzen zu erfolgen hat, muß das Wasser kräftig etlichemal zwischen den Zähnen durchgepreßt und wieder zurückgezogen werden, was durch die Bewegung der Wangenmuskeln sehr leicht zu erreichen ist. –

Damit ist aber die Hygieine des Nasenrachenraumes noch nicht erschöpft. Unter den Mitteln, die geeignet sind, Erkrankungen vorzubeugen, ist noch in erster Linie die Lungengymnastik zu nennen. Sie ist ebenso einfach wie die vorher geschilderten Reinigungsarten, wird aber noch viel weniger geübt als die ersteren, hauptsächlich wohl wegen Unkenntnis: man weiß in Laienkreisen sehr wenig davon. Es ist selbstverständlich, daß [683] z. B. Turnübungen wie Dauerlauf einen außerordentlich günstigen Einfluß auf die Entwicklung der Brustmuskulatur, das Atmen und die Herzthätigkeit haben, allein sie habe ich nicht im Auge. Noch um eine viel einfachere, viel weniger anstrengende Maßregel, die von jedem, auch dem schwächlichsten Kinde sofort ausgeübt werden kann, handelt es sich hier. Man sollte Kinder, die von Hause aus schon an einer mehr oder weniger ausgesprochenen Eng- oder Flachbrüstigkeit leiden oder bei denen sich diese erst als Folge einer Erkrankung des Nasenrachenraumes herausgebildet hat oder herauszubilden droht, möglichst frühzeitig daran gewöhnen, ihren ganzen Luftvorrat nur durch den Nasenweg bei streng geschlossenem Munde sich zu holen, und zwar mehreremal des Tags über, d. h. sie sollen unter tags in aufrechter Stellung bei festgeschlossenem Munde ganz langsam so tief, als sie es nur zu Wege bringen, einatmen und dann die Ausatmung in demselben langsamen Tempo folgen lassen. Am zweckmäßigsten werden diese Atemholübungen abends nach Sonnenuntergang, nach einem Gewitterregen, kurz wenn die Luft verhältnismäßig wenig staubhaltig, rein ist, durchgeführt; auf dem Lande, im Walde, an der See ist es natürlich infolge der besseren Luftbeschaffenheit ziemlich gleichgültig, wann das geschieht. Von außerordentlich mächtigem Einfluß ist die Uebung aber besonders abends unmittelbar vor dem Schlafen: es soll hier in der Rückenlage möglichst tief und langsam ein- und ausgeatmet werden; der Brustkorb muß durch einfaches Selbstzusammensinken die Luft bei der Ausatmung heraustreiben. Das sollte etwa 6–10 mal hintereinander, nicht öfters, und aber auch wieder Tag für Tag, jeden Abend wiederholt werden. Der Erfolg dieser gewiß einfachen, absolut kostenlosen und gar nichts als einen guten Willen und etwas Ausdauer erfordernden Maßregel ist geradezu wunderbar. Er beruht auf der Thatsache, daß wir Kulturmenschen im allgemeinen durchschnittlich in unserer Atmung viel zu faul sind; wir benutzen unsere Lungen nicht, wie sich’s gehört; wir nutzen bloß einen verhältnismäßig sehr geringen Bruchteil unseres großen ausdehnungsfähigen Lungengebiets bei der gewöhnlichen Atmung aus, und infolgedessen muß, wie dies bei jedem nicht genügend zur Arbeit herangezogenen Organe der Fall ist, eine Entartung der Lunge eintreten.

Also in Bezug auf Lungenübung, und das bedeutet in gewissem Sinne auch gleichzeitige Kräftigung des Herzmuskels, wird viel zu wenig geleistet und man sollte im Interesse seiner eigenen Gesundheit den obengenannten so leicht auszuführenden und wirklich nur wohlgemeinten Rat – das kann für alle gleichmäßig gelten, für groß und klein, jung und alt, fett und mager, – nicht so leicht im Winde verflattern lassen.

Anfangs, wenn die Brust sich noch nicht recht gewöhnt hat, werden die Atemzüge natürlich noch nicht so ausgiebig sein können; gar bald aber steigt die Tiefe der Atemzüge und mit ihr die Atemgröße und wir fühlen ganz deutlich selbst an uns, wie die Luft bis in die äußersten obersten Partien, die Lungenspitzen, eindringt, sie auswölbend; der ganze Brustkorb dehnt sich, unseren Sinnen deutlich wahrnehmbar, mächtig aus. Man kann auch thatsächlich mit geeigneten Apparaten das langsame Aufsteigen der Atemgröße bei jedem einzelnen nachweisen.

Ich habe oben gesagt, es sollen die langsamen tiefen Ein- und Ausatmungen auch besonders abends unmittelbar vor dem Schlafe in der Horizontallage ausgeführt werden; auch das hat nicht bloß für Kinder Geltung. Die Vornahme der Uebungen gerade zu dieser Zeit – natürlich vorausgesetzt, daß das Schlafgemach gut gelüftet, frisch und kühl ist – ist nämlich auch in andrer Beziehung von sehr günstiger Wirkung; sie beruht darauf, daß das ganze Gefäßsystem möglichst viel frisches sauerstoffreiches Blut zugeführt erhält, und gerade hierdurch werden die Vorbedingungen für einen tiefen, erquickenden Schlaf gegeben. Es ist dies das beste und einfachste Schlafmittel, das ich kenne; insbesondere wirkt es sehr oft prompt und zuverlässig bei aufgeregten, nervösen Personen; ich habe solche, Kinder und Erwachsene, daraufhin des süßesten Schlafes sich erfreuen sehen, nachdem sie vorher ihren Organismus schon durch eine Reihe der giftigen Schlafmittel beinahe zerrüttet hatten. Nicht gering ist der Einfluß dieser Atemholübungen auf das Allgemeinbefinden überhaupt anzuschlagen: die Ernährung wird besser, die Muskulatur kräftiger. Im Verein mit anderen Verhaltungsmaßregeln können diese Atemübungen sogar ein treffliches Vorbeugungsmittel gegen Tuberkulose bilden, der Entwicklung dieser heimtückischen Krankheit geradezu entgegenarbeiten.

Es ist zwar selbstverständlich, daß Hand in Hand mit diesen einfachen Heilmitteln noch eine Reihe anderer allgemein wirkender gehen soll: ordentliche körperliche Bewegung (Turnen, Schwimmen, Reiten, Spielen), gute zweckmäßige Ernährung; auch die Anwendung des kalten Wassers in der verschiedensten aber nicht übertriebenen Weise ist sehr anzuraten.

Werden diese einfachen Ratschläge pünktlich durchgeführt, so wird gar manches junge Menschenleben sich ganz anders entwickeln als es erst den Anschein hatte, und wird gar mancher Erwachsene sich seines Lebens in voller Rüstigkeit erfreuen können.

Luft! Mehr Luft!


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (16. Fortsetzung.)

Es begann schon leicht zu dämmern, als Purtscheller sein Haus erreichte. Droben in der Stube schob er zwei Patronen in die Flinte und steckte ein paar andere in die Tasche, während Karlin’ nebenan im Schlafzimmer den Knaben zur Ruhe brachte und ihm mit leiser Stimme ein Schlummerliedchen sang:

„Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schätzerl hab’!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Als Purtscheller in Eile die Treppe hinunterstolperte, hörte er aus einer der Gesindekammern Zäzils schluchzende und in Erregung kreischende Stimme: „Und wenn ich’s auch g’sagt hab! Geht’s Dich vielleicht was an? Bist Du vielleicht für d’ Frau im Haus als Hüter aufg’stellt?“

„Red’ nimmer lang! Pack’ ein!“ fiel ihr Mathes mit zornbebender Stimme ins Wort.

„Is schon gut! Einpacken thu’ ich! Aber draußen auf der Straßen laß’ ich mein’ Kufer stehn und wart’, bis der Herr heimkommt! Nachher paß auf, Du … ob das gar so leicht is, die Zäzil aus’m Haus z’ jagen!“

Purtscheller stellte die Flinte an die Mauer und trat in die Kammer. „Was is denn da? Muß denn allweil der Spektakel im Haus sein?“

Zäzil schwieg verlegen und trocknete sich die Thränen vom erhitzten Gesicht, während Mathes sagte: „Das Madl da hab’ ich aus ’m Dienst schaffen müssen. Und hab’ ihr ’boten, sie soll ihren Kufer packen, gleich auf der Stell’!“

„Oho, Du!“ fuhr Purtscheller auf. „So geht man doch mit ei’m Madl net um! Und ’s Recht über meine Dienstboten hab’ ich Dir noch allweil net ’geben! Du nimmst Dir ein bißl viel ’raus!“

„Ich könnt’ Ihnen an den Tag erinnern, wo S’ g’sagt haben, daß mein Wort im Haus gelten soll wie ’s Ihrig’!“ erwiderte Mathes mit mühsam bewahrter Ruhe. „Aber das braucht’s wohl net! Denn ich denk’ mir, Sie selber hätten für das Madl da kein anders Wort net g’funden als das einzig’: fort aus’m Haus! … Vor alle Dienstboten hat s’ ung’hörig g’red’t von der Frau!“

Purtscheller wurde rot und wußte nicht gleich, was er sagen sollte. Dann fragte er: „Was hat s denn g’red’t?“

„So was red’t man ein zweitsmalnimmer nach!“ antwortete Mathes mit schwankender Stimme. „Es mag Ihnen g’nug sein, wenn ich sag’, daß in Ihrem Haus kein Platz mehr sein kann für ein’ Dienstboten, der so von der Frau red’t!“

Zäzil hatte sich auf den halb gepackten Koffer gesetzt, nahm die Schürze vors Gesicht und begann ein herzbrechendes Weinen.

[684] „No no no! Es wird ja doch so arg net g’wesen sein!“ meinte Purtscheller begütigend. „Geh weiter, Mathes! Laß mich allein mit dem narrischen Frauenzimmer reden! Und wenn die Sach’ wirklich so arg is, will ich ihr den Dickschädel ordentlich waschen!“

Einen Augenblick zögerte Mathes; dann ging er wortlos aus der Kammer.

Purtscheller wartete, bis die Schritte im Flur verklangen. Aergerlich schloß er die Thür und das offenstehende Fenster, puffte die Magd mit der Faust in den Rücken und schnauzte sie an: „Du Gans, Du dumme! Was hast denn eigentlich g’sagt?“

„Was wahr is!“ Zäzils Thränen waren plötzlich versiegt.

„Was denn?“

„Daß für ein’ Herrn, wie Sie einer sind, jede andere Frau besser passen möcht’ als so ein verschmachts Millihaferl!“

In Wirklichkeit hatte die freche Rede freilich anders geklungen; aber Purtscheller verspürte nicht die geringste Lust, lange den Untersuchungsrichter zu spielen. „Wahr oder net wahr … so was sagt man net!“ brummte er. „Und ein andersmal sei g’scheit und halt’ Dein’ Schnabel vor die Leut’!“

„No ja! Es is mir halt in der Wut so ’raus g’rumpelt! So schiech hab’ ich’s ja auch gar net g’meint. Und im Grund g’nommen kann man ja über d’ Frau nix sagen. Sie soll mich in Ruh’ lassen, so thu’ ich ihr auch nix! Aber das muß ich schon einmal grad’ ’raussagen … das laß ich mir nimmer länger g’fallen: allweil so über ein’ weg schauen, als ob man Luft wär’! Da mach’ ich schon lieber …“

„Jetzt laß die Sach’ gut sein und pack’ Dein Kufer wieder aus!“ fiel ihr Purtscheller ins Wort. „Mit ’m Mathes red’ ich schon! Und fang’ mir nur mit dem keine Reibereien an! Der arbeit’ wie ein Roß … den Menschen brauch’ ich! Und jetzt gieb ein Fried’! Den Schnepfenstrich hab’ ich eh’ versäumt … mit so einer Dummheit!“

In gereizter Laune ging er aus der Kammer, nahm die geladene Flinte, welche draußen an der Mauer stand, trug sie in die Stube hinaus und hängte sie an den Gewehrrechen. Wütend schleuderte er den Hut in den dunklen Ofenwinkel und ging zum Tisch, um die Hängelampe anzuzünden.

Als er sich nach einer echauffierenden Wanderung durch die Stube auf das Sofa werfen wollte, trat Mathes ein.

„Herr Purtscheller …“

Der ließ ihn nicht weiter reden. „Gut, daß kommst! Ich hab’ eh’ schon ’nunter wollen und ein Wörtl reden mit Dir!“

„Grad’ kommt die Zäzil in’ Hof ’naus, lacht vor alle Leut’ und sagt: sie bleibt! Is das wahr, Herr Purtscheller?“

„No ja! ’s Madl hat mich erbarmt! Man kann’s doch net so bei Nacht und Nebel auf d’ Straßen ’nausjagen! Und die Sach’ is ja am End’ gar net so arg! Ich mach’ Dir ja kein’ Vorwurf. Hast es ja gut g’meint, und es freut mich, daß D’ so viel auf den Respekt vor meiner Hausehr’ haltst … aber … No ja! Sei halt jetzt auch g’scheit und laß die G’schicht gut sein! Thust mir ein’ G’fallen damit!“

Mathes sah ihn mit erschrockenen Augen an und brauchte eine Weile, bis er zu antworten vermochte. „Da kann ich freilich nix mehr sagen! Sie selber müssen am besten wissen, wie viel Ihnen d’ Achtung vor Ihrer Frau wert is im Haus!“

„Ich hab’ dem Madl ordentlich d’ Leviten g’lesen, das wird sie sich zur Warnung sein lassen. Und somit is die Sach’ in Ordnung! … Oder willst noch was?“

„Ja, Herr Purtscheller!“ sagte Mathes mit veränderter Stimme. „Der Vater braucht mich, weil der Berg wieder anfangt. Und ich möcht’ ersuchen, daß ich heut’ noch heim kann.“

„Was? Jetzt im Frühjahr?“ fuhr Purtscheller auf. „Wo d’ Arbeit brennt im Hof? Wie soll ich denn da auf ein’ grünen Zweig kommen, wenn mir d’ Leut’ davon laufen, sobald die richtig’ Arbeit anfangt? Und für was zahl’ ich Dich denn eigentlich?“

Er schien bei dieser Frage zu vergessen, daß er seinem Maier an Lichtmeß den Lohn schuldig geblieben war. „Nix da! Du bleibst!“

„Thut mir leid, Herr Purtscheller, aber ich muß heim!“ erwiderte Mathes ruhig. „Den Fürhalt hab’ ich g’macht, wie ich eing’standen bin.“

Ärgerlich überlegte Purtscheller. „Steht’s denn schon gar so schlecht da droben?“

„Ja! … Und wenn noch was z’helfen is, muß g’holfen werden, eh’ ’s Wasser wachst.“

„No also, meinetwegen! Am End’ erbarmt er mich ja auch, Dein Vater! … Und wann meinst denn, daß D’ wieder kommen kannst?“

„In der ersten Stund’, in der mich der Vater g’raten kann!“

„Gut! So geh’ halt!“ brummte Purtscheller und drehte dem Knecht den Rücken.

Mathes atmete schwer und zerknüllte mit zitternden Händen den Hut. „Um eins muß ich noch bitten …“

Purtscheller schien die Geduld zu verlieren. „Was denn schon wieder?“

„Daß der Zäzil ’kündigt wird, bis ich wieder komm’!“

„Ja Himmelkreuzteufel …“

„Das muß ich verlangen! Sonst wär’ in Zukunft jedes Wort, das ich an d’ Ehhalten richt’, in Wind ’nein g’red’t! Soll ich d’Leut’ fest bei der Arbeit und in der Hand halten, so müssen s’ Respekt vor mir haben und mein Wort muß gelten!“

„So? Und ich? Ich soll vielleicht der gar niemand sein im Haus! Da stimmst Dich aber!“ schrie Purtscheller und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Da erschien Karlin’ mit blassem Gesicht auf der Schwelle der Schlafkammer und zog hinter sich die Thüre zu. „Toni! ’s Kindl schlaft! Geh, sei net so laut und gieb ein bißl acht …“

„So? Acht geben? Schon wieder einmal? Auf alle Leut’ im Haus soll ich acht geben! Allweil acht geben! Aber auf mich giebt gar keiner acht! Und aller Verdruß fallt nur allweil auf mich!“ In wachsendem Jähzorn wandte sich Purtscheller an Mathes.

„Und Dir will ich sagen … mach’ Dich net gar so wichtig! Du!“

Der Atem ging ihm aus.

„Thun S’ Ihnen beruhigen, Herr Purtscheller!“ stammelte Mathes, während er mit besorgtem Blick die junge Frau streifte.

„Wir können ja die Sach’ ein andersmal ausreden!“

„Hättst die ganze Dummheit net aufg’rührt! Du! Ein andersmal misch’ Dich net in Sachen, die Dich ein’ Pfifferling angehen!“

„Aber Toni!“ fiel Karlin’ erschrocken und mit bebender Stimme ein. „So thu’ doch net so mit ’m Mathes reden! Das hat er doch wirklich net verdient um uns!“

„Natürlich! Den soll ich vielleicht noch extra in Baumwoll’ wickeln, weil er mir den ganzen zwecklosen Aerger da herg’macht hat! Und wer is im Grund’ wieder Schuld dran? Du! … Schau mich net so an, sag’ ich Dir! Das kalte G’schau vertrag’ ich net!“

„Aber Herr Purtscheller!“ sagte Mathes, dem die Stimme kaum gehorchte. „Thun S’ mir doch den einzigen G’fallen und ziehen S’ net die Frau noch in den Handel ’nein! Es kann ja sein, daß ich unrecht g’habt hab’. Und lassen wir die Sach’ gut sein für heut’! B’hüt Ihnen Gott, Herr Purtscheller!“ Er wollte zur Thüre.

„Nix da! Jetzt bleibst mir!“ schrie Purtscheller in hellem Zorn. „Oder meinst vielleicht, ich trau’ mich vor meiner Frau net Farb’ bekennen? Das käm ja bald so ’raus, als ob ich weiß Gott was für ein G’heimnis verbergen müßt’! Ah na! So steh’ ich gottlob noch lang’ net da!“ Mit zuckenden Fäusten riß er an der Weste und trat auf Karlin’ zu, die ihn mit ihren stillen, schwermütigen Augen ansah, ohne einen Schritt zu weichen. „Natürlich! Net g’nug, daß ich den Unfrieden hab’ im Haus. Jetzt mußt mir auch noch die ganzen Dienstboten durcheinanderbringen! Weil net weißt, wie man d’ Leut’ behandeln muß!“

„Aber Herr Purtscheller, um Gottswillen …“ stammelte Mathes mit bleichen Lippen. „Kommen S’ mit ’runter! Reden wir drunt’ miteinander! Ich bin ja mit allem einverstanden!“

Purtscheller hörte nicht und schrie seiner Frau mit kreischender Wut ins Gesicht: „Die armen Leut’ drunt’ arbeiten den ganzen Tag und haben ein Recht drauf, daß ihnen d’ Frau ein freundlichs Wörtl giebt.“

„Aber Toni!“ erwiderte Karlin’ ruhig. „Das hab’ ich doch jedem von unsere Leut’ noch allweil von Herzen ’geben!“

„So? Und wie machst es denn mit der Zäzil? Gelt, jetzt schlagt Dir’s Blut übers G’sicht! Warum is denn das Madl allweil Luft für Dich? Meinst vielleicht, Du bist was Bessers?“

Mathes zuckte, als wäre ihm ein Messer ins Herz gefahren.

„Purtscheller!“ glitt es ihm mit heiserem Laut über die Lippen.

Aber Purtscheller achtete des Knechtes nicht. „So geht man net um mit die Leut’! Verstehst mich?“ schrie er auf Karlin’ ein.

[685]

Herbst.
Nach einem Bilde von Adam Siepen.
(Mit dem Fuße gemalt.)

[686] „Und wenn dem Madl nachher im Zorn einmal ein unguts Wörtl ’rausfahrt, kann man’s ihr gar net verargen! Und schließlich hat ja ’s Madl gar nix anders g’sagt als die traurige Wahrheit, die ich lang’ schon spür’: daß jede andere besser für mich langen möcht’ wie Du! Beloben hätt’ ich das Madl noch müssen für so ein Wort, … statt daß der da mit seine groben Fäust’ dazwischen fahrt und möcht’ ’s Madl gleich ’nauswerfen zum Haus, mir nix und Dir nix! So was könnt’ mir grad’ noch taugen! Das Madl is eh’ noch die einzig’ im Haus, von der ich ein guts und ein lustigs Wörtl …“ Purtscheller verstummte und starrte seine Frau in maßloser Verblüffung an.

Karlin’ war auf Mathes zugegangen und hatte ihm die Hand gereicht. „Ich dank’ Dir schön, Mathes!“ sagte sie, während ihr aus den verstörten Augen die Thränen über die bleichen Wangen rannen. „Schau, ich hab’ mir eh’ schon immer ’denkt, daß noch wer auf der Welt is, der sich um mich noch ein bißl annimmt!“

„Frau Purtschellerin, … Mar’ und Josef … ich bitt’ Ihnen …“ stotterte Mathes und gab ihre Hand frei, die er kaum zu berühren gewagt hatte.

Unter Thränen lächelnd nickte sie zu ihm auf und wollte in die Schlafstube gehen.

Da vertrat ihr Purtscheller den Weg. Er hatte Schaum in den Mundwinkeln, und keuchend klang seine Stimme: „Du! … Du! … Solchene G’schichten verbitt’ ich mir fein! Und wenn nimmer weißt, an wen Dich z’halten hast … paß auf, Du … so könnt’ ich Dir ’leicht wieder einmal ein’ Deut’ geben, den acht Tag lang umeinander trägst im G’sicht!“ Der ernste, kalte Blick, mit welchem Karlin’ zu ihm aufsah, reizte noch seinen Zorn. „Schau mich net so an! Du! Oder es kann Dir gleich passieren …“ Er stürzte auf Karlin’ zu und hob die Faust zum Schlag.

Aber da klammerte sich eine eiserne Hand um seinen Arm.

„Bub’, Du! … den Knochen brich ich Dir auseinander!“

Purtscheller stöhnte vor Schmerz.

Ein paar Sekunden war lautloses Schweigen in der Stube; dann sagte Karlin’ mit versunkener Stimme: „Laß ihn, Mathes … er weiß ja net, was er thut!“

Mathes gab den Arm frei, den seine Faust gefangen hielt.

„So? … So?“ lallte Purtscheller, der den schmerzenden Arm rieb und nur halb aus seinem Jähzorn ernüchtert schien. „So was traust Dich Du gegen Dein’ Herrn!… Paß auf, Du! … Mit Dir will ich Rechnung halten, wenn ’s an der Zeit is!“ Er packte seinen Hut und rief seiner Frau über die Schulter zu: „Und Du kannst warten auf mich … aber lang’!“ Mit zornigem Gelächter verließ er die Stube und warf die Thüre zu.

Zitternd und wortlos standen Mathes und Karlin’ voreinander, Aug’ in Auge. Keines regte sich, und immer schwerer gingen Karlin’s Atemzüge. Mathes brauchte nicht zu sprechen – der Schmerz, der um seine Lippen gegraben lag, der heiße Glanz seiner Augen und seine bleichen Züge sagten ihr auch ohne Worte, was er gelitten und was er fühlte für sie.

„Mathes? … Um Christiwillen?“ hauchte sie tonlos und starrte ihn zu Tod erschrocken an.

Er nickte.

„Ja, Linerl! … Ich hab’ Dich gern g’habt, seit ich denk’!“

„Jesus Maria!“ stammelte sie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

So standen sie schweigend. Dann sagte er: „Gelt, Linerl, das siehst doch ein, daß ich jetzt nimmer bleiben kann?“

„Ja, Mathes!“ Aufatmend ließ sie die Arme sinken. „Jetzt mußt freilich fort!“

„Für ganz …“

„Ja, Mathes! Für ganz!“

Scheu und zögernd bot er ihr die Hand. „So b’hüt’ Dich halt Gott, Linerl!“ Zwei schwere Thränen fielen ihm über die hohlen Wangen auf die Brust.

„B’hüt’ Dich Gott auch!“ Die Hand, welche sie in die seinige legte, war kalt und zitterte. „Und grüß’ mir Deine guten Leut’ daheim!“

„Ich dank’ schön, ja!“

Er hob den Hut auf, der ihm entfallen war, und verließ die Stube. Karlin’ sah ihm mit nassen Augen nach, und als sich die Thür geschlossen hatte, griff sie in Schmerz mit beiden Händen an ihre Brust. Sie hatte den Irrtum ihres Lebens erkannt und sah mit träumenden Augen das stille, freundliche Glück, an dem sie blind vorübergegangen war. Und diese Erkenntnis wurde in ihrem Herzen zu jäher Sehnsucht, die sie mit heißer Freude empfand und dennoch mit einem Schreck, der sie halb von Sinnen brachte. Die Hände verschlingend, fiel sie auf die Kniee nieder und stammelte in Angst: „O, lieber Herrgott! Thu’ mich bewahren vor der Sünd’!“ Auf der Erde liegend, grub sie das Gesicht in die Arme und schluchzte …

Als die Erschöpfung kam und ihre Thränen versiegten, als sie müd’ und gebrochen sich aufrichtete, hörte sie aus der Kammer das leise Weinen ihres Kindes. Mit ersticktem Aufschrei wankte sie in den dunklen Raum, brach vor dem Bettlein nieder und umschlang den Knaben, wie ein Sinkender sich an die Rettung klammert.

Das Kind erschrak; doch von der schmeichelnden Hand der Mutter ließ es sich bald wieder beruhigen. „Bitt’ schön, Mammi,“ bat es mit schläfrigem Stimmchen. „Thu’ mir Liederl singen!“

„Ja, mein Herzerl!“ lispelte Karlin’. Und während ihr Thräne um Thräne über die Wangen sickerte, sang sie mit erloschenem Ton:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so lieb!
Zwitschert Wald aus und ein:
Wo mag mein Schätzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so lieb!

Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein …“

Sie stockte und konnte die Zeile nicht zu Ende singen. Zitternd preßte sie das Gesicht in die Kissen, auf denen das Köpfchen ihres Kindes ruhte.

Aus dem Raum, der unter der Schlafstube lag, klang der gedämpfte Hall von Schritten herauf, welche langsam hin und hergingen. Dort unten lag die Kammer, welche Mathes bewohnte.

Beim flackernden Schein einer Kerze ging er zwischen Kasten und Koffer hin und her und packte ein, was er vor fünf Monaten in den Purtschellerhof mitgebracht hatte. Als er fertig war, räumte er sauber die Kammer auf, blies das Licht aus – und da er sich aus Purtschellers Wirtschaft einen Karren nicht borgen wollte, nahm er den Koffer auf die Schulter. Niemand sah ihn das Haus verlassen. Draußen auf der Straße blieb er stehen, blickte zu den dunklen Fenstern hinauf und flüsterte: „B’hüt’ Dich Gott, Linerl!“

Die Nacht war lau; nur wenn der Wind ein wenig schärfer über die Berggehänge niederzog, spürte man den kühlen Hauch des Winters, der noch dort oben auf den Almen und in den Felsenkaren lag. Die wachsenden Bäche rauschten, und zahllos funkelten am stahlblauen Himmel die Sterne. Als der Weg steiler wurde, mußte Mathes alle paar hundert Schritt rasten. In der Nähe der Simmerau führte der Pfad über Stellen, auf denen der Schnee noch in großen Flecken lag; er sah sich schwärzlich an, und rings um seine Ränder war ein leises Rieseln zu vernehmen. Von der Höhe des Gehänges leuchtete ein rötlicher Schein.

„Sie schaffen beim Licht!“ murmelte Mathes.

Als er rascheren Ganges weiterstieg, sah er plötzlich vor seinen Füßen eine tiefe Kluft, welche quer den Pfad durchriß. Sie mußte in den letzten Tagen entstanden sein, denn am Sonntag, als er in der Simmerau zu Besuch bei seinen Leuten war, hatte er diese Schrunde noch nicht gesehen.

„Jetzt macht er flinke Arbeit, der Berg!“ Während Mathes die Kluft umging, welche zu breit war, als daß er sie mit seiner schweren Last hätte überspringen können, sah er mit sorgenvollen Blicken zum Himmel auf, dessen sternhelle Klarheit einen sonnigen Tag versprach. „Morgen wird ’s Wasser geben … und harte Stunden für ’n Vater!“

Er begann so rasch zu steigen, daß ihm der Schweiß in Fäden über Stirn und Wangen rann.

Als er in die Nähe des elterlichen Hauses kam, dessen Dach sich schwarz von der roten, den Garten erfüllenden Fackelhelle abhob, klang ihm eine zitternde Männerstimme entgegen:

„Bub’! Bist Du ’s?“

„Ja, Vater!“

„Gott sei Lob und Dank!“

Der Alte kam in Hemdärmeln über den Bühel herunter gehumpelt und fragte verwundert: „Warum bringst denn Dein’ Kufer mit?“

[687] „Man kann ja net wissen, wie lang’ ich daheim bleib’.“

„Ja freilich! Je länger, so lieber! Geh, laß Dir helfen!“

Selbander trugen sie den Koffer in den Hof hinauf.

„Wo is denn d’ Mutter und d’ Schwester?“ fragte Mathes.

„Hint’ draußen am Verhau flechten s’ die Ruten ein.“

„Da kann sich ja d’ Mutter jetzt schlafen legen. Ich fang’ gleich an! … Und wie steht ’s denn sonst?“

„Arg treibt er’s, der Berg! Recht arg! Jetzt könnt’s mich schon bald verdrießen! … Und wart’ nur, ich zeig’ Dir gleich was! … Aber sag’, hat Dich der Herr Purtscheller gutwillig fort’lassen?“

„Ja.“

„Und hat er Dich doch hoffentlich aus’zahlt für ’n Winter?“

„Ja!“ erwiderte Mathes ruhig. „Warum fragst?“

„Weißt, heut’ hat mir einer erzählt, es that’ recht schlecht um den armen Herrn Purtscheller stehn, und an Lichtmeß hätt’ er seine Dienstboten nimmer zahlen können.“

„Na, na! Da weiß ich nix davon!“

„No also, schau, wie d’ Leut’ reden! … Hast aber Dein Geld doch ordentlich eing’macht, daß D’ es net verlieren hast können am Weg?“

Mathes fand die Ausrede nicht gleich. „Ich hab’ ’s in d’ Stadt ’nein g’schickt auf d’ Sparkass’. Wenn aber grad’ was brauchen thätst, kann ich Dir schon was geben.“

„Gott bewahr’! Bloß g’sorgt hab’ ich mich, weißt, ob Dein’ Sach’ auch in der Ordnung ’kriegt hast.“

„Ja, ja!“

Sie waren ins Haus getreten und stellten in der Stube, in welcher die Lampe mit winziger Flamme brannte, den Koffer nieder.

Dann faßte Michel den Arm des Sohnes und zog ihn in den Flur. „Da, stell’ Dich her an d’ Wand!“ sagte er mit schwankender Stimme. „Und schau hart am Thürpfosten vorbei und gegen den Stadel ’naus.“

Mathes schmiegte das Gesicht an die Wand und visierte über den Thürbalken gegen die schwarze Scheune.

„Merkst was?“ fragte Michel beklommen.

„Ja, ein bißl was. Um ein Ruckerl schauen die Kanten auseinander.“

„Gelt? Schon gestern hab’ ich’s g’merkt, daß die Hausthür hin geht und der Stadel her! Eins muß schief stehn! … ’s Häusl, meinst?“

„Gott bewahr’! Der Stadel halt! Weißt, so ein g’ring’s Holzwerk verschiebt sich ja leicht.“

„Gelt? Das hab’ ich mir selber schon ’denkt!“

„Ja! Und da thu’ Dich net sorgen, Vater! Der Stadel laßt sich leicht wieder aufpölzen! Und komm’, schauen wir ’naus zur Mutter! … Die Kinderln schlafen schon?“

„Ja, Gott sei Dank!“

Sie gingen in den Garten, in welchem drei flackernde Kienfackeln an Bäume gebunden waren. Vroni stand am Fuß der Böschung und flocht zwischen das neue Pfahlwerk die Ruten ein, welche die Mutter ihr reichte.

„Katherl, da schau her!“ rief Michel. „Unser Bub’ is endlich da!“

„Ja grüß Dich Gott!“ Mutter Katherl humpelte den beiden entgegen. Als sie beim Fackelschein das Gesicht ihres Buben sah, erschrak sie. „O Du lieber Herrgott! Was hast denn gar so rennen müssen über ’n Berg ’rauf?“ Mit der Schürze trocknete sie ihm den glitzernden Schweiß vom Gesicht. „Und so viel z’sammg’arbeit’ schaust aus!“

„Na, na, Mutterl! Es is net so arg! In der Nacht schaut man sich halt so an!“ Mathes nickte ihr lächelnd zu und wandte sich zur Schwester. „Grüß Dich Gott, Madl!“

Vroni reichte ihm wortlos die Hand. Sie sah es ihm gleich an den Augen an, daß etwas geschehen war aber vor den Eltern wagte sie nicht zu fragen.

Nun that es Mathes nicht anders: die Mutter mußte sich niederlegen. „Das hol’ ich schon ein, was D’ versäumst!“ sagte er und begann auch gleich die Arbeit.

Er und die Schwester flochten am Verhau die Weiden ein, während sie dem Vater die leichtere Arbeit ließen: die Ruten zu holen und mit dem Messer abzuästen. Als Michel sich einmal entfernte, um ein neues Bündel herbeizutragen, flüsterte Vroni:

„Mathes? Geh, sag’ mir’s! Is drunten was passiert?“

Er nickte.

„Geh’, so red’ doch!“

„Schlagen hat er s’ wollen … und das hab’ ich net sehen können und hab’s ihm g’wehrt! Natürlich, da hat sie ’s g’merkt!“

Vroni schwieg erschrocken eine Weile. „Und jetzt kannst nimmer ’nunter?“

Er schüttelte den Kopf. „Das is mir noch ’s Aergste, daß ich ihr nix mehr helfen kann!“

„Aber sag’ mir …“

„Der Vater kommt!“

Sie schwiegen. Und Mathes ging dem Vater entgegen, um ihm das schwere Rutenbündel von der Schulter zu nehmen.
(Fortsetzung folgt.)



BLÄTTER UND BLÜTEN.

Ansiedlung deutscher Landleute in Nordschleswig. Die Landesgrenzen pflegen nicht nur im Kriege bedroht zu sein; oft müssen sie auch zu Friedenszeiten vor dem Andrang fremder Elemente geschützt werden und da gilt es, mit geistigen und wirtschaftlichen Waffen den Feind zurückzudrängen. In dieser Weise sucht das Deutschtum schon seit Jahren im Norden von Schleswig-Holstein gegen die Dänen anzukämpfen. Erst vor Jahresfrist haben wir in der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrg. 1895, S. 612) über das erfolgreiche Vorgehen des „Deutschen Vereins“ in Schleswig-Holstein berichtet. Einer seiner Begründer, der rührige Leiter, Pastor Jacobsen zu Scherrebek, sucht nicht nur deutsche Bildung zu verbreiten und den deutschen Gewerbestand zu unterstützen, sondern auch die Ansiedlnng von deutschen Landwirten in Nordschleswig zu fördern. Der tüchtige Mann kauft dänischen Grundbesitz an, um denselben in Rentengüter umzuwandeln und diese mit deutschen Bauern zu besiedeln. Um Mittel zu diesem Zweck zu erlangen, hat die von Jacobsen gegründete Kreditbank zu Scherrebek eine Anleihe von 100 000 Mark aufzunehmen beschlossen. Es werden Schuldverschreibungen zu 500 Mark ausgegeben, deren Zinsabschnitte bei der Kreditbank selbst, bei der Deutschen Centralgenossenschaft in Berlin und bei der Filiale der Deutschen Bank in Hamburg mit 4% eingelöst werden. Diese Thätigkeit des Vereins hat bereits namhafte Erfolge zu verzeichnen. Der deutschen Ansiedlung in jenen Gebieten kommt noch die Thatsache zu statten, daß der dänische Bauernstand an sich im Schwinden begriffen ist. Seit 1867 nämlich bis in die 70er und 80er Jahre hinein wanderten viele junge Nordschleswiger, um sich der Militärpflicht zu entziehen, aus. Die gegenwärtigen Besitzer altern nachgerade und es fehlt jetzt an Nachwuchs für die Uebernahme ihrer Landstellen. Zwar könnten die Söhne den Besitz der Väter übernehmen, aber nur als Ausländer; denn in den letzten Jahren hat die Regierung die Wiederaufnahme solcher Ausländer in den Unterthanenverband immer abgelehnt, seitdem es sich gezeigt hat, daß die neuen Staatsbürger gewöhnlich die heftigsten Agitatoren für die dänischen Umtriebe wurden. So ist das Land auf den Zuzug neuer Kräfte von Süden her, aus Angeln, Südschleswig, Holstein, Mecklenburg, Pommern etc., angewiesen. Um nun diesen zu fördern, wurde in Nordschleswig außer dem bereits genannten noch der „Deutsche Ansiedlungsverein zu Rödding“ gegründet, der mit den verschiedenen Ortsabteilungen des „Deutschen Vereins“ in Verbindung getreten ist. Derselbe weist deutschen Kauflustigen verkäufliche Höfe an und giebt ihnen jede gewünschte Auskunft. Wollen junge Landleute die Verhältnisse erst näher kennenlernen, so vermittelt er ihnen Stellungen als Volontär, Mitarbeiter etc. Selbstverständlich leistet der gemeinnützige Verein seine Dienste unentgeltlich. Da das Angebot von Höfen ein recht großes ist, stellen sich die Preise verhältnismäßig niedrig. Verfügt der Landwirt über etwas Kapital, so findet er in Nordschleswig trotz der Ungunst der Zeiten ganz gut sein Auskommen. Viehzucht und Buttererzeugung bilden die hauptsächlichsten Einnahmequellen. Der Verein hat Stellen von 5 bis 200 ha zur Veräußerung. Auskunft erteilt der Vorsitzende, Amtsvorsteher Thiermann in Rödding. – So schreitet die deutsche Ansiedlung in Nordschleswig rüstig vorwärts und wir wünschen ihr auch weiteres kräftiges Gedeihen.

Rembrandt van Ryn. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das unserer heutigen Nummer beiliegende Selbstporträt Rembrandts, nach dem im Louvre befindlichen Original von 1660, giebt in seiner kraftvollen Energie und künstlerischen Pracht das charakteristische Bild des Mannes, der heute unbestritten unter die wenigen ganz großen Führer der Kunst gezählt wird. Der junge Rembrandt (geb. 1606) genoß in dem vermögenden Elternhaus zu Leyden eine gute Bildung und kam früh zu tüchtigen Künstlern in die Lehre, aber bald schon suchte er sich eigene Wege und schuf besonders auch in der Kunst des Radierens die Technik, welche in [688] seiner Hand zu einer so ungeahnten Höhe emporwachsen sollte. Nach einem kurzen Aufenthalt bei den Eltern in Leyden siedelte er ganz nach Amsterdam über und galt dort bald, besonders im Porträt, als erster Namen: er schuf vor 1631 eine große Anzahl von Bildnissen, darunter mehrere seiner glänzendsten Werke, wie z. B. das heute im Haag befindliche wundervolle Bild des Anatomen Tulp und seiner Schüler, er erhielt Bestellungen vom Prinzen-Statthalter, und seine Bilder wurden ihm hoch bezahlt. Das Geld floß leicht in seine Kasse, allerdings ebenso leicht wieder heraus, denn er war ein sorgloser Haushalter und hatte eine verhängnisvolle Leidenschaft für schöne Schmucksachen, Raritäten, Prachtstoffe u. dergl., die er in seinem Atelier anhäufte, oder seiner schönen jungen Frau Saskia van Uylenburgh schenkte, die er 1634 heimführte. Die Glückszeiten dauerten indessen nicht lange: 1642 starb Saskia bei der Geburt eines Sohnes, Titus, nachdem drei frühere Kinder vorangegangen waren, und von hier an blieben Ungemach und Sorgen das Teil des Meisters, der sich immer tiefer in seine Arbeit vergrub, Bilder und Radierungen machte, aber die Ordnung seiner Geldangelegenheit versäumte und diese mit Leihen und Bürgen stets verschlimmerte. Rembrandts vorzugsweise der biblischen Welt entnommenen Stiche, z. B. das berühmte „Hundertguldenblatt“, entstammen großenteils jener Zeit. Bald häuften sich die Schicksale auf den stets menschenscheuer werdenden Künstler. Das Publikum fing an, seine Manier des Helldunkels unangenehm zu finden, und wandte seine Gunst den Porträts von Van Dyk und seiner Schule zu; die Geldverlegenheiten steigerten sich zu solcher Höhe, daß Rembrandt 1656 genötigt war, den Bankerott zu erklären, und nun wurde ihm alles genommen: sein geliebtes Haus mit den Ateliers und der Schätze bergenden „Kunstkammer“. Wohl arbeitete er rastlos weiter, verlor aber auch noch seinen Sohn und war zuletzt so vergessen von der Oeffentlichkeit, daß seine einst so hoch bezahlten Bilder um Bettelpreis zu haben waren und niemand von den Zeitgenossen seines am 8. Oktober 1669 erfolgten Todes nur erwähnt hat. Das nachfolgende Geschlecht heute vergessener Größen verachtete ihn als „Schmutzmaler“, dessen Zeichnung freilich durch ihre Richtung auf das Natürliche und Kräftige „nicht ganz schlecht gewesen sei“. Heute aber steht er längst anerkannt als einer der Hochbegnadigten, welche nur die Natur belauschen und getreulich wiederzugeben denken und dabei unbewußt überall die Spur ihres mächtigen Wesens dem Werke als Bestes aufprägen. Diese Wenigen sind die großen Genies der Menschheit.

In der Vorhalle der Großen Moschee zu Damaskus. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) Damaskus, die Hauptstadt Syriens, hat bis auf unsere Tage ihren alten Ruf zu wahren gewußt. Ihre Einwohnerzahl beträgt gegen 150000 und noch blühen in ihr die einst so berühmten orientalischen Industrien. Prächtige mit Gold und Silber durchwirkte Seidenstoffe und herrliche Perlmutterarbeiten werden in ihren Mauern von fleißigen Handwerkern erzeugt. Aus der Ferne gesehen macht das Stadtbild durch die vielen Kuppeln und Minarets, die aus dem Häusermeer emporragen, einen imposanten Eindruck. Zieht man durch eins der Thore in das Innere der Stadt ein, so fühlt man sich allerdings enttäuscht, denn die Straßen sind eng und winkelig, die einst schönen säulengezierten Bauten verfallen oder schlecht erhalten. Trotzdem weist Damaskus geschichtliche Sehenswürdigkeiten auf. Sein Stolz ist vor allem die Große Moschee, die leider vor drei Jahren durch Feuersbrunst stark gelitten hat.

An der Stätte eines großen heidnischen Tempelkomplexes wurde vermutlich schon durch Kaiser Arkadius (395 bis 408) eine christliche Kirche in byzantinischem Stile erbaut. Sie führte den Namen Johanneskirche nach ihrer kostbarsten Reliquie, dem Haupte Johannes des Täufers. Nach Eroberung der Stadt durch die Araber (635) wurde die eine Hälfte der Kirche den Christen gelassen. Erst 70 Jahre später zerstörte der Kalif Welîd die christlichen Altäre und verwandelte den byzantinischen Bau in eine herrliche Moschee, die von arabischen Schriftstellern als Weltwunder gepriesen wurde. Ueber hundert griechische Künstler sollen für ihn aus Byzanz gerufen worden sein. Antike Säulen wurden in ganz Syrien zusammengesucht, der Fußboden und die unteren Teile der Wände mit den seltensten Marmorarten bekleidet, die oberen Teile und die Kuppel mit Mosaiken bedeckt. Kostbare Steine zierten die Gebetsnischen, um deren Bogen sich goldene Weinreben rankten. Von der vergoldeten Decke hingen 600 schwere goldene Lampen herunter, welche allerdings schon der zweitfolgende Kalif durch einfachere ersetzen ließ. Dreihundert Jahre später zerstörte eine Feuersbrunst einen Teil der Moschee und seit der Eroberung von Damaskus durch Timurlenk im Jahre 1399 war sie nur noch ein Schatten ihrer früheren Herrlichkeit.

Auf unserem Bilde werfen wir einen Blick in die westliche Vorhalle des großen Moscheehofes. Wir sehen die vom byzantinisch-christlichen Bau erhaltenen Säulen mit den würfelförmigen Kapitälaufsätzen, und an der Wand Reste der Mosaik- und Marmorverkleidung, welche letztere spätere Flickarbeiten aufweist. Die reichverzierten Thürflügel geben uns am ehesten einen Begriff von der prunkvollen Ausstattung des ursprünglichen Kalifenbaues.

Bei dem Kultus der Mohammedaner spielt die Verehrung zahlloser Heiliger eine bedeutende Rolle. Ihre Grabesdome umgeben die größeren Städte und werden zu gewissen Zeiten, besonders vor dem Fastenmonat Ramadan, in festlichen Aufzügen besucht. Auf unserem Bilde werden in dem Moscheenhofe Vorbereitungen zu einer solchen Wallfahrt getroffen. In Damaskus zeichnen sich diese Aufzüge durch die Farbenpracht großer zeltförmig ausgebreiteter Fahnen und anderes originelles Beiwerk aus. Eine eigentümliche Rolle spielen bei diesen Aufzügen lebende Schlangen. Sie werden, um Hals und Arme gewunden, mitgetragen. Auch auf den Helmen mancher mit sarazenischen Ringpanzern bekleideten Araber sieht man dieselben, irgendwie befestigt, sich krümmen. In der Mittelgruppe unseres Bildes sind einige Schlangenbändiger im Begriffe, diese etwas eigensinnige Helmzier zu befestigen. Fremde, die als Zuschauer solchen Prozessionen beiwohnen, müssen auf ihrer Hut sein, da man in solcher Lage leicht fanatischen Angriffen ausgesetzt ist.

Im Zoologischen Garten. (Zu dem Bilde S. 669.) Die Zoologischen Gärten unserer Großstädte bilden seit Jahren Lieblingsplätze, an denen kinderreiche Familien Erholung und unterhaltende Belehrung suchen. Zweifellos zählt auch die Mutter mit den beiden Töchterchen auf unserm Bilde zu den Stammgästen eines solchen Gartens. Das merkt man schon an der Dreistigkeit, mit der das ältere Töchterchen, ohne sich vor den Straußen zu fürchten, eine ausgefallene Feder aus dem Gehege herausholt. An abgefallenen Blättern und Früchten der Roßkastanie hat das jüngere Kind gleich große Freude. Glückliche Kinderzeit, in der für die Kleinen solche Abfälle der Natur kostbare Schätze bedeuten! *

Herbst. (Zu dem Bilde S. 685.) Das lebensvolle Bild, in welchem die Herbststimmung so trefflich wiedergegeben ist, gewinnt für den Beschauer noch ein besonderes Interesse, wenn er erfährt, daß der Schöpfer desselben in der Ausübung seiner Kunst eine schier unglaublich klingende Schwierigkeit zu überwinden hat: Adam Siepen wurde ohne Hände geboren. Die von Lessing in „Emilia Galotti“ aufgeworfene Frage, ob Raphael nicht ein ebenso großer Maler gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden, findet hier durch die Thatsache eine unvorhergesehene Beantwortung. Denn wenn auch Siepen nicht einem Raphael zu vergleichen ist, so beweist sein Schaffen doch unzweifelhaft, daß man auch ohne Hände ein tüchtiger Maler werden kann.

In Düren 1851 geboren, entwickelte der kleine Adam schon als Kind eine große Geschicklichkeit, sich der Füße als Hände zu bedienen. Gar bald regte sich auch der Künstler in ihm; er zeigte eine besondere Neigung zum Zeichnen und Malen und damit zugleich eine stetig wachsende ungewöhnliche Energie, die sich seinem künstlerischen Schaffenstrieb entgegenstellenden großen Schwierigkeiten zu überwinden. So hat er nach unverdrossenem Mühen es heute dahin gebracht, sich eine Virtuosität in der Technik anzueignen, die erstaunlich ist.

In der Düsseldorfer Schule erhielt er seine Ausbildung, hauptsächlich als Schüler von Professor J. Roeting, und nachdem er seine Studien in Dresden und München vor neun Jahren vollendet hatte, wählte er Düsseldorf wieder zu seinem bleibenden Wohnsitz. Der örtliche Einfluß giebt sich in seinen Bildern wohl zu erkennen, die nicht selten auch den feuchtfröhlichen rheinischen Humor wiederspiegeln. Dieser bekundet sich auch in einem Schreiben, worin er von seinem Schaffen folgendermaßen plaudert: „Was die Art und Weise, mit dem Fuße zu arbeiten, betrifft, so ist dies höchst einfach. Ich sitze vor der Staffelei, wie sie jeder Maler benutzt, auf niedrigem Tische und schwinge ohne Latte oder Malstock elegant das Malbein, während die Palette auf kleinem Gestelle bequem ‚zum Fuße‘ liegt. Mit sehr guter Gesundheit behaftet (unberufen), gedenke ich in erwähnter Weise noch einige Semester mitzuthun und aus der Thatsache, daß ich Scheffels ‚Gaudeamus‘ zu meinem Brevier erkieset, mögen Sie ersehen, daß ich das Leben nicht von der trockensten Seite aufzufassen gewohnt bin.“

Seine Malweise ist nichts weniger als eine rohe Klexerei, die von ihm wohl eher wie von so vielen der modernen faustbegabten Kraftgenies mit Nachsicht aufzunehmen wäre. Siepen befleißigt sich einer gediegenen Durchführung, die er nicht nur in der Landschaft, sondern auch im Porträt und im Genre aufs glücklichste bethätigt. Dabei weiß er ebenso treffend wie die elegante Frauengestalt in dem vorliegenden Bilde auch die dralle Bäuerin auf die Leinwand zu zaubern. Und wer seine Bilder auf der Ausstellung betrachtet, ohne mit dem besonderen Umstand der Herstellung bekannt zu sein, der wird sicher nicht daran denken, daß er vor einem Kunstwerk steht, dessen Autor ohne Hände geboren wurde. D.     

Die Wetterlaunen dieses Jahres. Das Wetter ließ in diesem Jahre bei uns in Europa viel zu wünschen übrig. Wir haben einen ungewöhnlich kühlen, regnerischen Sommer gehabt und in verschiedenen Gegenden haben Stürme und Hochwasser schlimme Verwüstungen angerichtet. In anderen Weltteilen war die Witterung gleichfalls ungünstig und auch in Australien und Nordamerika klagte man über Unbilden des Wetters. Dort aber war es zu heiß. Zu Anfang Januar wurde Australien von einer fürchterlichen Hitze betroffen, an der Tausende von Menschen und zahllose Tiere zu Grunde gingen. Während drei Wochen sank die Temperatur an vielen Ortschaften nicht unter 40° C. Am Ufer des Darlingflusses in Neu-Süd-Wales wurden am 1. Januar 44,4° C. im Schatten beobachtet. Die Hitze hielt an und stieg am 7. Januar auf 50,6°, am 15. und 16. Januar auf 52,9° und am 18. desselben Monats sogar auf 53,9°! – Im August trat in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gleichfalls ein überaus heißes Wetter ein. Am 7. erreichte die Temperatur 32,8° C. und am 11. sogar 34,4° C. In verschiedenen Städten wurden inmitten der Straßen Temperaturen bis 40° beobachtet. Diese Hitze wurde durch zwei besondere Umstände lästig und gefährlich. Die Luft war windstill und blieb außerordentlich feucht. Darum war die Abkühlung des Körpers durch Transpiration erschwert und es häuften sich in der That Hitzschläge in erschreckender Zahl. In New-York allein starben daran in der Zeit vom 5. bis 12. August 625 Menschen, während die Zahl der gefallenen Pferde auf mehr als 1500 geschätzt wird. *      


manicula Hierzu Kunstbeilage XI: Rembrandt van Ryn. Selbstporträt.

Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge und Illustrationen dieser Nr. – z. Zt. nicht dargestellt.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 40. 1896.

Bei den Insurgenten auf Kreta. Die Hoffnung, die wir am Schluß unseres Artikels über „Die Unruhen auf Kreta“ (vgl. Beilage zu Nr. 29 dieses Jahrgangs) ausgesprochen haben, ist erfreulicherweise in Erfüllung gegangen. Die Pforte hat unter dem Druck der Mächte nachgegeben und der christlichen Bevölkerung auf Kreta wichtige Zugeständnisse gemacht. Die weitgehenden Reformen, die der Insel eine geregelte und gerechte Selbstverwaltung sichern, werden voraussichtlich genügen, um der durch so häufige Aufstände schwer geprüften Bevölkerung eine friedliche Kulturarbeit zu ermöglichen. Die mohammedanische Bevölkerung murrt allerdings gegen die Nachgiebigkeit der Pforte, so daß noch beide Parteien mit Waffen in der Hand sich gegenüberstehen, aber die ehemaligen Herren und Bedrücker werden wohl lernen müssen, als Gleichberechtigte neben den Christen zu leben. So ist die kretische Frage vorläufig in einer Weise geregelt worden, die alle gemäßigt Denkenden befriedigt.

Türkin auf Kreta.

Kretischer Bauer.

Von dem Kriegsschauplatze in den Bergen der Insel sind uns indessen einige Bilder und Mitteilungen zugegangen, die wir unseren Lesern nicht vorenthalten möchten. Einige in Kanea ansässige Deutsche hatten einen Ausflug in das von Insurgenten besetzte Gebiet gemacht und im Dorfe Kambos die Aufständischen photographiert. Unsere untenstehende Abbildung stellt nach einer dieser Aufnahmen eine wohlgelungene Gruppe von Freiheitskämpfern in ihrem originellen Nationalkostüm dar. Das aus 30 Häusern bestehende Dorf Kambos bot etwa 500 Insurgenten Unterkunft. Die Verpflegung der Leute geschah auf Kosten des Revolutionskomitees zu Athen, das über reichliche Mittel verfügte. Außer Nahrungsmitteln erhielten die Mannschaften noch einen täglichen Sold von etwa 25 Pfennig für Tabak ausbezahlt. Die Führung der Truppen lag in den Händen einiger griechischer Offiziere und Rechtsanwälte. Die Bewaffnung war eine verhältnismäßig gute, und man sah im Besitz der Aufständischen ausschließlich neue Gewehre französischen, österreichischen und deutschen Systems. – Unserem Gruppenbilde der Insurgenten fügen wir oben noch zwei Typen der Einwohner von Kreta bei: zunächst eine Türkin in einem langen Mantel und dann einen wohlhabenden Bauer, der einen weißen togaartigen Ueberwurf trägt.

Neue Flugversuche. Das beklagenswerte Ende, das Otto Lilienthal, den Vorkämpfer der Kunst des Fliegens in Deutschland, ereilt hat (vgl. Seite 624 dss. Jahrgangs), läßt den Mut der Männer, die dem Vogel den Flug ablauschen wollen, keineswegs sinken. Augenblicklich stellt Frankreich einen neuen Flugmenschen. Es ist kein Geringerer als Dr. Richet, Professor der Medizin in Paris. Der Apparat, den Dr. Richet ersonnen hat, soll alle Bewegungen des Vogels nachahmen; er ist 22 m lang, und die entfalteten Flügel haben eine Oberfläche von 60 qm. Der eigentliche Körper des Flugapparates ist verhältnismäßig klein und leicht. Sämtliche Teile sind aus Aluminium gearbeitet und durchlöchert, so daß die Luft sie durchdringen kann. Ein Dampfmotor soll die beiden Flügel und zwei Luftschrauben am vorderen und hinteren Ende des Apparates bewegen. Der Apparat wird gegenwärtig auf einem Besitztum Dr. Richets in Carqueiranne an der Küste des Mittelländischen Meeres aufgestellt. Von der Werkstätte führt eine Feldbahn zur Spitze eines steil zum Meer abfallenden Felsens. Von dort soll sich der Apparat in die Luft schwingen. Ein kleines Dampfboot wird sich bereit halten, um dem Herniederkommenden Hilfe zu leisten.

Ein Riesenhummer wurde vor kurzem in der Nähe von Block-Island gefangen und dem Naturgeschichtlichen Museum in Philadelphia übergeben. Er ist 52 cm lang und wog im lebenden Zustande rund 10 kg. Bis jetzt hat man nur ein einziges Exemplar von ähnlicher Größe gesehen, das im Jahre 1891 gleichfalls an der Küste von Nordamerika gefangen wurde. In Zukunft wird man solche Fänge schwerlich machen können; denn die Hummern werden durch die Fischerei schrecklich dezimiert und die größten am ehesten dem Seegrunde entzogen. Die größeren Hummern sind in den letzten Jahrzehnten gegen früher bedeutend seltener geworden.

Brandmalereien auf Lederpappe sind sehr beliebt zur Verzierung von Mappen, Rahmen, Paletten u. dergl., weil die Arbeit rasch fördert und die Sachen, geschickt koloriert, eine vortreffliche Wirkung machen. Nicht überall aber ist das Material gut zu haben, auch das Fertigstellen vom Buchbinder verursacht in kleinen Orten Schwierigkeiten. Ihnen abzuhelfen hat die Firma C. Petzold in Dresden die Gegenstände fertig herstellen und mit hübschen Vorzeichnungen versehen lassen. Nähere Angaben enthält der Katalog der Firma.

Kretische Insurgenten.
Nach einer photographischen Originalaufnahme.

Wie wirkt der Thee? Eines der verbreitetsten anregenden Getränke ist der chinesische Thee. Leider haben bis jetzt genauere wissenschaftliche Untersuchuugen über seine Wirkung auf den Menschen gefehlt. Diese Lücke ist nunmehr durch sorgfältige Untersuchungen ausgefüllt, die von Emil Kräpelin und August Hoch in Heidelberg angestellt wurden und deren Ergebnisse im 2. Heft der „Psychologischen Arbeiten“, Leipzig, Verlag von W. Engelmann, erschienen sind. Im Theeaufguß befinden sich zwei wirksame Stoffe: das Koffeïn und ätherische Oele. Wie nun Kräpelin ermittelt hat, beeinflußt das Koffeïn die Muskeln, indem es dieselben anregt und zu größeren Leistungen fähig macht. Die Theeöle wirken dagegen auf das Nervensystem, vor allem auf das Gehirn. Sie regen die geistige Thätigkeit an; unter ihrer Einwirkung wurde z. B. bei den Versuchspersonen das Rechnen bedeutend erleichtert. Die Versuche wurden in der Weise angestellt, daß einzelne Personen bald das Koffeïn allein, bald nur Theeöle einnahmen. Diese Erkenntnis ist für die Wahl der Theesorten von Bedeutung. Wer seine geistige Thätigkeit anregen will, sollte einen Thee trinken, der nur wenig Koffeïn enthält. Es ist aber dabei nicht zu vergessen, daß sowohl das Koffeïn wie die ätherischen Oele des Thees Stoffe sind, durch deren Mißbrauch der Körper zerrüttet werden kann.

[688 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]