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Die Gartenlaube (1895)/Heft 48

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[805]

Nr. 48.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

 (8. Fortsetzung.)

Die Zeit schlich hin. Nicolai malte, so lange das Licht ins Fenster schien, und schon stand die erste Skizze, mit ihren dunklen und doch durchsichtigen Farben wunderbar anzusehen, fertig auf der Staffelei.

Am Morgen, wo Sibylle Lenzow bei Magda war, begann er auf einer großen Leinwand nach der kleineren Skizze die Umrisse mit Bleistift hinzusetzen. Er brauchte nie Kohle und ließ die feinen Bleilinien ruhig zwischen den dünn aufgelegten Farben stehen. Er hörte nebenan Stimmengemurmel. Mehr drang nie durch die dicken Mauern. Er erinnerte sich, daß heute Malstunde sei, und hoffte, daß diese für Magda Zerstreuung bedeute.

Sein Ohr horchte manchmal auf den Wind, der draußen schneidend pfiff.

Ihm war ganz besonders schlecht heute zu Mute, aber doch auch ganz anders wie sonst. Er begriff seinen Zustand gar nicht. Es war, als läge etwas Hartes, Heißes, Schweres in seiner Brust.

Sein Arm fiel schlaff nieder – es war ihm unmöglich, ihn in der ausgestreckten Stellung zu halten.

Lange saß er still und wartete, ob ihm nicht wieder wohler werden möchte. Er setzte den Schwankungen seiner Gesundheit eine unendliche Geduld entgegen.

„Es ist der böse Ostwind,“ sagte er sich.

Nebenan wurde es still. Er hatte aber gar nicht den gewohnten Lärm gehört, den die jungen Damen beim Fortgehen machten, ja es schien ihm, als sei nur ein schneller Schritt an seiner Thür vorbeigekommen, anstatt ihrer vier.

Merkwürdig; auch in der Ruhe ward ihm nicht besser.

Er wollte doch klingeln und Frau Böhmer um etwas heiße Milch mit Emser Wasser bitten, denn er hatte das Gefühl, als säße da etwas, das hinuntergespült werden müsse.

Er stand auf. Vor seinen Augen ward es schwarz. Schwankend kam er bis an die Klingel. Kurz schrillte die auf.

Ein Fall erschütterte den Estrich und ward als dumpfer Ton unten und nebenan gehört.

Zwei Minuten vergingen.

„Fräulein Ruhland – Fräulein – –“ gellte die Stimme der Frau Böhmer durch das ganze Stockwerk.

Magda hatte am Fenster gestanden, die Stirn gegen die kühlende Scheibe gepreßt.

Aufschreckend lief sie dem Rufe nach, kam in des Freundes Atelier und stand erstarrt.

Da lag er und aus seinem Munde quoll ein Blutstrom.

Das Ende war da, das der Arzt und das er sich selbst immer prophezeit hatte.

„Nicolai!“ schrie sie auf und kniete neben ihm nieder.

Sein Gesicht war bläulich, aber während Magda es noch bang anstarrte, erlosch die unheimliche Färbung langsam und machte einer tödlichen Blässe Platz.

Drei Tage Kasten!
Nach dem Gemälde von K. Müller.

[806] Frau Böhmer war eine entschlossene Person. Sie holte den Wärter von Magdas Vater.

Mit geschickten Händen, sanft und sicher hoben sie ihn auf und trugen ihn auf sein Bett im Zimmerchen neben dem Atelier.

„Zum Arzt!“ befahl Frau Böhmer dem Mann. Der Wärter rannte davon.

Nicolai lag still. Er schien bewußtlos. Sein Atem war schwer und röchelnd.

Magda hielt seine Hand.

Niemand rührte sich. Die Böhmer war draußen und beriet mit Kathi, was man thun könne, aber ohne daß sie zu einem Schluß kamen.

Das helle Tageslicht umleuchtete die hohe, magere Stirn des Sterbenden. Sein Gesichtsausdruck war friedlich. Nur schienen alle Züge verschärft und verlängert.

So mochte mehr als eine halbe Stunde hingegangen sein.

Dann kam der Wärter mit dem Arzt. Es war nicht der Medizinalrat Schönchen, Ruhlands und auch Nicolais Arzt, sondern ein fremder junger Mann, die erste beste Hilfe, die der Wärter gefunden hatte.

Hierüber fühlte Magda eine Enttäuschung. Ihr war, als hätte der liebe alte Schönchen helfen können, helfen müssen, schon allein weil er Nicolai so sehr schätzte.

„Der Mann ist ein Sterbender,“ pflegte Schönchen von ihm zu sagen, „aber bei ihm verliert das Wort Krankheit allen Schrecken, sie ist ihm nur der unabänderliche Weg zur Auflösung, den wir alle gehen müssen. Seine Resignation grenzt an Erhabenheit.“

Und der Arzt, der den teuren Kranken so verstand, blieb fern!

Mit fast lauernden Blicken bewachte Magda das Thun des Fremden.

Sie sah wohl, er untersuchte mit zarter Sorgfalt; der Wärter hatte unterwegs schon in großen Umrissen erzählt, um was es sich handele, und die nötigsten Medikamente waren im Vorbeifahren gleich eingekauft worden.

Der Doktor war noch ein junger Mann, aber wohlbeleibt. Auf seinen Wangen stand ein kurz geschorener Bart, der die Haut durchscheinen ließ und am Kinn lang und spitz auslief. Auch das Haupthaar war abgeschoren.

Durch den mit Gold eingefaßten Kneifer sahen scharfe helle Augen.

„Es ist Doktor Magius,“ flüsterte der Wärter Magda ins Ohr.

Mit großer Vorsicht flößte Magius dem Sterbenden Kampfer ein. Der scharfe Aether verflüchtigte sich als durchdringender Geruch. Nicolai seufzte und schien leichter zu atmen. Er schlug die Augen auf, und als er Magdas Angesicht so nahe über sich fand, daß sein Blick in den ihrigen traf, ging ein mattes Lächeln über sein Gesicht. Magda glaubte zu fühlen, daß die Hand, welche sie hielt, versuchte, die ihrige zu drücken. Herzlicher und fester umschloß sie daher mit ihren Fingern diese kalte Hand.

Wie glücklich er aussah!

„Wie fühlen Sie sich?“ fragte Magda.

„Matt – aber ganz wohl,“ sagte er atemlos und kaum hörbar.

Der Doktor schrieb an einem Rezept.

Magda hörte, wie nebenan jemand stark an die Atelierthüre klopfte.

Sie legte die Hand Nicolais schnell und vorsichtig auf die Bettdecke nieder und ging, um zu öffnen. Aber der Klopfende war ungeduldig gewesen, er machte die Thür auf, ehe das „Herein“ ertönte.

Magda fuhr zurück. Der, den sie hier am wenigsten erwartete, stand vor ihr: René Flemming. Und im hellen Tageslicht, dem er das bestürzte Gesicht zuwandte, sah sie, wie bleich, wie scharf seine Züge waren. Er schien gealtert in den wenigen Tagen.

„Du hier?“ sprach er verwirrt.

Sie hatten sich seit jener erschütternden Stunde, wo René sein Wort glaubte zurücknehmen zu müssen, nicht mehr gesehen. Aber beide dachten mit keinem flüchtigen Gedanken jener Stunde. Sie sahen einander ängstlich an.

„Was – was wolltest Du bei Nicolai?“ fragte sie, denn sie sah an seinem Ausdruck zu klar, daß es ihm peinvoll war, ihr hier zu begegnen. Und in seinem Brief hatte er von der Freude des Wiedersehens gesprochen.

„Ich –“ begann Rene, „ich will Nicolai allein sprechen.“

„Du willst ihn bitten, Dein Sekundant zu sein?“ fragte Magda und sah ihn forschend an. Es war, als habe eine Gewalt, deren sie nicht Herrin werden konnte, ihr diese Frage auf die Lippen gelegt.

Er zuckte zusammen.

„Wie kommst Du auf dergleichen? Nein! Nein, sage ich. Sieh mich nicht so an,“ sagte er, seinen Ton bis zur Rauhheit steigernd.

Aber vor ihrem durchbohrenden Blicke wandte er das Auge scheu zur Seite – er, der jeden kühn und frei anzusehen pflegte.

„Ich weiß es doch …“ sprach sie.

„Ich sage aber nein. Quäle mich nicht mit Deinen Phantasien! Wo ist Nicolai? – Ich muß ihn sprechen,“ sagte er, über Magda hinsehend.

„Nicolai liegt im Sterben,“ sprach sie ganz leise.

René fuhr zurück und hielt sich mit der Hand an dem Thürpfosten.

„Das jetzt! Gerade jetzt!“

„Willst Du ihn nicht sehen?“ fragte Magda.

Ein Schauer durchrann ihn. An jedem andern Tag, zu jeder andern Stunde, aber heute – – –

„Ich kann nicht!“ wollte er sagen und schämte sich. „Bin ich denn ein Feigling?“ dachte er zornig gegen sich selbst.

„Ja,“ sagte er leise.

Magda schritt voran. „Es ist doch wahr,“ dachte sie immerfort. „Er wird es nicht zugeben und wenn ich auf meinen Knieen um die Wahrheit bäte. Es ist aber doch wahr!“

Sie stand in der Thür zu Nicolais Schlafzimmerchen still und ließ Raum neben sich, daß René zu ihr treten konnte. Das Bett stand der Thür gegenüber und es waren nur zwei Schritte Entfernung. Doktor Magius saß am Bett, mit dem Rücken gegen die Thür. Er hatte nebenan die Flüsterstimmen, wie ihm schien in heftiger Wechselrede, vernommen und hörte nun die Schritte. Er wandte sich um.

„Flemming!“ sagte er überrascht.

Sie kannten sich genau, Magius gehörte dem Kreis der jungen Männer an, die abends im „Wilden Mann“ verkehrten.

René fühlte zum zweitenmal einen seltsamen Schauder durch seine Adern rinnen. Gerade diesen Arzt traf er hier am Sterbebette. – – Es war dem Doktor Magius eine besondere Mission zugedacht, von welcher derselbe zur Stunde freilich noch keine Ahnung hatte.

Welch ein Zufall! Es ward René zu Mut, als äfften ihn feindliche Truggestalten. Er schüttelte die Empfindung gewaltsam ab.

Nach einem festen Händedruck mit dem befreundeten Arzt trat er einen Schritt vor.

So also, so sah der Tod aus?!

René hatte noch nie einen Sterbenden gesehen und diesen da sah er nicht mit klaren, verständnisvollen Augen an.

Er sah nicht den majestätischen Frieden auf der hohen Stirn, er sah nur die dunklen Schatten in den eingefallenen Schläfen. Er ahnte nichts von dem Gefühl völligster Versöhnung, welches im Herzen des Sterbenden thronte, er sah nur, wie mühsam die Brust sich hob. Er sah nicht das stille Lächeln um die Lippen, er sah nur die scharfen, leidvollen Züge.

Und mit dem Entsetzen, das ihn erfaßte, glühte zugleich seine eigene, trotzige Lebenskraft auf.

„Nicht so enden – nein, so nicht!“ dachte er verzweifelt.

Er trat zurück und ging in das andere Zimmer. Hier stellte er sich vor dem Bild mit dem hehr schreitenden Engel auf. Ihn beherrschte das instinktive Gefühl, daß er sich fassen müsse, daß er Magda ein unbefangenes Gesicht zu zeigen habe, daß er fortgehen müsse, gleich, schnell. Jetzt glaubte er, sich bemeistert zu haben und genugsam Herr über seine Stimme zu sein, daß sie nicht mehr bebe.

Er wandte sich ein wenig. Und ein dämonisches Verlangen befiel ihn, den Sterbenden noch einmal zu sehen. Er stand von fern und starrte ihn an.

Magda kam zu ihm.

„Willst Du hier bleiben?“ fragte sie sanft.

Er fuhr auf.

„Nein, nein! Ich habe keine Zeit – ich nähme Dir gern die Aufgabe, hier zu wachen, ab – aber ich kann nicht – gewiß nicht. Ich habe wichtige Geschäfte. …“

Er brach ab.

Auch vielleicht Geschäfte des Todes – vielleicht seines eigenen Todes! dachte Magda entsetzt.

„René!“ rief sie leise und umklammerte seine Hand.

[807] Er wollte die Hand von sich stoßen und zur Thür schreiten. Aber Magda ließ ihn nicht.

„René!“ flehte sie noch einmal. Sie wußte nichts zu sagen, sie durfte nichts sagen. Er mußte ihren Ton, ihre Herzensangst verstehen.

Und er verstand sie nur zu gut. Sein Wesen war aus den Fugen – es gab nur ein Mittel, es wieder aufzurichten: Rauhheit, Härte.

„Laß mich!“ sagte er und stieß sie zurück.

„Geh’ nicht so von mir!“ bat sie. Ihr Angstblick war ihm unerträglich. Ihr Jammer verzehnfachte seine schmerzliche Erregung.

„Genug – was willst Du? – wir sehen uns morgen wieder – dann sprechen wir über Deinen thörichten Brief,“ sagte er. „Leb’ wohl!“

Das kurze Staunen, von dem sie sich erfaßt fühlte, benutzte er und floh hinaus.

Er sprach von dem Brief? In plötzlichem Einfall? Oder war dies der Grund seines rauhen Tones? Und verbarg sich nicht ein anderes, schreckliches Vorhaben hinter seiner Rauhheit?

Von Zweifelsgedanken gepeinigt, kehrte Magda an das Krankenbett zurück. Der Doktor erhob sich.

„Ich gehe jetzt,“ sagte er leise. „In einer Stunde komme ich wieder. Sie können inzwischen noch einmal Kampfer geben. Aber Sie wollen doch nicht allein...?“

„Der Wärter meines Vaters kann mitwachen und Frau Böhmer wird gewiß so gut sein, nach meinem Vater zu sehen,“ sprach Magda.

Die Böhmer, welche gerade wieder von ihrer Küche her ins Zimmer trat, nickte zustimmend.

Magda begleitete den Arzt nicht zur Thür, sie fragte nicht, auch nicht einmal mit einem Blick, ob noch Hoffnung sei. Auch dachte sie nicht mehr daran, nach Schönchen zu schicken.

Es war ja vorbei, rettungslos! Und Gott mochte dem edlen Freunde nun ein ruhiges Sterben schenken!

Sie setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett, so daß sie Nicolai voll ins Gesicht sehen konnte, und nahm wieder seine Hand.

Er fühlte es sogleich und schlug die Augen auf.

Jetzt gab er sich keine Mühe mehr, seine Liebe zu verbergen. Mit einer andächtigen Zärtlichkeit sah er in das geliebte Gesicht.

Und Magda fand die Heldenkraft, ihm liebevoll zuzulächeln, bis seine Lider wieder herabsanken.

Dann fiel die Maske von ihrem Antlitz. Ein unendliches Weh, eine tödliche Angst lag wieder auf demselben. Morgen vielleicht, um eben diese Zeit, lag René da wie der arme Nicolai! Gebrochen und sterbend! Aber nicht mit heiterem Frieden in der Seele, sondern mit dem Trotz gegen das Geschick, das ihn, den Lebensfreudigen, zum Tod verdammte, das ihn, den Vielgeliebten, ohne Liebestrost sterben ließ!

„Wenn ich ihn nicht verstand,“ dachte Magda, „sein Richter durfte ich nicht sein – das nicht! Ich durfte ihm nie Mangel an Willensstärke vorwerfen, es ist das Schlimmste, was man einem Mann sagen kann!“

Wenn sie ihn niemals wiedersah als einen Lebenden! Wenn dies ihr Abschied gewesen war für ewig!

Der Sterbende bemerkte an dem Zucken ihrer Hand, daß sie schluchzte.

Er hielt ihre Hand mit seiner letzten Kraft ein wenig fester. Er sah die Weinende an.

Sie fühlte den Blick und neigte sich nieder zu ihm.

Welche heilige Dankbarkeit in seinen Augen für die Thränen, die nicht um ihn flossen!

„Nicht weinen,“ flüsterte er, „es thut nicht weh – das – Sterben.“

Sie begriff seinen Irrtum und ihre Thränen flossen heftiger, jetzt mit um ihn, der sie so treu geliebt.

Die Trauer um den gegenwärtigen Verlust und die Angst um den gefürchteten vermischten sich miteinander und ließen sie jede Haltung verlieren.

Nicolai aber sah sie an. Seine Augen glänzten und in sein Herz zog selige Freude. Sie hatte ihm also viel mehr Liebe gegeben, als er je zu hoffen gewagt – er war ihr also teuer gewesen – sie weinte – nicht aus Mitleid, sondern aus verzweifeltem Kummer!

Der Wahn durchglühte seine Seele und trug sie wie auf Sehnsuchtsfittigen in hohe, reine Gefilde.

Mit der Wonne dieses Glaubens durfte er hinweg gehen! Selige Ahnung – die ihn einst geheißen hatte, jenes Bild mit dem Engel des Glücks zu malen!

Nun war es Wirklichkeit geworden und als der Engel stand Magda neben ihm und brachte ihm das Glück.

Seine Augen richteten sich himmelwärts. Sie schienen nicht die Decke der Stube zu sehen, sie schienen durch weite Räume in die Unendlichkeit zu blicken.

Magdas Thränen versiegten. Sie faltete die Hände. Ihr Herz ward von Schauern der Andacht durchbebt. Sie begriff, wen sie verlor, was sie verlor. Gestern noch hatten diese blassen Lippen sie gefragt, was sie betrübe. Morgen würden sie nichts mehr fragen. Ein treues Herz weniger für sie in der Welt fortan – – –

So kam der Tod zwischen Gestern und Morgen und wischte mit seiner Geisterhand ein Menschendasein hinweg von den Tafeln des Lebens. Und morgen konnte es geschehen, daß eben diese furchtbare Hand ein anderes Leben auslöschte …..

Alle Stimmen des Stolzes und des Verstandes schwiegen in Magda. Sie wußte nur dies eine: wäre sie jetzt mit René allein gewesen, sie wäre in seine Arme gefallen und hätte ihm gesagt: „Ich liebe Dich! Lebe! ich will Dich ertragen, wie Du bist!“

Nicolai schien leiser zu atmen und sich erleichterter zu fühlen. Die Lebenskräfte gingen rasch zurück, die körperliche Not ward geringer.

Eine lange Stille trat ein.

Magda sah ihn aufmerksam an. Sie dachte über ihn nach. Er war ein Mensch gewesen, der jenseit aller Versuchungen stand. Es gab keine edle Eigenschaft, die ihm nicht natürlich gewesen. Er war vornehm, rücksichtsvoll, wahr, treu – ein Mann, wie ihn eine Mädchenphantasie sich ausmalt.

Vielleicht, ohne daß Magda sich dessen bewußt geworden, hatte sie ihre Anforderungen an das Wesen des Geliebten nach diesem Beispiel gestellt, das ihr seit Jahren täglich nahe war. Und heute erst fragte sie sich, ob man das Maß für andere nach einer solchen Erscheinung nehmen dürfe.

Seit Nicolai denken konnte, trug er sich mit dem Bewußtsein, daß er jung sterben müsse. Welche Einwirkung mußte dies Bewußtsein nicht auf seine Entwicklung gehabt haben! Er mußte immer davor zurückgebebt sein, seine kurze Spanne Leben mit Kämpfen und Unschönem zu trüben. Er mußte immer darauf bedacht gewesen sein, sich harmonisch zu fühlen mit allen und allem, damit er bei jähem Scheiden keinen Groll in unversöhnten Herzen hinterlasse. Er hatte die Eigenart seiner Persönlichkeit nie kühn an der einer anderen messen können, denn er wußte, daß ihm die nächste Stunde den Kampf abschneiden könne.

Ein niedrig beanlagter Mann hätte versucht, seinen Groll auf das Geschick in tollen Lebensfreuden und im Haß auf Begünstigtere zu entladen.

In Nicolai hatten sich alle edlen Keime zur höchsten Vollendung entwickelt. Sein Wesen war geblieben wie lauteres Gold.

Durfte ihm das so sehr zum Ruhme angerechnet werden? Und dem anderen der Mangel solcher Unantastbarkeit so sehr zur Schuld?

Nein, tausendmal nein! Wen die vollen Ströme des Lebens rauschend umfluten, der kann es nicht hindern, daß sich in sein Gewand Tang und Algen verstricken. Nur wer so einsam steht, wie dieser Sterbende stand, mag mit unbeflecktem Kleide von hinnen gehen.

Magda sah den Freund an. In ihren Blicken war ein neues Licht aufgegangen. Der da lag, hatte ihr eine Lehre gegeben, und sie gelobte sich, daß sie ihr unverloren bleiben solle.

Er atmete unhörbar … in plötzlich erwachender Angst rief sie ihn laut an.

„Nicolai!“

Er öffnete die Augen und sah sie an. Sie las in diesem Blick, daß er bei vollem Bewußtsein war.

Seine Lippen bewegten sich. Sie legte ihr Ohr fast an die selben, um zu hören.

„Geliebte Magda!“

Sie vernahm es wie einen fernen leisen Hauch und sie neigte sich über ihn, seine Stirn zu küssen.

[808] Seine Züge waren wie verklärt, seine Augen geschlossen.

Magda fand keinen Schrecken in diesem Anblick. Der vollkommene Friede, der über dieser Leidensgestalt schwebte, nahm ihr jedes Grauen.

Er aber atmete immer sachter. In seinem Ohr war ein feines fernes Singen und Klingen, so seltsam, als käme es von den Fiedeln und Flöten, die von den Märchenwesen auf dem Bild „Frühlingsstimmen“ gespielt wurden. Sie nahten sich jetzt seinem Lager, er sah sie alle deutlich mit ihren steilen Linien und ihren blassen Körperchen, und all die Augen, die er gemalt, sahen ihn an – fremde, wunderliche Augen mit abgrundtiefem Blick.

Er wollte es Magda sagen, aber der Wille dazu verschwamm ihm. Die Sommernacht trat zu ihm und küßte ihn auf die Stirne, er sah ganz deutlich durch ihre dunkle transparente Gestalt hindurch. Und es war ihm, als sähe er in die Ewigkeit hinein. Wie lange blaue Lichtbänder spann sich ein Farbenstrom von ihm aus und hinein in die Unendlichkeit. Er folgte diesem Strom, es war, als wenn er auf ihm dahin schreite, und schnell und leicht, wie Menschenfüße sonst nicht schreiten. Und dann sah er fern und ganz klein am Ende einen gelb leuchtenden Punkt. Es schien wie ein Thor und gelbe Lichtfluten quollen heraus. Eine große Sehnsucht kam ihm, durch dieses Thor eingehen zu dürfen.

Plötzlich schreckte seine Seele auf. Eine jähe Angst befiel ihn. Es schien aus seiner Brust etwas herauszuquellen, daran er ersticken sollte. Er riß die Augen auf.

Sein Blick erkannte mit letztem aufblitzenden Bewußtsein Magda.

Sein Gesicht färbte sich dunkel – kurze Schreckenssekunden lang. Dann erblaßte es wieder und ein tiefer, tiefer Atem entfloh den Lippen. Sie sogen keinen neuen wieder ein.

Auf dem bleichen Gesicht stand ein Lächeln. Nicolai war tot.

Er war zurückgesunken in die große, ewige Stille, aus der das Leben kommt und in die es geht.


9.

Am Dienstag abend mit dem letzten Zuge war René aus dem Wirtshaus zum Posthorn nach Leopoldsburg zurückgekehrt. In den Taschen seines Mantels steckten Papierbündel, die sich mit den seltsamsten nur ihm verständlichen Hieroglyphen bedeckt zeigten. Seine Gedanken waren mit völligster Sammlung auf seine Arbeit gerichtet, wieder einmal gingen die Erscheinungen und der Lärm der Außenwelt eindruckslos an ihm vorüber. Der Egoismus der künstlerischen Schaffensfreude hatte sich seiner in solchem Grade bemächtigt, daß er nur flüchtig dachte, er wolle Magda erst aufsuchen, wenn er sein Werk beendet habe. Da seine Phantasie dies Werk nun beinahe ganz umfaßte und jedes Wort, jeder Ton fertig vor ihm stand, so blieb ihm also nur noch die technische Arbeit des Niederschreibens. Und in einer ganz merkwürdigen Täuschung, die ihm daraus erwuchs, daß er in einer reichen, einheitlichen Stimmung bei solcher Arbeit blieb, kam es ihm vor, als sei das nur eine ganz kurze, schnell erledigte Sache, die ihn nicht lange von Magda fernhalten werde. Daß sie solches Fernbleiben als neuen Schmerz empfinden könnte, fiel ihm gar nicht ein. Denn der Grund war der heiligste und wichtigste, den es für einen Mann geben kann: eine Arbeit, in welcher er sein Können vollkommen auszusprechen hoffte.

Noch mit dem Hut auf dem Kopf und den Mantel auf den Schultern setzte er sich in seiner Wohnung an den Schreibtisch und bat Herrn von Rechenbach, bei Seiner Hoheit Fürsprache einzulegen, daß man ihm kurze Muße und Freiheit gäbe zur Vollendung seines „Filippo Lippi“. Er war ganz sicher, morgen darauf die Antwort zu empfangen, daß Seine Hoheit ihm bestes Gelingen wünsche und dringend bäte, er möge alle Dirigentenpflichten so lange ruhen lassen, bis das Werk vollendet sei.

Dann gab René sich einem wahren Wonnegefühl hin und genoß die freudige Arbeitsstille der kommenden Tage schon vorweg. Er kramte sein Arbeitsmaterial zurecht und glättete und ordnete die merkwürdigen Blätter, die er aus dem „Posthorn“ mit heimgebracht. Dabei kam ihm die Post zu Gesicht, die seit zwei Tagen eingelaufen war und die seine Wirtschafterin unter einem riesigen Briefbeschwerer so gut aufgehoben hatte, daß sie fast versteckt geblieben wäre, wenn René nicht eben den Briefbeschwerer für die losen Blätter gebraucht hätte.

Ein Brief von Magda? Etwas wie Unbehagen überflog ihn. Gewiß eine Antwort auf seinen Brief aus dem „Posthorn“. Sie würde sich nun vielleicht lang und breit über die Sache aussprechen, die für ihn schon wie ein Stück Vergangenheit war, an das man sich um keinen Preis mehr erinnern lassen möchte. Sein scheuer und leicht beleidigter Stolz rettete sich am liebsten hinter Schweigen – da war er am sichersten, daß man seine Wunden nicht anrührte.

Er wog den Brief in der Hand und dachte einen Augenblick daran, ihn gar nicht zu öffnen. Aber dann fiel ihm ein, daß Magda ihn nie mit zudringlichen Erörterungen gequält und daß wahrscheinlich in diesen Zeilen nichts zu lesen sein werde als das jubelnde Glück, ihn wieder zu haben. Er bat Magda seine kurze, selbstische Aufwallung ab und erbrach den Brief mit zärtlicher Behutsamkeit.

Seine Augen wurden groß und auf seine Stirn trat eine Zornesfalte.

Was schrieb sie da? – Ihm fehle Willensstärke – und sie müßten sich entsagen –

Er warf den Brief hin. Seine Lippen schlossen sich fest. Er stand wie angewurzelt und starrte vor sich hin.

Mit einem Mal lachte er auf, fröhlich und gut, wie jemand, der sich durch ein Phantom hat erschrecken lassen und beim Näherkommen nun sieht, daß das drohende Gespenst eine ganz natürliche Erscheinung ist.

Die kurze Trübung seiner königlichen Laune war verflogen. Von dem sonnigen Reichtum, der in seiner Seele war, konnte ihm heute niemand etwas rauben. Er setzte sich gleich hin und schrieb an Magda:

„Du Geliebte, Thörichte! Ich soll Dir entsagen? Das wäre ja, als sollte ich nicht mehr dirigieren und nicht mehr komponieren! Und fühle doch eben in allen meinen Nerven, daß ich Willen und Kraft zur That habe. Und durfte doch gerade in den letzten Tagen erkennen, daß Du ein Stück meines Lebens bist. Zürne den Leiden und Erregungen nicht, die uns erschütterten, sie haben uns bewiesen, was Täuschung und was Wahrheit ist.

Du wirfst mir den Mangel an Willensstärke vor, mein Kind. Ein hartes Wort. Gewiß kann Willensstärke Gefahr vermeiden, nur ist es so: man wittert nicht die Gefahr und meint nicht, daß der lustige, prickelnde Scherz uns locken und weiter locken kann, bis er uns mitten in eine unerwünscht ernste Lage hineingebracht hat. Wüßte man immer vorher, wohin das fiebernde Blut, die dämonische Neugier uns führen wird, so gäbe es nur tugendhafte Menschen und glatte Lebensbahnen.

Du meinst wohl, der Wille eines Menschen wie ich sollte einem Eisengitter gleich sein Temperament umschranken? Freilich, Herzensliebste, dann wäre der Löwe gefangen und unschädlich – aber er verliert auch seine königlichen Eigenschaften – die herrschenden und die schaffenden. Ich hoffe, diese letzteren zu entwickeln, zu bethätigen. Laß mir meine Art. Ich leide selbst am schwersten durch alles, was ich nachher bei kaltem Verstand nicht billige. O Du, das sind harte Strafen, die das Selbstgericht verhängt – – ich leide, weil ich Dich leiden machte. Aber es sei nun vorbei! Vielleicht ist es eine Begleiterscheinung des Künstlertums, sich innerlichst unversehrt und unberührt, immer wieder wie ein Phönix aus allen Flammengräbern erheben zu können.

Wenn ich fertig bin mit dem, was vor mir liegt – Du weißt von meinem Werke – dann küsse ich Deine Augen, bis wieder Liebeslicht in ihnen ist. Dein René.“  

Nachdem René mit glücklichem Gesicht diese Zeilen beendet, fiel ihm ein, daß er sie nicht in den Briefkasten werfen, sondern sie morgen durch seine Wirtschafterin hintragen lassen wolle. Und ein großer Strauß von Frühlingsblumen sollte dabei sein – der sollte sie anlachen und ihr ein wenig von der hoffnungsfröhlichen Stimmung hinbringen, die ihn durchglühte.

O, wie wollte er sie entschädigen für die ausgestandenen Leiden! Ein Liebesfest sollte ihr dieser Winter werden, und wenn sein Werk erfüllte, was er davon hoffte, dann wollte er es ihr widmen und auf der ersten Seite sollte zu lesen sein: „Meiner teueren Magda“. Alle Welt sollte es hören – und in dieser Welt die Eine, Tiefverachtete ganz besonders – daß Magda ihm die Höchste war.

Sein Geist kam während der Nacht kaum zur Ruhe vor Arbeitsungeduld.

[809]

Weihnachtsgeheimnisse.
Nach einem Aquarell von Hans G. Jentzsch.

[810] „Daß man nur ein Hirn und nur eine Hand hat,“ seufzte er in sich hinein.

Schließlich schlief er dann doch bis zehn Uhr und war verstimmt, daß er Magda nicht mit dem Brief und dem Blumenstrauß hatte wecken lassen, wie er vorgehabt.

Er saß an seinem Frühstückstisch und beschrieb gerade der vor ihm stehenden alten Frau, was sie für Blumen beschaffen solle, als es klingelte.

„Ich bin für niemand zu sprechen,“ rief René ihr nach, da sie mit ihrem schiebenden Gang hinaustrottete, um zu öffnen.

Das befranzte Wolltuch fester um die Schultern ziehend, kam die Alte wieder herein und sagte mit ihrer belegten Stimme: „Da ist ein Lieutenant. Er war schon gestern da und muß Sie sprechen.“

„Wirklich, ich kann nicht,“ bat René herzlich. „Ist es der Lieutenant Bohrmann? Sagen Sie ihm, ich müsse ungestört sein. Er möge tausendmal verzeihen.“

„Es ist keiner von den Herren, die manchmal kommen. Er sagt, es müsse sein; den Namen hab’ ich nicht verstanden – Köhler oder Kehl – –“

„von Keller?“ fragte René.

Sie nickte.

„Ich lasse bitten,“ sagte er. Keller – Walfrieds Freund und doch ihm selber so wenig zugeneigt, daß er jeden direkten Verkehr bisher gemieden – Keller, in einer wichtigen Sache …

Renés Gesicht versteinerte sich in ernster Höflichkeit. So etwas wie eine schlimme Ahnung wollte ihn anfliegen. Aber er wies das als völligen Unsinn von sich. Niemand wußte etwas – Lilly selbst würde doch nicht den Wahnsinn begehen, ihren Liebesroman zu verraten, in dem sie eine so unrühmliche Rolle gespielt!

Und dennoch … sein Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf vor Erwartung.

Er war in sein Musikzimmer gegangen und stand neben dem Flügel. Er guckte auf die blanke Ebenholzplatte nieder und sah ganz genau, daß sie von Fliegen beschmutzt war, und sah auch, wie sein eigener Oberkörper sich scharf in der Politur wiederspiegelte. Zugleich schrak er zusammen. Die Thür hatte sich geöffnet.

Lieutenant von Keller war eine eigenartige Erscheinung. Im farblosen Gesicht standen ihm runde dunkle Augen, er trug einen schwarzen Schnurrbart und dazu am Kinn noch ein Bartfleckchen, das wie angeklebt aussah. Seine Gestalt war sehr breit, aber nicht dick, denn wenn man ihn von der Seite sah, wirkte die Taille schmal. So hatte seine Figur etwas Plattgedrücktes und René hatte ihm einmal den Spitznamen „der Piquebube“ gegeben, das war als schlagend sehr belacht worden, denn wie der Piquebube im französischen Kartenspiel sah Keller aus.

Und René dachte, als er ihn eintreten sah, „der Piquebube,“ obwohl ihm schwer und ernst ums Herz war.

Die förmliche Verbeugung, welche sie wechselten, der scharfe Blick hin und her brachte sogleich eine feindselige Kälte in die Begegnung, noch ehe ein Wort über den Zweck derselben gewechselt worden war.

René wußte plötzlich zweifellos, was der andere zu sagen kam.

Das helle Morgenlicht des Wintertages fiel durch die Fenster scharf auf Kellers Gesicht. René hatte das Licht im Rücken. Dies war ihm wie eine Wohlthat in den folgenden Minuten.

„Wie ich zu meinem Bedauern höre, Herr von Keller, haben Sie mich gestern vergebens aufgesucht,“ begann René.

Herr von Keller hielt seinen Säbelgriff mit beiden Händen umschlossen und sah mit den runden, dunklen Augen fest in Renés Gesicht. Es war ein Blick, der diesen ärgerte, eigentlich ganz ausdruckslos, aber durch die Stetigkeit doch schwer erträglich.

„Die Mission, in welcher ich mich bereits gestern zu Ihnen begab, ist eine von jenen, die keinen Aufschub leiden.“

Er machte eine Pause, vielleicht zwei Sekunden lang. Sie wirkte entnervend auf René, aber er machte nur eine Bewegung mit den Fingern und schloß die Lippen fester.

„Ich suchte und suche Sie im Auftrage meines Freundes, des Herrn von Wallwitz,“ sprach Keller langsam weiter. „Er fühlt seine Ehre durch Sie in einer Weise gekränkt, daß er Genugthuung von Ihnen fordert. Als sein Sekundant stehe ich vor Ihnen, Herr Hofkapellmeister, und überbringe Ihnen die Forderung.“

René schwieg zunächst. Da das entscheidende, das erwartete Wort gesprochen war, kam eine völlige Ruhe über ihn. Er dachte nur mit einer Art von Neugier, ob Keller wisse, um welche „Ehrenkränkung“ es sich handle und ob sie bei den üblichen Vermittelungsversuchen noch zur Sprache kommen werde und auf welche Weise Walfried wohl von der Thorheit seiner Schwester erfahren habe. Diese Neugier trieb ihn zu fragen:

„Die Angelegenheit, um die es sich handelt, ist Ihnen bekannt?“

„Sie ist mir bekannt,“ versetzte Keller mit eisiger Haltung.

Ein bitteres Lächeln spielte um Renés Mund. Er dachte darüber nach, ob die Angelegenheit denn den Männern, die sich feindlich gegen ihn bewehrten, auch recht bekannt sei, ob Walfried wohl wisse und recht zu beurteilen vermöge, wie schwer denn Renés Schuld wiege. Ob Walfried wohl standhaft wie ein Cato geblieben sein würde, wenn ein heißes, junges Geschöpf sich ihm ungerufen in die Arme geworfen und gesagt hätte, „ich liebe Dich!“ Und ob Walfried wohl etwas davon erfahren habe, daß er – René – als Dank für diese unerbetene Liebe dem Mädchen sein Leben und seine Freiheit angeboten habe? Daß aber Lilly sie gar nicht gewollt hatte!

Er begriff den Zusammenhang nicht ganz. Er war ihr zu gering gewesen zum Heiraten und doch wichtig genug, daß sie ihn vor die Pistole des Bruders fordern ließ?

„Das wird mir immer verborgen bleiben,“ dachte er und doch blitzte zugleich ein Verständnis, eine Ahnung der Wahrheit in ihm auf: es war die Rache für sein „Pfui“ und auch vielleicht das Mittel, ihn und Walfried für immer voneinander zu entfernen.

All’ diese Gedanken flogen blitzschnell durch sein Hirn.

Er atmete schwer auf.

Dann fiel ihm ein, daß er einen Sekundanten haben müsse und daß die ganze Sache ungemein verwickelt und zeitraubend sei. Er ärgerte sich plötzlich. Und vor diesem alltäglichen Gefühl des Aergers verschwand alle tiefere Erregung.

„Ich werde hoffentlich meinen Freund, den Maler Nicolai, bereit finden, mir in dieser Sache zu dienen,“ sagte er mit seinem gewöhnlichen, ruhigen Ton, „jedenfalls bitte ich Sie, meinen Sekundanten zur Besprechung zu erwarten, und erkläre mich von vornherein zur Annahme aller Bedingungen bereit, die Wallwitz stellen sollte.“

„Diese Erklärungen haben Sie Ihrem Sekundanten zu überlassen,“ sprach Keller belehrend.

René fuhr fort, sich zu ärgern. Die ganze Geschichte kam ihm wie eine Farce vor. Er hatte wahrhaftig etwas Besseres zu thun, als um eines sensationslüsternen Mädchens willen sich zu duellieren, wobei es doch auf nichts Weiteres herauskam, als auf ein paar harmlose Schüsse und ein nachheriges Händeschütteln.

„Bringen wir also die Sache so schnell wie möglich zum Austrag,“ sagte er durch Kellers Ton gereizt, seinerseits einen hochmütigen anzuschlagen.

Keller verbeugte sich schweigend, René begleitete ihn bis zur Thür. Dort verbeugten sie sich nochmals voreinander. Kaum war die Thür ins Schloß gefallen, so fing René an zu lachen. Es war so komisch gewesen, wie der „Piquebube“ sich mit Todesernst in den Mienen verneigt hatte – in der ihm eigenen Art einmal tief und ein paarmal kürzer, wie ein Körper, der noch etwas schwingt, ehe er zur Ruhe kommt.

Das hatte nun gerade noch gefehlt! Adieu, schöne Arbeitsstille, wenigstens bis morgen!

Wie ihm nur Nicolai eingefallen war? Er stutzte plötzlich, als ihm das zum Bewußtsein kam. Dann lächelte er glücklich in sich hinein. Der gute Mensch war wie ein Stück von Magda und die Zuverlässigkeit in Person. Beinahe schien es ja widersinnig, gerade Magdas besten Freund zum Sekundanten zu wählen, bei einem Zweikampf, der nicht um Magda ausgefochten ward. Aber René bereute die Wahl nicht. Nicolai war jedenfalls verschwiegen wie das Grab, und es erschien René wie so ein bißchen poetische Gerechtigkeit, Magda auf diese Art gleichsam vertreten sein zu lassen bei dem Duell um Lilly.

Er war wieder ganz vergnügt und sagte sich „Nur schnell, nur schnell“. Auf dem Wege zu Nicolai dachte er, daß er Doktor Magius als Arzt nehmen könne und daß er Nicolai sagen wolle, den Lieutnant Bohrmann als Unparteiischen vorzuschlagen. Bohrmann stand ihnen beiden, Wallwitz wie ihm selbst, gleich nahe. Die ganze Sache ward ihm von Minute zu Minute mehr eine [811] Komödie, die seine heißersehnte Ruhe störte, und wenn er bis jetzt Lillys Andenken noch mit einer kräftigen Verachtung beehrt hatte, die schließlich doch immer eine Form nicht ganz erstorbenen Interesses ist, so wurde sie ihm jetzt einfach langweilig und er fand die ganze kleine Person mit ihrer rasch vorübergerauschten Verliebtheit für ihn gar nicht wichtig genug, als daß eine Anzahl von Männern eine Berufsstörung ihretwegen ertragen sollte.

Er klopfte bei Nicolai an und er fand Magda und fand einen Sterbenden – – –

Als er zehn Minuten später wieder auf der Straße stand, war er ein anderer geworden.

Seine Wangen waren bleich, seine Züge verschärft. Mit raschen Schritten ging er vorwärts. Es galt zunächst, einen andern Sekundanten suchen. Er dachte einen Augenblick an Bärwald, der einige Semester Medizin studiert hatte, ehe er zur Bühne ging, und als alter Corpsstudent mit allen hier in Frage kommenden Förmlichkeiten wohl vertraut war. Aber ein entschiedenes Gefühl verbot ihm, jemand vom Theater hinzuzuziehen. Er entschloß sich für den Lieutenant Bohrmann. Er nahm einen Wagen und fuhr zur Kaserne hinaus.

Bohrmann hatte gerade sein Morgenpensum an Rekrutendrillen hinter sich und lag auf seinem Sofa, angethan mit einer alten Hausjacke und niedergetretenen Pantoffeln. Es war eine fürchterliche Hitze im Zimmer, der Bursche kniete vorm Ofen und legte noch nach.

Als René fünf Minuten im Zimmer gewesen war, fühlte er sich elend und bat um die Erlaubnis, das Fenster öffnen zu dürfen. Bohrmann, ein hübscher blonder Mensch mit einem lustigen Gesicht, befand sich in einer andauernden Verlegenheit.

Kleid und Situation waren so gar nicht im Einklang; er fürchtete, beinahe lächerlich zu wirken, indem er in schlurrenden Hauspantoffeln und einer gräulichen alten Jacke die Präliminarien eines Duells besprach.

Aber René bemerkte gar nichts davon. Er hatte nur das eine Gefühl, den Fall so schnell wie möglich zu erledigen, um wieder allein sein zu können. Er drückte Bohrmann dankbar die Hand, als er ihn bereit zu dem geforderten Dienste fand. Dann eilte er davon und warf sich wieder in den Wagen.

Er schloß die Augen. Umsonst! Vor den geschlossenen Lidern, wie vor den weit geöffneten Augen stand immer dasselbe Bild: der sterbende Nicolai.

Es war doch etwas Fürchterliches: der Tod! Nur nicht daran denken, heute und jetzt! Er versuchte mit aller Gewalt, sich wieder in die gleichmütige Stimmung von vorher zu versetzen.

In seinem Gedächtnis stöberte er alle Duellgeschichten auf, von denen er je gehört. Im Grunde war nicht mehr Gefahr dabei als bei seiner Droschkenfahrt in diesem Augenblick. Tausend Menschen fahren im Wagen, mit dem Tausendundeinsten gehen einmal die Pferde durch. Alle Tage duellieren sich irgendwo ein paar Menschen, man erfährt nichts davon, alles verläuft glatt – es ist von hundert Fällen neunundneunzigmal nur eine umständliche Form der Revocierung.

René kam zu dem Schluß, daß nicht das bevorstehende Duell, sondern ganz allein der Anblick Nicolais ihn so nervös gemacht habe.

Was mußte nun erst die arme Magda leiden bei ihrem traurigen Amte!

Es durchschauerte ihn. Und es fiel ihm schwer auf die Seele, wie schroff er zu ihr gewesen.

„Ich konnte nicht anders,“ murmelte er in sich hinein, „es war meine einzige Waffe. Sonst wär’ ich weich geworden.“

Aber jetzt in diesem Augenblicke hätte er Magda neben sich haben mögen, ihre Hand still in der seinen, ihre Wange an seiner Schulter, um so in ihrer schweigenden Nähe eine harmonische Lebensfreude zu fühlen.

Daß sie ihn angerufen hatte, als ob sie um das Duell wisse, war ihm ganz aus dem Gedächtnis verschwunden oder doch als nichts Auffallendes darin haften geblieben. Er fühlte sich so eins mit Magda, daß er sich kaum gewundert haben würde, sie jetzt in seinen Hause zu finden.

Aber in seiner Wohnung war es still und leer. Auf dem Tisch lag noch der unbeförderte Brief an Magda; infolge der unterbrochenen Verhaltungsmaßregeln hatte die Wirtschafterin nicht gewußt, ob sie ihn besorgen solle oder nicht.

Was darin stand, schien René jetzt nicht wichtig genug, um eiligst mitgeteilt zu werden. Er ließ den Brief liegen.

Er versuchte zu arbeiten. Er fand, daß er nicht einmal imstande war, die skizzenartigen Aufzeichnungen aus dem „Posthorn“ in klare Notenschrift zu übertragen. Er warf die Feder hin und setzte sich an den Flügel. Die Töne thaten ihm weh und er fühlte ihre Resonanz im Magen mit körperlichem Schmerz – ein Zeichen höchster Nervosität.

Wie bleiern die Zeit schlich! Wenn doch nur Bohrmann erst käme!

Ob Nicolai schon ausgeatmet hatte? Was für Stunden die arme Magda an dem Totenbett durchleben mochte! Sie verlor in jenem einen guten, ja ihren besten Freund.

„Er hat ihr mehr wohlgethan als ich,“ sagte er sich voll Selbsterkenntnis. „Was hab’ ich ihr denn gebracht als Qual und Unruhe! Und jetzt wieder … sie wird vor Sorgen vergehen. Als ich in ihr Leben trat, dachte sie, es sei das Glück. Vielleicht ist es das Unglück gewesen – jedenfalls beides zusammen – vielleicht ist es immer so bei einer wahren tiefen Liebe – sie wird dem rechten Weib zugleich Wonne und Schmerz.“

Bohrmann hätte schon längst da sein können. Rastlos ging René durch die Flucht seiner Zimmer hin und her.

„Ich bin das Warten nicht gewöhnt,“ sagte er sich. Seine Stirn feuchtete sich vor Ungeduld. Daß zur selben Stunde andere für ihn verhandelten und besser über das Bevorstehende unterrichtet waren als er selbst, kam ihm fast albern vor. Er, der Nächstbeteiligte, mußte hier thatenlos warten.

„Warten – das ist eine feige Beschäftigung,“ dachte er. „Und sie macht feige! Mir wird besser werden, wenn Bohrmann dagewesen ist.“

Am Nachmittag endlich kam Bohrmann. Sein flottes Gesicht hatte einen recht ernsten Ausdruck angenommen. Er tupfte fortwährend mit den Fingern an den nach aufwärts auseinanderstrebenden blonden Schnurrbartspitzen und räusperte sich mehrfach.

Auf dem Schreibtisch brannte eine Säulenlampe, René saß davor, den Stuhl seitwärts geschoben, die Beine übereinander geschlagen, die Fingerspitzen gegeneinander spielen lassend, und wartete, bis Bohrmann sich ausgesprochen hatte. Der Lieutenant, auf einem kleinen Sessel neben dem Diplomatentisch, war vom Licht, das durch einen orangefarbenen Schirm brach, mit warmem Schein wie übergossen.

Es war alles in Ordnung. Sie begnügten sich jeder, Wallwitz wie René, mit einem Sekundanten. Doktor Magius wollte René, der Stabsarzt Doktor Friedrichs Wallwitz beistehen. Als Unparteiischen hatte man den Lieutenant von Plüskow gewählt. Waffe: Pistolen. Schauplatz: die Moorwiese, morgen früh halb Neun. Bedingung: zehn Schritte Distanz und gleichzeitiges Schießen, dreimaliger Kugelwechsel.

Bohrmann erzählte sehr umständlich, René aber hörte und hielt sich nur an die wichtigen Hauptpunkte. Ihm kam es vor, als ob die Sache nun erst wirklich geworden sei, aus einem Spiel der Phantasie sich zur Thatsache gestaltet habe. Als habe er vorher nur daran gedacht wie an etwas, das ihn selbst kaum etwas angehe.

Morgen früh halb neun Uhr sollte er sich schlagen, allmächtiger Gott, und warum – –!

Ein bitteres Lächeln ging um seinen Mund. Bohrmann beobachtete ihn sehr aufmerksam.

„Sie sind nervös, lieber Flemming,“ sagte er voller Sorge.

„Nein, nein,“ behauptete René hastig.

„Wer wäre das auch nicht, am Vorabend eines Duells,“ sprach Bohrmann weiter. „Gewiß betreten Sie beide das Terrain mit dem Vorsatz, einander zu schonen. Wie sollte auch Wallwitz, der sie so lieb gehabt hat, daran denken mögen, Sie übern Haufen zu schießen! Und wie sollten Sie zu der Kränkung, die Wallwitz durch Sie erfuhr, noch die Absicht fügen, ihn zu töten – – aber doch, lieber Flemming – in solchen Augenblicken ist das Schicksal unberechenbar und die sichersten Schützen können nicht für den Lauf einstehen, den ihre Kugel nimmt.“

René fuhr aus schwerem Nachsinnen auf. „Nein, gewiß nicht, ich habe nicht den Vorsatz, Wallwitz ein Haar zu krümmen,“ sagte er halblaut, „aber, daß ich mich hinstellen soll und ihm meine Brust darbieten – ihm – –“

Er verstummte.

[812] „Ich begreife, daß es besonders schwer ist, weil er Ihr Freund war,“ meinte Bohrmann gedrückt.

„O nein,“ rief René lebhaft. „Er war gar nicht mein Freund. Wir haben zusammen getrunken und gelacht und uns intime Geschichten erzählt, uns nie gestritten und gern einander gewürdigt: ich seine ernste anständige Art, er meinen Frohsinn und mein Talent. Das nennt man dann Freundschaft. Im Grunde ist es nichts als Bethätigung gleichen Geschmacks bei der Vertrödlung von Mußestunden. Er oder ein anderer! – Bohrmann, es ist der Grund, der mir die Sache schwer macht! Um ein Nichts! Um einer Laune willen, der ich mich mit erregten Sinnen zum Werkzeug lieh. Um eines Kusses willen, für den ich tausend Entschuldignungen habe!“ Er schwieg, um nicht mehr zu sagen, um nicht zu rufen: ich, gerade ich, der seinen Nacken vor niemand beugt, muß die tiefe Demütigung erfahren, daß ein eitles Mädchen mich zum Spielzeug macht, erst seiner Liebe, dann seines Hasses.

Und beide Male ging das Spiel um sein Leben.

Bohrmann war im allgemeinen nicht gewohnt, sehr viel über die außergewöhnlichen Verknüpfungen des Lebens nachzudenken. Dieser Fall aber traf bei ihm Saiten, die auch schon angeklungen waren in seinem erfolgreichen jungen Lieutenantsleben.

„Sehen Sie ’mal, Flemming, das sind Sachen, über die ich mir auch schon das Gehirn zerdacht habe. Wenn man immer alles den guten Leuten erklären könnte, würden sie es klein kriegen, daß wir nicht immer so schuldig sind, wie die Geschichte sich ansieht. Meistens kommt es doch darauf hinaus: halb zog sie ihn, halb sank er hin. Und wenn das alles immer tragisch ausgehen sollte, wo bliebe da das Pläsir – dann dürfte man ja nicht ’mal mehr ’nem netten Mädel ein bißchen deutlich die Cour schneiden. Aber das Verfluchte ist eben, daß man nichts erklären darf und noch ritterlich den reuigen Sünder zu spielen hat.“

„Den reuigen Sünder?“ wiederholte René und sah, in Nachdenken verloren, starr auf den Lampenschirm. Er dachte erstaunt darüber nach, daß er eine Reueempfindung nicht gehabt habe und sich auch gar nicht vorstellen konnte.

„Man muß nie zurück sehen, immer nur vorwärts,“ sagte er, „was war, war nötig. Es reift irgend etwas in uns. Alles bringt vorwärts, die Thorheiten wie die nützlichen Thaten. Alles ist Entwicklung!“

„Das will ich mir merken, das kann man ’mal anwenden,“ sprach Bohrmann bewundernd.

Sie schwiegen ein Weilchen. Bohrmann dachte daran, daß er René jetzt zart ermahnen müsse, für alle Fälle seine Sachen zu ordnen. Es war nicht angenehm, einem netten Menschen sagen zu müssen: bereite Dich immerhin auf Deinen Tod vor.

„Wir werden Plüskows Pistolen haben,“ sagte er als Einleitung.

René schwieg.

„Sie sind ja ein famoser Schütze,“ fuhr er fort, „ich erinnere mich – vorigen Sommer – an unserm Pistolenscheibenstand – wir waren damals beinahe ein bißchen eifersüchtig.“

René schwieg.

„Mag der Teufel wissen, wo er seine Gedanken hat,“ dachte Bohrmann.

„Sie werden jetzt zu thun haben – noch Papiere zu ordnen – ich verlasse Sie – ich komme noch ’mal wieder und helfe Ihnen über den Abend weg.“

René fuhr auf.

„Nein, lieber Bohrmann. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Aber lassen Sie mich allein,“ sagte er.

„Nun, also hol’ ich Sie morgen früh ab. Der Wagen ist bald nach sieben vor der Thür. Man fährt gut und gern eine Stunde bis zur Moorwiese. Magius fährt mit uns. Friedrichs und Plüskow fahren für sich und Wallwitz und Keller. Aber wenn ich doch lieber heut’ abend wiederkommen soll? … Sie sind sehr nervös.“

„Nein, ich bitte Sie,“ sprach René mit dem Ausdruck hoher Qual.

„Ich verstehe – Sie haben sicher viel zu ordnen. Aber trachten Sie, Aufregung zu vermeiden. Schlafen Sie gut. Es wird ja alles unblutig verlaufen. Es wäre schade – zu schade – –“

Bohrmann fühlte eine eigene Ergriffenheit. Er schüttelte René fest und lange die Hand. Er hatte ihn geradezu lieb in diesem Augenblick.

Nun war René wieder allein. Alles war wie vorher: das stille Behagen im Zimmer und der von warmen Farbentönen gesättigte Lampenschein, die Papiere auf dem Schreibtisch und der blanke Wiederglanz des Lichts auf der schwarzen Flügelplatte.

Und doch: alles war anders. Die toten Gegenstände belebten sich und schienen zu dem Mann zu reden, der zwischen ihnen stand und sich wirr umsah.

In seinem Ohr lag der Nachhall von allerlei Worten, die der andere gesprochen, von Papieren, die noch zu ordnen seien und daß es schade, sehr schade sein würde – –

René stürzte an seinen Schreibtisch. Mit bebenden Fingern riß er die Partitur seines Werkes heraus. Die losen Blätter wühlte er durcheinander, die schon ausgeschriebenen und die mit flüchtigen Notizen bedeckten.

Ja, da war etwas zu ordnen, viel – ein ganzer Lebensinhalt, ein ganzer Lebenszweck! Ihm schien es, als habe er um dieses Werkes willen vom Schöpfer aller Dinge einst Atem bekommen; als sei er geboren worden, unter heißer Arbeit und starken Kämpfen erwachsen und gereift, um es schaffen zu können; als seien alle seine Tage nur Vorstufen gewesen bis zu dem Tag, der ihm die Kraft und das künstlerische Wissen gab, dies Werk zu vollenden.

Und ein lächerliches Schicksal sollte ihm dies entwinden? Ihn hinweglöschen aus der Reihe der Lebenden, der Schaffenden? Unvollendet sollte diese That bleiben, mit der er seinem Volk eine edle Gabe zu bieten gedacht?

Ein wahnwitziger Gedanke kam ihm. Wenn er sich jetzt hinsetzte und schrieb und schrieb – – – die Nacht hindurch, den Morgen heran, bis die Freunde kamen, ihn zum Todesgang abzuholen?

Unbändiger Trotz wallte in ihm auf. Seine Augen flammten.

(Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten. 
Alle Rechte vorbehalten.     

Die Armenier.

Von Emil Jung.

Für den Philister nach Goetheschem Rezept wird in unseren Tagen recht ausgiebig gesorgt. Kaum ist der Riß zwischen den beiden rivalisierenden Völkern im fernen Osten Asiens mühsam verklebt worden, so fangen auch „hinten, weit, in der Türkei“ die Völker an, aufeinander loszuschlagen. Eine orientalische Frage beschäftigt wiederum die europäischen Diplomaten, ja scheint allmählich eine ernste Wendung zu nehmen. Wieder hat sich gezeigt, daß die türkische Regierung weder fähig noch willens ist, ein gedeihliches Verhältnis zwischen ihren mohammedanischen und christlichen Unterthanen herzustellen.

In den jetzt in so blutigen Zügen verzeichneten Fällen handelt es sich um die christlichen Armenier. Die Tageszeitungen haben ausführlich berichtet, mit welch brutaler Grausamkeit ihre endlichen Versuche, den ihnen zugesicherten Rechten Geltung zu verschaffen, in Konstantinopel, Trapezunt, Erzerum begegnet wurde. Armenische Männer und Frauen sind dabei zu Hunderten hingemetzelt worden. Nicht zum erstenmal hat Europa sich mit der Lage dieses Volkes beschäftigt. Schon der Berliner Kongreß vom Jahre 1878 legte der türkischen Regierung die Verpflichtung auf, eine Reform der armenischen Verhältnisse durchzuführen und den europäischen Mächten jedes Jahr darüber Rechenschaft abzulegen. Aber dieser Verpflichtung ist die Hohe Pforte niemals nachgekommen, ja sie behauptete allen Mahnungen gegenüber, daß für die Armenier ein Grund zu klagen gar nicht vorliege, daß ihre Lage vortrefflich sei. – Was sagen dagegen die Armenier?

Greuelthaten, Räubereien, Mordversuche sind schon seit vielen Jahren, so geht ihre Klage, in der Türkei gegen sie im Schwange. Der Armenier ist jede Minute gewärtig, daß ihm sein Hab und Gut, sein Weib und Kind, seine Ehre und selbst sein Leben genommen werden.

[813]

Zum erstenmal auf dem Weihnachtsmarkt.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

[814] Heute noch bewegen sich die schönen Armenierinnen in Männerkleidung, um nicht dem Harem zum Opfer zu fallen. Seine Religion darf der Armenier nicht offen bekennen und frei in die Kirche seiner Väter gehen. Er darf sich keines Glücks erfreuen, denn er weiß nicht, wie lange er es besitzt. Heut’ ist er reich und freut sich über seine zahlreiche Kinderschar, von welcher er geachtet und geliebt wird, morgen schon kann er arm und von allen seinen Lieben verlassen sein! … Auf diese Klagen hat die Pforte mit neuen Greuelthaten geantwortet, die nach ihrer eigenen Darstellung den Charakter berechtigter Abwehr für sich in Anspruch nahmen.

Bis zum Ausbruch dieser offenen Verfolgung waren die Armenier in Konstantinopel und in den großen Hafenstädten der Levante vor ähnlichen Heimsuchungen einigermaßen geschützt. Die Anwesenheit der Vertreter Rußlands, das sich der ihm nahestehenden Glaubensgenossen immer kräftig angenommen hat, und auch Englands, das in neuester Zeit wiederholt für die Armenier eingetreten ist, hatte bisher eine gute Wirkung gethan. Auch jetzt steht zu erwarten, daß der europäische Einfluß in dieser Zone bald Frieden stiften wird. Aber wer schützt den Armenier im Inneren des wegelosen Reichs?

In ihren alten Stammsitzen, dem großen Hochland, das sich um die mächtigen Zwillingsriesen des Großen und Kleinen Ararat ausbreitet, wohnen neben ihnen jetzt die mohammedanischen Kurden, die eine Raubthat in gleichen Ehren halten mit kriegerischer Heldenthat. Sie sind geschworene Feinde der Türken, doch haben diese es verstanden, den Kurden gegen den Armenier auszuspielen. Während sie diesen das Tragen von Waffen, ja sogar eines einfachen Messers, verbieten, gestatten sie jenem den unbeschränkten Gebrauch jeder Art von Mordwerkzeugen. Auch sind sie in einigen Gegenden noch völlig von der türkischen Regierung unabhängig.

Kein Wunder, daß die Auswanderung der Armenier aus diesem Gebiet in andere Länder, in denen sie Schutz für ihre Person und ihr Eigenthum erwarten dürfen, sehr stark ist. Zu Hunderttausenden sind sie fortgezogen, meist bei Nacht, um ihren Peinigern zu entrinnen, ihre Häuser und Aecker preisgebend, wenig mehr als die kärglichste Habe mit sich nehmend. Kein Wunder, daß oft mehr als die Hälfte dieser Pilger auf dem langen und beschwerlichen Wege unterging. In allen Teilen des Landes sieht der Reisende verfallene Häuser und Hütten, deren einstige Bewohner fortgezogen sind, niedergebrannte, von den Kurden zerstörte und geschändete Kirchen. Geht das so fort, dann werden die Türken allerdings im Recht sein, wenn sie behaupten, daß von einer Selbstverwaltung der Armenier gar keine Rede sein könne, da es im eigentlichen Armenien überhaupt keine Armenier gebe. Und auf dieses Endziel hat die türkische Regierung seit langer Zeit hingearbeitet. Ließ doch schon im 14. Jahrhundert Sultan Orchan jährlich 40 000 armenische, griechische und slavische Christenkinder ihren Eltern rauben und den Janitscharen zur Verfügung stellen! Aber wenn die Masse der Armenier nicht in Armenien selber wohnt, wo sind sie denn sonst zu finden?

Nicht mit Unrecht sagt Professor Häckel in Jena, daß eine Reise durch das unkultivierte Innere von Kleinasien schwieriger sei als durch die meisten Teile von Australien oder Afrika. Eine genaue Ermittelung der Bestandteile der dortigen Bevölkerung muß daher als ausgeschlossen gelten, zumal die türkische Regierung derartigen Unternehmungen entschieden feindlich gegenübersteht. Dennoch und trotz aller gegenteiligen Behauptungen von türkischer Seite darf man die Zahl der Armenier überhaupt auf mindestens 3½ Millionen veranschlagen, wovon im eigentlichen Armenien etwa 2 Millionen, in Persien 45 000, in der europäischen Türkei 500 000 (in Konstantinopel allein 156 000), in Russisch-Kaukasien 975 000, der Rest in Griechenland, Bulgarien, Serbien, Siebenbürgen, Ungarn, Galizien, Oesterreich, Italien, Aegypten wohnen. Die Hauptmasse des armenischen Volks hält also noch immer an den alten Stammsitzen fest, mehr als eine halbe Million ist weithin über Europa verstreut!

In dem alten Stammlande können wir den Armenier am besten kennenlernen, wenngleich er auch anderswo, umgeben und angeregt von fremden Einflüssen, seine nationalen Eigentümlichkeiten, die körperlichen wie die geistigen, in wunderbarer Reinheit erhalten hat. Ein arischer Stamm, seit Urzeiten die Grenzgebiete Asiens und Europas bewohnend, von wechselnden Geschicken erhoben und erniedrigt, haben die Armenier mit großer Zähigkeit allen Versuchen der Entnationalisierung widerstanden. Unterjocht von Babyloniern und Persern, beherrscht von Türken und Russen, haben sie ihre Religion, ihre Gewohnheiten, ihre Sprache und ihre Rasse erhalten. Mit sehr seltenen Ausnahmen heiraten sie innerhalb ihres Volks, das noch heute ein Gepräge trägt, als ob es sich seit Jahrtausenden wenig verändert hätte.

Mehr kräftig als schön gebaut, sind sie etwas schwerfällig in ihren Bewegungen und werden deshalb viel von den Russen verspottet. Ueppiger Haarwuchs bedeckt meist fast den ganzen Körper der Männer, bei jungen Mädchen ist der Jugend und Rasse bezeichnende Schläfenbüschel nicht selten bis auf die halbe Wange verlängert, viel seltener schmückt auch in späteren Jahren die Oberlippe ein Schnurrbärtchen, wie wir ihn bei Südländerinnen häufig genug sehen. Charakteristisch für beide Geschlechter ist die starke Neigung zur Fettleibigkeit. Wie alle Südländerinnen verblühen auch die Armenierinnen schnell, meist schon nach dem siebzehnten Jahr, nach Zurücklegung des dreißigsten werden sie oft übermäßig stark.

Eine armenische Nationaltracht giebt es eigentlich nicht, die als solche bezeichnete ist grusinisch. Sie ist sehr gefällig und kleidsam, namentlich für die Frauen, die mit dem gestickten Stirnband und dem weißen halblangen Schleier weit vorteilhafter erscheinen als die modern europäisch gekleideten Frauen.

Moltke hat uns in seinen Briefen aus der Türkei ein treffliches Bild armenischer Häuslichkeit geliefert. Er schildert das innige Familienleben, das häufig die Eltern mit den verheirateten Söhnen unter einem Dache vereinigt. Denn der Armenier fühlt sich am behaglichsten im eigenen Hause, einem orientalisch palastähnlichen, wenn er reich, einem Holzgebäude, wenn er arm ist. Hier wohnen die Familienglieder einigermaßen selbständig und gesondert, in Ehrerbietung um das Familienhaupt geschart. Tritt der Vater ein, so erheben sich sofort die Söhne, wenn sie auch selbst schon Männer von fünfzig Jahren sind. Gleiche Ehrenbezeugung wird der Mutter erwiesen. Der jüngere Bruder raucht nicht eher, als bis der ältere ihn dazu einladet. Bei dieser strengen Etikette herrscht aber im übrigen die größte Ungezwungenheit in der Familie.

Als Christin ist die Armenierin keineswegs vom Verkehr ausgeschlossen wie die Mohammedanerin. Sie macht jedoch von dieser Freiheit nur einen beschränkten Gebrauch; sie geht nicht spazieren und verläßt das Haus nie ohne besondere Veranlassung und nie ohne Begleitung. Sie waltet vornehmlich im Hause, nähend, strickend, spinnend, sie ist in erster Linie Hausfrau und Mutter und bewahrt sich, dem öffentlichen Leben fernbleibend, weibliches Wesen und weibliche Würde viel leichter als Frauen, welche in den Kampf des Lebens eintreten müssen.

In seinem Stammlande Ackerbauer und Hirte, ergreift der Armenier in der Fremde jede Beschäftigung, die ihm Erwerb schafft. Im Wilajet Wan giebt es kein Haus, das die Armenier nicht erbaut hätten, keinen einheimischen Stoff, der nicht von ihnen gewebt wäre, kaum eine Frucht, die nicht aus ihren Gärten stammte. Sie wandern gern in die Fremde und man begegnet ihnen in Trapezunt, wie auch sonst in vielen Städten Kleinasiens, in Konstantinopel und anderen Orten, wo sie besonders als Maurer, Handarbeiter und Lastträger thätig sind, um nach einiger Zeit mit den kargen Ersparnissen zu der zurückgelassenen Familie heimzukehren, die inzwischen für den kleinen Acker sorgt. Ganze Dörfer sind dann oft von der gesamten männlichen Bevölkerung verlassen.

Aber wohin die Armenier auch kommen mögen, nirgends sind sie beliebt. Von den Russen werden sie verspottet, bei den Grusinern sind sie verhaßt. Denn der ritterliche Grusiner verachtet die Arbeit und so gehen seine Besitzungen in die Hände des rührigen Armeniers über. In Bezug auf sein Geschick in kaufmännischen Geschäften soll er Griechen und Juden nicht nachstehen. Dabei rühmt man den Armeniern Friedfertigkeit, Mildthätigkeit, Arbeitsamkeit und Enthaltsamkeit nach. Als Geldwechsler, Bankiers, Kaufherren, hausierende Krämer sind sie in Rußland, Persien und Indien, in den großen Handelsstädten des Mittelmeers und des österreichischen Kaiserstaats, ja bis nach Westeuropa hin thätig. Ueberall sind sie erfolgreich. Es geht ihnen wie (nach des englischen Geschichtschreibers Macaulay Ausspruch) den Schotten im Verkehr mit den Engländern. So sicher, wie bei einer Mischung von Oel und Wasser das Oel bald oben schwimmt, so sicher gewinnt auch der Armenier die Oberhand, wenn er in Wettbewerb mit Kaufleuten anderer Nationen tritt.

[815] Er weiß auch sehr wohl, daß Wissen Macht bedeutet. Sobald er es zu etwas gebracht hat, sorgt er dafür, daß seine Kinder etwas lernen. Besonders begabt zeigt er sich für Rechnen, für Mathematik, wissenschaftliche wie praktische. Die Zahl der Armenier auf den europäischen Universitäten wird auf 500 geschätzt, die meisten studieren in Rußland, etwa 100 in Paris, 40 in Deutschland. Die deutsche Sprache lernen sie mit Vorliebe und sprechen sie auch gut, vielleicht weil die Aussprache mit der ihrigen manche Aehnlichkeit hat. Der Drang nach Bildung ist allgemein. In ärmlichen Gebirgsdörfern findet man oft ein Schulgebäude mit fleißigen Schülern, groß und klein, angefüllt.

Kein Wunder denn, daß sie auf allen Gebieten tüchtige Leute, ja ausgezeichnete Köpfe aufzuweisen haben, viele gute Aerzte, gelehrte Geistliche, Astronomen und, obwohl kriegerischer Sinn und Liebe zum Waffenhandwerk keiner ihrer Nationalzüge ist, auch tüchtige Generale wie Lazarew und Tergukassow in Rußland, wo Staatsmänner armenischer Herkunft wie Loris Melikow und Delianow hervorragenden Anteil an der Leitung der Geschäfte des Kaiserreichs hatten. In Konstantinopel befinden sich viele der höchsten Posten in den Händen von Armeniern, die sich aber freilich zum Islam bekennen. In der Künstlerwelt haben Namen wie die der Maler Adamianz und Aiwasowsky einer guten Klang.

Trotz ihrer Zerstreuung über fremde Länder fühlen die Armenier sich als ein besonderes Volk; Sprache und eigene Litteratur bilden das vereinigende Band, und in der Heimat haben sie ihren nationalen und religiösen Mittelpunkt. Das Kloster Etschmiadsin unweit Eriwan in Transkaukasien, Sitz des Katholikos aller Armenier und einer armenisch-gregorianischen geistlichen Akademie, enthält eine kostbare Bibliothek und eine Druckerei, aus der viele seltene armenische Werke hervorgegangen sind. Das armenische Kloster auf der Insel San Lazzaro bei Venedig ist ein altehrwürdiges Denkmal armenischer Wissenschaft und Gelehrsamkeit.

Die Armenier haben sich bis auf die jüngste Zeit von jeder politischen Agitation ferngehalten. Sie haben sich damit begnügt, sich um ihre Kirchen als streng geschlossene Gemeinden zu scharen. Erst in unseren Tagen sind sie in Konstantinopel und in Trapezunt aus ihrer Reserve herausgetreten und haben eine politische Agitation begonnen, die für sie selber jene grausame Verfolgung von seiten der Türken heraufbeschworen hat, welche die menschliche Teilnahme in so hohem Grade herausfordert. Der Schritt war unklug, aber erklärlich. Es war ein Irrtum, zu hoffen, durch eine friedliche Demonstration endlich die Durchführung der ihnen so oft in Aussicht gestellten Reformen bewirken zu können.

Die türkischen Gewalthaber stehen seit langer Zeit den Armeniern feindlich gegenüber. Gerade ihr festes Zusammenschließen erscheint ihnen gefährlich. Der Versuch, sie aus ihrem Stammlande durch Herbeiziehung von Kurden und anderem Räubergesindel zu vertreiben, ist zum großen Teil gelungen. Und er muß gelingen, wenn den Bedrängten keine Hilfe von andrer christlicher Seite kommt.

„Aber,“ so fragen wir mit Ernst Häckel, „soll eins der schönsten, von der Natur am reichsten gesegneten Länder ewig dazu verdammt sein, unter der Herrschaft eines asiatischen, höherer Kultur unfähigen Volkes eine Wüste zu bleiben? Sollen ausgedehnte Landstrecken, die mit Gebirgen und Flüssen, Wäldern und fruchtbaren Ebenen reich ausgestattet sind, nur der Wohnsitz unsteter Nomaden und indolenter Fatalisten sein?“


Gymnastik in der Kinderstube.

Die rauhe Winterszeit fesselt die kleinen Kinder an die Stube, und durch diesen notgedrungenen Aufenthalt in geschlossenen Räumen erwachsen für das junge Geschlecht allerlei gesundheitliche Schäden. Vor allem erleidet die freie Bewegung der Kleinen eine wesentliche Einschränkung. Das Rennen und Jagen in der engen Stube ersetzt ihnen niemals das Umhertummeln im Freien; ja mit der Zeit werden sie laß und faul, was die Uebung des Körpers anbelangt. Dagegen müssen die Eltern einschreiten und das winterliche Spiel derart regeln, daß auch die Bewegung zu ihrem Rechte kommt. Systematische Leibesübungen lassen sich mit den Leutchen in den Kinderschuhen nicht vornehmen, wohl aber giebt es auch eine Kinderstuben-Gymnastik, die, richtig geleitet, sehr gute Früchte tragen kann. Vater und Mutter können mit den Kleinen derart spielen, daß dieselben gewisse Muskelgruppen üben und über bestimmte Körperteile und Bewegungen sicherere Herrschaft erlangen, ja diese Kinderstuben-Gymnastik vermag sogar einer Anlage zu den so überaus häufigen Verkrümmungen des Rückgrates entgegenzuwirken.

Wir wollen an dieser Stelle als Beispiel zunächst einige Beinübungen erwähnen.

Die meisten Menschen sind mehr oder weniger einseitig. Trotz der symmetrischen Anlage des Körpers bilden sie ihre Glieder nicht gleichmäßig aus. Von den beiden Armen und Händen sind in der Regel die rechten vollkommener entwickelt, und ähnlich verhält es sich auch mit den Beinen. Wenn man Erwachsene beobachtet, so bemerkt man, daß bei ihnen fast ohne Ausnahme ein Bein bevorzugt ist. Dieses Bein übernimmt die Hauptarbeit beim Stehen, Gehen etc., und die Folge davon ist, daß dieses mehr benutzte und geübte Glied kräftiger wird. Hält sich dieser Unterschied in mäßigen Grenzen, so bringt er keinen Nachteil. Das bevorzugte Bein wird jedoch öfter merklich länger als das vernachlässigte und alsdann wirkt die Ungleichheit der unteren Gliedmaßen auf das Rückgrat zurück; die Mehrzahl der seitlichen Ausbiegungen des Rückgrats, die man bei jugendlichen Personen als sogenannte hohe Schultern beobachtet, ist auf diese ungleiche Benutzung der Beine zurückzuführen. Besonders deutlich tritt dieser Umstand bei Kindern hervor, welche, bevor sie auf die Füße kommen, sich durch Rutschen fortbewegt haben, denn das Rutschen geschieht stets einseitig durch ein bestimmtes Bein; dieses wird dadurch frühzeitig kräftiger als das andere und bleibt auch später das bevorzugte. Aber auch diejenigen Kinder, welche die Fortbewegung gleich mit dem Gehen beginnen, bevorzugen ein und dasselbe Bein, das, sobald es einmal stärker geworden ist, erst recht zu allen größeren Leistungen herangezogen wird. Dieses Bein muß dann beim Gehen, Hüpfen, Springen, Treppensteigen, ja selbst beim Stützen des Körpers während des Stehens die Hauptarbeit übernehmen. Aus diesem Grunde sollte man die Kinder sobald wie möglich dazu anhalten, beide Beine gleichmäßig zu gebrauchen. Das wird wohl niemals ganz gelingen, aber man wird die Einseitigkeit auf ein geringes Maß zurückführen und in unschädlichen Grenzen halten können.

Solche Beinübungen sind während des Winters in der Kinderstube sehr wohl auszuführen. Selbstverständlich bedarf das kleine Kind noch einer Stütze, eines Anhaltes während seiner ersten gymnastischen Versuche und führt dieselben aus, indem es sich mehr oder weniger an der Hand des Vaters oder der Mutter festhält. Da ist zunächst das Niederlassen zur Hocke hervorzuheben. Das Kind läßt sich, die Füße nicht sehr auswärts gerichtet, die geschlossen bleibenden Fersen abhebend und den Oberkörper gestreckt erhaltend, nieder bis zum Aufsitzen auf den Fersen, um sich dann sofort in den Stand aufzurichten. Ferner sind leichte Sprungübungen zu empfehlen. So kann das Kind den Tiefsprung lernen. Es springt von einem Tritt, einer Fußbank, später von einem Stuhl auf den Fußboden hinab, während der Vater vor ihm stehend es an den Händen und Vorderarmen gefaßt hält und den Aufsprung durch einen gelinden Gegenzug nach oben mäßigt. Die Hauptaufgabe des Erziehers ist bei dieser Uebung, das Kind zum gleichmäßigen Absprung zu bringen.

In derselben Weise kann ein gleichfüßiger Hochsprung geübt werden, zunächst über ein auf den Fußboden gelegtes Band, das allmählich um einige Centimeter erhöht wird. Man geht dann zum Ansprung und gleichfüßigen Hüpfen über. Sehr nützlich sind auch einige für das Kindesalter geeignete Rumpfübungen, z. B. die „Brücke“. Während das Kind auf dem Rücken gestreckt liegt, schiebt man ihm ein Kissen unter den Kopf und ein anderes unter die Fersen; dann hebt es den Körper, soweit er noch auf dem Fußboden aufliegt, ab und erhält ihn zwischen seinen beiden Unterstützungspunkten schwebend. Die Mitte des Rumpfes sei dabei ein wenig, aber nicht stark emporgewölbt. Die anfangs nötige Hilfe erfolgt durch Heben des Körpers bis in die richtige Lage, so daß das Kind in derselben sich nur durch Muskelanspannung zu halten hat.

Eine hübsche Uebung ist auch der Vorliegestütz. Das Kind nimmt zuerst die Bauchlage auf dem Fußboden ein, dreht die Beine möglichst auswärts, so daß die Füße nicht mit dem Fußrücken, sondern mit dem inneren Rande aufliegen. Alsdann werden die Füße gebeugt, d. h. die Fußspitzen angezogen und die flachen Hände auf den Fußboden neben den Schultern aufgestemmt. Nun werden die Arme gestreckt, so daß zunächst der Oberkörper von der Erde abgehoben wird; endlich wird der Bauch eingezogen, bis der Rumpf mit den Beinen eine gerade, allmählich absteigende Linie bildet und nur von den inneren Fußrändern und Handflächen getragen wird. Geübtere Kinder kann man dann „Schubkarren“ fahren, indem man ihre Füße vom Boden abhebt und sie zum Weiterschreiten mit den Händen veranlaßt.

Ein großer Freund und Wohlthäter der Kinderwelt, der Leipziger Arzt C. H. Schildbach, hat für Eltern, Lehrer und Kindergärtnerinnen ein Büchlein geschrieben: „Kinderstuben-Gymnastik“ (Leipzig, Verlag von Veit u. Co.), in dem viele derartige Uebungen angeführt sind, die sich für Kinder vom vollendeten zweiten bis zum fünften und sechsten Lebensjahre eignen. Möchte das Büchlein in Händen sorgsamer Eltern auch nach dem Tode des Verfassers Gutes stiften! Selbstverständlich nimmt man diese Uebungen gelegentlich vor, wahrt bei ihnen trotz des ernsten Zieles den Charakter des Spiels und darf sie niemals bis zur sichtlichen Ermüdung des Kindes fortsetzen. C. F.     


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Als ich noch „wanderte“.

Eine Jugenderinnerung von Max Grube.

Wandertruppen!

Wie das klingt! Wie das wiederhallt im Herzen des jugendlichen Theaterschwärmers, der seinen „Wilhelm Meister“ noch frisch im Gedächtnis hat!

Da ziehen sie hin, eine kleine Schar kunstbegeisterter junger Leute, um einen im Dienste der Muse ergrauten und erprobten Führer geschart, der sie unterweist und leitet. Gering ist der Erwerb, aber groß der Lohn, den sie im eigenen Busen tragen, keine stolzen Hallen prächtiger Schauspielhäuser umfangen sie, nicht vor übersättigten Großstädtern geben sie ihr Bestes preis, in den kleinen Städten und Flecken, ja in Dörfern,

„wo das Herz noch frisch ist und der Sinn gesund“,

verkünden sie das Evangelium der Kunst, angestaunt und bewundert von Hunderten, die sich zu ihren Darbietungen drängen. Und sollte diese Anerkennung auch einmal weniger verständnisinnig ausfallen, sollte sogar die Not des Daseins vernehmlich an die Pforte des wandernden Kunsttempels pochen – sie sind deß getrost, denn sie tragen ja alle den Marschallstab der Kunst im leichten Tornister, sie wissen, daß auch sie dermaleinst einziehen werden über die stattlichen Freitreppen der herrlichen Häuser, die in großen Städten und Residenzen Apoll und den Musen geweiht sind. Dort werden sie den goldenen Lohn ihrer Mühen einheimsen und der kurzen leicht ertragenen Leiden ihrer Lehr- und Wanderjahre gern wie eines Traumes gedenken.

Wandertruppen!

So malt sich’s in den Gedanken manches Jünglings, dem es zu enge wird im dumpfen Hörsaal oder in der Schreibstube des Kaufmanns, so träumt es sich das Herz manches phantasiebegabten jungen Mädchens, das sich zu Höherem berufen wähnt als zum Alltagsleben der Häuslichkeit.

Ein schönes Bild! Wenn es nur der Wirklichkeit entspräche!

Hängen wir es einmal ein wenig tiefer, manches jugendliche Gemüt kann das vielleicht belehren und – bekehren, manchem in den Weltläuften Erfahrenen wird es vielleicht einen Blick gönnen in Ernst und Scherz einer ihm fremden Welt!

Wollen Sie einmal ein paar Tage bei einer wirklichen „Wandertruppe“ mit erleben?

Ja? – Schön!

Also begeben wir uns auf den Bahnhof der Sekundärbahn von Neustadt.

An den Biertischen der Bahnhofsrestauration giebt sich eine gewisse Bewegung kund.

Die Bahnhofsrestauration spielt in kleinen Orten eine viel wichtigere Rolle als in Großstädten, sie ist zu Höherem berufen, als dem eiligen Reisenden eine Wegzehrung zu bieten – hierher wandert der Spießbürger, der sich dem Zeitgeist näher fühlen will. Zwar die älteren Bürger bleiben in den dunklen gewölbten Hallen des Ratskellers oder im Tabaksqualm der kleinen gemütlichen Weinstube am Markt, die jüngere Generation und die „Freigeister“ aber trinken ihr Bier, wenn „der Zug“ kommt, beobachten, ob Herr Meier wieder verreist, wie Frau Kunz ihren Gatten empfängt, stellen tiefsinnige Vermutungen an, wer der fremde, gänzlich unbekannte Herr sein kann, der vom Hausknecht des „Roten Löwen“ in Empfang genommen wird, und erhalten so eine Fülle geistiger Anregungen.

Heute,.heißt es, kommen die „Spielers“ an.

Der Zug hält und aus einigen Abteilen dritter Klasse frachten sie sich aus, die „Spieler.“ Das sind sie, unverkennbar! Zunächst einige Damen, welche ihrem Aeußeren nach schon eine beträchtliche Kunsterfahrung haben müssen. Eine kleine kugelrunde Person mit einem koketten Tirolerhütchen auf einem Tituskopf von gräßlich dürrem, zum Himmel schreienden Strohblond, wie es in gleicher Totheit nur durch lange kunstgemäße Behandlung mit Phosphat erzielt werden kann. Auf der kleinen aufwärtsstrebenden „Vivatsnase“ balanciert ein Klemmer, die Mundwinkel sind zu einem eingefrorenen schalkhaften Lächeln verzogen. Das ist die jugendliche Naive, man erkennt sie sofort an der Art, wie sie neckisch aus dem Wagen hüpft. Ihr folgt ein himmellanger zaundürrer Mensch in einem sehr kurzen, hellgelb gewesenen Sommerüberzieher und einem großkrempigen Filzhut. Eine mächtige Hakennase zieht sich über den schmallippigen verkniffenen Mund; hätte er nicht recht harmlose, nichtssagende graue Augen, welche durch den fast völligen Mangel von Augenbrauen noch ausdrucksloser erscheinen, der Kopf wäre entschieden bedeutend. Offenbar haben wir den Charakterspieler vor uns. Aus der Opferfreudigkeit, mit der er der kleinen dicken Naiven eine Unzahl von Kasten und Schachteln nachschleppt, kann der Menschen- und Theaterkenner ersehen, daß „unlösliche Bande“ die beiden wenigstens für die laufende Saison verbinden.

Hinter einer Dame, in einer rotkarrierten Bluse, mit sehr spitzer, gleichfalls rötlicher Nase und sehr großen Füßen – es ist die tragische Liebhaberin. – sie sieht auch ganz so aus – wälzt sich ein selbst in dieser Umgebung etwas schmierig aussehendes Männchen mit einem langen, grauen, sogenannten Kaisermantel und einem zerbeulten Cylinder hervor. Der Kleine hat ein rundes Gesicht, das linke Auge ist zugekniffen und der linke Mundwinkel in die Höhe gezogen, er macht ein Gesicht, als wollte er sagen: „Sehe ich nicht eigentlich furchtbar komisch aus?“ Er ist nämlich der Komiker. Mit sicherem Schritte steuert er geradeswegs auf einen der Stammtische los. Er hat schon öfter in dem Städtchen „gemimt“ und weiß, daß er auch hier wie überall, mit wenig Witz und viel Behagen, unterstützt durch ein stehendes Repertoir von Kalauern und Mikoschanekdoten, allabendlich Gönner findet, die seine Zeche bezahlen und sich sogar geschmeichelt fühlen, wenn er sich auf ihre Rechnung einen kleinen „Orangutang“ kauft, denn er ist „ein ganz verfluchter Kerl“.

Noch allerhand mehr oder minder auffallende Erscheinungen ziehen vorüber vor den sie musternden, zischelnden und tuschelnden Neustädtern. Trotz der bereits vorgeschrittenen Jahreszeit sind alle ziemlich leicht bekleidet, sogar zwei Strohhüte sind auf der Bildfläche erschienen, nur der Herr Direktor tragt bereits mit Stolz einen Pelz zur Schau, der freilich schon bedenklich Haare lassen mußte und, wo solche noch vorhanden, Neigung zu einer fettigen Schuppenbildung aufweist.

Den Omnibus des „Roten Löwen“ besteigt nur der Mann mit dem vertrauenerweckenden Pelz und seine Gemahlin, eine behäbige Dame mit energischem Ausdruck, der man es wohl ansieht, daß sie „das Kassenwesen versieht“; die anderen stapfen rasch und kühn über die aufgeweichte Landstraße dem Orte zu und sind bald dem Blicke entschwunden.

Nur ein schlanker, oder sagen wir lieber magerer, junger Mann, mit hellblondem Haar und dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, bleibt auf dem Bahnsteig zurück und schaut etwas verlegen umher.

Mit diesem jungen Manne möchte ich mir erlauben, den geehrten Leser etwas näher bekannt zu machen, – denn ich bin es selber, vielmehr ich war es vor ....hmzig Jahren, denn ich gehöre zu den wenigen Mimen der jetzigen Generation (oder gehöre ich schon einer vergangenen Epoche unserer schnelllebigen Zeit an?), welche noch eine echte rechte „Schmierenzeit“ mitgemacht haben.[1]

Warum ich auf dem einsamer werdenden Bahnhof zurückblieb?

Weil mir einer meiner neuen Kollegen, mit denen ich unterwegs Bekanntschaft gemacht hatte, denn ich war auf einem Kreuzungspunkte der Bahn mit der Truppe zusammengestoßen, bei der ich die ersten Bühnengehversuche machen wollte – weil mir ein Kollege auf meine Frage, wie es wohl mit den Privatwohnungen in Neustadt stehen möge, den guten Rat gegeben hatte, einige Zeit auf dem Bahnhofe zu verweilen, Neustadt sei ein sehr theaterfreundlicher Ort und ein oder der andere Kunstfreund würde schon an mich herantreten und mir eine Wohnung anbieten.

Der Empfang, den unser Komiker gefunden hatte, schien zu bestätigen, was mir an und für sich gar nicht unglaublich schien, ich hätte ja auch mit Freuden jedem Künstler eine Heimstätte unter meinem Dache angeboten, wenn ich eins gehabt hätte.

Freilich waren mir schon auf der kurzen Fahrt allerhand Gedanken über diese Kunstgenossen aufgestiegen, aber meine Kunstbegeisterung hatte sie rasch besiegt, es waren eben ungewöhnliche Menschen, und konnten sie nicht trotz mancher merkwürdigen Aeußerlichkeiten talentvoll und brav sein?

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Jägerpech.
Nach einem Gemälde von W. Gräbhein.

[818] Erst später kam ich dahinter, daß der brave Kollege mich „geleimt“ hatte. Sein Judasrat hatte nur bezweckt, der übrigen Gesellschaft einen gefährlichen Konkurrenten bei der „Wohnungssuche“ eine Zeitlang fern zu halten.

O diese „Wohnungssuche“! Wie vieles ich auch in jenen Wandertagen mit dem fröhlichen Mute der Jugend leicht ertragen, oft wohl auch in seiner Niedrigkeit und Unwürdigkeit gar nicht bemerkt oder verstanden habe, an dieses in jedem neuen Orte unvermeidliche Uebel denke ich noch mit einem gewissen Unbehagen zurück. Ein in geordneten Verhältnissen lebender Kulturmensch kann sich gar nicht vorstellen, was es heißt, in einem kleinen schmutzigen Orte von Thür zu Thür zu wandern: „Verzeihen Sie, ich habe gehört, Sie hätten vielleicht auf vier Wochen ein Zimmer abzugeben!“ Und ehe man noch ausgesprochen hat, heißt es schon: „Ach nein – bei uns doch nicht!“ Das uns ist so ganz eigentümlich lang gedehnt, als wollte es sagen: Wie kommst Du dazu, uns ein solches Ansinnen zu stellen? Und der Ton hat hundert Variationen, vom gutmütigsten Mitleid mit den fahrenden Leuten bis zur versteckten Entrüstung, bis zur offenbaren Verachtung.

Immer und immer wieder trifft man auf dem Leidenswege Kollegen und Kolleginnen, welche sich gegenseitig Mühe geben, einander zu täuschen. Jeder sucht den andern in die Gassen zu schicken, die er selber bereits vergebens abgefragt hat, damit dieser nicht in das noch abzusuchende Terrain gerate und die Aussichten noch verschlechtere.

In Neustadt ging es mir besonders schlecht, da ich ja viel zu spät auf dem Jagdgebiet eintraf. Mit vieler Mühe fand ich endlich ein Unterkommen bei einem kleinen Beamten, wo Schmalhans Küchenmeister war und der kleine Nebenerwerb gern mitgenommen wurde.

Das Zimmer war ganz kahl, untapeziert, lang wie ein Darm, aber die Decke war gewölbt – es war ein sehr altes Gebäude – was mir sehr poetisch vorkam; auch war die Aermlichkeit des Gemaches durch einen freundlichen Ausblick gemildert. An Mobiliar hatte ich freilich nur ein Bett aus Fichtenholz, das beängstigend schmal aussah, sich dafür aber nachher als viel zu kurz auswies, einen kleinen wackligen Tisch und drei Stühle, deren einer zum Waschtisch erhoben wurde.

Ueber diesen Mangel an stilvoller Ausstattung – welche übrigens damals noch nicht Mode war – tröstete ich mich rasch, da der freundliche kleine Hausherr mir vollkommenste Freiheit zusicherte, zu studieren, so laut ich wollte, und Stimmübungen anzustellen, so viel es mir beliebte.

Ein flüchtiger Versuch ergab, daß es in dem langen hohen und leeren Raume gar herrlich schallte. Nun trieb es mich natürlich, das Theater zu besichtigen, dann beim Direktor vorzusprechen und anzufragen, ob nicht schon eine schöne dicke Rolle für mich in Sicht wäre.

Also hinaus und den Weg nach der Stätte meiner demnächstigen Triumphe erkundet!

Da geschah mir etwas Unerwartetes.

Auf jede Frage erhielt ich nämlich die Antwort: „Nee, ä Theater – das hamm mer hier gar nich!“ und wenn ich dann in berechtigtem Künstlerstolze erwiderte, daß ich das besser wissen müsse, da ich ja an diesem Theater selber engagiert sei, so sahen mich die Leute seltsam an, antworteten nichts und es wollte mir scheinen, als entfernten sie sich rascher von mir, als gerade nötig war.

Nachdem ich wie Bürgers Leonore verzweifelt den Weg „wohl auf und ab“ gefragt hatte – ich hätte mir wahrscheinlich auch mein Rabenhaar gerauft, wenn ich nicht blond gewesen wäre, wie ich es noch bin – wurde mir endlich von einem barhäuptigen und barfüßigen jugendlichen Bewohner der Stadt der erlösende Bescheid: „Nu ja – unten im Schützenhaus sind die Spielers.“

Das Schützenhaus lag etwa zehn Minuten von der Stadt entfernt auf einem großen Wiesenplan. War ich gleich durch die Nachricht, daß ich auf gar keinem richtigen, sondern auf einem Saaltheater auftreten sollte, etwas niedergedrückt, so hob sich meine Stimmung doch wieder, als ich sah, daß es ein großes Gebäude war, freilich ohne jeden architektonischen Schmuck, aber mit fünf riesengroßen Fenstern, welche einen großen Saal ankündigten, in dem es gewiß herrlich klingen mußte, wenn man einmal sein ganzes Organ „loslassen“ durfte.

Klangwirkungen erscheinen dem Anfänger meist die Hauptsache bei der dramatischen Kunst.

Vor lauter Freude und ganz in den Anblick des mir immer schöner erscheinenden Hauses versunken, stolperte ich über ein Brett, welches den Uebergang über eine sumpfige Stelle des Wiesenweges erleichtern sollte, wollte mich recht geschickt auf das Brett hinaufbalancieren, verlor aber das Gleichgewicht und setzte mich heftig, aber glücklicherweise weich, in die schlammige Pfütze.

Das war also sozusagen meine Kunsttaufe.

Ich suchte meinen rückwärtigen Menschen ein wenig zu säubern, zumal ich zwei Damen auf mich zukommen sah.

Bei näherer Betrachtung erwiesen sie sich als zwei Dienstmädchen, welche Bier aus dem Schützenhaus geholt hatten. Mein Anblick schien sie äußerst fröhlich zu stimmen und die eine rief mir wohlmeinend zu: „Lassen Sie nur, junger Herr, es wird nur immer schlimmer; Straßenkot“ – sie gebrauchte ein etwas kräftigeres Wort unserer schönen Muttersprache – „muß man trocknen lassen!“

Edle Magd! Wie oft hab’ ich in meinem späteren Theaterleben an dieses weise Wort denken müssen! Ich ließ demnach den Urbrei sitzen, worauf er saß, und worauf ich und andere Sterbliche auch zu sitzen pflegen, und schritt weiter.

Im Theatersaal traf ich meinen Direktor, der aber weniger imponierend ausschaute als bei unserer Ankunft. In Hemdsärmeln von einem zartbräunlichen Tone, war er beschäftigt, die Bühne „einzurichten“. Ein Herr in gleichem Kostüme, nur trug er statt des Leinen- ein Wollenhemd, half die gröbere Arbeit machen, ich erkannte in ihm den hakennasigen augenbrauenlosen Charakterkollegen, der außer seinen künstlerischen Obliegenheiten auch noch die eines Theater- und Maschinenmeisters versah, wofern von Maschinen hier die Rede sein konnte, denn was die beiden hier zusammenbauten, war mehr als einfach und erinnerte an die schönen Zeiten der Shakespearebühne. „Na, da sind Sie ja, junger Mann,“ redete mich mein Chef herablassend, aber doch mit einiger Zurückhaltung an, „gehen Sie nur in den ,Löwen‘ zu meiner Frau und lassen Sie sich die Rollen für morgen geben!“

Mehrere Rollen?“ fragte ich halb erstaunt, halb hocherfreut. „Und in welchen Stücken?“

„Sagt Ihnen alles meine Frau,“ tönte eine Stimme von oben, denn mein Brotherr war inzwischen mit dem Oberleib in den Soffitten verschwunden.

Ich machte dem, was von ihm noch sichtbar war, mein Kompliment und eilte hoffnungsfroh und rollengierig zum „Roten Löwen“.

Die Frau Direktorin war gleichfalls sehr beschäftigt. Aus einem Wall von Büchern, Rollen und Garderobestücken heraus teilte sie mir mit, daß als Eröffnungsvorstellung „Die Schule des Lebens“ von Raupach gegeben werden solle, und nach längerem Herumsuchen händigte sie mir die Rolle eines Hauptmanns im zweiten und eines Bürgers im vierten Akt ein. Da ich das Stück gar nicht kannte, bat ich es mir zum Lesen aus, was mir aber rund abgeschlagen wurde. Soufflierbücher gäbe man nicht weg und namentlich nicht wegen so kleiner Rollen.

„Kleine Rollen“ – das gab mir einen Dolchstich, war ich doch zur Schmiere gegangen, um große Rollen zu spielen und dadurch das Lampenfieber zu kurieren, das meine ersten Versuche auf einer großen Bühne vereitelt hatte. Ich war indessen vernünftig genug, einzusehen, daß man mich erst prüfen müsse, und dann waren es ja auch zwei Rollen, ich konnte mich in zwei, wenn auch unbedeutenden doch verschiedenen Charakteren zeigen, mich zweimal umkleiden und zweimal schminken. Das war doch immerhin etwas.

Dankend wollte ich mich entfernen, als mir die Frau Direktorin noch nachrief: „Warten Sie nur – Sie müssen auch noch den ‚Hampelmann‘ spielen!“

Einen Hampelmann?! Darauf war ich nicht gefaßt.

Zu meiner Beruhigung erfuhr ich jedoch, daß dieser Hampelmann nicht an der Strippe tanzen müsse. Der Kerkermeister im Stück wird mit den Worten angeredet: „So nahst Du mit der Ampel, Mann“, woraus eine schlechtlernende Dame, den Souffleur nicht verstehend, gemacht hatte: „So nahst Du, Hampelmann“, welcher Name der Rolle für alle Zeiten in Schmierenkreisen – in anderen wird das rührsame Stück nicht mehr gegeben – verblieben war.

Beglückt zog ich mit meinen Schätzen ab. Das Stück zu lesen, war in der That unnötig, jede Rolle bestand nur aus einigen Sätzen. Erst hatte ich als Hauptmann eine Prinzessin zu verhaften, dann als Kerkermeister die bewußte Ampel, sowie Wasser und Brot zu bringen und nachher noch im Volk einige Heilrufe auszustoßen. „Bombensicher“ trat ich am nächsten Morgen zur Probe an.

Diese verlief etwas anders, als ich es mir vorgestellt hatte. [819] In meiner Hoffnung, das Stück kennen zu lernen, wurde ich gründlich getäuscht, denn alle Mitspieler murmelten, ohne sich mit Spielen anzustrengen, ihre Rollen sehr rasch und unverständlich herunter. Laut sprach nur einer und das war der Souffleur. Meine kleinen Scenchen gingen glatt vorüber und in einer guten Stunde waren die fünf Akte heruntergehaspelt.

Auch am Abend ging die Sache ganz glatt, bis auf einen kleinen Zwischenfall.

Der Souffleur, der sich wohl auf der Probe zu sehr angestrengt hatte, war gewiß von der löblichen Absicht beseelt gewesen, seine Kehle wieder felddiensttüchtig zu machen, und hatte nur leider das hierfür nötige Spirituosenquantum ein wenig überschätzt. Im ersten Akte zwar waltete er noch seines Amtes, jedoch nur ruckweise wie eine alte Spieluhr mit schadhafter Walze, im zweiten Akt zog er es vor, sich nur als Zuschauer zu verhalten, und zwar als wohlwollender. Unsere „Prinzessin“ entlockte ihm Töne des Beifalls. Damen lernen gewöhnlich nicht schlecht, auch ohne Hilfe des „Kastengeistes“ brachte sie ihren langen Monolog im Kerker so ziemlich zuwege. Wenn aber einmal eine Pause eintrat, so wurde dieselbe durch den Souffleur ausgefüllt, der recht vernehmlich herausrief: „Das Luderchen kann’s, sie kann’s wahrhaftig!“ Nun brachte ich die schon mehrfach erwähnte Ampel, sprach und verschwand wieder. Hinter mir her tönte es anerkennend: „Der Neie kann’s ooch!“

Aber die Situation sollte noch kritischer werden.

Unser Komiker, den ich schon die Ehre hatte vorzustellen, war in dem ehrwürdigen Ritterstück gleichfalls mit zwei Aufgaben betraut, die natürlich, wie es einem routinierten Künstler zukam, viel wichtiger waren als die meinigen. Er hatte den „Grafen“ und den Hofnarren des Königs, Pedrillo, zu „machen“.

Der Graf in dem besagten Stück ist ein sehr edler Mann. Er tritt in den Kerker der Prinzessin, erklärt ihr in längerer Rede, er wolle sie befreien, läßt es aber bei bloßen Worten nicht bewenden, sondern überreicht ihr zu nachdrücklicher Bekräftigung eine goldgestickte Börse.

Diese tugendsame Scene ging nun nicht ohne Schwankungen vorüber, Schwankungen im eigentlichsten Sinne des Wortes. Wie es schien, hatte der gestrige Willkommstrunk auf dem Bahnhof noch manche Wiederholungen erlebt. Mit einem Schritte und einer Haltung, die charakteristischer für einen Matrosen während einer steifen Nordnordostbrise als für einen spanischen Granden erschien, lavierte der Graf zunächst eine Zeit lang an der Mittelthür, kreuzte dann über die Bühne, um sich endlich vor dem Souffleurkasten vor Anker zu legen.

Aber wie er auch die Netze seiner Ohren auswarf – meine seemännischen Vergleiche sind zu schön, um sie nicht ins Poetisch-hyperbolische fortzuspinnen – keine Rettungsboje wurde ihm zugeworfen, nur unheimlich klang es im Ton tiefster innerster Ueberzeugung heraus: „Der kann’s nich!“

Hierauf ward längere Zeit von keinem der Beteiligten ein Wort gesprochen.

Endlich schien es unserm Künstler doch aufzugehen, daß er irgendwie in den Gang der Ereignisse einzugreifen habe, die Börse, die er krampfhaft in der Rechten hielt, gab ihm eine dämmrige Vorstellung seiner Aufgabe, und mit staunenswertem Lakonismus faßte er den ganzen Inhalt der Scene in ein einziges Wort zusammen, er hielt der Prinzessin das Geld hin und lallte: „Da!“

Die edle Dame war jedoch nicht gesonnen, die schönsten Stellen ihrer Rolle so ohne weiteres preiszugeben; sie fuhr – denn sie war ja in der angenehmen Lage es zu können – unentwegt in ihrer Rolle fort und deklamierte mit erschütterndem Pathos ihre nächste große Rede. Auf den Grafen machte dies aber wenig Eindruck, mit noch energischerer Bewegung und noch kräftigerem „Da!“ fuhr er dazwischen, und als er damit die wie ein Uhrwerk weiter schnarrende Prinzessin nicht zum Schweigen bringen konnte, donnerte er ihr ein drittes „Da!“ entgegen und versuchte kurzer Hand sein bislang verschmähtes Gold in die Halsöffnung des Kleides der Prinzessin zu stecken, so daß diese, um namenloses Unglück zu verhüten, gezwungen war, den Beutel rasch zu nehmen, entgegen dem Hauptgrundsatz römischen Rechtes: Beneficia non obtruduntur, Wohlthaten können nicht aufgezwungen werden.

Dann wankte der Graf scheinbar tieferschüttert von dannen, die Beschenkte besah sich in sprachloser Verlegenheit die ihr zu früh zu teil gewordenen rettenden Schätze, bis der Vorhang sich endlich über dieser Scene des Edelmuts gerührt niedersenkte.

Der Graf sank in der Garderobe auf einen Stuhl, faßte sein Haupt in beide Hände und legte es auf den Schminktisch, es schien, als schluchzte er leise in tiefer Zerknirschung über seine Versündigung an Raupachs Dichtergenius. Als wir uns aber näherten, bemerkten wir, daß er sanft und selig eingeschlummert war. Keine Bitten der Mitspieler, kein Machtwort des Direktors waren im stande, ihn zu neuem Bühnenleben zu erwecken, – er schnarchte bereits.

Was war zu thun?

Die wichtige Rolle des Pedrillo, die er noch in den nächsten Akten zu „performieren“ hatte, konnte unmöglich ganz gestrichen werden.

Da zeigte sich das Feldherrngenie unseres Thespiskarrenlenkers in hellstem Lichte. Er überließ die Bierleiche ihrem Schicksal und hielt Umschau unter seinen noch kampffähigen Truppen.

Hierbei stellte sich heraus, daß der Darsteller des „Blas“ die Rolle des „Pedrillo“ vor längerer Zeit einmal gespielt hatte. Sofort avancierte der Bauernbursche Blas zum Hofnarren des Königs und ich wurde sozusagen auf dem Schlachtfelde zum „Blas“ befördert.

Mir schwindelte.

In einem Stücke, von dem ich gar keine Ahnung hatte, sollte ich während des Zwischenaktes eine verhältnismäßig nicht unbedeutende Episode „übernehmen“.

Aber es wurde mir keine Zeit zum Besinnen gelassen. Die Kutte, in der ich meinen Hampelmann gegeben hatte, wurde mir vom Leibe gerissen, eine Bauernjacke angezogen, eine blonde Dümmlingsperücke aufgestülpt, und während dieser Metamorphose las mir der Herr Direktor höchstselbst die Scene des Blas vor.

Halbbetäubt entnahm ich aus dieser Vorlesung, daß Blas ein tölpischer Bauernjunge war, welcher der befreiten, nun als Bauernmädchen verkleideten Prinzessin einen Kuß raubte und für diese Majestätsbeleidigung von ihr mit einem Backenstreich bestraft wurde.

Was dann noch vor sich gehen sollte, klang meinem Ohre nur noch wie das Brausen des Wassers dem Ertrinkenden, denn ehe ich noch zur Besinnung kam, fühlte ich mich nicht eben sanft auf die Scene hinausgestoßen und nun hieß es: Friß, Vogel, oder stirb!

Die ersten zwei, drei Reden waren meinem, ich darf wohl sagen, glücklichen Gedächtnisse so einigermaßen haften geblieben und ich konnte sie wenigstens dem Sinne nach herstammeln.

Dann wurde es dunkel um mich her.

Ich hatte nur, ganz wie der „Graf“, eine Empfindung: es mußte irgend etwas geschehen!

Was? – Es mußte geküßt werden!

Kurz entschlossen schritt ich also von Worten zu Thätlichkeiten. Meine geschminkte Partnerin erschien mir im Lampenlichte und im Geiste der Rolle küssenswert genug – ich vollführte es und nahm die vorgeschriebene Quittung in Empfang, was bei dem anspruchslosen Publikum lebhafte Fröhlichkeit erregte.

Das gab mir Mut und da ich beim besten Willen nicht wußte, was ich weiter hätte sagen oder thun sollen, ließ ich beherzt dem ersten Kusse einen zweiten folgen.

Die arme Prinzessin, der heut’ so viele Ueberraschungen zugedacht waren, wußte nicht recht, ob sie nochmals schlagfertig antworten sollte, ich ließ sie aber gar nicht dazu kommen, diese Gewissensfrage zu entscheiden, sondern förmlich berauscht von der immer mehr anwachsenden Heiterkeit der Zuschauer, versetzte ich der armen Dulderin eine ganze Serie von schallenden Küssen.

Schallender Jubel war mein Lohn, und da ich instinktiv fühlte, daß ich den Höhepunkt meiner Leistung erreicht hatte, drückte ich die verblüffte Dame nochmals herzhaft an mich, reichte ihren Lippen noch eine letzte und eine allerletzte Erquickung und verschwand dann „lang gebeint mit raschen Sätzen“ in der nächsten Coulisse.

Hinter mir her aber erscholl tosender Beifall – die Scene hatte ganz ungeheuer gefallen.

Es war mein erster großer Erfolg!

*  *  *

Ich schämte mich ehrlich noch acht Tage hinterher.

Der Direktor nannte mich aber von Stund’ an nicht mehr „junger Mann“, sondern händigte mir noch am selben Abend eine Rolle von sechs Bogen ein, die ich noch in derselben Nacht lernte und am folgenden Abend zur vollkommensten Zufriedenheit eines hochgeehrten Publikums „verzapfte“.

So geht’s in Wirklichkeit bei einer „Wandertruppe“ zu!


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Blätter und Blüten.


Jägerpech. (Zu dem Bilde S. 817.) Jagdglück und Jagdpech, das sind die beiden Extreme im Jägerleben, die dem Weidmann so manche Freude, so manches Leid bereiten, die sein Herz langen und bangen lassen in schwebender Pein – das Hoffen und dann die Erfüllung seiner Wünsche, oder aber, wenn er schon glaubt, ja fest überzeugt ist, daß die keusche Diana das Füllhorn ihrer Gunst über ihn ergießen wolle, eine oft jähe Enttäuschung! Durch dieses wechselvolle Spiel versteht es die hehre Göttin, ihre Jünger zu sich heranzuziehen, zu reizen und fest und unzertrennlich an sich zu ketten.

Wohl jedem Grünrock, der lächelnd das lustige Gräbheinsche Bild betrachtet, auf welchem der vom Aste rieselnde Schneeanhang im entscheidenden Augenblicke dem Jäger auf den Kopf fällt und ihn am Schießen hindert, wo endlich, endlich nach vielleicht stundenlangem Harren bei eisiger Kälte Erdmännchen den Fuchs aus dem Bau sprengt, ziehen unwillkürlich selbsterlebte Geschichten am Geiste vorüber, wo ihm gerade, wie jenem Jäger, ein vollkommen unerwarteter Zwischenfall all seine jägerischen Hoffnungen vernichtete. — — —

Es war August, Feistzeit, die Hirsche hatten „geschlagen“, d. h. den Bast vom reifen Geweih gescheuert und geschlagen, und ich hatte mir einen guten Zwölfender ausgemacht, der allabendlich auf einem Ausläufer des Süntels, „der Katzennase“, austrat. Jeden Morgen saß ich schon lange vor Tagesgrauen vor der am Hange sich hinziehenden Dickung, und wenn der erste Sonnenstrahl die Gipfel der Bäume goldig überhauchte und ich leise pirschend meinen Schirm verließ, fand ich die Einfährte des Hirsches, der schon lange vor meinem Kommen in das schützende Dickicht zurückgewechselt war. Noch stand die Sonne am Himmel und ich saß schon wieder hundert Schritt von der Dickung an einen Buchenstamm gelehnt und wartete, bis es Nacht geworden. So hatte ich vierzehn Tage lang jeden Abend und jeden Morgen den Hirsch erwartet und nur festzustellen vermocht, daß er regelmäßig Wechsel hielt – nein! eines Morgens in der ersten Dämmerung hatte ich ihn sogar gesehen, wie er langsam, vorsichtig zur Dickung zog, ein schwarzer Schatten in düsterer Nacht — — — Wohl klopft in solchem Augenblicke das Herz stürmisch in der Brust und befiehlt dir gebieterisch, die Büchse zur Wange zu heben, und das Auge strengt sich an, die Finsternis zu durchdringen, aber es sieht das Visier nicht einmal, viel weniger die Mündung der Büchse und das Korn — und langsam senkt sich die Büchse wieder aufs Knie. Das Glas zeichnet dir aber die Umrisse des Hirsches scharf ab, sogar das Geweih siehst du sich wiegen über dem Kopfe sich hin und her bewegen — — ach, wäre es doch Büchsenlicht! Es dämmert so langsam, so langsam und der Hirsch zieht nach der Dickung hin – auch so langsam, langsam — der Jäger nennt es: „er macht den Kirchgang“ – aber er verschwindet endlich doch viel zu früh im dichten Buschwerk. Deiner Brust entringt sich ein tiefer Atemzug — — und erst zwanzig Minuten später ist’s möglich, Visier und Korn zusammenzubringen.

Ich hatte „geblattet“, einen Bock im Rucksack, und gerade, als die Sonne ihre letzten Strahlen über die Spitze des Süntels ausgoß, hatte ich mein Ziel erreicht und saß in meinem Schirme an der Buche auf der Katzennase. Kaum habe ich mir es bequem gemacht und die Büchse gespannt, da schäkert eine Drossel im Buschwerk, ich blicke hin und 150 Schritt von mir steht der kapitale Hirsch sichernd am Rande der Dickung. Der Wind stand gut – er gehörte schon mir, bevor ich schoß. Jetzt tritt er spitz auf mich zu, bleibt 80 Schritt vor mir stehen, verhofft wieder und fängt zu äsen an. Wenn er nur breit tritt, dann hat er die Kugel! — — Plötzlich wirft er auf – was ist das? Das ist kein Verhoffen, als wenn er nur seine Sicherheit im Auge hätte — — er äugt besorgt nach einem bestimmten Gegenstande – – das Korn liegt auf dem Stich – sobald er sich dreht, fliegen lassen! Plötzlich wirft sich der Hirsch herum, hinter einen Stamm — — in die Dickung zurück! — — und seitwärts hinter mir erklang es: „O Mutter, wat förn Hirsch!“ Auf einem nur äußerst selten und fast niemals des Abends begangenen Fußpfade, der über den Süntel ins Deisterthal führt, kam ein altes Kiepenweib mit ihrem Jungen gegangen und „vergrämte“ mir den Hirsch, der vielleicht wenige Sekunden später die Kugel gehabt hätte. Karl Brandt.     

Drei Tage Kasten! (Zu dem Bilde S. 805.) Nicht etwa Noahs Arche ist, wie in dem bekannten Volksliede, mit dem „Kasten“ gemeint, sondern vielmehr das von den Soldaten also benannte Militär-Arrestlokal. Es macht kein Vergnügen, darin drei Tage zu „brummen“, und der arme Sünder auf unserem Bilde sieht wahrlich nicht aus, als ob er in der Stimmung wäre, „Ha, welche Lust, Soldat zu sein!“ zu singen. Man gelangt aber mitunter dazu, ehe man sich’s versieht. Verspätete Heimkehr in die Kaserne, ein Versehen beim Wachtdienst oder bei einer Besichtigung kann schon für den Betreffenden den gefürchteten Spruch aus dem Munde des gestrengcn Compagniechefs: „Feldwebel, drei Tage!“ zur Folge haben. Der wackere Vaterlandsverteidiger auf unserem Bilde ist aber auf ganz besondere Art „hinter die schwedischen Gardinen“ gekommen. Bei einer größeren Felddienstübung sollte auch die Sanitätskolonne mitwirken, und es waren vorher bei jeder Compagnie Leute bestimmt worden, welche die Toten und Verwundeten zu „markieren“ hatten. Unser Arrestant sollte einen Toten darstellen und übernahm diese Dienstpflicht sobald wie möglich, während seine Kameraden im heißen Sonnenbrand tapfer weitermarschieren mußten. Es lag sich ja so wohlig am schattigen Rande eines Gehölzes, und der „Tote“ konnte der Versuchung nicht widerstehen, seine Pfeife hervorzuholen, um bis zum Herankommen der „Medizinmänner“, auf dem Rücken liegend, behaglich zu schmauchen. Plötzlich ruft eine strenge Stimme ganz in der Nähe: „Was macht der Kerl da?“ Die Pfeife entfällt seinem Munde, blitzschnell fährt er in die Höhe und steht vor – dem Obersten, der mit dem Bataillonskommandeur ganz unbemerkt herangekommen ist und ihn durchdringend mustert. „Melde mich als Toter von der ersten Compagnie, Herr Oberst!“ stammelt er. Der Gefürchtete kann ein Lächeln nicht unterdrücken, aber „drei Tage“ sind für den so rasch wieder zum Leben gebrachten „Toten der ersten Compagnie“ doch abgefallen. Nun hat er Muße, über die Veränderlichkeit des Kriegsglücks nachzudenken, und das „Brummen“ kommt ihm um so bitterer vor, als er es zum erstenmal kennenlernt. Wäre das Lokal nur nicht so furchtbar ungemütlich! Die Militärverwaltung ist ja grundsätzlich jedem Luxus abhold, aber hier ist die spartanische Strenge gar zu weit getrieben. Das einzige Möbel in dem engen Raume, dessen geschwärzte Wände mit allerlei Kritzeleien früherer Schicksalsgenossen bedeckt sind, ist die harte Holzpritsche, auf welcher der Häftling sitzt. Dann ist noch ein Wasserkrug da, den man bei dem spärlichen Lichte kaum sieht, das durch das hoch oben angebrachte vergitterte Fenster hereinfällt. Verpflegung: Wasser und Brot, und daß man „keine Ruh’ bei Tag und Nacht“ hat, dafür sorgen gewisse ungebetene, sprunggewandte Gäste, die sich alsbald einstellen. Nein, fürwahr: im Arrest ist’s keine „Lust, Soldat zu sein!“ R.     

Weihnachtsgeheimnisse. (Zu dem Bilde S. 809.) Wer mag es wohl sein, der sich draußen leise und listig heranschleicht, um plötzlich den Ueberfall auf die Klinke zu machen? Sind’s die kleinen Evastöchter, deren Puppen hier von der Mama herrlich neu gewandet werden, oder ist’s der junge Doktor, der vielgeneckte Vetter des Hauses, für welchen soeben die jüngere Schwester der Hausfrau voll „Bosheit und Plaisier“ das Pantoffelungeheuer mit dem scharlachroten Herzen fertig stellt? Der neben ihr sitzende Backfisch horcht vom Stickrahmen weg ergötzt nach den vergeblichen Bemühungen draußen hin, aber die an der Thür stehende Freundin – die sieht sehr verdächtig aus! Auch sie lächelt ja und will ganz unbefangen scheinen, aber in ihren Augen leuchtet es dabei so merkwürdig, gerade als wenn sie noch ein Weihnachtsgeheimnis wüßte, das mit Pantoffeln und Puppenkleidern nichts zu thun hat. Hoffen wir, daß es samt diesen zum fröhlichen Bescherabend ans Licht der Weihnachtskerzen kommt. Bn.     

Zum erstenmal auf dem Weihnachtsmarkt. (Zu dem Bilde S. 813.) Weihnachtsmarkt! Paradies der Kinder, der reichen wie der armen! Wer könnte sich deinem Zauber wohl entziehen, wen hätte deine bunte, liebe, armselige und doch stets Seligkeit weckende Herrlichkeit nicht schon froh und festlich und gebefreudig gestimmt? Der dralle, kleine Schelm auf trautem Mutterarm, der den Mittelpunkt der anmutigen Scene zwischen den erleuchteten Budenreihen bildet, schaut zum erstenmal in die Märchenwelt, vor welcher Pelzmärtel und Knecht Ruprecht in allerlei Gestaltung Wache halten. Das muntere Schwesterchen, die frohe junge Mutter, sie lächeln dem Liebling zu. Er selber sieht auf den Hampelmann, den die freundliche Alte vor ihm zappeln läßt, mit so klug verschmitztem Blick, daß wir vermuten dürfen, er wird dereinst auch sehr rasch all die Fäden erkennen, an denen die Menschenpuppen tanzen, all die Schnüre und Drähte, die das große Weltgetriebe in Bewegung setzen. A. S.     

Der Gartenlaube-Kalender 1896. Ein guter Kamerad im Wandel der Jahre erprobt von Tausenden unserer Leser, lädt sie wiederum ein, sich an seiner Hand für den Gang durch ein neues Jahr zu rüsten. Praktisch in seiner Einrichtung, schmuck und gediegen in seinem Aeußern, von wahrhaft künstlerischem Wert und anregender Abwechslung in den Erzählungen und Bildern, die ihn ausstatten, ist der „Gartenlaube-Kalender“ seit Jahr und Tag zu einem treuen Hausfreund in ungezählten Familien geworden, wo das Erscheinen jedes neuen Jahrgangs mit freudigem Willkomm begrüßt wird. Was man in einem guten Volkskalender an Nachweisungen und Ratschlägen, chronologischen Uebersichten und statistischen Tabellen suchen kann, findet sich in ihm aufs praktischste zum Nachschlagen geordnet, und auch im eigentlichen Kalendarium haben Kunst und Poesie für anmutigen Ausschmuck gesorgt; zu den reizenden Monatsvignetten von Unger hat Gustav Falke form- und gedankenschöne Spruchgedichte geliefert. Der unterhaltende Teil hat sich auch diesmal der Mitarbeit ganz besonders beliebter Autoren der „Gartenlaube“ zu erfreuen. W. Heimburg setzt den Cyklus „Aus meinen vier Pfählen“ fort und bietet in „Großmutters Whistkränzchen“ ein Kabinettstück feingestimmter und liebenswürdiger Charakterzeichnung von ungemein anheimelnder Wirkung. Frische Jugendfröhlichkeit atmet „Maien“ von Ernst Lenbach, eine Humoreske aus dem Universitätsleben. Von Schwarzwaldtannenduft durchweht ist „Johann Baptist“ von A. v. Freydorf, eine treffliche Volkserzählung, halb Dorf-, halb Künstlergeschichte, die in ihren Motiven an Auerbachs „Frau Professorin“ anklingt. Diese Erzählungen sind sämtlich reich illustriert, jede von einem anderen bewährten Künstler, es sind Fritz Bergen, P. Rieth und C. Liebich. Sehr „nützlich zu lesen“ sind die humoristischen Zeitglossen „Die Gesundheitsangst“ vom Emil Peschkau. Die schönen Kunstbeilagen sind mit feinem Geschmack ausgewählt, auch in ihnen kommt der Humor zu seinen Recht. Und so können wir den Gartenlaube-Kalender für das Jahr 1896 in der gesunden Volkstümlichkeit und reizvollen Gediegenheit seines Inhalts allen Kreisen unserer Leser aufs wärmste empfehlen.


Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Jda Boy-Ed (8. Fortsetzung). S. 805. – Drei Tage Kasten! Bild. S. 805. – Weihnachtsgeheimnisse. Bild. S. 809. – Die Armenier. Von Emil Jung. S. 812. – Zum erste mal auf dem Weihnachtsmarkt. Bild. S. 813. – Gymnastik in der Kinderstube. S. 815. – Als ich noch „wanderte“. Eine Jugenderinnerung von Max Grube. S. 816. – Jägerpech. Bild. S. 817. – Blätter und Blüten: Jägerpech. Von Karl Brandt. S. 820. (Zu dem Bilde S. 817.) – Drei Tage Kasten! S. 820. (Zu dem Bilde S. 805.) – Weihnachtsgeheimnisse. S. 820. (Zu dem Bilde S. 809.) – Zum erstenmal auf dem Weihnachtsmarkt. S. 820. (Zu dem Bilde S. 813.) – Der Gartenlaube-Kalender 1896. S. 820.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Der Verfasser, schon lange berühmt als Charakterdarsteller, ist gegenwärtig Oberregisseur am Berliner Hoftheater. D. Red.