Die Gartenlaube (1896)/Heft 41
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Nr. 41. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Geschwister.
(3. Fortsetzung.)
Darf ich Dich einen Augenblick stören, Papa?“ mit diesen hastig gesprochenen Worten trat Lisbeth, wenige Tage nach dem Balle, in ihres Vaters Arbeitszimmer. Er warf einen Blick in ihr erblaßtes und heftige Erregung verratendes Antlitz und sprang von seinem Stuhle auf.
„Wie siehst Du aus! Ist ein Unglück geschehen?“
„Hoffentlich noch nicht, aber ich möchte eines verhüten.“
„Die Mama!??“
„Nein, nein, Papa! Ich habe traurige Botschaft von Römers.“
„Von Römers? Und da erschreckst Du mich so!“ rief er vorwurfsvoll.
„Es sind meine besten Freunde, Papa. Ihr Leid fühle ich wie ein eigenes.“
„Du bist in diesem Punkt merkwürdig sentimental,“ sagte er kurz, „ich finde, die Mama hat nicht unrecht, wenn sie sich über die Ueberfülle dieser freundschaftlichen Gefühle beschwert. Aber erzähle, was hast Du und was willst Du?“
„Du weißt es wohl, Papa, daß Gertrud seit Montag ein kleines Baby hat. Tante Römer ist zu ihrer Pflege dort. Nun hat diese vorgestern das Unglück gehabt, durch einen Sturz in den Keller das Bein zu brechen, und zu gleicher Zeit fing Gertrud an zu fiebern. Die Dienstboten sind noch fremd am Orte, Gertruds Krankheit steigerte sich rasch und Arnold ist durch sein Amt gezwungen, fast immer im Bureau zu sein. Er schreibt mir völlig verzweifelt über die augenblickliche Lage –“
„Und wünscht, daß Du hinkommst,“ unterbrach sie der Geheimrat.
„Das spricht er nicht aus, ich soll eine Pflegerin besorgen, darum schreibt er. Aber, Papa, ich bin fest entschlossen, ihnen beizustehen und mit dem nächsten Zuge abzureisen, und ich komme, Dich um die Erlaubnis und um Deine Vermittelung in dieser Angelegenheit bei Mama zu bitten.“
„Aber, Lisbeth, was ist das für eine Leidenschaftlichkeit! Ich weiß nicht, ob Mama – –“
„Es sind meine besten Freunde, Papa! Tausendmal bin ich in diesen langen Jahren ihnen das schuldig geworden, und ich werde sie nicht allein lassen, wenn ich ihnen wirklich nützen kann. Denke doch nur, wenn Gertrud stürbe, nie in meinem Leben könnte ich darüber wieder ruhig werden“ – die Thränen stürzten dabei plötzlich über ihre blassen Wangen – „und Tante Römer, wie mag sie in dieser hilflosen Lage leiden!“
Das Mitleid über ihre Ergriffenheit ließ den Geheimrat die schon auf seinen Lippen schwebende Bemerkung über dieses so höchst überflüssige „Tantenverhältnis“ unterdrücken.
„Nun, nun,“ meinte er, „es wird ja so schlimm nicht sein, und was ich thun kann, um Mama zu bewegen –“
„Nein, Papa, gehe noch nicht! Wir müssen uns erst verständigen. Ich reise unter allen Umständen, für mich liegt darin eine Pflicht. Ich bin hier leicht ersetzbar, dort nicht. Ich wäre Mama unendlich dankbar, wenn sie einwilligte, aber –“
„Ah,“ meinte kurz und kühl der Vater, „ich verstehe. Um jenen gefällig zu sein, wärest Du imstande, uns den kindlichen Gehorsam aufzusagen.“
„Papa,“ sie warf sich an seine Brust und umschlang ihn mit den Armen, „hast Du je Ursache gehabt, über mich zu klagen? Versetze Dich jetzt in meine Lage, vertritt dieses Mal meine Interessen, und ich werde gewiß mein Leben lang Dir nie Grund geben, Dich über den Mangel an kindlicher Unterordnung zu beschweren.“
„Du bist so aufgeregt,“ erwiderte jener und wehrte leicht ihre Umarmung ab. „Diese Stimmung soll bei mir zu Deiner Entschuldigung sprechen. Wann willst Du fahren?“
„Der nächste Kurierzug geht um fünf Uhr.“
„So gehe und besorge Dein Gepäck und dann komme zu Mama, ich werde indessen die Sache mit ihr vereinbart haben.“
Als Lisbeth nach einer halben Stunde das Wohnzimmer betrat, fand sie die Eltern noch bei einander. Sie brachen das sehr lebhaft geführte Gespräch ab und der Vater sagte, eine Aussprache zwischen Mutter und Tochter verhindernd, zu ihr: „Mama erlaubt Dir die gewünschte Reise nach D., bedanke Dich bei ihr. Ich will derweil Schmidt nach einem Wagen schicken.“
Lisbeth näherte sich der Mutter, ergriff ihre Rechte und küßte sie, und diese bedeckte ihre Augen mit der anderen Hand und sagte klagend: „Fremden Menschen gehst Du beizustehen und mich lässest Du allein, trotzdem Du die täglichen Arbeiten in unserem Haushalte kennst.“
„Durch Leos und meine Abreise verkleinert sich die Familie fast um die Hälfte, und während seiner Abwesenheit fallen natürlich auch alle größeren geselligen Veranstaltungen bei uns fort – das wird Dir die Zeit erleichtern, Mama!“
„Ach ja, Leos Abreise!“ unterbrach die Mutter sie, „wir wollten heute noch gemeinsam seine Sachen packen.“
„Ich habe es schon gestern abend gethan. Die Bücher- und Wäschekiste ist fertig. So hat er einzig noch seine Kleider in den Koffer zu legen, und das macht er allein.“
„Und welche Kosten werden wieder aus dieser Reise entstehen, während wir wegen Leos Aufenthalt in Berlin doch wirklich Ursache haben, alle unnützen Ausgaben zu vermeiden.“
„Ich werde dritter Klasse fahren, Mama: es ist ja ein Kurierzug, da kann man es ruhig thun.“
Die Frau Geheimrat überlegte sich dieses Anerbieten schnell.
„Du mußt aber ein Zuschlagbillet bis zur nächsten Station lösen, damit Du hier in die zweite Klasse einsteigst. Es könnte jemand, der Dich kennt, am Bahnhofe sein.“
„Ja, gewiß, wenn Du es wünschest, obwohl das Umsteigen nach einer Viertelstunde stets sehr unbequem ist.“
„Darauf kann man keine Rücksicht nehmen. Wirst Du dort erwartet?“
„Nein, es ist bei dem gegenwärtigen Zustande niemand von Hause abkömmlich. Außerdem will ich mich auch nicht anmelden.“
„Das ist auch besser: so weiß es niemand, welche Klasse Du benutzt hast. Bei der Rückfahrt aber, wenn man Dich begleitet, nimmst Du wieder dieses Zuschlagbillet. Hörst Du, Lisbeth?“
„Ja, Mama – aber Römers benutzen immer die dritte Klasse.“
„Was sich für Römers schickt, schickt sich für die Tochter Deines Vaters noch lange nicht, also folge meinen Anordnungen!“
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Lisbeth hatte ihre Reise mit der Hoffnung angetreten, den Freunden eine Stütze in der Not zu werden, aber sie ahnte doch nicht, in welchem Maße dies der Fall sein würde. Der erste, dem sie am Abend ihrer Ankunft begegnete, als sie, der Droschke vorsorglich schon am Straßenanfang entstiegen, mit ihrem Handgepäck beladen, beim trüben Schein der Laternen nach der Hausnummer suchte, war der eben aus dem Hause tretende Arnold. Er drückte ihr tiefbewegt die Hände, zu vielen Worten war nicht Zeit, und führte sie gleich hinein zu seiner Mutter, die im Gefühl ihrer hilflosen Ohnmacht und in der Angst um Gertrud seelisch noch stärker litt als durch die Schmerzen des gebrochenen Beines, obgleich auch diese quälend genug waren.
Auch sie begrüßte Gertruds Kommen wie das eines rettenden Engels vom Himmel, und es war leicht zu sehen, wie Lisbeths sofortiges Eingreifen und ihre geschickte zärtliche Fürsorge einen Ausdruck von seliger Erlösung auf dem vorher so kummervollen Gesicht der alten Frau hervorriefen. Mit Gertrud stand es nicht schlechter, doch war es geboten, sie vorsichtig auf Lisbeths Kommen vorzubereiten. Während Arnold in ihr Zimmer trat, ging Lisbeth in die Küche und fand dort ihre Hilfe womöglich noch notwendiger als in den Krankenzimmern. Die Köchin saß schluchzend am kalten Herd, tief unglücklich über den fremden Ort, über die Krankheit der Frau und noch vieles andere Schreckliche, namentlich aber auch darüber, daß der Herr seit Tagen eigentlich gar nichts zu sich nahm vor lauter Sorge und Aufregung. Darüber war ihr der Mut zum Kochen vergangen. Ihren Braten hatte er nicht angerührt, die guten Suppen ebensowenig, niemand sagte [691] ihr, was sie sonst machen sollte, da konnte sie eben nichts thun als weinen.
Lisbeth tröstete sie, hieß sie das Tuch von den Augen nehmen und Feuer anmachen und versprach, selbst zu kommen und mit Hand anzulegen. Dieser Zuspruch wirkte Wunder. Auguste versicherte, es sei ihr jetzt schon ganz leicht ums Herz, und Lisbeth wandte sich von ihr weg dem Krankenzimmer zu.
„Tritt näher, Lisbeth,“ sagte die junge Frau mit bebendem Ton, „ich will Dich umarmen. Ach, mein geliebtes Herz, wie danke ich Dir – nun weiß ich Mann und Kind und die arme kranke Mutter geborgen, da Du bei ihnen bist!“
„Nun, Gertrud, wir wollen uns Mühe geben, daß sie alle bald wieder Deiner Sorge unterstellt sind. Sei nur recht ruhig und denke nicht an die augenblickliche Kalamität, sondern erquicke Dich an dem Gedanken, wie sich Dein Glück und Dein Reichtum vergrößert hat! Ist es denn frisch und kräftig, Dein Baby?“
Die Kranke nickte und ein mattes Lächeln flog über ihr Gesicht, das in dem schwachen Schein des Nachtlichtes bis auf die fieberroten Wangen weiß erschien wie die Kissen, in denen sie lag.
„Es ist zu niedlich,“ flüsterte sie dann, „und es sieht Arnold so ähnlich, sogar der blonde Haarbüschel lockt sich schon jetzt auf der Stirn, wie bei ihm.“
„Nun, siehst Du, es ist Dir leicht gemacht, an Heiteres zu denken. Jetzt lege ich Dich auf die Seite und Du versuchst ein wenig zu schlafen. Mit dem Süppchen, das ich Dir kochen werde, komme ich dann und wecke Dich.“
„Und Arnold? Ich glaube, seit Mutterchen liegt, hat er noch nichts Vernünftiges zu essen bekommen.“
„Bekommen wohl, aber aus Sorgen um Dich nichts gegessen. Nun sei aber darum ruhig, jetzt ist das meine Sache, mein Schatz!“
„Lisbeth!“
„Was ist’s, Trudchen?“
„Ich möchte Dir gern noch etwas sagen.“
„Später, Liebste, jetzt ruhe Dich aus von der Aufregung, in der Du Dich den ganzen Tag befunden. Ich will nun sehen, daß die Deinen zu ihrem Recht kommen.“
Nach einer halben Stunde zeigte sich die Lage des Hauses Römer schon wesentlich gebessert. Die Kranken hatten ihr Süppchen genossen, und wenigstens die Frau Rektor schlief fest und sanft, während Arnold im Gefühl, daß jetzt jemand seine Sorgen mittrug, ruhiger geworden war und leichter geneigt schien, Lisbeths Trostesworten zu glauben.
So brachte die Nacht Frieden und Ruhe für die verängstigten Gemüter und der Sorgenbrecher Schlaf vollendete die Wohlthat der Natur und schloß allen die Augen.
Nur Lisbeth wachte. In einen Lehnstuhl gedrückt saß sie an Gertruds Bett, hielt die fieberheißen Hände der jungen Frau in den ihren und betrachtete mit stummem Schmerze dieses in den wenigen Tagen so verfallene Gesicht. Die Kranke stöhnte, warf sich hin und her, focht mit den Händen in der Luft und murmelte leise Worte. Endlich, nach einigen angstvoll verbrachten Stunden, öffnete sie plötzlich die Augen, sah Lisbeth mit leeren Blicken an und schloß sie dann wieder, um nach einigen Minuten mit dem Ausdruck völligen klaren Bewußtseins sie wieder aufzuschlagen.
„Lisbeth!“
„Ich bin’s, Trudchen, wünschest Du etwas?“
„Ja, ich muß zu Dir reden, lasse mich sprechen, sonst finde ich keine Ruhe!“
„Sprich, mein liebes Herz!“
„Lisbeth, ich werde sterben, ich fühl’s.“
„Liebste Gertrud, ist es nicht unrecht, Dich durch solche Gedanken aufzuregen! Du wirst in wenigen Tagen frisch und gesund sein – der Arzt hat’s noch abends Deinem Manne versichert.“
„Nein, Lisbeth, täusche Dich nicht – er irrt – hier sitzt’s“ – sie legte ihre schmale Hand auf die Brust – „ich werde nie mehr frisch und gesund sein. Aber Lisbeth – ich fürchte mich nicht. Jedem Menschen ist sein Teil Glück zugemessen – mir ist ein vollgeschüttelt Maß geworden – nun gehe ich – mag auch Arnold glücklich werden –“
„Aber, Gertrud – Gertrud!“
„Ja, es ist so, Lisbeth. – Er ist der beste, der edelste der Menschen – er hat mich namenlos glücklich gemacht in den Jahren, da ich ihm angehörte – und jetzt erst habe ich begriffen – daß er es nicht ist. – Er nahm mich an sein Herz, weil er sah, wie grenzenlos ich ihn liebte – das seine gehörte einer anderen, gehörte ihr von Jugend an – – gehörte ihr ganz allein. – – Sei ruhig, Lisbeth, halte still – laß mich ausreden! – Deiner Mutter Stolz hatte ihn so tausendmal aufs bitterste verletzt, und daß Du nur dulden, nicht handeln konntest, ließ ihn an Dir zweifeln. Er glaubte wohl, er bezwinge sein Herz leichter, wenn er sich Pflichten auferlege – aber Lisbeth – er hat es nie bezwungen – nie – – niemals – –“
Der Freundin Antlitz war blasser fast als das der Kranken, als sie sich nun über sie beugte.
„Mein armes Herz,“ sagte sie sanft, „Du fieberst, Du phantasierst, mache Dich los von diesen bösen Träumen. Ich will Dir ein Schlückchen Wasser geben und Dich höher betten, vielleicht kannst Du dann besser schlafen!“
„Ich phantasiere nicht, Lisbeth, jedes Wort ist überlegt, das Du gehört. Ich habe Gott immer gebeten, daß ich es Dir sagen darf, und er hat es mir gegönnt. Ich will kein Versprechen – ich will auch keinen Wunsch äußern – nur sagen wollte ich Dir, was ich gesagt habe, Dir ganz allein – und nun ich das gethan, bin ich ruhig – ganz ruhig – nun werde ich auch schlafen!“
Lisbeth nahm sie schweigend in ihre Arme, richtete die Kissen höher, reichte ihr den erfrischenden Trunk und setzte sich wieder ihr zu Häupten.
„Gieb mir die Hand, Lisbeth!“
Diese nahm die kleine, fiebernde Hand der Freundin in die ihren, die so kalt waren, als wären sie innerlich erstarrt. Wie das Blut in dem schwachen Körper jagte und glühte, wie jeder Pulsschlag drin kämpfte mit dem dunklen Ueberwinder Tod! Gott – Gott – nur dieses nicht – nur dieses nicht! Stundenlang saß sie so, ohne sich zu regen, ihre Glieder wurden steif durch die unbewegliche Stellung, eisige Schauer flogen über ihren Leib, sie merkte nichts, dachte nichts, fühlte nichts als die Angst, die Todesangst um das junge, fliehende Leben der Freundin. Und immer noch ging der Atem so heiß und schnell über die heißen Lippen, immer noch drang der röchelnde Ton aus der Tiefe der Brust, und wenn die nur halbgeschlossenen Augen sich plötzlich öffneten, war es ein leerer, verständnisloser Blick, der auf Lisbeth fiel.
Endlich ging die qualvolle Nacht zu Ende – ein blasses Frührot tauchte schon im Osten auf – da spürte sie die heiße Hand kühler werden, auch die fieberroten Wangen erblaßten allmählich, die Glieder streckten sich, und wie die Lider tief und fest über die Augen fielen, verwandelte sich diese zitternde, fiebernde Bewußtlosigkeit in die tiefen, langen, regelmäßigen Atemzüge einer Schlafenden.
Der Arzt, der am Morgen seinen Besuch machte, war äußerst überrascht und erfreut.
„Das gnädige Fräulein ist als ein rettender Engel hier erschienen, ich habe kaum auf diesen günstigen Ausgang gehofft.“
„Darf ich ihr, wenn sie erwacht, ihr Kindchen bringen?“
„Nein, keinesfalls. Sie wird aber auch nicht danach verlangen; ihre Mattigkeit wird so groß sein, daß sie noch längere Zeit keinerlei Interesse verrät.“
Und so war es auch. Fast immer lag die junge Frau in festem Schlaf und dieser wechselte dann mit leichtem Schlummer ab. Sie ließ sich Nahrung einflößen, öffnete wohl auch die Augen und begrüßte mit einem freundlichen Blick oder einem liebevollen Worte ihre Umgebung, um dann wieder in den dämmernden Halbschlaf zu sinken.
Im ganzen Hause hörte man keinen lauten Ton, alle Glocken waren abgestellt, die Uhren angehalten, man bewegte sich nur langsam und leise, sprach nur flüsternd und zitterte schon vor jedem Geräusche auf der Straße, das diese verheißungsvolle Ruhe stören könnte. – So gingen viele, viele sorgenvolle Tage und Nächte hin; endlich an einem Morgen erwachte Gertrud mit völlig klaren Augen und rief Lisbeth zu sich heran.
„Ich lebe wieder, Lisbeth!“
„Dem Himmel sei dafür gedankt, mein Liebling!“
„Ja, ich will ihm danken jeden Tag und jede Stunde. Ach, ich lebe ja so gern! Und Deiner treuen Sorge, Lisbeth, verdanke [692] ich es nächst Gott. Du warst stets bei mir - ich habe Dich immer gesehen, am Tage und in der Nacht, und Deine Gegenwart gab mir die Ruhe.“
Sie langte nach der Hand der Freundin und hielt sie mit ihren blassen, abgezehrten Händen fest, während sie still vor sich hin sann.
„War ich sehr krank, Lisbeth?“
„Ja, Trudchen, recht sehr, aber denke nicht mehr daran, das ist ja nun vorbei!“
„Habe ich sehr gefiebert und phantasiert?“ fragte sie weiter, während eine hohe Röte über ihr Gesicht zog und ihre Augen mit forschendem Ausdruck auf Lisbeths Antlitz hafteten.
„Nur eine Nacht, und schon gegen Morgen kam die Wendung zum Besseren.“
„Und es hat niemand gehört, was ich phantasierte?“
„Niemand sonst, wir waren allein – und ich weiß es auch nicht mehr, womit sich Dein Geist beschäftigte. Wer kann die unzusammenhängenden Worte eines Fieberkranken festhalten?“
Die Spannung auf dem blassen Gesicht verschwand, ein Lächeln fand darauf Platz: „Du Gute, Liebe – wir wollen nie mehr von diesem bösen Tage reden. Nun hole mir meinen Mann und mein Kind!“
Von dieser Stunde an ging es sichtlich vorwärts. Bald stand die Wiege neben ihrem Bette, Arnold durfte die ganze Zeit, die er seinen Amtsgeschäften abmüßigen konnte, bei ihr zubringen, und sogar die alte Frau Rektor wurde an jedem Morgen, in einem Lehnstuhl sitzend, in dieses Zimmer gerollt und auf dem Sopha gebettet, denn auch bei ihr hatten diese Wochen so günstig gewirkt, daß sich in nicht ferner Zeit eine völlige Genesung erwarten ließ.
Mittlerweile waren die Briefe von Hause, die an Lisbeth kamen, von Mal zu Mal dringlicher geworden und verlangten immer stürmischer ihre Rückkehr. Die Frau Geheimrätin schrieb, Leos Examen stünde in allernächster Zeit bevor, und sobald er wieder zu Hause sei, sollte der große Ball zur Eröffnung der Saison vom Stapel gehen, der nur wegen seiner Abreise aufgeschoben worden sei. Von ihrem Vater erhielt sie einen Brief mit allerlei Andeutungen, die sie sich nur so zu erklären wußte, daß der Berliner Aufenthalt ihres Bruders den Vater mit außergewöhnlichen Sorgen belastet haben müsse, und Elfe würzte die Briefchen, die sie nur in den seltensten Fällen zu verfassen pflegte, so sehr mit geheimnisvollen Hinweisen auf ein kommendes wichtiges Ereignis, daß Lisbeth sich schließlich völlig beunruhigt fühlte und selbst dringend heim verlangte.
Im Hause ihrer Freunde war sie ja wohl nun abkömmlich, da die junge Hausfrau wieder auf ihren Füßen stand und auch die alte Frau Römer mit Hilfe eines Stockes im Zimmer zu gehen vermochte.
Es war aber doch ein schweres Scheiden. Solche in Angst und Schmerzen verlebten Zeiten ketten die Herzen fester aneinander als jedes andere gemeinsame Erlebnis. Sie liebte ihre Eltern und Geschwister zärtlich, aber Rat oder Stütze würde sie nicht von ihnen verlangt haben. Desto mehr davon erwartete dort jeder von ihr, immer war sie die Gebende, die nicht Zeit finden konnte, an sich selbst zu denken. Welch’ ein Segen, neben einem Manne wie Arnold zu stehen, der das Bewußtsein des Rechts so unerschütterlich fest in sich trug und dem das Gute und Rechte immer das Selbstverständliche war – neben einer Frau wie seine Mutter zu leben, die so viel Milde mit Klugheit verband und stets das richtige Wort fand, um das verzagte Herz aufzurichten und auf den rechten Weg zu führen! Und dann das Kleine, ihrer lieben Gertrud süßes Baby – gewiß, dem galten in erster Reihe die Thränen, die bei der Rückreise unaufhörlich ihr Gesicht befeuchteten und sich gar nicht stillen lassen wollten. Wie lieblich es war, wie rund und zart und rosig! Wie wohlig es sich streckte und dehnte, wenn sie es in das warme Wasser gelegt und dann frisch gebettet hatte! Und wie das Mündchen sich schon zum Lächeln verzogen und die Händchen, die winzigen, weichen Händchen so sanft über ihr Gesicht gestreift hatten! Ach, die Händchen – die Kinderhändchen – wie fest sie halten, was sie ergreifen, am festesten wohl das Frauenherz! Ob das ihre noch einmal aufhören würde, so zu schmerzen, ob wohl einmal die Sehnsucht nach diesem kleinen Wesen, welches sie mit seines Vaters Augen angesehen hatte, sich mildern würde? – –
Die Ihrigen empfingen sie nicht am Bahnhof, aber Schmidt
war da, in Livree, besorgte den Wagen und brachte sie mit einer
strahlenden Triumphmiene nach Hause. „Endlich – endlich!“
scholl es ihr dort von allen Seiten entgegen, geöffnete Arme streckten
sich nach ihr aus, und als sie, gehätschelt und geliebkost, von einem
zum andern ging, empfand sie eine drückende Reue darüber, daß
nicht die gleiche Sehnsucht, die man hier nach ihr empfunden, sie
zurückgeführt hatte ins Elternhaus. (Fortsetzung folgt.)
Die Wettsucht in England.
Das Lotteriespiel, wie es in Deutschland gang und gäbe ist, kennt man nicht in England. Das Gesetz unterdrückt jedes Glücksspiel mit eiserner Faust und verbietet selbst Lotterien für wohlthätige Zwecke. Der Engländer, der wie jedes Menschenkind in sich den Drang fühlt, das Glück zu versuchen, bemüht sich daher auf anderem Wege dies Ziel zu erreichen, und wirft sich mit ganzer Seele aufs Wetten. Er kommt dabei aus dem Regen in die Traufe; wie ein Krebsschaden zehrt dieses Laster am Körper der Nation, und Tausende beendigen ihre Laufbahn im Bankbruchshofe, im Armenhause, oder durch Selbstmord, als Opfer des Wettens. Im Unterhause hat sich eine besondere Partei gebildet, die sich die Aufgabe stellt, die Zusendung der Cirkulare der deutschen Lotterien, die in England massenhaft durch die Post verbreitet werden, zu unterdrücken. Der bedauernswerte Oberpostmeister soll alle Cirkulare durchsehen und, falls sie von einem deutschen Lotterieagenten kommen, sie allesamt in den Papierkorb wandern lassen! Bis jetzt aber hat sich noch keine Partei im Parlamente gebildet, um den „Buchmachern“ auf den Sportplätzen den Krieg zu erklären, denn die Herren Gesetzgeber wetten ja selbst. Und so bewährt sich wieder das Sprichwort: „Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen.“
Schlecht ergeht es auch dem englischen Händler, der aus der Gewinnsucht des Volkes Nutzen zu ziehen sucht, indem er die Käufer mit einem Gewinne anlockt; schnell faßt ihn die Polizei beim Kragen und legt ihm das Handwerk. Hier einige Beispiele! Ein Theekrämer in Birmingham war auf den gescheiten Gedanken gekommen, mit jedem Pfunde Thee dem Kunden eine Anweisung auf 10 Pfund Sterling zu verabreichen, die er einzulösen versprach, sobald er 100 000 Kisten Thee verkauft hätte. Großartig war der Erfolg dieser Reklame; ganz Birmingham eilte zu dem Laden des unternehmenden Geschäftsmannes, dessen Theeumsatz von 7 Pfund wöchentlich auf 33 000 Pfund stieg. Der Spaß währte aber nicht lange; die Polizei belangte den Händler gerichtlich, wegen Uebertretung des Lotteriegesetzes; und er wurde mit 30 Pfund Sterling Geldstrafe belegt, nachdem der Richter sorgfältig berechnet, die stipulierte Anzahl von Kisten Thee könne erst in etwa 100 Jahren abgesetzt werden, und die Nachkommen des pfiffigen Krämers würden dann Anweisungen einzulösen haben, deren Wert den der englischen Nationalschuld überstiege!
Monatelang vermehrte eine Londoner Wochenschrift die Zahl ihrer Leser und ihr Einkommen im großartigsten Maßstabe, indem sie eine sogenannte „missing word competition“ (d. h. „die Suche nach dem fehlenden Worte“) veranstaltete. Die Regeln dieses Glücksspiels waren im höchsten Grade einfach. Dem Leser wurde ein Satz vorgelegt, der etwa folgendermaßen lautete: „Herr Gladstone ist ein – Mann“; sein Ziel ward es nun, den Gedankenstrich durch das richtige Wort zu ersetzen, denn die richtige Lösung brachte dem Glücklichen 200–300 Pfund Sterling ein. Die Mitbewerber sandten das von ihnen gewählte Wort mit einer Postanweisung auf einen Schilling an den Redakteur des Blattes, und das auf diese Weise gesammelte Geld wurde darauf an den Finder
[693][694] des richtigen Wortes verabfolgt, oder, falls mehrere Mitbewerber erfolgreich gewesen, unter sie gleichmäßig verteilt. In einem Falle erhielt der Löser des richtigen Wortes nicht weniger als 600 Pfund Sterling für seinen Einsatz von einem Schilling! Man kann sich nicht wundern, daß mit einer solchen Glückschance in Aussicht plötzlich die ganze Bevölkerung der englischen Hauptstadt von der Spielwut – man kann dafür doch keinen anderen Ausdruck finden ergriffen wurde. Im Eisenbahnwagen, im Omnibus, im Tram, überall sah man die bezeichnete Wochenschrift in den Händen der Passagiere, die, mit Bleistift und Papier versehen, auf dem Hin- oder Herwege nach oder von der City, um das fehlende Wort und die Glücksgöttin buhlten. Den Buchhändlern kam die Spielwut des Publikums insofern zu gute, als letzteres auf Wörter- und Nachschlagebücher wie besessen schien. Das „fehlende Wort“ selbst wurde vom Redakteur festgesetzt und in einem versiegelten Briefumschlag Wochen zuvor einer Vertrauensperson übergeben, sodaß jedweder Betrug ausgeschlossen war. Die Zeitung machte solch herrliche Geschäfte, daß sich auch andere Kapitalisten auf das Herausgeben von ähnlichen Blättern verlegten, die wie Pilze in die Höhe schossen. Zur Abwechselung boten sie den Lesern ein Haus, eine Möbelausstattung oder ein Jahreseinkommen von 50 Pfund Sterling als ersten Gewinn an. Trotz des Gesetzes schien auf diesem Wege das Lotteriespiel hier doch festen Fuß gefaßt zu haben; aber ganz unmerklich zog sich das Gewitter über den Häuptern der besagten Zeitungseigentümer zusammen. Zuerst wurden im Parlamente Fragen an die Regierung über die Gesetzlichkeit solcher Gewinnverteilungen gestellt; dann folgten „Briefe an den Herrn Redakteur“ in den großen Tagesblättern, in denen die Schreiber allesamt Stellung gegen dieses Glücksspiel nahmen und es unmoralisch nannten, und endlich sah sich der „Kronanwalt“ veranlaßt, dem Drucke der öffentlichen Meinung nachzugeben und den Eigentümer der zuerst erwähnten Wochenschrift wegen Uebertretung des Lotteriegesetzes zu verklagen. Die Richter entschieden im Sinne der Anklage, und die „missing word competition“ mußte eingestellt werden zur großen Entrüstung der Teilnehmer, zur großen Freude der „Buchmacher“, denen durch die Konkurrenz der Zeitungen mancher Schilling entgangen war. Wie umfangreich die Kundschaft dieses Wochenblattes war, bewies die Thatsache, daß, während der Prozeß noch schwebte, über 1000 Pfund Sterling in Schillingen einliefen. Der Redakteur wurde nun gezwungen, diese 20 000 Schillinge einzeln an die Eigentümer zurückzusenden. Etwa 50 Pfund Sterling wurden unter die Hospitäler verteilt, da die Einsender nicht zu ermitteln waren.
Auf diese Art in die Enge getrieben, begnügen sich jetzt jene Blätter damit, nun jedem Leser eine Lebensversicherungspolice für 100 bis 1000 Pfund Sterling zu schenken, die in kraft tritt, falls er auf der Eisenbahn, dem Dampfer, im Omnibus oder auf der Pferdebahn sein Leben durch einen Unfall einbüßen sollte; selbst für den Verlust von Arm oder Bein erhält er eine entsprechende Entschädigung. Nur die Eisenbahnbediensteten sind von dieser philanthropischen Einrichtung ausgeschlossen, da in dieser Beziehung das Risiko zu groß ist; entfallen doch neun Zehntel der Unfälle auf den englischen Eisenbahnen mit tödlichem Ausgange auf diese Personen.
Als letztes Beispiel der Strenge, mit der in England alles, was einer Lotterie ähnlich sieht, unterdrückt wird, sei noch der Fall eines armen italienischen Zuckerbäckers erwähnt, der schwer bestraft wurde, weil er seine Kundschaft unter den Kindern auszubreiten suchte, indem er in jede zehnte Zuckertüte ein Fünfpencestück einwickelte.
Trotz alledem aber ist der Engländer nicht besser als seine Nachbarn, und sowohl im feinen Westend der Stadt wie im übervölkerten Ostend giebt es Spielklubs in Menge, und keine Woche vergeht ohne eine Klubrazzia. Doch im Vergleiche mit den Wettklubs ist man berechtigt, den Spielklubs eine nur untergeordnete Rolle zuzuerteilen. Noch niemand hat bis jetzt berechnet, wie viele Millionen Pfund Sterling jährlich der Engländer im Wetten ausgiebt, weil dies wohl, der Natur der Sache nach, unmöglich ist; da aber ein Rechenkünstler nachgewiesen hat, daß die englische Nation jährlich über 50 Millionen Pfund Sterling am Sport im allgemeinen verschwendet, dürfte die Gesamtsumme die aller Lotterien Europas übersteigen. Das Wetten hat sich im Volke zur wahren Leidenschaft ausgebildet, der alle Schichten eifrig ergeben sind. Man braucht nur am Vorabende eines wichtigen Wettrennens in ein Wirtshaus zu gehen, um sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen.
Obwohl auf einer Tafel die Warnung zu lesen ist: Betting is strictly prohibited (Wetten ist streng verboten) schert sich niemand um dieses Verbot, das nur pro forma an der Wand – hoch über den Köpfen der Gäste – prangt. Der Hauptgegenstand der Unterhaltung ist die Frage: welches Pferd hat morgen die besten Chancen? Stundenlang wird dieses Thema erörtert, und, mit jedem eintretenden Besucher, fängt die Unterhaltung wieder von vorn an. Dem Beobachter kann es dabei nicht entgehen, daß sich in der Gesellschaft gewöhnlich ein „Buchmacher“ befindet, ein Agent, dem die Gäste Papierstreifen, auf denen der Name eines Pferdes geschrieben ist, mit dem Einsatze einhändigen und der ihnen dagegen nach Verlauf des betreffenden Rennens den etwaigen Gewinn auszuzahlen hat. Das Gesetz verbietet das Buchmachen und das Wetten; und das Einsetzen wird daher heimlich betrieben, soweit es eben die Oeffentlichkeit des Wirtshauses zuläßt. Dabei kann es vorkommen, daß sich ein Buchmacher durch einen Geheimpolizisten bethören läßt und dessen Wette annimmt. Der Buchmacher wird dann vor Gericht gestellt und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Es fällt ihm aber nicht schwer, dieselbe zu zahlen, denn sein Geschäft ist meist ein so lohnendes, daß er an einem einzigen Rennen 40 bis 50 Pfund Sterling erzielen kann. Es kommt auch vor, daß der Herr Wirt in Person ein „Buch“ macht; wird er aber ertappt, so läuft er Gefahr, die Ausschankerlaubnis zu verlieren. Andere Buchmacher betreiben ihr Geschäft an den Straßenecken, etablieren sich als Barbiere, Zeitungshändler etc. und folgen unter dieser Decke ihrem Berufe. Diese kleinen Buchmacher beschränken meistens den Gewinn auf kleinere Summen; doch kommt es vor, daß nach einem Renntage mehrere Dutzende dieser Herren plötzlich ihre Läden schließen und das Weite suchen, weil sie hohe Wetten mit dem Publikum auf ein Pferd eingegangen waren, das, der allgemeinen Meinung nach, nicht die geringste Aussicht auf Sieg hatte, trotzdem aber als erstes am Ziel anlangte. Sie sind somit bankerott; da aber das Gesetz die Wettschulden nicht anerkennt, müssen sich die Gläubiger der Buchmacher begnügen, ihren Läden die Fenster einzuschlagen. Ein solcher Gläubiger eilte, nachdem er den Sieg seines Pferdes vernommen hatte, an demselben Tage mit Kind und Kegel nach einem Seebad, um dort die Früchte seiner Wette zu genießen. Erst nach seiner Rückkehr erfuhr er, daß sein Buchmacher verschwunden war, ohne einen Pfennig auszuzahlen, und er sonach seine Rechnung ohne den Buchmacher gemacht hatte!
Die großen Buchmacher schließen ihre Wetten im Wettklub ab; die meisten gehören zum Albertklub, der, vor 30 Jahren gegründet, über 7000 Mitglieder zählt, oder zu „Tattersalls“. Bis vor kurzem hatte eine große Anzahl Buchmacher ihren Wohnsitz in Calais und Boulogne-sur-mer; von dort durch die französische Regierung vertrieben, sind sie nach Holland geflüchtet, von wo aus sie mit England den regsten geschäftlichen Verkehr unterhalten. In einer intimen Plauderei gestand jüngst der Chef einer dortigen Buchmacherfirma, daß ein Pferd für ein einziges Wettrennen in seinen Büchern mit 30000 Pfund Sterling eingeschrieben war, während eine zweite Firma in sechs Monaten 34000 Wetten abschloß und ein Jahreseinkommen von 5000 Pfnnd Sterling hatte. Neuerdings konkurrieren Damen mit den Straßenbuchmachern und erfreuen sich lebhaften Zuspruchs. So blüht das Buchmachen, obwohl vor kurzem ein Londoner Polizeirichter die ganze Sippschaft der Buchmacher als „einen Fluch für die Gesellschaft“ bezeichnete.
Die tolle Wettsucht hat noch eine eigenartige Klasse von Geschäftsleuten, die sogenannten „tipsters“, auf Deutsch Wettpropheten, gezeitigt. Sie behaupten, genau das Pferd voraussagen zu können, das in jedem einzelnen Rennen gewinnen wird, und sind bereit, das Publikum in das Geheimnis, gegen entsprechendes Honorar, einzuweihen. Gewöhnlich abonniert der Wettende auf sechs Monate und wird dann telegraphisch täglich auf dem Laufenden gehalten. Diese Propheten verlegen sich auch auf das Annoncieren, um die Gimpel zu fangen, und einer dieser „tipsters“, der wöchentlich 100 Pfund Sterling für Annoncen in den Sportszeitungen ausgab, war imstande, sich nach 18 Monaten mit der schönen Summe von 15000 Pfund Sterling, die er sich durch seine Prophezeiungen erworben, ins Privatleben zurückzuziehen. Mannigfach sind die Kniffe, deren sich die „tipsters“ bedienen, um das Publikum anzulocken. [695] Gewöhnlich lauten die Annoncen, wie folgt: „Herr Brown, der berühmte Sportprophet, sandte letzte Woche seinen Abonnenten 20 Gewinner in 25 Rennen etc.“ Natürlich ist diese Angabe nicht wahr; aber das Publikum glaubt sie doch und sendet Herrn Brown seine Goldstücke. Als die Sportblätter der besseren Klasse sich weigerten, Annoncen dieser Art weiterhin aufzunehmen, wußten die „tipsters“ auch diesen Schlag zu parieren. Jetzt überfluten sie jeden Hauseigentümer, dessen Name im offiziellen Postnachschlagebuche erscheint, mit ihren Cirkularen. Bemerkenswert ist, daß das schöne Geschlecht nicht wenig zum Erfolge der „tipsters“ beiträgt; unter ihren Abonnenten befinden sich zahlreiche Damen! Was die Kniffe anbetrifft, so wurde wohl der beste von dem Propheten geleistet, der in den Zeitungen ein Heiratsgesuch erließ, das angeblich von einer jungen Dame mit einer Mitgift von 100 000 Pfund Sterling herrührte. Jeder Heiratskandidat erhielt von der angeblichen Erbin – das Cirkular des „tipsters“!
Jedes der großen englischen Tagesblätter widmet täglich dem Rennsport mehrere Spalten, und jede Zeitung hält sich ihren „Pferdepropheten“, der die mutmaßlichen Sieger in den Rennen tags zuvor voraussagt. Zuweilen werden diese Artikel von Jockeys geschrieben, die als Fachleute die „Form“ der Renner am besten zu beurteilen imstande sind. Die Abendblätter machen es sich zur besonderen Pflicht, ihren Lesern das neueste von der Rennbahn mitzuteilen, und ihre Spezialausgaben finden reißenden Absatz, da gegen fünf Uhr das Resultat der Wettrennen bekannt wird. Wenn die Zeitungsjungen um diese Stunde mit ihren Blättern und dem schrillen Rufe: „All the winners!“ („Sämtliche Gewinner!“) durch die Straßen eilen, dann wird es einem erst recht klar, wie sehr der Engländer am Wettfieber leidet. Die Jungen verkaufen ihre Bündel im Handumdrehen; die Käufer aber schauen nur in die Sportsspalte und werfen dann das Blatt weg; der übrige Inhalt hat kein Interesse für sie. Selbst die Sonntagsruhe, die dem Engländer doch so heilig ist, wird z. B. bei Gelegenheit des Pferderennens um den „Grand prix de Paris“ durch die Rufe der Zeitungsverkäufer entwürdigt. Um diesem Treiben ein Ende zu machen, hat sich eine Antiwettgesellschaft gebildet, die selbst gegen den mächtigen Jockeyklub, dem der Prinz von Wales angehört, zu Felde zog, aber nichts ausrichtete und nur zur Folge hatte, daß sich die Sportsmänner ihrerseits zusammenthaten und eine „Sportingliga“ ins Leben riefen, die den Schutz des Sports bezweckt. Und da England nun einmal das gelobte Land der Vereinssüchtigen ist, entstand über Nacht ein dritter Verein, der die „Wahrung der Interessen der Buchmacher“ auf seine Fahne geschrieben hat. Es bedarf wohl kaum der Vereine, um den englischen Nationalsport und die englische Wettsucht zu schützen – die große Mehrzahl der Engländer huldigt beiden.
Das Geburtshaus der Brüder Grimm.
In dem Augenblick, da Hanau a. M., die Geburtsstadt der Brüder Grimm, sich anschickt, das diesen gewidmete Denkmal feierlich zu enthüllen, werden vielleicht auch weitere Kreise gerne erfahren, wann und wie das Geburtshaus Jacob und Wilhelm Grimms zuerst aufgefunden wurde.
Bis zum Jahre 1858 hatte man sich nämlich merkwürdigerweise selbst in Hanau wenig mit demselben beschäftigt; allgemein galt dafür ein in der Langstraße gelegenes einstöckiges Wohnhaus, welches sich in den fünfziger Jahren im Besitz des Sanitätsrates Dr Gies, meines Vaters, befand.
Es lebten damals noch genug alte Leute, die sich zu erinnern glaubten, daß der Herr „Stadtschreiber Grimm“ (der Vater des Brüderpaares) zu Ende des vorigen Jahrhunderts mit Frau und kleinen Kindern in dem besagten Haus, Langstraße Nr. 41, gewohnt habe. Und dabei hatte man sich beruhigt.
Nun war in den fünfziger Jahren, nachdem das verflossene, stürmisch-politische Jahrzehnt zur Ruhe gekommen, ein besonders reges wissenschaftliches Leben und Streben erwacht; der erste Band des Grimmschen Wörterbuches war erschienen, und die Augen der gesamten gelehrten und gebildeten Welt waren darauf gerichtet. So mußten die Brüder Grimm eines schönen Abends wohl besonders lebhaft in dem „Litterarischen Verein“ zu Hanau besprochen worden sein, denn die Verhandlung endigte damit, daß meinem Vater viel scherzhafte Vorwürfe gemacht wurden, wie er die Ehre, das Geburtshaus der Brüder Grimm zu besitzen, gar nicht hoch genug anschlage, wie es eigentlich an ihm sei, etwas zu deren Verherrlichung zu thun u. s. w.
„Daran soll’s nicht fehlen,“ sagte mein Vater, und da es gerade Anfang Dezember des Jahres 1858 war, so wurde beschlossen, zunächst am kommenden 4. Januar 1859, dem Geburtstag Jacob Grimms, abends über unserer Hausthür ein erleuchtetes Transparent anzubringen mit der Inschrift: „In diesem Haus wurde am 4. Januar 1785 Jacob Grimm geboren.“
Es dauerte auch nicht lange, da stand das Transparent fix und fertig in unserer Hausflur, war eingepaßt in den Rahmen über der Hausthür, und nichts fehlte, bis auf die Kerzen zur Beleuchtung. Ich fühle noch den Stolz und das Entzücken, womit insbesondere wir Kinder dem großen Tag entgegensahen, wie wichtig wir uns allen anderen Menschen gegenüber vorkamen. Wie bitter sollten wir enttäuscht werden!
Es war nur noch kurz vor dem festlichen Tag, als eines Abends ein Freund meines Vaters, Doktor Jung, hastig angestürzt kam mit der Botschaft:
„Doktor, es ist ein Irrtum, die Grimms sind nicht in Ihrem Haus geboren. Wir haben noch einmal nachgeforscht und eine alte Base der Familie Grimm aufgefunden, ein Fräulein Höhn, welches ausgesagt hat, ihr Vetter, der Herr Stadtschreiber Grimm, habe zuerst mit seiner jungen Frau an dem Paradeplatz in dem jetzigen Polizeigebäude gewohnt, und hier seien die älteren Söhne Jacob und Wilhelm geboren. Erst später sei die Familie in Ihr jetziges Haus gezogen.“
Man denke sich unseren Schrecken! Aus allen Himmeln waren wir jungen Leute gefallen! Das schöne Transparent, die festliche Beleuchtung, die gaffende Volksmenge, die große Ehre, die wir geträumt hatten: alles stürzte wie ein Kartenhaus zusammen!
Mein Vater war indessen nicht der Mann, eine solche Sache leichten Kaufs aus der Hand zu geben. Gewohnt, jedem Ding auf den Grund zu gehen, entschied er alsbald: „Es wird an Jacob Grimm selbst geschrieben und um Auskunft gebeten. Heute noch schreibst Du mir nach Berlin,“ schloß mein Vater, indem er sich an mich wandte.
Der Brief wurde noch selbigen Tages aufgesetzt, auf rosa Papier abgeschrieben und dann, nachdem ihn mein Vater geprüft hatte, abgesendet. Wenn ich heute noch erröten will über eine Jugendthorheit, dann ziehe ich aus dem verborgensten Fach meines Schreibtisches das sogenannte „Brouillon“ oder Konzept dieses Schriftstückes hervor und lese es durch: naiver ist wohl selten ein großer Mann angeschwärmt worden!
Trotzdem erhielt ich eine Erwiderung, eine eigenhändige und liebenswürdige Erwiderung, die in eingehendster Weise unsere Frage erörterte.
Bei der Enttäuschung blieb’s freilich, denn Jacob Grimm bestätigte, was schon die Base Philippine Höhn erklärt hatte: daß er und sein Bruder in dem großen Haus am Paradeplatz oben (dem heutigen Landratsamt) geboren seien.
Nun war die Sache klar, kein Zweifel mehr möglich, und betrübten Herzens sahen wir das Transparent in eine entlegene Kammer hoch oben im Hause wandern. Es zu vernichten, konnten wir uns doch nicht entschließen.
So hart und bitter uns die Sache ankam, so hatte sie doch für die Öffentlichkeit ihr Gutes; die allgemeine Aufmerksamkeit war rege geworden. Die städtische Behörde nahm die Angelegenheit in die Hand, stellte noch weitere Nachforschungen an, und das Endergebnis war, daß in den folgenden Jahren das Landratsamt zu Hanau feierlichst für das Geburtshaus der Brüder Grimm erklärt und mit einem Medaillonbild geziert wurde, welches – die Initiale oben bietet die Abbildung – die Reliefköpfe Jacobs und Wilhelms zeigt.
Für mich aber schloß sich an jene hübsche (eigentlich traurige) Begebenheit doch noch ein kleiner Briefwechsel mit dem berühmten Mann, der den jugendlichen Ueberschwang der Gefühle übersah und sich an den Kern hielt. Mein Vater ließ eine Photographie des Landratsamtes anfertigen, die ich nebst Kirchenbuchauszügen wieder an Jacob Grimm schicken durfte, nicht ohne ein entsprechendes Geleitschreiben meinerseits. Daran reihten sich freundliche Sendungen von Berlin an mich, Bilder, Reden, die Märchen und vieles andere, Dinge, die mir mit den Jahren mehr und mehr zu Reliquien wurden.
Zum Schluß möchte ich den ersten an mich gerichteten Brief, welcher die Frage des Geburtshauses behandelt, im Wortlaut und in der eigentümlichen Orthographie des Gelehrten mitteilen. Derselbe kantet:
„Liebe fräulein Luise,
Sie haben mir so zutraulich geschrieben, dasz ich gleich zu der vorstehenden anrede berechtigt bin; ich will auf Ihre frage alles antworten, dessen ich mich entsinnen kann, allerdings bin ich in dem jetzt von Ihnen bewohnten hause, in der langen gasse neben dem
[696] hinterhaus des rathhauses, zum ersten bewustsein gekommen, mein vater war stadtschreiber beim amt Bücherthal und wurde im sommer 1791 als amtmann nach Steinau versetzt, wo er frühe schon, jan. 1796, starb und sechs waisen hinterliesz. meine frühesten knabenerinnerungen
stehen natürlich zu Steinau, doch ist mir noch manches aus der Hanauer zeit im gedächtnis.
die Kinderstube war hinten und gieng in den von einer nahen mauer beschränkten hof, über die mauer ragten obstbäume aus dem benachbarten garten, wahrscheinlich dem rathhausgarten. im rathhaushof spielten wir oft, gegenüber auf der anderen seite der strasse wohnte damals ein handschuhmacher, dessen namen ich lang behalten, doch jetzt vergessen habe. ich wurde oft über den paradeplatz in die altstadt zum grossvater getragen und geführt, muste im letzten jahr, etwa 1790 in eine schule laufen, die auf der entgegengesetzten seite, hinter dem Neustädter markt am platz der französichen kirche lag.
wollen sie wissen, wie ich damals aussah, so kann ich ein bildchen in den brief legen, das nach einem august 1787 von dem mahler Urlaub gemahlten ölbild radirt worden ist, ich stehe darauf in violetter jacke und hose mit grüner schärpe, doch gewöhnlich werde ich damals noch im blosen kittel herumgelaufen sein. zu der zeit des bildes war ich also 2 1/2 jahr alt, jetzt wäre ich danach nicht wieder zu erkennen.
aus der zeit, wo wir in der langen gasse wohnten, ist mir zufällig etwas in erinnerung geblieben und ich habe später im leben daran denken müssen, an einem frühen sommermorgen stand ich neben dem vater in der wohnstube am fenster, alle anderen schliefen noch, da sah ich eine magd mit einem zuber auf dem Kopf über die gasse gehen und die sonne spiegelte sich hell in dem wasser ab. im geist sehe ich noch immer das sonnenlicht in dem wasser zittern. das wird im jahr 1789 gewesen sein.
Aber geboren wurden wir in diesem hause nicht, sondern in einem am paradeplatz, wenn man vom ,weissen löwen‘ an hinaufgeht, etwa im zweiten oder dritten haus der reihe oben, falls das haus noch stehen geblieben ist, denn es sind seitdem schon 73 jahre verstrichen. ich hörte einmal, in diesem haus sei später die polizei gewesen, daran können Sie sich vielleicht zurecht finden.
gesetzt sie ermitteln es, so bitte ich mir die hausnummer aufzuschreiben, wie auch die von Ihrem haus in der langen gasse.
Nehmen Sie vor lieb mit diesen wenigen und mageren nachrichten, ich bin mit herzlichem grusz
Ihr ergebenster
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Deutsche und holländische Landeroberungen an der Nordsee.
Die überaus merkwürdigen und geographisch so interessanten Küstenverhältnisse der Nordsee mit ihren Inseltrümmern und Watten haben nicht nachgelassen, die Aufmerksamkeit derer zu erregen, die sie aus eigener Anschauung kennenzulernen Gelegenheit hatten oder beim Eintritt von Katastrophen Kunde von ihnen erhielten. Den Römern waren sie nach den Aufzeichnungen des Plinius und Tacitus ein Ort des Schreckens, der in gleicher Weise ihr Grauen wie ihr Mitleid mit den armseligen Bewohnern erregte, den kirchlichen Schriftstellern des Mittelalters nach allem, was sie von Zeitgenossen gehört hatten, eine Gegend voller Naturwunder, den späteren friesischen Chronisten ein Schauplatz des Jammers und der strafenden Gerechtigkeit Gottes, der Gegenwart aber ein Feld wissenschaftlicher Forschung in historischer, geographischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht.
Die Nordsee ist eines der sturmreichsten Meere der Erde, denn sie nimmt nicht allein Teil an den Luftströmungen nach und vom nördlichen Polarmeer, sondern seit der Zerstörung der alten Landverbindung zwischen Dover und Calais, die England zur Halbinsel machte, auch noch direkt an den meteorologischen Verhältnissen des nordatlantischen Oceans. Er ist die Bahn für die schweren Stürme, die infolge der bedeutenden Temperaturdifferenzen auf dem nordamerikanischen Kontinent entstehen und dann beeinflußt durch den Golfstrom ihren Weg mit furchtbarer Geschwindigkeit nach dem nördlichen Europa nehmen. Hatten sich während des Bestehens der britannisch-gallischen Landenge in der ruhigen Nordsee Dünen und in den ersten Zeiten nach ihrem Durchbruch noch Marschen hinter ihnen bilden können, so änderte sich das, als infolge der beständigen Wiederholung wütender Sturmfluten die Dünenkette in einzelne Glieder zerrissen und die Marsch hinter ihnen von Meeresarmen durchschnitten ward. Die steten Überschwemmungen wurden eine ernste Gefahr für die Küstenbewohner und ihren Landbesitz, so daß sie endlich daran gehen mußten, durch Deiche dem wilden Wasser entgegenzutreten.
Wann das geschehen sei, entzieht sich der sicheren Bestimmung; bei den Batavern an den Rheinmündungen fanden die Römer bereits Dämme vor, bei den Nordfriesen scheint erst lange nach der Einführung des Christentums gedeicht worden zu sein, bei den Ost- und Westfriesen an den Südufern der Nordsee schon vorher, doch blieben bei allen Stämmen die Deiche schwach genug, um die endlose Reihe von Unglücksfällen zu ermöglichen, von denen historische Quellen und Chronisten zu erzählen wissen. Zu den bekanntesten Ereignissen dieser Art gehören die Umwandlung des größten norddeutschen Binnensees in die heutige Zuidersee am Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, die zwischen 1277 und 1287 erfolgte Bildung des Dollart und, in demselben Jahrhundert, die Entstehung des Jadebusens, wobei weite Strecken reichen Kulturlandes vom Meere verschlungen wurden, und endlich 1634 die Zertrümmerung der großen Insel Nordstrand an der Küste Schleswigs. Ununterbrochen aber nahmen inzwischen die dem Festland vorgelagerten Düneninseln und Marschen ab, so sehr, daß heute an den Westgestaden Schleswig-Holsteins nur noch rund 500 qkm Landes einer Wasser- und Wattenfläche von 2500 qkm gegenüberstehen. Das Land besteht aus den größeren Inseln Nordstrand, Pellworm, Amrum, Föhr, Sylt, Röm etc. und einigen hohen Seesanden, die nur selten überflutet [697] werden, sowie aus den Wieseninseln oder Halligen Jordsand, Oland, Langeneß-Nordmarsch, Gröde, Habel, Hamburger Hallig, Hooge, Nordstrandisch Moor, Norderoog, Süderoog und Südfall, zu denen als neu entstanden Heimaand in der Meldorfer Bucht hinzukommt. Davon sind Jordsand, Norderoog und Helmsand unbewohnt, Hamburger Hallig, Süderoog und Südfall nur von einer Familie bewohnt, Hooge und Langeneß-Nordmarsch dagegen von größeren Gemeinden. Alle Halligen bestehen aus sehr fruchtbarem Marschboden und wurden zu der Zeit, als sie noch Bestandteile eingedeichter Marschlandschaften bildeten, mit Getreide bestellt; das läßt sich u. a. mit Sicherheit an der ehemaligen Landeinteilung erkennen, die sich auf einigen Wattenflächen mit auffallender Deutlichkeit erhalten hat. Seit dem Verlust ihres Zusammenhanges mit bedeichten Landschaften wird nur noch Viehzucht auf ihnen betrieben, weil sie bei ihrer sehr geringen Höhe über dem normalen Flutstande durch jeden heftigen Sturm überschwemmt werden. (Vergleiche die Abbildungen auf dieser Seite.)
Jnfolge dieses Umstandes gehören sie zu den merkwürdigsten Inseln der Erde, auf denen sich durchaus eigentümliche Wirtschaftsverhältnisse herausgebildet haben. Sämtliche Gebäude, Gärten und Trinkwasserbehälter liegen auf 4 1/2 bis 5 m hohen künstlichen Hügeln, den Werften (friesisch: Warfen oder Wurthen). Von hier wird für den Sommer und Herbst (11. Mai bis 10. November) das Vieh auf die Weiden gelassen, um nur bei drohender Gefahr auf die Werften getrieben zu werden, auf denen es sich auch von selbst zur Tränke einfindet, während es in den übrigen Monaten in den Stallungen bleibt. Die ganze, völlig ebene Flur ist mit Poagras bewachsen, welches nur auf solchen Ländereien gedeiht, die den Seeüberschwemmungen ausgesetzt sind, und welches anderen Grasarten weicht, sobald das Land dem Salzwasser durch Deiche entzogen wird. Der reiche Ertrag, den es alljährlich ohne andere Düngung als den Schlammabsatz des Ueberschwemmungswassers gewährt, dient zur Hälfte für die Weide, zur anderen Hälfte für das Winterheu, dessen Ernte in kluger Anpassung an die gegebenen Verhältnisse vom 24. Juni bis Mitte oder Ende August die gesamte Bevölkerung in eifriger Thätigkeit erhält. Vor Eintritt des Winters wird dann alles nicht zur Zucht bestimmte Vieh verkauft und für den Erlös das Haus mit den Lebensbedürfnissen versorgt, welche die Inseln selbst nicht hervorzubringen vermögen, also außer Fleisch, Eiern, Butter, Milch, Käse und Feuerung, mit allem übrigen. Als Brennmaterial dient der von den Weiden gesammelte und der in den Gruben aufbewahrte Dünger, entweder unmittelbar so, wie ihn die Natur hervorbringt, oder mit Heuabfällen zu einer Art Torf gemischt, der in viereckige Stücke gestochen und an der Luft getrocknet wird, die sogenannten Ditten.
Die gesamte Lage der Bewohner wäre nun an sich keineswegs bedauerlich, wie jeder glauben könnte, der die Halligen nicht aus hinreichender Anschauung kennt, wenn nicht jeder Sturm an den etwa meterhohen senkrechten Uferkanten (vgl. Abbildung S. 608) eine Brandung erzeugte, die das Land sozusagen wegfrißt. Dadurch nehmen die Inseln von Jahr zu Jahr an Umfang ab, mitunter sehr beträchtlich, wie z. B. in den Jahren 1894 und 1895 mit ihren ernstlich gefahrvollen Orkanen, und das hat dahin geführt, den Landbesitz zum Gemeingut aller zu machen. Jeder Stellenbesitzer hat dabei zwar seinen der Größe nach bestimmten Anspruch auf Mäh- und Weideland, aber nicht auf eine unveränderliche Lage seines [698] Besitzes, speziell des Mählandes (friesisch Medeland), denn sonst würden diejenigen zu rasch verarmen, deren Grund und Boden in der Nähe des Strandes läge. Der Besitz besteht deshalb nur in der Grasnutzung von so viel Areal, als nach dem Kaufbrief zu einer Hofstelle gehört, und dieses Areal wird sämtlichen Gemeindemitgliedern alljährlich an einer anderen Stelle genau nach der Höhe ihres verbrieften Anspruches zugewiesen. Das hat zu einer geradezu bewunderungswürdigen Aufrechnung der Halligfluren geführt, die dem Verstande und der Gerechtigkeitsliebe der Bewohner zur höchsten Ehre gereicht.
Die Umgebung der Halligen besteht bei Flutzeit oder Hochwasser aus dem Meer, das unmittelbar an die Uferkanten herantritt, bei Hohlebbe oder Niedrigwasser aus weiten Landgefilden, den Watten, dem übriggebliebenen Fundament, auf dem vor Jahrhunderten die viele Quadratmeilen umfassenden Marschflächen sich erhoben, deren Reste wir eben in den Halligen erblicken. Teilweise bedeckt die Watten weicher grauer Schlamm oder Schlick, der feine Satz, den die Flüsse in erstaunlicher Menge unausgesetzt weit in die Nordsee tragen, wo ihn die vorherrschende Wind- und Stromrichtung den schleswig-holsteinischen Küsten zu gute kommen läßt. Ueber den festen, thonigen Untergrund oder Klaiboden lagert sich andernteils der aufgewehte Flugsand der Dünen und Seesande, doch nur in so dünner Schicht, daß auch diese Flächen als Ackerboden vorzüglich brauchbar sein würden. Es kommt nur darauf an, das amphibische Wattengebiet der Kultur zurückzugewinnen, wofür allerdings bedeutende Mittel, Arbeit und Zeit erforderlich sind, so daß einzig und allein der Staat das großartige Werk in die Hand nehmen kann, und dazu scheinen nunmehr wirklich Aussichten vorhanden zu sein. In Preußen und in Holland rüstet man sich, das von der Nordsee verschlungene Land wieder zu erobern.
Der niederländische Plan, den ich nach einem fachwissenschaftlichen Aufsatz von Ingenieur Eiselen im Jahrgang 1895 der „Deutschen Bauzeitung“ kurz erläutern will, geht dahin, zwischen der eingedeichten Insel Wieringen und dem Flecken Piaam südlich von Harlingen einen 30 km langen gewaltigen Sperrdamm durch die Zuidersee zu bauen, dessen Kosten bei neunjähriger Bauzeit nebst den auf Wieringen anzulegenden Schiffs- und Entwässerungsschleusen auf 611/2 Millionen Mark berechnet sind. Dadurch werden rund 360 000 ha oder 72 Quadratmeilen Wasserfläche von der Nordsee abgetrennt und in einen ruhigen Binnensee verwandelt, von welchem dann vier Polder, Kulturflächen, gewonnen werden sollen, deren Lage und Größe aus der beifolgenden Skizze ersichtlich sind. Ihre Gesamtfläche wird 21700, 31520, 107760 und 50850 ha betragen, zusammen 211830 ha, davon 194410 ha bebauungsfähiges, fruchtbares Land, während der Rest von 145000 ha das neue Ysselmeer bilden wird, dessen Süßwasser in Zeiten der Dürre weit in die Kanäle der anliegenden Landschaften geleitet werden kann. Das ganze Riesenunternehmen soll eine Bauzeit von 33 Jahren umfassen, wonach sich die gesamten Kosten mit Zins und Zinseszins zu 31/20/0 auf 5351/2 Millionen Mark belaufen werden, während man bei einem Durchschnittsertrag von 191/2 Millionen Mark eine dreiprozentige Verzinsung von 646 Millionen Mark zu erzielen hofft.
Die Kosten sind hier zweifellos sehr beträchtlich, weil mehrfache erschwerende Umstände das Werk verteuern: die Entschädigungen an die zahlreichen Fischerfamilien und an einzelne Kommunen, die Anlage von Schiffs- und Entwässerungskanälen, von mächtigen Pumpwerken, Schleusen und Verlängerungen der einmündenden Flüsse, der Bau des kolossalen Abschlußdammes und besonders der Umstand, daß alle Deiche in 5 bis 6 m tiefem Wasser errichtet werden müssen. Die Ausführung des großen Planes ist daher auch noch nicht völlig gesichert, doch steht zu hoffen, daß die bedeutenden Vorteile, die für den gesamten Staat daraus erwachsen würden, die finanziellen Bedenken endgültig beseitigen werden.
Wesentlich anders liegt die Sache für Preußen an der schleswig-holsteinischen Küste. Hier hat die Regierung bereits 1870 die Hamburger Hallig erworben, ihre gefährdeten Ufer mit Granitböschung versehen und 1872 eine mehr als 4 km lange Faschinenlahnung zur Verbindung mit dem Festlande angelegt, worauf durch unablässige „Grippel“-Arbeiten die Erhöhung des Schlickansatzes gefördert wurde. Ueberall nämlich, wo in gebrochener Strömung den im Seewasser aufgelösten und von Ort zu Ort getragenen feinen Schlickteilchen ein fester Halt geboten wird, setzen sich diese Teilchen an und erhöhen ganz allmählich die umgebenden Watten. Der Mensch kann den Prozeß fördern, indem er auf solchen Watten kleine Gräben, die „Grippeln“, senkrecht zur Stromrichtung zieht und ihren Thonboden auf die so entstandenen schlammigen Beete häuft. In verhältnismäßig kurzer Zeit schlicken die Grippeln wieder voll, werden wieder ausgehoben und so fort, bis das dazwischenliegende Beet über gewöhnliche Fluthöhe steigt. Schon ehe letzteres eintritt, besiedelt es sich mit dem wichtigen Queller, einer Salzwasserpflanze, die mit ihren Wurzeln die Anschlickungen bindet und zwischen ihren Zweiglein den treibenden Schlamm auffängt. Sie verschwindet, sowie sie nicht mehr vom Wasser erreicht wird, und macht solchem Gras Platz, dessen Wurzeln einen salzdurchdrängten Boden vertragen, wie wir es auf den Halligen kennengelernt haben. Das Ergebnis derartiger Bemühungen bei der Hamburger Hallig sind heute bereits 400 ha fruchtbaren Schlickbodens, der allerdings noch nicht ausgereift genug ist, um hinter Deichen einen neuen, wertvollen Marschkoog zu bilden, aber sicher dazu gelangen wird. Wer sich über diese Verhältnisse zu unterrichten wünscht, den verweise ich auf meine Monographie „Die Halligen der Nordsee“ (Stuttgart 1892), wo ich ausführlicher die gesamten Verhältnisse dargelegt habe.
Leider scheiterte in den siebziger Jahren, wo die Mittel aus der französischen Kriegsentschädigung vollauf zur Verfügung gestanden hätten, die [699] weitere Unternehmungslust der Regierung bei der Hallig Langeneß-Nordmarsch. Auch hier wurde mit granitner Uferabböschung begonnen und die gefährdete Werft Hilligenlei für immer gesichert, die Fortführung der Arbeiten stieß aber auf den bedauerlichen Widerstand einiger Landbesitzer, worauf die Regierung ihre wohlwollenden Absichten aufgab. Es kann daher nicht wunder nehmen, daß die Bitten um Wiederaufnahme der Arbeiten, mit welchen ich im Hinblick auf die mitleiderregende Lage und die unbestreitbare Wichtigkeit der Halligen als Wellenbrecher für die in ihrem Schutze liegenden Seedeiche seit 1889 vorstellig wurde, erst dann Gehör fanden, als sorgfältige Prüfungen und Vermessungen des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten von der evidenten Zweckmäßigkeit des Unternehmens überzeugt hatten. Es sind jetzt zunächst 1320000 Mark in den Etat eingestellt, mit welchen in fünfjähriger Bauzeit ein Faschinendamm vom Festlande nach der Hallig Oland und von da nach Langeneß geführt werden, beide Inseln aber durch Granitufer gegen weiteren Abbruch geschützt werden sollen.
Sobald sich diese Anlagen bewähren, woran nicht im mindesten zu zweifeln ist, sollen die beiden kleineren Halligen Gröde und Habel in der gleichen Weise behandelt werden, hoffentlich aber auch Nordstrandisch Moor, das sich durch seine Lage in gleich günstiger Weise dafür eignet, wie aus dem beigegebenen Kärtchen zu ersehen ist. Ist das geschehen, so ist der Grund gelegt zu neuen Kögen im Umfange von 19- bis 20 000 ha und im Werte von etwa 50 Millionen Mark, auf die allerdings in ungefähr SOjähriger Arbeitsperiode 15 bis 20 Millionen Mark, einschließlich der Zinsen, zu verwenden sein dürften. Mögen sich diese Zahlen in der Praxis günstiger oder ungünstiger gestalten, unter allen Umständen wird sich ein ansehnlicher Gewinn dabei ergeben, der endlich dazu führen dürfte, die quadratmeilengroßen Wattenflächen um Hooge, Norderoog, Süderoog, Südfall, Pellworm und Nordstrand in gleicher Weise in Angriff zu nehmen und die oben genannten Halligen in ihrem Bestande zu sichern. Auf diesem Arbeitsfelde werden sich dann voraussichtlich ernstere Schwierigkeiten einstellen, weil mit der zunehmenden Einengung der großen Wattenströme die Gewalt und Richtung des ab- und zuströmenden Meerwassers sich verändern dürfte, indessen verfügt die Wasserbaukunst jetzt doch über hinreichende Mittel, die Kraft des strömenden Wassers zu brechen, wie die großartigen Weserkorrektionen des Oberbaudirektors L. Franzius in Bremen bewiesen haben. Geringere Mühe wird es bereiten, die vortrefflichen Watten südlich von der Eidermündung und in der Meldorfer Bucht abzudämmen, denen man nur zu Hilfe zu kommen braucht, um bei dem Zusammentreffen der massenhaften Sinkstoffe aus Eider und Elbe wahrhaft glänzende Resultate zu erzielen, so daß dann nur noch das nördliche Arbeitsfeld bei Amrum, Föhr, Sylt, Jordsand und Röm übrig bliebe, um mit seiner Eroberung ein großartiges Friedenswerk abzuschließen, welches der preußischen Verwaltung unvergänglichen Ruhm, eine kleine neue Provinz und einen nach Millionen zählenden Bargewinn eintragen würde.
Daß die Verbindung von Röm, Jordsand und Sylt mit dem Festlande möglich ist, unterliegt ebensowenig einem Zweifel wie die Möglichkeit des Anschlusses von Amrum an Föhr, von Norderoog an Hooge, von Hooge und Süderoog an Pellworm und von Südfall an Nordstrand, ja, es ließen sich auch Föhr und Nordstrand an das Festland ketten, nur ist bei ihnen ebenso wie bei Sylt zunächst noch Rücksicht auf die Schiffahrt zu nehmen, die schon durch den Damm von Oland nach Langeneß Unbequemlichkeiten erleidet.
Die hervorragende Rentabilität solcher Wattenarbeiten bestätigte mir freundlichst Herr L. Franzius in einem eingehenden Gutachten vom 25. September 1891, worin er bereits die gedachten Verbindungen empfahl und zugleich die Notwendigkeit betonte, die bisher schutzlosen Halligen als Stützpunkte des ganzen Systems durch direkte Uferwerke gegen weitere Zerstörung zu sichern. Alles das hat nun durch den hochherzigen Entschluß der preußischen Regierung an Wahrscheinlichkeit der Ausführung gewonnen; wir stehen nach der jahrtausendelangen Periode der Zerstörung an der Schwelle einer neuen Entwicklungsphase der Nordsee-Küstengebiete, denn ist erst einmal ein so bedeutender Anfang gemacht, so wird die Regierung gewiß nicht mitten auf ihrer Siegesbahn innehalten. Die Verhältnisse liegen zudem bei uns erheblich günstiger als in der Zuidersee, denn Preußen braucht nur ausgereiftes, auf natürlichem Wege entwässerbares Land in seine Deiche zu ziehen und verhältnismäßig geringe Mittel dafür aufzuwenden, während die holländischen Polder für ungeheure Summen auf 5 bis 6 m tief liegendem Seegrund angelegt werden müssen.
Der laufende Berg.
Mit jeder Stunde konnte man sehen, wie der Schnee auf den Almen schmolz und um weite Strecken gegen die Felsen zurückwich. Ueber alle Wände und Halden stürzten mit fröhlichem Rauschen die silbernen Bäche zu Thal – nur auf den Gehängen des laufenden Berges blitzte kein Schneebach und rauschte kein Wasser. Dafür aber wälzten sich in der Thalsohle die wachsenden Wassermengen mit dumpfem Tosen aus den unterirdischen Gängen des Berges hervor, erweiterten mit jeder Minute die Mündungen der Höhlen, überschwemmten die Straße und vermurten weite Wiesenstrecken mit dem Kies und Schlamm, den die fressenden Wellen aus dem Innern des Berges hervorwuschen.
Die Leute, deren Aecker von der Ueberschwemmung bedroht waren, hatten schon früh am Morgen die Arbeit begonnen und warfen Gräben aus, um dem angestauten Wasser einen Abfluß zu schaffen. Nur auf den frisch bestellten Saatfeldern, die zum Purtschellerhof gehörten und von welchen eines schon halb unter Schlamm und Geröll versunken lag, war niemand bei der Arbeit.
Um acht Uhr, als der Altknecht seinem Herrn die Nachricht von der den Feldern drohenden Gefahr bringen wollte, lag Purtscheller noch im Bett und mußte geweckt werden. Er konnte sich kaum ermuntern und brummte in seinem Dusel: „Net einmal im Bett hat man sein bißl Ruh’! Schauts halt, was z’ machen is … da brauchts ja mich net dazu! Oder meinetwegen holts den Mathes! Der wird schon Rat schaffen!“ Sprach’s und drehte sich auf die Seite, um die fünf Flaschen Tiroler, die er in der Nacht beim Hazardspiel ausgestochen hatte, völlig aus seinem sumsenden Kopf hinaus zu schlummern.
Gegen halb elf erwachte er und machte Spektakel um sein Frühstück. Als er verdrossenen Gesichtes und mit der Hand an der Stirn aus der Schlafkammer trat, war der Tisch schon gedeckt, und eben wollte die alte Magd die Stube verlassen.
„Natürlich! Gleich in aller Früh muß ich wieder ein altes Weib anschauen! … Wo is denn die Frau schon wieder?“
„Mit die Leut’ zur Arbeit auf d’ Felder ’naus!“
„Was der alles einfallt! Wär’ g’scheiter, sie blieb’ daheim und thät’ schauen, daß ich mein Sach in der Ordnung krieg’!“
„Aber ich bitt’, Herr, schauen S’ doch den Tisch an! Sie haben ja alles!“
„No ja!“ brummte Purtscheller. „Mir geht halt was ab, wenn d’ Frau net daheim is!“ Er schob sich hinter den Tisch.
„Und wo is denn der Kleine?“
„Den hat d’ Frau zur Nachbarin ’nüber’geben!“
„Was? Das is wohl die neueste Mod’? Als ob’s Kindl daheim net am besten aufg’hoben wär’! … Jetzt fahr’ ab! B’hüt’ Dich Gott!“
Während Purtscheller seinen Kaffee schlürfte, den Schinken kaute und die weichen Eier auslöffelte, tauchte verschwommen die Scene des vergangenen Abends vor seinen Gedanken auf. Ohne viel zu brüten oder sonderlichen Kummer zu verspüren, fühlte er doch, wie gewöhnlich nach solchen Auftritten, eine gelinde Anwandlung von Reue über die Roheit, zu der ihn sein Jähzorn hingerissen hatte. „Aber sie weiß ja doch, daß ich’s net so mein’,“ tröstete er sich, „und daß ich hintnach wieder der beste Kerl bin!“ Bei diesem halben Nachdenken erschien es ihm „merkwürdig“, daß er, der doch sonst gegen alle Menschen „so seelengut“ war, gerade seiner Frau gegenüber immer und immer in diese „schauderhaft aufgeregte“ Stimmung geriet! Aber das hatte er nun einmal so an sich – wie man seine Nase, seine großen oder kleinen Ohren, seine braunen oder blonden Haare hat! Damit mußte seine Frau [700] eben rechnen – und sie hatte doch allen Grund zu geduldiger Nachsicht, denn „so ein Glück hat net bald eine g’macht“! Freilich, Wenn er ehrlich sein wollte, mußte er zugestehen, daß Karlin’ all die Jahre her das Möglichste gethan hatte, den „Zornteufel“ in ihm zu beschwichtigen. Aber augenscheinlich war es doch auch, daß sie seit einiger Zeit, wie er meinte, „die pflichtschuldige Geduld verlor“! Dadurch setzte sie sich ihm gegenüber ins Unrecht! „Ganz entschieden!“ Denn statt wie ein immer „zum Ueberlaufen aufg’legts Millihaferl“ in allen Winkeln herumzustehen und ihm diese kalte, stillgekränkte Art zu zeigen, wäre es ihre Pflicht, ihn mit doppelter Zärtlichkeit zu behandeln und ihm durch liebenswürdige Lustigkeit den Druck seiner Sorgen zu erleichtern.
„Warum kann’s denn die Zäzil? Die doch noch lang net mein’ Frau is?“
Er nahm sich vor, Karlin’ auf ihre Pflicht mit freundlichen Worten aufmerksam zu machen und ihr alles nötige in Güte zu sagen. „Da wird’s ja wieder ein’ Zeit lang gut thun! Sie hat ja doch den besten Willen!“ Aber wie er nun auch mit seiner Frau auskam, so oder so, das ging jedenfalls keinen anderen etwas an! Und am allerwenigsten einen Knecht, den er bezahlte! – Bezahlte? – Bei diesem Wort mußte Purtscheller an Lichtmeß denken. „No ja, er kriegt sein Sach’ schon noch! Pressieren thut’s ihm ja net, sonst hätt’ er mich ang’fordert! Aber der Kerl soll sich nur net einbilden, daß er bei mir im Haus außer der Arbeit noch was anders z’ reden hat!“ Und nun gar auf solche Art den Flegel herauszukehren und sich handgreiflich in Dinge einzumischen, die ihn einen Pfifferling angingen! „Ein’ gleich ein’ Buben heißen und ei’m den Arm halbet auseinanderbrechen, daß ich fünf blaue Fleck hab’ davon! So was will ich ihm austreiben für ein andersmal!“
Freilich – mit einer Regung von Gerechtigkeitssinn suchte Purtscheller sich in die „Sitawazion“ hineinzudenken, in der sich Mathes befunden hatte – freilich, wenn man die Sache so beim richtigen Licht betrachtete, konnte man dem Knecht diese Einmischung nicht allzusehr verübeln. „Am End’ hätt’ ich’s selber net anders g’macht, wenn ich’s mit anschauen hätt’ müssen, wie so ein rabiates Mannsbild ein Frauenzimmer schlagen will!“ Da hätte sich in ihm doch ebenfalls das gute, mitleidige Herz gerührt! „No also, meinetwegen, er soll recht g’habt haben! Und schließlich brauch’ ich den Mathes, daß er mir den Hof wieder in d’Höh’ bringt! In Gottsnamen, ich will die Sach’ gut sein lassen!“
Als Purtscheller bei Kaffee, Schinken und weichen Eiern sich diese Einsicht und Ueberwindung abgerungen hatte, kam er sich ordentlich groß und bewunderungswürdig vor – und in satter Zufriedenheit wischte er sich mit der Serviette den Mund ab. Das ausgiebige Frühstück hatte auch das Sumsen seines Katers leidlich zur Ruhe gebracht.
„Jetzt an d’ Arbeit!“
Geld schaffen, das war vor allem das nöthigste für ihn; denn beim Wirt drüben hatte er eine Spielschuld von siebenhundert Mark stehen. Die mußte beglichen werden, wenn seine Reputation als „Sportsmann“ nicht leiden sollte. Für den Ostermontag war ja schon das erste Trabrennen angesetzt – und da wollte er mit dem „Lüftikus“ seine fünfzehn bis zwanzig Tausend an Preisen und Wetten holen! Bis dahin hieß es, sich fortfretten und Geld auftreiben, wo es aufzutreiben war. Mit dem Gewinn des Rennens war dann sein Lebensbedarf für ein Jahr gedeckt – und so konnte der Betrag, den Mathes aus dem Hof herausbrachte, rein dazu verwendet werden, um einen Teil der Hypothek zu löschen.
Glänzendere Aussichten als der Purtscheller-Toni hatte kein Mensch auf der Welt!
„Aber selber muß ich dazu schauen!“
Denn jener Geldgeber, der für die Hypothek von achtzigtausend und für das Fallholz des halbzerstörten Waldes so bereitwillig jene sechzigtausend bar gegeben hatte, war an der Hand von einem zähen Krampf befallen und wollte sie nicht wieder öffnen. Der alte Rufel zeigte noch immer Angst vor dem „Schießgewehr“ … und bei anderen Zwischenhändlern hatte Purtscheller schlechte Erfahrungen gemacht. Nun wollte er selbst in die Stadt und „dazu schauen“! Dabei traf er zwei Fliegen mit einem Schlag: er betrieb ein wichtiges Geschäft und konnte eine flotte Trainingfahrt mit seinem „Lüftikus“ machen.
Fröhlich vor sich hinpfeifend, ging er in den Hof hinunter.
Aber da hatte er gleich wieder einen Aerger zu überstehen – denn mit Karlin’ waren alle Knechte und Mägde zur Arbeit aufs Feld gegangen, um die bedrohten Saatfelder gegen den Andrang des aus dem laufenden Berg hervorströmenden Schlammwassers zu sichern – und so war niemand im Hof, der für Purtscheller den „Lüftikus“ vor den Gig hätte spannen können. Auf sein lautes Schelten kam endlich Zäzil zum Vorschein – neben der alten Köchin die einzige im Haus, welche von Karlin’ nicht zur Arbeit gerufen war. Mit lustigem Eifer war die hübsche Dirne ihrem Herrn behilflich, den Gig aus der Wagenremise zu ziehen und den Rappen einzuschirren. Das ging unter Schwatzen, Lachen und Kneifen vor sich, und beinahe hätte das Kichern und Kreischen des Mädchens das zur Scheuheit neigende Pferd in Unruhe gebracht.
Aber Purtschellers schmeichelnde Hand machte das nervöse Tier wieder gehorsam. In flottem Tempo fuhr er zum Dorf hinaus, sacht geschaukelt von den geschmeidigen Federn des neuen Gig, dessen rotlackierte Speichen in der Sonne blitzten, als wären die Räder rollende Feuersterne.
Aus der Ferne konnte Purtscheller seine Frau und die Dienstboten auf den Feldern bei der Arbeit sehen. –
Gegen fünf Uhr abends kam er aus der Stadt zurück, in seelenvergnügter Laune. Denn seine Fahrt hatte doppelten Erfolg gehabt: binnen drei Tagen sollte er zehntausend Mark auf zweite Hypothek erhalten – und mit dem „Lüftikus“ hatte er einen Rekord erzielt, der ihm den Sieg beim nächsten Trabrennen in sichere Aussicht stellte: ohne das Pferd auszupumpen, hatte er auf ebener Straße den Kilometer in nicht ganz zwei Minuten gefahren. Und in welch’ famoser Kondition kehrte das Pferd nach solcher Leistung in den Stall zurück: frisch und feurig, kaum mit einem Schweißfleck am glänzenden Fell! Da mußte Purtscheller jetzt das Pech, das er mit seinem „Herzbinkerl“ gehabt hatte, als ein rechtes Glück betrachten! Er lachte, als er sich an den Rat erinnerte, den ihm Mathes bei der Ankunft des neuen Trabers gegeben hatte! Den „Lüftikus“ verkaufen? „Net um ein G’schloß!“ Dank seiner unermüdlichen Arbeit war der Rappe jetzt fertig für die Rennbahn und sollte Geld bringen!
Da die Dienstboten mit Karlin’ noch immer auf den Feldern waren, versorgte Purtscheller selbst das Pferd, rieb ihm das Fell trocken und schnallte ihm die warmen Decken um.
Ein wenig müde von dieser Arbeit, doch in der behaglichen Laune eines Menschen, dem das Glück nichts zu wünschen übrig läßt, setzte er sich an den gedeckten Tisch. Zu allem Erfolg dieses Tages gesellte sich noch die Aussicht auf das Jagdvergnügen, das ihm der schöne Abend versprach: heute würde ihm sicher die erste Schnepfe vor das Rohr streichen.
Als die alte Magd auftrug, plauderte er so fidel mit ihr, daß sie ihn verwundert ansah. „Und schau,“ sagte er, „was ich der Frau aus der Stadt mit heim’bracht hab’!“ Schmunzelnd zog er ein Schächtelchen aus der Tasche. „Ah na! Das is ja net ’s Richtige … das g’hört für wen andern!“ Lachend schob er das Ding wieder ein, zog ein kleines Lederetui hervor, ließ den Deckel aufspringen und zeigte der Magd einen goldnen Armreif mit funkelndem Rubin. „Solche Sachen schenk’ ich meiner Frau! Da kann’s ihr Freud’ d’ran haben!“
„Ich weiß net,“ erwiderte die Magd in Zweifel, „aus G’schmucksachen hat sich d’ Frau noch nie was g’macht!“
„Aber so was Schön’s hat s’ ihrer Lebtag noch net g’habt! So was kann jede Gräfin tragen. Dreihundert Mark hab’ ich ’zahlt dafür!“ In dieser Behauptung lag freilich ein kleiner Verstoß gegen die Wahrheit – dreihundert Mark, das stimmte – aber er war sie schuldig geblieben; auch die hundert für die Perlenohrgehänge, die das andere Schächtelchen barg. „Und am nächsten Sonntag muß d’ Frau das Armband anlegen für’n Kirchgang. Sie soll endlich einmal zeigen vor die Leut’, was das sagen will: Purtschellerin heißen!“ Er band sich die Serviette vor und rührte mit dem Schöpflöffel in der Suppenschüssel. „Leberspatzerln? Heut’ hast es ’troffen, Alte! Die mag ich gern! … Und wo is denn mein Prinz? Noch allweil bei der Nachbarin?“
„Ja! D’ Frau hat g’sagt, ich soll ihn drüben lassen, bis sie selber heimkommt und holt ihn!“
„Nix da! Gleich holst mir ihn ’rüber! Soll ich denn gar nie was haben von mei’m Büberl! So viel viel bangen thut’s mich nach ihm! Mach weiter, hol’ ihn ’rüber!“
Die Magd zögerte. „Ich trau’ mich net recht! Sie geben ihm heilig wieder was z’essen und verderben ihm ’s Magerl.“
Purtscheller lachte. „Na na, ich gieb ihm nix! Ein halbs Stündl
[701][702] hab’ ich noch Zeit bis zum Schnepfenstrich … und da möcht’ ich mit dem lieben Schneckerl ein bißl hänseln, ’s Kind wird ja sonst völlig fremd zu mir! Mach’ weiter und hol’ mir den Prinzen ’rüber!“
Die Magd wollte noch eine Einwendung erheben; aber ein grobes Wort machte ihr flinke Füße. – Mit rotem Schimmer lag die Abendsonne auf der Straße und über den kahlen Gärten, als die Magd aus dem Haus des Nachbars trat und auf ihren Armen das kleine schwatzende Bürschlein zu seinem Vater heim trug. Während sie über die Stufen zur Hausthür hinaufstieg, flog’s mit sachtem Gesurr über die blätterlosen Reben des Weinspaliers.
„Meckerling!“ Der Kleine streckte die Händchen. „Meckerling haben möcht’ ich!“
„Aber geh, Tonerl,“ sagte lachend die Magd, „jetzt fliegt doch noch kein Schmetterling umeinander! Da mußt schon noch ein paar Wochen warten!“
Droben im ersten Stock klirrte eine Scheibe und Purtscheller streckte das vergnügte Gesicht zum Fenster heraus. „Bürscherl! Da schau her, wer da is! Dein Vaterl!“
„Meckerling haben möcht’ ich!“ wiederholte der Kleine, während ihn die Magd in das Haus trug.
Purtschellers Gesicht verschwand; dann hörte man durch das offene Fenster den zärtlichen Gruß, mit dem er seinen „Prinzen“ empfing, den lustigen Unsinn, den er trieb, und das Jauchzen des Kindes, das am Spiel mit dem Vater eine seltene Freude zu finden schien.
Es wurde lebendig auf der Straße; die Bauern kehrten von den Feldern heim, und nach einer Weile kam auch Karlin’ mit ihren Leuten. Die Arbeit, welche sie seit dem Morgen geleistet hatten, war von Erfolg gewesen. Freilich hätten die ausgeworfenen Gräben und die in Eile aus Felsbrocken aufgebauten Dämme die Saatfelder auf die Dauer nicht vor Vermurung geschützt, wenn nicht im Laufe des Nachmittags das aus dem Innern des laufenden Berges hervorströmende Wasser unerwartet gesunken wäre, so daß es gegen Abend fast ganz versiegte. Die Leute erklärten sich die Ursache dieser plötzlichen Wendung auf verschiedene Weise; die einen meinten, beim Niedergang der Sonne und in den kühlen Nachmittagsstunden wäre droben auf den Almen der Schnee aus dem Schmelzen gekommen, und so hätte der Zufluß an Wasser sich vermindert – und die anderen sagten: entweder hätten die Bäche in den Höhlen des Berges einen anderen Weg genommen, oder ein schwerer Erdbruch hätte dem unterirdischen Wasser einen Riegel vorgeschoben.
Schweigend hatte Karlin’ die Reden der Leute mit angehört, und manchmal bei der rastlosen, erschöpfenden Arbeit war ihr stiller Sorgenblick über die Gehänge emporgeglitten gegen die Simmerau. Welch’ bange Stunden mußten die dort oben zu überstehen haben! Welch’ einen harten Kampf mochten sie führen gegen die dunkel drohende Gefahr!
Als man für die Felder nicht mehr zu fürchten hatte und den Heimweg antreten tonnte, war Karlin’ von der schweren neunstündigen Arbeit und von allem, was insgeheim an ihrem Herzen nagte, so müd’ und gebrochen, daß sie sich kaum mehr aufrecht zu halten vermochte. Die Steine, welche sie zum Bau des Dammes herbeigetragen, hatten ihr die Hände zerschunden, ihre Kleider waren durchnäßt, und in Klumpen hing der Schlamm und die Ackererde an den Säumen ihres Rockes. Wortlos ging sie inmitten der schwatzenden Leute; verloren irrte ihr schwermutsvoller Blick über den Märzenstaub, die feuchten Härchen klebten ihr an Stirn und Schläfen, ihre Lippen zitterten, und tiefes Leiden redete aus dem blassen, verhärmten Gesichte, das in der vergangenen Nacht und an diesem Tag um Jahre gealtert schien.
Vor dem Thor des Purtschellerhofes blieb sie stehen und nickte den Dienstboten mit müdem Lächeln zu. „Vergeltsgott, meine guten Leut’! Und geht’s mir ’nein derweil ins Haus … wenn ich heimkomm’, richt’ ich’s Essen gleich und stell’ euch ’s Bier auf! Bloß mein Kindl möcht’ ich noch holen!“
„Ja, Frau, ja,“ sagte der Altknecht, „es pressiert net so!“
Und die anderen grüßten freundlich: „B’hüt Gott derweil, Frau Purtschellerin!“
Während die Leute in den Hof traten, ging Karlin’ zum Nachbar hinüber. Als sie hörte, daß die Magd das kleine Bürschlein schon vor einer halben Stunde heimgeholt hätte, eilte sie in Unruh’ nach Hause – sie kannte ja die Art von Spielen, welche Purtscheller alle heiligen Zeiten einmal mit seinem Kind’ zu treiben pflegte – und noch immer war der Kleine dabei gar übel weggekommen, im besten Fall mit Thränen.
Während Karlin’ über die Stufen des Gartens emporstieg, hörte sie aus dem offenen Fenster das flehende Stimmlein ihres Kindes: „Vaterl, bitti, bitti, noch ein bissi Rosserl machen!“
„Na, mein Bürscherl,“ klang die Stimme Purtschellers, „für heut’ is’ g’nug! Jetzt muß ich fort auf d’ Jagd!“
„Bitti, Vaterl, bitti gar schön!“
„Morgen, mein Schnaberl, morgen wieder! Und da thun wir Haserl und Jaager spielen miteinander, gelt! Aber jetzt muß ich fort!“
„Vaterl, bitti, bitti, Haserl spielen!“
„No also, in Gottsnamen, ein bisserl noch! Aber g’schwind, mein Haserl! G’schwind thu Dich verstecken im Krautacker! Der Jaager kommt schon mit der Büx …“
„Haserl guguk!“ tönte der lustige Ruf des Kindes.
Von banger Sorge befallen stürzte Karlin’ ins Haus und über die Treppe hinauf. Doch ehe sie die Stubenthüre noch erreichen konnte, dröhnte der Hall eines Schusses durch das Haus.
Gelähmt vom Schreck, hörte sie einen erstickten Schrei ihres Mannes und das Fallen von Mörtelbrocken. Als sie nach einer Sekunde, welche ihr wie eine Ewigkeit erschienen war, die Bewegung wiederfand und in verzweifelter Angst die Thüre aufriß, sah sie ihren Mann mit verzerrtem aschfarbenen Gesicht an die Mauer gelehnt, das rauchende Gewehr in der Hand. Vom ziehenden Pulverdampf verschleiert, stand das kleine Bürschlein neben dem Ofen; es zitterte vom Schreck, den der Knall und das Feuer des Schusses ihm eingejagt hatten, und blickte mit großen, scheuen Augen an seinem Kleidchen hinunter, aus dessen Falten die roten Tropfen sickerten.
„Mammi, schau,“ begann das Kind verschüchtert zu plaudern, als es die Mutter gewahrte, „Vaterl Hasi tot ’schossen!“ Es wollte die Aermchen strecken aber da fiel es vornüber zu Boden und regte sich nicht mehr.
Mit röchelndem Schrei, wie eine Wahnsinnige, stürzte Karlin’ auf ihren Mann zu und klammerte ihm die Hände um den Hals, als könnte sie mit Gewalt das schon geschehene Unglück noch verhüten.
Er wehrte sich nicht, sondern lallte nur und ließ die Flinte aus den schlaffen Händen gleiten. Das Gepolter, das sie machte, weckte Karlin’ aus dem Irrsinn, der sie befallen hatte.
„Mein Kindl! Mein Kindl! Mein Alles, was ich noch hab’! Mein Kindl!“ schrie sie mit herzzerreißenden Lauten und warf sich schluchzend auf die Dielen nieder. Sie hob das blutende Körperchen an ihre Brust, raffte sich taumelnd auf, schrie mit gellender Stimme um Hilfe und wollte das Kind zu seinem Bettlein tragen. Doch ehe sie die Schwelle der Schlafstube erreichte, erlosch ihre Kraft, und ohnmächtig sank sie zu Boden.
Die Dienstboten, die den Hall des Schusses und Karlin’s Hilfeschrei gehört hatten, stürzten in das Zimmer und schrieen erschrocken durcheinander. Die einen hoben Karlin’ und das Kind von den Dielen auf, die andern drängten sich mit entsetzten Fragen um Purtscheller.
Zitternd saß dieser auf der Wandbank, stierte die Leute mit glasigen Augen an und lallte in Thränen wie ein Kind: „Ich weiß net … aber ’s G’wehr is g’laden g’wesen … ich bin net schuld d’ran … ’s G’wehr is g’laden g’wesen …“
Ein anderes Wort war nicht aus ihm herauszubringen.
Der Altknecht rannte davon, um den Doktor zu holen. Der kam auch gleich; aber er konnte nichts mehr helfen – Tonerl hatte in schmerzlosem Tod die Augen für immer geschlossen.
Während der Doktor um das Kind beschäftigt war und die Mutter aus ihrer Ohnmacht wieder zur Besinnung brachte, kamen schon die Nachbarn gelaufen. Wohnstube und Schlafkammer füllten sich mit Menschen, und tröstend versuchten die Frauen auf Karlin’ einzureden. Sie hörte nicht. Thränenlos, wie versteinert, saß sie neben dem Bettlein ihres Kindes und wollte das starre, kalte Händchen nicht lassen.
Der Doktor strich ihr in wortlosem Erbarmen mit der Hand über den Scheitel. Dann wandte er sich ab und ging in die Wohnstube hinaus.
Die Leute schwiegen, als er kam, und zitternd sah ihm Purtscheller entgegen, erschöpft vom Weinen und das Gesicht von den heißen Thränen aufgedunsen.
„Herr Purtscheller,“ sagte der Doktor, „es ist meine Pflicht, ich muß den Unfall, dessen Opfer Ihr armes Kind geworden ist, zur Anzeige bringen!“
[703] Purtscheller sah, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren. Und da erhob er sich und zwang seine Stimme zu festem Klang. „Ich bitt’, Herr Doktor … machen S’ Ihnen kein’ Arbeit net! Wer ein Mann is, muß einstehen können für alles, was er thut! Wenn ich auch schuldlos bin … ich fahr’ selber in d’ Stadt ’nein und geh zum G’richt! Noch allweil bin ich der Purtscheller!“ Da stürzten ihm wieder die Thränen über die Wangen.
Der Doktor sah ihn an und sprach kein Wort; während er sich an den Tisch setzte, um den Totenschein auszufüllen, sagte Purtscheller zum Altknecht: „Spann’ mir den ,Lüftikus’ ein!“
„Aber ich bitt’ Ihnen um Gott’swillen, Herr …“
„Thu’, was ich sag’. Ich muß zum G’richt! Und mein Traber bringt mich am schnellsten auf den Weg, der mir jetzt noch übrig bleibt!“
Der Reihe nach ließ sich Purtscheller von allen Leuten die Hand drücken und wollte aus der Stube gehen: doch es zog ihn zur Kammer. Aber als man die Thür vor ihm öffnete, als er die blutigen Kissen sah und das wachsbleiche Gesichtchen seines Knaben, faßte ihn ein Schauder, und schluchzend bedeckte er mit zitternden Händen die Augen.
„Ich kann ihn nimmer anschauen … ich kann net … ich bring’s net fertig!“
Taumelnden Schrittes ging er zur Flurthür und tauchte – was er seit Jahren nicht mehr gethan hatte – die Finger in den Weihbrunnkessel. Schluchzend wankte er die Treppe hinunter und schluchzte noch immer, als ihm der Wagen vorgeführt wurde.
„Ich bitt’, Herr, lassen S’ lieber mich fahren!“ sagte der Knecht. „Sie haben ja doch die Kraft nimmer, daß S’ den Gaul heut’ noch regieren können!“
Purtscheller schüttelte den Kopf und schwang sich auf den Gig. Hätte ihm Zäzil nicht den Hut gebracht, er wäre barhäuptig davongefahren.
Während er bei sinkender Dämmerung durch das Dorf hinauskutschierte, rollten ihm unaufhörlich die Thränen über die zuckenden Lippen; gedankenlos starrte er vor sich hin, ohne des Pferdes zu achten, welches bald, von der ersten Fahrt noch müde, das Traben aufgab und in gemächlichem Schritt der Straße folgte.
Immer grauer senkten sich die Schatten des Abends über Thal und Berge, obwohl im Westen ein roter Glanz noch leuchtete, in den sich die Konturen ferner Höhenzüge schwarz emporhoben. Die Unken riefen, in den kahlen Büschen pisperten die Meisen ihre letzten Töne, und gleichmäßig klang auf der harten Straße der Hufschlag des ruhig schreitenden Pferdes.
Als bei Purtscheller diese gedankenlose Dumpfheit allmählich schwand und die Erschütterung des ersten Jammers sich löste, tauchte plötzlich das Bild seiner selbst und seines Lebens vor ihm auf, wie es wirklich war, und mit einer ihn entsetzenden Klarheit sah er die große, Glied an Glied gereihte Schuld, die er an sich selbst und an anderen verbrochen hatte. Aber diese Helle seiner Gedanken währte nicht lange – sie war über ihn gekommen wie ein Blitz und ging vorüber wie ein Wetterleuchten, hinter welchem die Sterne scheinen. Gleich war das Mitleid wieder da, das er mit sich selbst empfand, und die Sucht, seine Fehler zu beschönigen und die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Ja, er hatte durch Leichtsinn viel gesündigt – aber nicht er, sondern alles andere trug die Schuld! Weshalb waren seine Eltern so früh von ihm gegangen und hatten ihn unreif im Leben zurückgelassen, nicht gewöhnt an Arbeit, den Forderungen seines reichen Besitzes nicht gewachsen, wie ein schwankendes Rohr jedem wechselnden Winde und wie ein Kind jeder Anfechtung ausgesetzt! Und weshalb mußte er zu seinem Unstern gerade in diese Heirat hineintappen!
Wäre er an eine andere Frau geraten, die ihn zu behandeln, zu erziehen und zu lenken verstanden hätte, – alles, alles wäre anders gekommen! Und auch dieses letzte, grauenvolle Unglück, das seine schuldlosen Hände mit dem Blut des eigenen Kindes befleckte, wäre nicht geschehen! Nein! Nein! Sicher nicht! Jetzt sah er es deutlich: nicht er, sondern Karlin’ war die wirklich Schuldige!
„Die ganzen Jahr’ her hat s’ mir allweil die Patronen aus die G’wehr’ und aus der Joppen g’nommen! Heut’ zum erstenmal vergißt sie’s! Hätt’ d’ Frau net ihr’ Pflicht versäumt, so hätt’ das Unglück net g’schehen können!“
Die Thränen liefen ihm übers Gesicht, während ihn sein hilfloser Kummer und die Angst vor der Selbsterkenntnis in heißen Zorn gegen diese pflichtvergessene Frau hineinredeten. Den Zorn, der ihn quälte, mußte er entladen und da er plötzlich auch den gemächlichen Paß des Rappen gewahrte, griff er wütend zur Peitsche.
„Wart’, Dich will ich’s Laufen lehren, wenn’s so was gilt!“
Und mit klatschendem Schlag sauste die Peitschenschnur auf die Weiche des Pferdes nieder.
Schnaubend bäumte sich das mißhandelte Tier, und noch scheuend vor einem Meilenstein, der sich mit grellem Weiß aus dem Dunkel des Abends hob, fiel es in so rasenden Galopp, daß Purtscheller, den der Schreck von allem Rausch seines Zornes und seiner Schmerzen ernüchterte, diese wilde Jagd des Pferdes nicht mehr zu hemmen vermochte.
Wie ein tanzendes Spielzeug flog der leichte Gig von einer Seite der Straße zur andern, schlug hier gegen einen Felsen, dort gegen eine Balkenbrüstung und verschwand in den Wolken des aufgewirbelten Staubes …
Zu dem in dunkler Ferne verhallenden Hufschlag des Pferdes gesellten sich die wimmernden Töne einer kleinen Kirchenglocke.
Klagend schollen die in Pausen absetzenden Klänge durch das abendstille Thal.
Die Leute, welche noch nicht von dem Unglück wußten, das im Purtschellerhof geschehen war, traten erschrocken aus ihren Häusern, als sie die Glocke hörten. In Sorge lief jeder zum Nachbar und fragte: „Wem wird denn ’s Glöckl ’zogen? Wo war denn ein Kindl krank?“
Auch über die Gehänge der Berge drang noch ein verschwommener Ruf der Glocke empor und sie hörten ihn in den einsam gelegenen Höfen, hörten ihn droben in der Simmerau, wo die vier Menschen im Fackelschein bei der Arbeit standen, erschöpft, die Gesichter von Schweiß überronnen.
Seit Stunden hatten sie nur wenige Worte gesprochen, nur was die Arbeit erforderte. Als sie nun die Glocke vernahmen, blickten sie alle lauschend auf.
„Hörst, Mutter!“ sagte Michel. „Sie läuten ’s Zügenglöckl!“
„’s kleine Glöckl! Ein Kindl muß g’storben sein!“
„So ein arms Hascherl! Der liebe Gott soll’s aufnehmen in sein’ ewigen Himmelsfrieden! Beten wir ein Vaterunser dafür!“
Ohne die Arbeit auszusetzen, sprachen sie mit lauten Stimmen das Gebet. Als Mathes sich bekreuzigt hatte, griff er tastend nach einem Baum, und so stand er eine Weile, als hätte ihn ein Schwindel befallen.
„Is Dir net gut, Mathes?“ fragte ihn die Schwester in Sorge.
„Net gut? Ah na! Aber ich weiß net, was ich hab’ … so viel bang sein thut’s mir um ’s Linerl!“
Schweigend strich ihm Vroni mit der Hand über die Wange.
Und drüben, wo die beiden Alten standen, sagte Michel zu Mutter Katherl: „Müd bin ich, Mutterl, arg müd! Aber völlig aufschnaufen thu’ ich, weil ich weiß, daß unsere Kinderln ein sichers Platzl haben! Und die G’vatterin drunten is doch gut mit ihnen, gelt?“
„Ja, Michel, da kannst Dich verlassen!“
„Gott sei Dank! Denn weißt, um kein’ Preis mehr hätt’ ich die Kinderln heut’ in der Nacht noch im Häusl schlafen lassen.“
Bang seufzend blickte der Alte an den vom zuckenden Fackelschein erhellten Mauern hinauf, von denen der weiß getünchte Mörtel in großen Brocken niedergefallen war.
Dann schwiegen sie wieder, und man hörte beim Knistern der Fackelflammen nur noch den Hall der Beilschläge, das Knirschen der Säge, das Krachen der Ruten, die beim Flechten entzwei brachen, und den schweren Atem der Schaffenden.
Der müden Erschöpfung, mit der sie so bei der Arbeit standen, war es anzusehen, daß sie harte Stunden hinter sich hatten. –
Es hatte aber auch der laufende Berg im Herbste während vieler Wochen nicht solche Unruh’ gezeigt wie heute an diesem einzigen Tag. In der Nacht schon war es angegangen, dieses Zittern des Grundes, dieses Rieseln der Erde. Viermal seit dem Morgen hatte es dumpf gedröhnt im Innern des Berges, und jeder Einsturz, der in einer der unterirdischen Wasserhöhlen erfolgte, hatte sich an der Oberfläche des Gehänges merklich gemacht. Rings um die Simmerau waren alle Halden verwandelt in ihrer Form, zu wulstigen Buckeln aufgeschoben oder von Klüften durchrissen. Drüben, wo sonst die grünen Masten des Purtschellerwaldes in dicht gedrängter Schar den Berghang bedeckt hatten, waren nur einige hundert Wipfel noch zu sehen. War seit dem vergangenen Tag der Boden versunken, der die von der Axt des Händlers verschonten Bestände getragen hatte? Oder war das [704] Gelände zwischen der Simmerau und dem Wald so sehr verändert, daß es den Ausblick auf die noch stehenden Bäume verwehrte?
In der Simmerau fanden sie nicht Zeit, um die Antwort auf diese Fragen zu suchen. Sie hatten sich allzuviel um die eigene Gefahr und Not zu sorgen! Nur Mathes schickte manchmal einen still bekümmerten Blick hinüber zu den verschwindenden Wipfeln des Purtschellerwaldes.
Wie rings nur die Simmerau, so hatte sich die vom reichlich strömenden Schneewasser gesteigerte Bewegung des Bodens auch in unmittelbarer Nähe des Hauses geäußert. Ein Teil der Böschung war niedergebrochen, hatte den neuen Verhau zerdrückt, den halben Garten begraben und das Geröll bis an die Mauern des Hauses geworfen. Im Hofraum war beinahe der ganze, mit so mühsamer Arbeit gezimmerte Balkenrost aus den Fugen geraten, und lange Risse hatten den Grund zerspalten. Der Brunnen war verschüttet und die Röhre so gewaltsam eingeklemmt, daß sich der Pumpkolben nicht mehr bewegen ließ.
Gegen Mittag waren von den weißen, so sauber gehaltenen Mauern des Hauses die ersten Mörtelbrocken niedergefallen.
Als Michel mit nassen Augen den Schaden betrachtete, kamen über einen nahen Grat ein halb Dutzend Leute heruntergestiegen, welche schwere Päcke schleppten und einen Karren zogen, den sie mit Hausgerät beladen hatten. Das war der Brunnthaler mit Weib und Kindern – auf dem Gehäng des laufenden Berges der einzige Bauer noch, der gleich dem Simmerauer bis zur äußersten Gefahr bei seinem bedrohten Häuschen ausgehalten hatte. Jetzt suchte auch dieser Letzte die Sicherheit im Thal und rettete von seinem Hab’ und Gut, was noch zu retten blieb.
Als die Vorüberziehenden verschwunden waren, sagte Michel mit erloschener Stimme zu seinem Weib: „Mutter, was meinst? Sollten wir net auch die Kinderln ’nunterschicken ins Dorf … über Nacht bloß, weißt?“ Daß die Hoffnung ihn zu verlassen begann – ihr das zu sagen, brachte er nicht fertig. Er sagte nur: „Wir alle müssen ja schaffen in der Nacht … und da liegen halt die Kinderln gar so ohne Aufsicht da! Meinst net, wir sollten s’ ’nunterschicken zu gute Leut’?“
„Ja, Michel! Jetzt mein’ ich schon selber bald!“ Bei diesen Worten fuhr Mutter Katherl mit der Schürze übers Gesicht, um sich den kalten Schweiß von der Stirne zu wischen.
Während sie nun berieten, wem sie die Kinder drunten im Dorfe anvertrauen sollten, sagte Mathes zu seiner Schwester: „Das Beste wär’, Du thätst die Kinderln zur Bäckin führen! Die nimmt sie g’wiß gern ins Haus … und der Schorschl noch lieber, mein’ ich!“
Brennende Röte flog über Vronis Züge; aber sie schüttelte den Kopf. „Unser’ G’vatterin müßt’ sich kränken, wenn wir die Kinderln zu fremde Leut’ geben thäten.“
Mit der „G’vatterin“ waren auch Michel und Mutter Katherl einverstanden. Man rief die Kinder, die mit Lachen und Singen auf einer sonnigen Halde spielten, packte ihnen ein bißchen Wäsche und Kleider in ein Bündel, und dann führte Vroni das kleine, über diese „Reise“ seelenvergnügte Pärchen ins Dorf hinunter.
„Gelt, Madl, sei so gut,“ rief Michel seiner Tochter nach, „und bring mir vom Schmied ein g’hörigs Packl lange Eisenstiften mit ’rauf!“
„Ja, Vater!“
Zwei Stunden später, um drei Uhr nachmittags war Vroni wieder zurück, mit Grüßen von der Gevatterin, welche die Kinder mit offenen Armen aufgenommen hatte, und mit den Eisenstiften, um die sie nicht zum Schmied, sondern zum Schlosser gegangen war. Fünfzig Pfennig hatten sie gekostet.
„Aber geh,“ sagte der Vater, „warum bist denn net zum Schmied ’gangen? Der Schorschl hätt’ Dir die Stiften um dreißig Pfennig ’lassen! Oder ’leicht billiger noch! Der ander’ is ja viel teurer!“
Ohne ein Wort zu erwidern, war Vroni zum Hackstock gegangen und hatte nach dem Beil gegriffen.
Mit vereinten Kräften und erschöpfender Hast hatten sie dann Stunde um Stunde gearbeitet, von jeder Minute erzwingend, was sie geben konnte. Um den zerstörten Balkenrost wieder neu zu fügen, dazu fehlte ihnen das Holz – und auch die Zeit, denn nach den Erfahrungen dieses Tages mußten sie fürchten, daß der nächste Erdrutsch nicht, wie im Herbst, eine Woche auf sich warten ließe; jede Stunde konnte ihn bringen! So flickten sie mit Brettern und Latten die zersplitterten Balken des Rostes zusammen – und als hiezu die vorrätigen Bretter nicht reichen wollten, zerstückelte Michel mit Thränen in den Augen das Thor der Scheune.
„Wenn ich nur ’s Häusl halten kann! ’s Häusl allein! So bin ich schon z’frieden und dank’ dem lieben Herrgott!“
Die geflickten Balken des Rostes wurden, statt sie mit Fugen zu verschränken, mit den langen Eisenstiften übereinander genagelt. Sie wußten wohl, daß jede leichte Bewegung des Bodens dieses notdürftige Fachwerk wieder zerstören mußte …
„Aber ein bißl könnt’s halt doch noch helfen!“ meinte Michel.
„Und wenn der Mensch einmal ’s Vertrauen verliert und die faulen Händ’ in’ Schoß legt, so könnt’ auch den lieben Herrgott ’s Festhalten verdrießen! Und hat er uns seine Lieb’ und Güt’ net sichtbar merken lassen? Schauts nur umeinander, Kinder! Alle Häusln auf’m Berg heroben sind verlassen oder liegen halb versunken im Boden drin … und ’s unser’ steht noch allweil da! Allweil steht’s noch! Ja!“ Als er das sagte, zitterte ihm die Stimme, und sein scheuer Blick glitt über Mauern und Dach des kleinen Hauses empor zum Himmel, der im Gold des Abends leuchtete.
Mit Einbruch der Dämmerung hatten sie im Hof die Arbeit am Rost vollendet und konnten bei Fackellicht im Garten den neuen Verhau beginnen – es war der vierte, den sie bauten. Unter dem Schutt der eingestürzten Böschung wühlten sie die umgedrückten Pfähle hervor und schlugen sie wieder ins Geröll, das über den Garten hergefallen war. Neue Ruten hatten sie nicht mehr – also mußten die alten verwendet werden. So waren sie still und emsig bei der Arbeit, als der Hall des Zügenglöckleins zu ihnen empordrang …
Stunden vergingen. Als Michel wieder einmal von den Fackeln, damit sie heller brennen möchten, die glühenden Kohlenstümpfe abgestreift hatte und zum Verhau zurückkehrte, sagte er zu Mathes: „So schön windstill is d’ Nacht! Man müßt’ doch alles hören aus’m Thal ’rauf! Und gar nix hör’ ich nimmer … gar nix!“
Mathes verstand, was der Vater meinte. Es war ihm selbst schon aufgefallen, daß seit dem Nachmittag das Rauschen des Wassers, das dort unten im Thal aus dem Innern des Berges hervorströmte, von Stunde zu Stunde schwächer geklungen hatte. Und als er jetzt hinauslauschte in die stille Nacht, hörte er keinen Laut dieses Rauschens mehr.
„Geh, sag’ mir, Mathes, was denkst denn Du dazu? Haltst es für ein unguts Anzeichen?“
„Na na, Vater! G’wiß net!“ erwiderte Mathes, doch seine Stimme hatte bangen Klang. Es war die Sorge in ihm erwacht, daß die im Innern des Berges sich stauenden Gewässer einen schweren Erdbruch vorbereiten könnten – und da wußte er nicht gleich, welchen Trost er dem Vater sagen sollte. „D’ Nacht is kühl … wir spüren’s halt net, weil uns warm is vom Schaffen … aber es muß kalt machen, denk ich mir! Und natürlich, da schmilzt halt droben kein Schnee nimmer, und ’s Wasser wird g’ring. Das is gut für uns, Vater!“
„So, meinst? … Der liebe Gott soll’s geben, daß D’ recht hast!“
Seufzend nahm der Alte die Arbeit wieder auf und schaffte, daß ihm der Schweiß über die furchigen Backen rann.
Als drunten im Thal die Turmuhr Elf schlug, sagte Mutter Katherl: „Geh, Michel, endlich einmal müssen wir doch aufhören und d’ Nachtruh’ suchen. Ich merk’ Dir’s doch an, daß D’ schier nimmer weiter machen kannst vor lauter Müdigkeit!“
„Ein bißl noch, Mutter … bis d’ Fackeln ausbrennt haben! Andere hab’ ich eh’ nimmer … gleich morgen in aller Früh muß ich wieder neue machen für die nächste Nacht!“
Ein Viertelstündchen brannten die Fackeln noch, dann drohten sie zu erlöschen.
„In Gottesnamen,“ sagte Michel, „lassen wir’s halt gut sein für heut’!“
Zögernd legten sie in ihrer Sorge die Arbeit nieder, und dennoch war ihnen allen bei dieser Erschöpfung die Ruhe willkommen.
Sie verwahrten die Werkzeuge im Hausflur und löschten die glühenden Kohlenstümpfe zweier Fackeln.
Da quoll ein mattes, langgezogenes Knirschen aus dem Grund, als hätte die Erde geseufzt – so, wie ein Müder seufzt, bevor er die Augen zur Ruhe schließen will. Langsam bewegten sich an der Böschung die neu geschlagenen Pfähle und legten sich auf die Seite, im Hof verschob sich der Balkenrost, mit trägem Krachen knickten die geflickten Hölzer entzwei, und während von den Mauern des Hauses der Mörtel niederbröckelte, klang von der Scheune ein
[705][706] dumpfes Aechzen, das Klirren der vom Dache gleitenden Schindeln und das Gepolter losgebrochener Bretter, welche zu Boden fielen.
„Jesus Maria!“ stammelte Mutter Katherl. Und Michel sagte mit erstickter Stimme: „Da! Jetzt lauft er schon wieder!“
Wortlos hatte Mathes die letzte, noch brennende Fackel vom Baum gerissen, an den sie gebunden war, und eilte den anderen voraus über den Hof und auf die Scheune zu.
Das sahen sie gleich, daß die ganze, mühselige Arbeit dieses Tages völlig wieder zerstört war. Doch um in der Nacht und bei dem spärlichen Fackellicht den Schaden zu erkennen, den die Scheune genommen hatte, dazu brauchten sie längere Zeit. Schweigend, als hätte der Schreck und die Sorge sie der Sprache beraubt, gingen sie rings um den grauen Holzbau und nickten nur zu jeder bösen Entdeckung, die sie machten.
Alle Balkenwände der Scheune standen schief, das Dach war verschoben und hatte Lücken bekommen, fast von der Hälfte der Rückwand waren die Bretter niedergebrochen, und durch die klaffende Oeffnung quoll in dicken Wülsten das eingelagerte Heu.
Als sie das gesehen hatten, mußte Mathes die Fackel löschen, denn ihre Flamme war schon bis zu seinen Fingern niedergebrannt. Er drückte den qualmenden Stumpf in den Schlamm und zertrat die glühenden Kohlenftücke, damit nicht etwa ein Funke in das dürre Heu geraten könnte.
Nun standen sie wortlos in der dunklen Nacht, durch deren reine Luft die Sterne niederleuchteten, groß und mit farbigem Gefunkel.
„No ja,“ brach endlich Michel mit müder Stimme dieses bange Schweigen, „jetzt in der Nacht können wir allweil nix mehr machen! Fangen wir halt in der Früh wieder an! … Komm, Mutter! Kommts Kinder! In Gott’snamen, suchen wir halt unseren müden Schlaf …“ seine Stimme versank in Gemurmel, „wenn er sich finden lassen will … der Schlaf!“ Mit zitternden Händen fuhr er sich über die Augen und ging gebeugt und mit schweren Schritten auf das Haus zu.
Wortlos folgten ihm die anderen. Jetzt wußte auch Mathes dem Vater keinen Trost mehr zu sagen. Und hätte im Herzen des Alten noch ein Funke von Hoffnung geglommen, er hätte wohl, um einen tröstenden Zuspruch zu hören, wie sonst seinen Buben gefragt: „Mathes, was meinst? Was denkst Dir denn?“ Jetzt fragte er nicht mehr – aber er sprach es auch mit keiner Silbe aus, wie schwer ihn die Sorge vor dem kommenden Tag bedrückte. Doch als er zur Hausthür kam, legte er den Arm um den Hals seines Weibes und fragte mit einer Stimme, die ihm kaum aus der Kehle wollte: „Katherl? Möchtest net lieber mit der Vronerl über d’ Nacht ins Ort ’nunter und bei der G’vatterin schlafen? Es is ja g’nug, wenn der Mathes und ich noch bleiben!“
„Na na, Michel, net um d’ Welt!“ stammelte Mutter Katherl erschrocken und schmiegte den grauen Kopf an seine Brust. „Ich bleib schon bei Dir!“
Und Vroni nahm seine Hand. „Geh, Vaterl, wirst mich doch auch net fortschicken!“
Er drückte die beiden an sich. „Vergeltsgott! Ja! Vergeltsgott! D’ Sorg’ hat mich ’trieben, daß ich’s g’sagt hab’ … aber ein Stückl von der Seel’ hätt’s mir g’rissen, wenn ich allein hätt’ bleiben müssen! Jetzt is mir gleich wieder ein bißl leichter! Aber ’raussagen muß ich’s endlich einmal: grausen thut mir vor dem morgigen Tag! Völlig grausen! Wenn der Einzig’ net hilft, der jetzt noch was ausrichten kann, so könnt’s morgen ein bißl schlecht ausschaun um unser’ Häusl! Ja! Ein bißl gar schlecht! Unsere müden Händ’, die richten jetzt nix mehr aus!“
„Ja, mit der Arbeit hat’s ein End’,“ sagte Mutter Katherl kleinlaut, „aber beten können wir noch!“
„Hast recht, Mutter! Reden wir ein bißl mit ihm! Oder beten wir lieber wieder d’ Litanei zur guten Gottesmutter! Die hat ein’ starken Einfluß droben im Himmel… von der, mein’ ich, laßt er sich doch was sagen, wenn wir s’ in der richtigen Frömmigkeit ansprechen um ihre mächtige Fürbitt’!“ Michel blickte zum Himmel auf, als könnten ihm die funkelnden Sterne die Wahrheit seiner Worte bestätigen. Dann sagte er: „Komm, Mathes! Eh’ wir’s Beten anfangen, müssen wir noch ein Sprüngerl in’ Stall ’nein machen.“ (Fortsetzung folgt.)
Unser Totenkopfschmetterling.
In einem älteren Bande der „Gartenlaube“ – Jahrgang 1889, Nr. 26 – fand ich kürzlich über unseren Totenkopfschmetterling einen Aufsatz, dessen interessantem Inhalt meine Beobachtungen in einigen Punkten widersprechen. Da der Herr Verfasser jenes Artikels am Schluß desselben zur Veröffentlichung weiterer Wahrnehmungen aufgefordert hat, gestatte ich mir, folgendes mitzuteilen. Es ist inzwischen die interessante Frage, ob der Totenkopfschwärmer in Deutschland heimisch ist, in naturwissenschaftlichen Kreisen von neuem erörtert und im großen und ganzen bejahend beantwortet worden. Manches ist aber noch dunkel in der Lebensgeschichte dieses stattlichen Schmetterlings, der namentlich von unseren jungen Sammlern als König der Falter betrachtet wird. Nur fortgesetzte Beobachtungen können volles Licht über alle Zweifel ausbreiten und so wünschen wir, daß diese Zeilen beitragen mögen, die Naturfreunde unter den Lesern der „Gartenlaube“ zu neuen Forschungen anzuregen.
Der oben erwähnte Artikel giebt das südliche Europa, die Länder am Mittelmeer, als die Heimat von Acherontia atropos an. Dort kommt der Totenkopf in zwei Generationen vor, deren erste Ende Mai bezw. Anfang Juni, deren zweite ausgangs Juli fliegt. Nur von Weibchen der letzteren, die nach Norden versprengt worden sind, werden die in Deutschland gefundenen Raupen hergeleitet. Dieser Annahme widerspricht die Thatsache, daß ich in unserem Vaterlande häufig schon Mitte August ganz ausgewachsene Raupen, ja sogar Ende dieses Monats und anfangs September einigemal frisch geschlüpfte Falter gefunden habe. Es ist geradezu unmöglich, daß sich in einem einzigen Monat, von Ende Juli bis Ende August, die ganze Entwicklung dieses großen Schwärmers vom Ei an vollzogen haben kann.
Hiernach bin ich der Ansicht: unser Totenkopf verläßt, wie die meisten deutschen Dämmerungsfalter (Sphingiden), zwischen Mai und Juli die überwinterte Puppe, weshalb man auch die Raupen vom Juli bis September findet, gerade wie die vom Ligusterschwärmer, welcher wohl gleich dem Windig oder Windenschwärmer dem Totenkopf am nächsten steht.
Auch ich habe allerdings den Totenkopf als Falter noch niemals vor August gefunden, was für ein Zufliegen aus dem Süden zu sprechen scheint, aber hierfür als kein Beweis gelten kann, da mir in vierzigjähriger Sammelpraxis auch nur einmal ein Windenschwärmer im Juni in die Hände geraten ist. Und diesen Falter hält doch wohl niemand für einen Fremdling. Uebrigens ist seit dem Erscheinen des erwähnten Artikels in der Zeitschrist „Natur“ (Jahrg. 1894) eine Reihe von Fällen zusammengestellt worden, in welchen im Mai und Juni in Deutschland Totenkopfschmetterlinge teils im Freien gefangen, teils aus im Freien überwinterten Puppen gezogen wurden. Das seltene Vorkommen dieser Schmetterlinge in jener Jahreszeit läßt sich ungezwungen erklären. Die überwinternden Puppen dieser Falterarten sind im norddeutschen Acker zu vielen Gefahren ausgesetzt, um eine zahlreiche Frühjahrsgeneration ergeben zu können. In Süddeutschland, wo die Kleinfelderwirtschaft, die vielen Grasraine zwischen den meist terrassierten Aeckern und die vom Pfluge verschonten Stellen unter den Obstbäumen den Raupen ungestörte Verpuppungsplätze gewähren, tritt sowohl der Totenkopf wie der Windig im Herbst fast alljährlich auf. Ich habe z. B. im August 1892 und 1893 in der Nähe von Konstanz mehrfach an einem Vormittag über ein Dutzend Totenkopfraupen gesammelt, und zwar in beiden Jahren auf derselben Feldmark, was doch wohl für das Vorkommen des Totenkopfs als Standfalter sprechen dürfte. Im Juni bin ich leider nie in jener Gegend gewesen, kann also nicht sagen, ob dort auch in dieser Zeit der Falter so zahlreich vorkommt, daß man gelegentlich ein Exemplar findet. Ich möchte aber hieran nicht zweifeln, denn wiederholt haben Bekannte von mir, welche am Bodensee wohnen, aus in eiskalten Kammern überwinterten Puppen im Juni tadellose Falter erhalten. Allerdings waren diese Puppen in den mit hoher Bodenschicht versehenen Raupenbehältern in ihren natürlichen Erdhöhlen ungestört belassen worden.
Aber auch für Norddeutschland widersprechen meine Erfahrungen der vielverbreiteten Ansicht, daß vor Mitte Oktober in diesem Teile [707] unseres Vaterlandes niemals Totenköpfe erscheinen. In der Nähe meines gegenwärtigen Wohnsitzes zu Lübben am Spreewald habe ich 1893 und im vorigen Jahre je einen frisch geschlüpften Falter am 7. bezw. 8. Oktober gefunden. Raupen, nach denen ich anfangs August suchte, fand ich nicht, dagegen vielfach Fraßstellen und Kot, kam also zu spät, weil die Tiere schon zur Verpuppung geschritten waren. Wie könnten diese Raupen aus Eiern stammen, welche ausgangs Juli aus dem Süden zugeflogene Weibchen hier abgelegt haben!
Hierbei möchte ich den nicht minder verbreiteten Irrtum berichtigen, wonach die Totenkopfraupe sich am Tage in der Erde verbergen und nur des Nachts fressen soll. Ich habe die Tiere im glühendsten Sonnenschein frei an der Kartoffelstaude sitzend, oft schon von weitem, gesehen und an den verlassenen Fraßstellen stets nur den Kot ganz ausgewachsener, also sicher schon verpuppter Raupen gefunden.
Als einen weiteren Grund, dem Totenkopf das Heimatsrecht in Deutschland abzusprechen, führt der Herr Verfasser des oben angezogenen Aufsatzes den Umstand an, daß die Raupen niemals von den bei uns vorkommenden Schmarotzern heimgesucht würden. Ich habe zu meinem Leidwesen mehrfach eine entgegengesetzte Erfahrung gemacht, indem statt des schönen Schwärmers der Erde eine ganze Sektion gemeiner, grauer, rotäugiger Schmeißfliegen entstieg, deren Maden die Raupe schon vor der Verwandlung zur Puppe derart aufgezehrt hatten, daß nur noch kaum erkennbare Hautreste übrig waren. Dagegen war, um dies bloß als Gegenstück anzuführen, von einigen dreißig Oleanderschwärmerraupen – also unzweifelhaften Fremdlingen –, die ich in einem Jahre in Norddeutschland fand, auch nicht eine angestochen oder mit Schmarotzereiern belegt. Fritz Wachtl in Wien hat übrigens schon 1882 aus einer Acherontiaraupe eine Schlupfwespe (Masicera pratensis) gezogen.
Nach dem Vorstehenden möchte ich meine Ansicht über die Heimat und Lebensweise von Acherontia atropos wie folgt zusammenfassen. Der Totenkopf ist ein in ganz Deutschland heimischer Schwärmer, kommt aber häufiger im Süden unseres Vaterlandes vor, weil er dort bessere Entwicklungsbedingungen findet und zuweilen wohl auch über die Alpen aus den Ländern am Mittelmeer oder aus Oesterreich, wo er z. B. bei Wien keineswegs selten ist, Zuflug erhält. Die in Norddeutschland gefundenen Raupen stammen zwar zum Teil von Weibchen, die aus Süddeutschlaud zugeflogen sind, können aber auch norddeutschen Müttern ihren Ursprung verdanken, Wenigstens schließt dies die Winterkälte in Norddeutschland ebensowenig aus, wie die auch in Süddeutschland oft recht niedrige Wintertemperatur Acherontia atropos verhindert, dort Standfalter zu sein. Der Totenkopf kommt normal jährlich nur in einer fortpflanzungsfähigen Generation, und zwar von Mai bis Juli, vor, welcher sämtliche bei uns vom Juli bis September gefundenen Raupen entstammen. Die von August bis Oktober erscheinenden Falter sind durch ungewöhnliche Wärme getriebene, für die Nachzucht verlorene Exemplare. Alles, was von der Entwicklung des Windenschwärmers bekannt ist, gilt auch für den Totenkopf. Wenn letzterer gleichfalls in der Dämmerung auf Blumen schwärmte, so würde man ihn auch bei uns in warmen Jahren an Herbstabenden überraschend häufig fangen, namentlich wenn die Feldmäuse nicht zu zahlreich sind, denn diese verzehren sicherlich eine große Menge der in der Erde liegenden Puppen. Blieben einmal unsere norddeutschen Aecker einen Herbst, Winter und Frühling über undurchwühlt, so würden wir wahrscheinlich in dem darauffolgenden Mai bis Juli den Totenkopf und den Windenschwärmer ebenso oft finden, wie dies alljährlich mit dem Ligusterschwärmer geschieht, dessen Puppen unter der Bodenkultur selten zu leiden haben.
Der Hauptgrund für den so häufigen Mißerfolg bei Ueberwinterung der in den Aeckern gefundenen Totenkopf- und Windigpuppen ist der Verlust des Erdkokons und der hohen darüber lagernden Bodenschicht. Diese Schutzmittel erhalten die ungestörten Puppen auch während der Winterkälte genügend warm und feucht; sie sind künstlich durch Ofenwärme und Besprengen mit Wasser nur unvollkommen zu ersetzen. Auch die neuerdings verwendeten sogenannten Brutapparate bringen zwar die Falter zu einer ziemlich sicheren, frühzeitigen Entwicklung, begünstigen aber nicht eine volle Ueberwinterung, wie sie für eine Weiterzucht erforderlich ist. Wer fortpflanzungsfähige Totenkopfschmetterlinge im Frühjahr erhalten will, muß die im Herbst vorher verpuppten Raupen ungestört in der Erde lassen und die betreffenden Puppenbehälter, am besten große Blumentöpfe, in einem kalten Raume überwintern.
Schließlich noch eine von mir gemachte Wahrnehmung, die ich noch nirgends erwähnt gefunden habe. Fast derselbe Laut, wenn auch schwächer, welchen der Totenkopffalter bei der Berührung hören läßt, ist auch seiner Raupe eigen. Sie giebt ihn, anscheinend mit den Freßzangen, fast stets von sich, wenn man die Staude abschneidet, an welcher das Tier bei der Auffindung sitzt. Merkwürdigerweise wiederholt sich dieser Ton später in der Gefangenschaft beim Futterwechsel nach meiner vielfachen Beobachtung niemals. B. Theinert.
Blätter und Blüten.
Vom sächsischen Volkstrachtenfest in Dresden. (Zu dem Bilde S. 689.) Eines der schönsten Feste, die in der „Ausstellung des sächsischen Handwerks und Kunstgewerbes in Dresden“ (vergl. den laufenden Jahrgang, S. 439) veranstaltet worden sind, ist das sächsische Volkstrachtenfest gewesen, das am 5. Juli stattfand und dem auch die Mitglieder des königlichen Hauses beiwohnten. Der damit verbundene Festzug offenbarte so recht, daß auch in Sachsen noch eine Fülle von Volkstrachten besteht und daß es nur der aufmerksamen Beobachtung bedarf, sie in den Landbezirken zu erkennen. Allerdings ist das Streben nach Erhaltung einzelner Trachten nicht allzugroß, und nur einzelne Kirchspiele hängen zäh an ihrer eigenartigen, von den Vätern überkommenen Kleidung. Der Zweck des Volkstrachtenfestes war ein zweifacher: es sollte in einem großen Festzuge vorführen, welche Trachten in Sachsen und den angrenzenden Gebieten, soweit sie in Hinsicht der Bevölkerung ineinander gehen, noch getragen werden, und es sollte anregen, die schöne Sitte der Eigentracht zu erhalten. Der Zug umfaßte neun einzelne Abteilungen, in denen alle fünf Stämme des Sachsenvolkes vertreten waren, alles in allem gegen 1500 Personen. Die größte Abteilung im Zuge bildeten die Wenden, die in überaus stattlicher Zahl (gegen 800 Personen) in nicht weniger als 17 Gruppen sowohl aus Sachsen wie aus den angrenzenden preußischen Gebieten erschienen waren. Unser Bild führt einzelne Typen aus dieser Gruppe vor und giebt einen annähernden Begriff von der Mannigfaltigkeit der Trachten dieses Völkchens.
Das rechte Bild in der oberen Reihe zeigt uns drei Brautjungfern aus der Hoyerswerdaer Gegend in ihrer heutigen Tracht: über das seidene Gewand schmiegt sich der weiße, schürzenartige Ueberwurf, der reich gestickt ist und mit dem weißen Ueberärmel an der Achsel und am Oberarm harmoniert. Vornehm und reich wirkt der Festschmuck aus großen Perlen und meist in Herzform geschnittenen goldigen Glasblättchen, während der dunkle Sammetkopfputz den Mädchen eine bestimmte Würde verleiht.
Das Bild links zeigt die Tracht der katholischen Wendinnen aus einem Hochzeitszuge. Hier macht das ganz helle oder in abgetönten zarten Farben gehaltene Kleid mit dem dunklen Mieder und der großen Schleife aus mehrfarbigem, schwerem Seidenstoff einen festlichen Eindruck, zu dem der haubenartige Kopfputz im harmonischen Gegensatz steht, indem er mehr den schlichten, häuslichen Sinn zum Ausdruck bringt. Prächtig hebt sich die vielfach geschlungene Perlenschnur und der Münzenschmuck von Hals und Mieder ab. Zwischen beiden Bildern sind Musikanten aus Schleife bei Muskau zu sehen, die in einfacher bäuerlicher Tracht, hellem Beinkleid und kurzem dunklem Rock aus derben Stoffen, allen hervorragenden Schmuckes entbehren. Das Mittelbild der unteren Reihe zeigt wieder eine Frauentracht aus der Gegend von Schwarzkollm und Hoyerswerda: sie wird bei Hochzeiten und Taufen getragen, vorzugsweise schmücken sich aber mit ihr die Ostersängerinnen, d. h. Mädchen, die sich am Vorabend des Osterfestes auf dem grünen Dorfplatze versammeln, singend durch das Dorf gehen, indem sie vor jedem Hause einige Strophen eines geistlichen Liedes vortragen, und am anderen Morgen feierlich in die Kirche ziehen.
Auffallend bei dieser Tracht ist der mit einem Sträußchen versehene Kopfputz, während der wundervolle Hals- und Miederschmuck und die weißgestickte Aermelzier an die oben beschriebene Brautjnngferntracht erinnert. Links und rechts sind Ansichten von Bauern aus der Gegend von Schleife, und zwar ist das Bildnis rechts die Tracht des Hochzeitsbitters. Der dunkle lange Rock und der mit Bändern versehene hohe Hut giebt der Gestalt die nötige Würde, während die farbige, gestickte Schärpe und der an die Brust geheftete Blumenstrauß der Tracht das Gepräge des Festlichen verleihen. Das frei hängende bunte Taschentuch deutet auf eine charakteristische Eigenart des Kirchspiels hin. Die Tracht, wie sie das andere Bild giebt, steht insofern in einem gewissen Gegensatz zu der ernsten Würde der Hochzeitsbittertracht, als sie auf heitere, freundliche Stimmung hinweist; die weiße Kleidung hat das Gepräge einer fröhlichen, festlichen Zeit und der farbige (meist grüne) Ausputz des langen Rockes erhöht noch den freundlichen Eindruck, unser Gruppenbild mit diesen verschiedenen Trachten will nur andeuten, welche Mannigfaltigkeit noch in den Wendentrachten zu finden ist und wie sich auch in Sachsen gar manche Eigenart in Sitten und Gebräuchen erhalten hat. G. Irrgang.
[708] Kaltern. (Zu dem Bilde S. 693.) Wenn man in dem von Gebirgen rings umgebenen Bozen den Blick nach der blauen Mendel richtet und ermißt, wie diese luftige Höhe zu erreichen wäre, so fällt eine langgestreckte Bergmasse in die Augen, die wie ein Fußschemel zur Erleichterung des Aufstiegs davor hingelagert scheint. Das ist der „Mittelberg“, das „Ueberetsch“, ein altberühmter Strich Landes, reben- und burgenreich wie nur eines der gepriesenen Schaustücke an den Ufern des Rheins. Nach der Etsch schroff, zum Teil in senkrechten Felsen abfallend, mit Wald bekrönt, läßt der gewaltige Block vom Thal aus nicht ahnen, daß sich in seinem Sattel ein üppiges Gefilde ausbreitet, eine uralte Stätte der Weinkultur, mit stadtähnlichen Flecken, zahllosen Schlössern, Burgen, Kirchen und Kapellen, ja sogar mit fischreichen Seen.
Der Tourist, der heute über den Brenner fährt und im wunderschönen Bozen Halt macht, läßt sich die jetzt so bequeme Mendelfahrt nicht entgehen. Diese führt ihn aufs Ueberetsch und dann hoch über dasselbe, so daß er zuletzt den niedrigen Bergrücken vom Thalgrund der Etsch nicht mehr unterscheidet. Die stolze Feste Sigmundskron und das prächtige Eppan, ein Dorf, dem kein zweites gleicht, wo wie in Venedig jedes Haus ein Palazzo und jeder Bauernhof ein alter Edelsitz ist – sind die weithin sichtbaren Wahrzeichen des Landstrichs. Der Hauptort des Mittelbergs aber, das weinberühmte Kaltern, liegt jetzt abseits vom allgemeinen Heerweg des Touristenvolks; denn von Eppan steigt der moderne Kunstbau, der in großartigen Serpentinen zur Mendel führt, am Gondberg hinan und läßt die alte Straße links liegen, die nach Kaltern und an den Kalterer See und weiter über das nicht minder weinberühmte Tramin ins Etschthal hinunterführt. Und doch ist Kaltern des Besuches wert; ein blühender Marktflecken mit etwa 4000 Einwohnern, besitzt es eine schöne Pfarrkirche mit Fresken, ein Franziskanerkloster und als Mittelpunkt des tiroler Weinhandels großartige Kellereien. Der ziemlich tiefer gelegene Kalterer See ist etwa 1 km breit und 2 km lang und ausgezeichnet durch seinen Fischreichtum.
Wir denken, unser Künstler hat den reizenden Fleck Erde, auf welchem Kaltern liegt, verlockend genug geschildert, so daß wir uns begnügen können, zu bezeugen, daß er nicht geschmeichelt hat. Und über diesem herrlichen Lande ruht noch der Zauber der Sage und Geschichte. Es ist kaum eine Frage, daß hier Drusus 14 Jahre vor Christus gekämpft hat und daß die das Gefilde beherrschende Burg Hoheneppan, das Appianum des langobardischen Geschichtschreibers Paulus Diaconus, schon in altersgrauen Zeiten, in welche nördlich der Alpen keine greifbare Erinnerung zurückreicht, ein mächtiger Fürstensitz gewesen ist. Ludwig Steub, der anmutige und begeisterte Schilderer alträtischer Herrlichkeit, den die deutsche Leserwelt leider viel zu wenig kennt, hat mit nie versiegender ernster und scherzhafter Beredsamkeit darauf aufmerksam gemacht, welch uralter Kultur das deutsche Etschland sich rühmen darf. Auch der archäologisch gebildete Wanderer steht da vor so manchem grauen Turme, bei welchem er nicht um das Jahrhundert, sondern um das Jahrtausend verlegen ist, in welches er ihn verlegen soll. Elegisch und komisch zugleich klingt die Klage Steubs, in die er vor solch einem ehrwürdigen, in der Prosa unserer Tage in einen Stall verwandelten Bauwerk ausbricht: „Wo einst rätische Königstöchter sangen, da brüllen jetzt die Vintschger Kühe.“ –
Auf einen Umstand muß man freilich den Vergnügungsreisenden,
welchen Lust nach Kaltern und dem Ueberetsch anwandelt, aufmerksam
machen: eine Sommerfrische ist es nicht. Kaltern liegt nur etwa
250 m über dem Meere und seine Südseite, die sich zum Kalterer See
in die Etschebene hinuntersenkt, ist wahrscheinlich der heißeste Fleck
Erde auf deutschem Sprachgebiet. Darum muß man es in den späteren
Herbsttagen besuchen, wenn die Sonne nicht mehr so viel Stunden
zum Hineinscheinen hat und der Winzer sich anschickt, die edelreif
gewordene Frucht der Rebe einzuheimsen. Der „Kalterer Seewein“ ist
fast in der ganzen Welt berühmt und er teilt mit dem „Rauenthaler“,
dem „Rüdesheimer“ und ähnlichen Namen das Schicksal, daß seine
Begegnung auf der Weinkarte dem richtigen Weinkenner noch viel
erfreulicher wäre, wenn er nicht wüßte, daß nur ein bescheidener Bruchteil
von dem, was unter dieser Bezeichnung verzapft wird, an Ort und Stelle
gewachsen sein kann. Alfred Freihofer.
Vor der Schlacht bei Rothenthurm. (Zu dem Bilde S. 701.)
Nachdem die Waadt, die seit zweiundeinemhalben Jahrhundert ein
bernerisches Unterland gewesen war, zur Befreiung vom verhaßten Joch der
Berner im Jahr 1798 die Franzosen in die Schweiz gerufen hatte und
diese die Berner in der Schlacht bei Neuenegg besiegt hatten, arbeitete
das französische Direktorium unter der Mithilfe von schweizerischen
Abgesandten eine neue Verfassung für die Schweiz aus. Dieselbe hob die
bisherigen Grenzen und Unterschiede der eidgenössischen Stände auf und
verschmolz sie zu einem Einheitsstaat. Unter dem Druck der politischen
Lage beugten sich fast sämtliche Stände und nahmen die neue Verfassung
an; nur Nidwalden und Schwyz wollten sich nicht fügen und beharrten
bei ihrer alten von den Vätern ererbten Gesetzgebung. Da erhielt General
Schauenburg den Auftrag, die Verfassung den beiden Ländern mit Waffengewalt
aufzuzwingen. In wenigen Tagen war Nidwalden ein Trümmerhaufen,
seine waffenfähige Mannschaft erschlagen, gegen Schwyz kam es
am heftigsten bei Rothenthurm zum Kampf, wo eine „Letzimauer“, d. h.
Wehrmauer, deren Thor jetzt noch erhalten ist, jahrhundertelang das Thal
von Einsiedeln gegen die Zugänge aus der Mittelschweiz abschloß. Alles,
was Waffen tragen konnte, sammelte sich hierher, ein Milizheer von
1200 Mann und etwa 1500 Landstürmler, Männer, Frauen, Knaben und
Mädchen, die mit den Schlag- und Stichwaffen der alten Freiheitskriege
ausgerüstet waren. Als die Franzosen in Sicht kamen, warf sich das
Volk zum Gebet nieder, dann gab Alois Reding, der feurige Führer, mit
den Worten: „Wir fliehen nicht, wir sterben“ das Zeichen zum Angriff.
Im Andenken an den ersten schweizerischen Freiheitssieg, den die Väter
am nahen Morgarten erstritten hatten, stürmte das Volk aufjauchzend
und mit fliegenden Fahnen durch den französischen Kugelregen gegen den
von der nördlichen Bergflanke niedersteigenden Feind. Die schwyzerischen
Scharfschützen zielten gut, doch schrecklicher wüteten Bayonettangriff,
Kolbenschlag und die Sensen der Frauen gegen das vorher nie besiegte
Heer Schauenburgs. 2700 Franzosen deckten die Abhänge, Schwyz hatte
nur 236 Tote. So lauten wenigstens die Berichte. Auf der Anhöhe
von St. Jost, im Anblick des alten Schlachtfeldes von Morgarten feierte
das Völklein den Sieg. Da kam die niederschmetternde Nachricht, daß
der Feind vom Zürichsee her ins Innere des Landes gedrungen sei.
Reding schloß mit Schauenburg einen ehrenvollen Frieden. Schwyz
nahm die Verfassung an, die Franzosen aber zogen sich, die Tapferkeit
des Völkchens ehrend, gleich über die Landesgrenze zurück. Jetzt geht
über das Schlachtfeld die schweizerische Südostbahn, die den Zürichsee mit
dem Rigi verbindet. H.
Ein letztes Wort. (Zu dem Bilde S. 705.) Ob bittere Notwendigkeit
diese kurzen Zeilen diktierte oder der eigene freie Wille des
Schreibers – sie haben eine tiefe Wunde gerissen, die, am Tage unter
Lächeln und Gesellschaftstreiben versteckt, nur in stiller Nacht bluten
darf. Kein fremder Blick dringt dann störend in das für behagliches
Ausruhen eingerichtete Gemach, wo die verwöhnte Schöne traurig und still in
ihrer Diwanecke lehnt, den oft gelesenen Brief in der Hand, mit den
großen schwermutsvollen Augen unverwandt vor sich hinstarrend, einen
tief schmerzlichen Ausdruck auf dem schön geschnittenen Gesicht. – Die
Malerin des anziehenden Bildes stellt mit Vorliebe solche reizvoll
melancholische Frauengestalten dar: sie vereinigen zarte Empfindung mit
vortrefflich realistischer Technik und haben auf den verschiedenen Ausstellungen
verdienten Erfolg gefunden. Bn.
Inhalt: Wendische Volkstrachten. Bild. S. 689. – Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (3. Fortsetzung). S. 690. – Die Wettsucht in England. Von Hugo Möder. S. 692. – Kaltern und der Kalterer See. Bild. S. 693. – Das Geburtshaus der Brüder Grimm. Von Louise Gies. S. 695. Mit Abbildung S. 696. – Deutsche und holländische Landeroberungen an der Nordsee. Von Dr. Eugen Träger. S. 696. Mit Abbildungen S. 696, 697 und 698. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (17. Fortsetzung). S. 699. – Vor der Schlacht bei Rothenthurm. Bild. S. 701. – Ein letztes Wort. Bild. S. 705. – Unser Totenkopfschmetterling. Von B. Theinert. S. 706. – Blätter und Blüten: Vom sächsischen Volkstrachtenfest in Dresden. Von G. Jrrgang. S. 707. (Zu dem Bilde S. 689.) – Kaltern. Von Alfred Freihofer. S. 708. (Zu dem Bilde S. 693.) – Vor der Schlacht bei Rothenthurm. S. 708. (Zu dem Bilde S. 701.) – Ein letztes Wort. S. 708. (Zu dem Bilde S. 705.)
[ Verlagswerbung - hier nicht weiter dargestellt. ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[708 a]
Die Gartenlaube.
Das Grassi-Museum in Leipzig. Es gibt wenig Städte in Deutschland, die sich so überaus freigebiger, für das Wohl und den Glanz der Stadt bedachter Mitbürger rühmen können wie Leipzig. Der am 14. November 1880 verstorbene Franz Dominik Grassi hat der Stadt ein großartiges Vermächtnis von 2300000 Mark zur Verwendung für Annehmlichkeiten und Verschönerungen hinterlassen; der Stadt ist es dadurch möglich gewesen, das städtische Museum für bildende Kunst zu erweitern, das neue Gewandhaus zu erbauen, vor allem aber ein Museum zu gründen, welches den Namen des Geschenkgebers trägt und in erster Linie zur Aufnahme des Museums für Völkerkunde und des Kunstgewerbemuseums bestimmt ward, die beide bisher in beschränkten Räumlichkeiten untergebracht waren. Der Rat beauftragte den Baurat Licht in Leipzig mit der Ausführung des Baues, und vor einiger Zeit konnte derselbe seiner Bestimmung übergeben werden. Das Erdgeschoß des Gebäudes ist aus Rustikaquadern in dunkelgrauem Muschelkalkstein ausgeführt; das rundbogige Mittelportal des Haupteingangs zeigt als Schlußstein den Kopf der Lipsia im Hochrelief; die Schlußsteine der Fenster im Erdgeschoß sind mit Zweigen der Linde, der Pinie, der Eiche und des Lorbeers verziert. Auf dem massigen Erdgeschoß erheben sich zwei Obergeschosse, deren gemeinsame Fassade zwölf stattliche Säulen mit korinthischen Kapitälen und Postamenten aufweist; die Skulpturen darauf beziehen sich auf Völkerkunde und Kunstgewerbe. Die Säulen, welche die Fassade in schöner wirksamer Weise gliedern, tragen das Dachgesims mit einer Attika; in der Mitte der letzteren befindet sich ein giebelartiger Aufbau; den Giebel selbst schmückt die Büste Grassis. Das ganze Gebäude ist im Stil der italienischen Hochrenaissance ausgeführt. Das prächtige Treppenhaus erinnert an die Palastbauten von Genua. Graue Syenitsäulen schmücken das Vestibule; auf gleichen Säulen ruht das Treppenhaus.
Den Grundstock des Museums für Völkerkunde hat die kulturgeschichtliche Sammlung des Oberbibliothekars Gustav Klemm in Dresden gebildet, welcher durch den verdienstlichen Leiter des Museums, Dr. Obst, nach und nach weitere, reiche und wertvolle Erwerbungen hinzugefügt wurden. Der Rat kaufte dazu die Godeffroysche Sammlung in Hamburg aus den Mitteln der Grassischen Erbschaft. Hierzu kommen noch die Zuwendungen des Dr. Stübel, welcher ein Museum für vergleichende Länder- und Völkerkunde begründete, indem er eine Anzahl seltener Karten, 82 Oelgemälde, 2000 Photographien, Erwerbungen einer Reise in Südamerika, dem Grassi-Museum schenkte. Mit der abschließenden Anordnung war außer Dr. Obst der berühmte Besteiger des Kilimandscharo, Dr. Hans Meyer, beschäftigt. Am 18. September fand die Eröffnung der Sammlung statt. Auch dem Verein für Erdkunde wurde ein Saal in dem neuen Prachtbau eingeräumt. Das Kunstgewerbemuseum, das sich unter der Direktion des leider schon verstorbenen Bildhauers zur Straßen glänzend entwickelt hat und welches, seitdem es hier alle seine Schätze frei zur Schau stellen kann, auf die Fortbildung des Kunsthandwerks einen noch mehr als früher fördernden Einfluß ausüben wird, enthielt bei der Uebersiedelung ins neue Haus 7300 Nummern in der Textilabteilung, darunter 5000 Stück Spitzen, in der keramischen Abteilung 1350, in Metallarbeiten 3000, in Holz- und Elfenbeinarbeiten 500 Nummern. So reiche Schätze in seinem Schoße verwahrend, erscheint das Grassi-Museum als ein glänzendes Denkmal echten Bürgersinns, welcher den verstorbenen Stifter in so hohem Maße auszeichnete. †
Waldverwüstung in Australien. Weite Strecken Australiens werden von den eigenartigen Eukalyptuswäldern überzogen. Dieselben sind mehr einem Parke als einem dichtgeschlossenen Walde ähnlich; die Bäume stehen nämlich in Abständen von 10 bis 20 m und dulden keine Nachbarn und auch kein Unterholz in ihrer Nähe. Ihr weithin ausgebreitetes und in eine Tiefe von 60 bis 70 m dringendes Wurzelwerk bemächtigt sich rasch aller Feuchtigkeit, die dem Boden in einem gewissen Umkreis zugeführt wird, und unterdrückt das Aufkommen jedes ansehnlichen Konkurrenten. Nur die Gräser und solche Pflanzen, die ihre Wurzeln nicht über eine oberflächliche Erdschicht hinab in die Tiefe erstrecken, vermögen zwischen ihnen zu gedeihen. Ansiedler, die in jenen Gebieten Viehzucht betreiben, haben nun gefunden, daß man den Graswuchs auf das Doppelte steigern kann, wenn man in einem gewissen Umkreis die Bäume tötet. Sie machen auch von diesem Mittel, ihre Weiden ertragreicher zu gestalten, den ausgiebigsten Gebrauch und vernichten die Wälder, indem sie die Bäume „ringeln“. Wie Professor Richard Semon in seinem hochinteressanten Werke „Im australischen Busch“ berichtet, geschieht das Ringeln in zwei Weisen. Entweder entfernt man etwa in halber Mannshöhe über dem Boden bloß die Rinde in einem Gürtel von 30–40 cm Breite, oder man entfernt einen viel schmäleren Ring, schlägt aber noch tief in das junge Holz, den Splint, hinein. So geringelte Bäume sterben in einigen Monaten ab. Da das Holz der Eukalypten aber ein sehr festes und widerstandsfähiges ist, bleiben die Baumleichen noch viele Jahre aufrecht stehen. Es giebt keinen trostloseren Anblick, als eine Landschaft mit solchen abgestorbenen Bäumen, wo meilenweit die Baummumien ihre dürren blattlosen Aeste über das frisch unter ihnen grünende Gras emporrecken, ein Vorzeichen dafür, daß die Tage der ungeheuren Buschwälder Australiens selbst gezählt sind.
Topfschoner. Um das lästige Verrußen und Durchbrennen der in das Feuer eingehängten Kochgeschirre zu verhüten, hat die Firma F. Dreifürst & Co. in Leipzig die nebenstehend abgebildete Vorrichtung in den Handel gebracht. Dieselbe besteht aus einem flachen aus Stahlblech gefertigten Behälter mit breitem Rand. Dieser Topfschoner wird in die Ringplatte des Herdes eingelassen und der Kochtopf in denselben gestellt. Das Kochgeschirr bleibt dabei sauber und das Kochen erfolgt rascher als auf der geschlossenen Herd- oder Ofenplatte.
Um den praktischen Interessen der Familie zu dienen, haben wir in dem Anzeigenteil der „Gartenlaube“ eine besondere Rubrik, den „Kleinen Vermittler“, eingeführt. In denselben werden Anzeigen, welche Stellengesuche und Stellenangebote, Unterricht und Pensionatswesen betreffen, Inserate über Kauf und Verkauf von Grundstücken, sowie überhaupt Ankündigungen aus dem täglichen Kleinverkehr zu besonders ermäßigtem Insertionspreise aufgenommen. Das Wort in gewöhnlicher Schrift kostet 15 Pf., in fetter Schrift 20 Pf. Wir empfehlen den „Kleinen Vermittler“ der freundlichen Beachtung unserer Leser. Die Anzeigen sind an die Annoncen-Expedition von Rudolf Mosse in Leipzig, Berlin oder deren Filialen, also nicht an den unterzeichneten Verlag, zu richten. Der Verlag der „Gartenlaube“.
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