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Die Gartenlaube (1895)/Heft 47

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[789]

Nr. 47.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

 (7. Fortsetzung.)

René guckte ins Fenster des Wirtshauses. Die vielteiligen Scheiben waren von drinnen beschlagen, aber er erkannte doch, daß da noch Menschen saßen.

„Der Herr Hofkapellmeister,“ rief der Posthornwirt erschreckt. René sah ein wenig unheimlich aus: leichenblaß, leuchtende Augen, das Haar an der Stirn klebend, ohne Hut.

„Na, na,“ sagte er, „ich bin kein Gespenst, Posthornwirt. Ich bin so in Gedanken daher gelaufen und den Hut hab’ ich auch verloren. Sie müssen mir schon ein Zimmer herrichten für die Nacht und die Frau muß mich mit allem versehen, was ein anständiger Christenmensch braucht. Und aufgetischt, Posthornwirt – Wein her!“

„Frau, Frau!“ rief der Wirt zur Thür hinaus. Er hatte behende Bewegungen noch von seiner Kellnerzeit her und trug einen großkarrierten Jackettanzug. Denn die Posthornwirtin, die ihn als Witwe geheiratet hatte, nachdem er bei ihr Kellner gewesen, war stolz auf sein städtisches Ansehen und die bunten Krawatten, die er trug. Den Gästen war er wegen dieser angeflogenen, unechten Eleganz weniger angenehm.

Der Apotheker, der Holzsägemüller und der Schullehrer hatten ihre Skatkarten niedergelegt und sahen sich den späten Gast an, der wie ein Riese wirkte, als er da so in der niedrigen Wirtsstube stand, umzogen von dem Tabaksqualm, der lagenweise im Raum schwebte. Die Wirtin erschien. Sie hatte die stattliche Haube schon abgelegt, die sie tags trug, und ihre grauen Zöpfchen waren wie Spiralen um den Hinterkopf gelegt. Ihr Gesicht, das durch eine Stumpfnase und einen breitlachenden Mund sehr vergnügt wirkte und ihrem Geschäft sehr zu statten kam – denn Wirte müssen immer guter Laune scheinen – verklärte sich, als sie René sah.

„Nein, aber die Ueberraschung!“

„Wirtin, grüß Gott!“ sagte René und schüttelte ihr die Hand. „Was macht die Gretel, immer noch so hübsch und artig? Ich möchte einen Wein haben und ein bißchen ’was zu essen. Und Schreibpapier, eine ganze Menge! Wenn keins sonst im Hause ist, laßt mich ein Schreibbuch von der Gretel haben.“

„Wir haben doch Briefbogen mit Ansicht,“ sagte der Wirt.

René warf seinen Mantel ab. Er ging hin und her. Es war ihm unmöglich, zur Ruhe zu kommen.

Die Skatspieler rechneten ab und empfahlen sich.

Der Wirt versuchte mit einer Serviette die schlechte Luft zum Fenster hinauszuschlagen. Dadurch wurde René eigentlich erst auf sie aufmerksam.

„Ich könnte mich oben hinsetzen in die Schlafstube,“ sagte er.

Alles sollte flink gehen: das Feuer anheizen, die Lampe zurecht machen, das Essen und das Zimmer bereiten. Die guten Leute liefen, was sie konnten.

Inzwischen schrieb René in der Gaststube einen Brief.

Menzel und Kaiser Wilhelm II.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

[790] „Magda, meine teure Magda! Die Sache, von der Du weißt, ist ganz und für immer vorbei. Ich habe Dich wieder, Du hast mich wieder – aber das ist nicht richtig gesagt, denn im Innersten war ich Dir nicht verloren. Ich bitte Dich um eines: frage mich nicht, frage mich nie, wie es kam, daß ich jetzt verachte, was mich gestern noch so hinnahm. Es war ein Rausch, er ist verflogen. – Ich bin hierher gelaufen, der Zufall, der Wind, meine Gedanken haben mich hergeweht. Morgen oder übermorgen gehe ich heim. Das Wandern war so reich. Dann sehen wir uns wieder, zehnfach beglückt, unsere Zusammengehörigkeit aus Gefahr gerettet zu sehen, zu wissen, daß sie alles überdauert. René.“  

Dann band er dem Wirt auf die Seele, diesen Brief morgen mit dem ersten Zug nach Leopoldsburg gehen zu lassen. Er hinterließ die strengsten Befehle, daß man ihn morgen nicht wecke und vor seiner Stubenthür jedes Geräusch vermeide, und ging in das Zimmer, das für ihn zurecht gemacht war.

Die halbe Nacht hindurch schien das Licht aus den Fenstern dieses Zimmers. –

Der Brief aber ging am andern Morgen um sechs Uhr nach Leopoldsburg und wurde in den Vormittagsstunden Magda überbracht.

Sie saß thatenlos in ihrem Atelier. Der helle Himmel sah herein und um die Giebel der Nebenhäuser heulte der Wind. Es schien, als bliese der kalte Herbsttag seinen frostigen Atem durch die Fensterritzen.

Auf der Säule neben der Staffelei mit einer frisch hergerichteten Leinwand stand ein großer Strauß gelbbrauner Chrysanthemum. Magda sollte für eine befreundete Dame einen Entwurf zu einem Ofenschirm machen, die Blumen und die Farben dafür waren ihr vorgeschrieben worden.

Aber Magda konnte sich nicht aufraffen, die Arbeit zu beginnen. Sie nannte sie bei sich selbst handwerksmäßig und unfrei. Ihr Gemüt klammerte sich mit immer neuer Bitterkeit an die Geringschätzung, welche René für ihre Malerei gezeigt. Er hatte ihr alle Freude daran verdorben.

Manchmal freilich sagte sie sich, daß auch sein Beruf ihm genug der Lohnarbeit bringe und daß er auch noch jüngst eine „Zenobia“ habe dirigieren müssen.

Welcher Künstler, welcher Kunsthandwerker – ja selbst, welcher Berufsmensch darf immer nur die Aufgaben erfüllen, die er sich aus freiem Enthusiasmus erwählen würde!

Aber der Verstand mochte noch so laut sprechen, die Arbeitskraft blieb gelähmt.

Auch fragte Magda sich oft: wozu noch fleißig sein? Die Freudigkeit, mit welcher sie nach ihrer Heimkehr aus der Schweiz geschaffen, war zerstört, weil ihr Zweck und Ziel entwunden waren, der Zweck, Geld zu verdienen für das Ziel ihrer Vereinigung mit René.

Einst hatte sie auch gearbeitet ohne dies Ziel. Sie hatte stark gestanden, stand sie auch im Schatten. Denn sie wußte nicht, wie anders, wie wonniger es sich im warmen Sonnenlicht des Glückes atmet. Nun wußte sie es und empfand den Schatten so sehr, daß in ihr kein freudiger Wille mehr erblühen konnte.

Eine völlige Gleichgültigkeit gegen das Leben hatte sich ihrer bemächtigt.

Da kam Renés Brief.

Sie las ihn und nach der ersten besinnungslosen Freude kam ein neues Entsetzen über sie.

Das war schon wieder vorbei?! Dahingerast über ihn wie ein Wirbelwind?!

Und deshalb hatte sie leiden müssen, deshalb war das Schwerste über sie gekommen, was einer liebenden Frau begegnen kann? Daß eine neue Leidenschaft ihn erfaßt hatte, mußte sie begreifen, und Hortense hatte mit so vielen klugen Worten und Beispielen dargethan, daß es nichts Unbegreifliches sei, wenn der Lebenslauf eines Mannes jäh durchkreuzt werde von solchem Ereignis.

Aber daß solche Leidenschaft so schnell, so ganz wieder aus seinem Herzen verschwinden konnte – das war der neue Schrecken, den Magda empfand.

Welch ein Rätsel – der Mann! Und er schob gleich ihre möglichen Fragen von sich, lehnte ab, noch ehe er wußte, ob sie es versuchen würde, Aufklärungen zu erhalten, ihr solche zu geben. Er berief sie einfach wieder an sein Herz. Er forderte – nach solchen Ereignissen! – das blinde Vertrauen von ihr, sie solle glauben, daß er im Innersten seiner Seele ihr gar nicht untreu gewesen.

O, wenn sie das glauben könnte! Wenn sie bescheiden genug blieb, sich daran genügen zu lassen –

Eine kurze, himmlische Freude erfaßte sie. Aber ihr war, als müsse sie sich derselben schämen. War das nicht im Grunde eine unwürdige Feigheit von ihr – war’s nicht der geheime Gedanke, lieber mit dem Teilbesitz dieses Mannes sich zu begnügen, ehe sie ihn ganz verlor …

Und in ihrem sich aufbäumenden Stolz beschloß sie, sofort etwas zu thun, was ihr jedes Schwanken und jede Feigheit abschnitt.

Sie antwortete und ließ den Brief sogleich in Renés Wohnung tragen. Wenn er heute oder morgen heimkam, sollte er ihn gleich finden. Ihr Brief lautete:

„Mein lieber René, ich will nichts vor Dir verbergen. Also auch nicht, daß ich Dich immer noch liebe und niemals einen anderen Mann lieben kann. Aber das Trennungswort, welches Du zu mir gesprochen, scheidet uns für immer. Daß Du von einer neuen Liebe erfaßt wurdest, war entsetzlich. Noch mehr aber raubt mir das mein Vertrauen, daß diese neue Liebe so schnell verging und sich in Verachtung wandelte. Ich drücke mich gewiß nicht glücklich aus, ich meine so: ich verstehe, daß man einer Täuschung unterliegen kann; aber ich denke, wenn Dein Wille stark genug gewesen wäre, der Versuchung eine Weile zu widerstehen, hättest Du rechtzeitig erkannt, daß keine wahre Leidenschaft, sondern nur ein Rausch Dich erfaßt hatte. Mir wäre dann all das Entsetzliche erspart geblieben und auch Dir. Denn ich weiß, daß Du leidest, weil Du mich leiden machtest. Nur durch Willensstärke können Gefahren vermieden werden, die unser gemeinsames Leben elend machen müßten. Ich sehe, daß Dir diese Willensstärke fehlt, und darum bitte ich Dich, mache gar nicht erst den Versuch, mich wiederzusehen. Ich zürne Dir nicht, dazu bin ich zu schwach und unglücklich. Aber wir müssen einander entsagen.
Magda.“  

Kaum war der Brief fort, so ward Magda von den quälendsten Zweifeln über seine Berechtigung erfaßt.

„Ich hätte ihn erst Hortense zeigen sollen, erst mit ihr über die neueste Wandlung in Renés Herzen sprechen müssen. Ich verstehe auch dies vielleicht nicht,“ sagte sie sich bang.

Der Ton ihres Briefes konnte ihn beleidigen. Wie durfte sie ihm sagen, gerade ihm, daß ihm Willensstärke fehle, der durch die Kraft seiner eisernen Arbeit schon mit achtundzwanzig Jahren an einer Stelle stand, die andere mit vierzig erreichen?

Nein, sie hätte schreiben müssen! ich verstehe Dich nicht, deshalb fehlt mir das Vertrauen, neben Dir zu stehen.

Vielleicht würde Hortense ihr alles erklärt haben.

Zehnmal kam ihr die Versuchung, den Brief zurückholen zu lassen und erst mit der Freundin zu sprechen.

Aber zwei Dinge hielten sie ab: die Furcht, daß ihre Feigheit sie zum Selbstbetrug verführen möchte, und dann die Erkenntnis, daß tausend kluge Freundesworte nicht die Kraft haben, Erfahrung zu fördern und Vertrauen zu stärken.

Aus ihr selbst mußte es geboren werden! Und dies hielt Magda für unmöglich.

Ein Wort ihres Mädchens riß Magda aus ihrem brütenden Zustand. Als sie Kathi mit ungeheuer viel Lärm die Holztische an die Fenster rücken sah, sprach sie ärgerlich:

„Du bist so laut Kathi; was soll das überhaupt?“

„Heut’ ist ja Malstunde,“ sagte Kathi. Magda erschrak. Heute sollte sie das Geschwätz der jungen Damen über sich ergehen lassen! Welche unaussprechliche Last! Sie überrechnete die Zeit, ob Kathi noch hinlaufen und absagen könne. Unmöglich! Aber wie gerufen kam in diese Erwägung hinein eine Absage. Johanne von dem Busche und die zwei malenden Schwestern ließen durch ein und denselben Boten absagen.

Seltsam, aber sehr willkommen. Wer wußte, welch ein Vergnügen die Mädchen abhielt.

Eine halbe Stunde später kam mit der Post eine Briefkarte der Frau von Lenzow, worin sie wegen der vielen gesellschaftlichen Zerstreuungen, die Sibylle genoß, davon absah, ihre Tochter zunächst weiter Malunterricht nehmen zu lassen.

Der frostige Ton, der wenig verständliche Grund erschreckten Magda. Da war etwas vorgegangen – man hatte etwas gegen sie – – –

[791] Sie sann und sann. Vergebens!

Da that sich die Thür auf. Sibylle Lenzow kam herein und stürzte auf sie zu und fing sofort jammervoll zu weinen an.

„Was hast Du, Sibylle, fasse Dich doch!“ bat Magda.

Thränen sehen, Klagen hören – heute, wo sie selbst jeder Kraft entbehrte! Nein, nur das nicht!

„Ich erwartete Dich gar nicht, nach der merkwürdigen Absage Deiner Mutter,“ sprach sie.

Sibylle stand und hielt die Fäuste an den Augen.

„O was sind es für Menschen, o was sind es für Menschen!“ stammelte sie.

Magda nahm ihr die Hände vom Gesicht. Die braunen Glacefinger waren ganz naß.

„Was ist denn geschehen?“ fragte sie. „Hat Lieutenant Wallwitz sich mit einer andern verlobt?“

Sibylle hörte sofort auf zu weinen.

„Nein,“ sagte sie stolz. „Zwar, es weiß noch niemand außer Papa und Mama, aber Du sollst es erfahren, wenn Du mir schwörst, bis Sonntag zu schweigen. Wir haben uns Sonnabend morgen verlobt, meine Tante giebt das Geld. Walfried hofft, daß seine Großmama nicht dagegen ist. Bis Sonntag wird alles geordnet sein, dann steht es in der Zeitung.“

„So hast Du doch alle Gründe, glücklich zu sein,“ sagte Magda und gab der kleinen Braut einen herzlichen Kuß. Sie hatte das offenherzige Ding lieb. „Dann begreife ich auch, daß Du nicht weiter malen willst.“

„O, es ist nicht deshalb,“ rief Sibylle, „das ist ja gerade das Schändliche! Und Gründe zum Glücklichsein habe ich auch noch nicht. Ich glaube, es schwebt ’was Gräßliches in der Luft.“

Nachgerade wurde Magda nervös. Sie nahm Sibylle bei der Hand.

„Komm,“ sprach sie, „setz’ Dich dahin und erzähle!“

Sibylle setzte sich, knöpfte ihren Paletot auf und zog die Handschuhe aus.

„Nun!“ mahnte Magda ungeduldig. Sie stand vor der Kleinen.

„Ja weißt Du denn nichts, gar nichts? Hast Du denn keine Ahnung, was los ist? Was die Leute sagen?“

Magda schüttelte ein wenig den Kopf. Aber ihre nervöse Ungeduld verwandelte sich in dumpfe Angst.

„Sie sagen,“ begann Sibylle in schwindelerregender Schnelligkeit sprechend, „daß Du ’was mit Flemming hast. In der Schweiz haben schon irgend welche Leute, ich glaube ’ne Freundin von ’ner Cousine der Deggenburg, Euch gesehen – Arm in Arm im Wald, es ist hierhergeschrieben worden – neulich. Und Du bist ein paarmal mit ihm hier spazieren gegangen. Die Frau Doktor Behrens hat ’mal im Vorbeigehen gehört, daß Ihr Du zu einander gesagt hättet. Und die alte Deggenburg, die doch Flemming vis-à-vis wohnt, hat aufgepaßt, weil doch schon mal das Gerücht lief, und sie sagt, sie habe ’mal um sechs, oder mehrfach um sechs eine schlanke, verschleierte Dame in das Haus gehen sehen, und sie schwört, das warst Du!“

Magda wurde kalkweiß. Sie stand und dachte nichts und wußte nichts zu sagen.

„Und Papa sagt, er traue Dir nichts Schlechtes und Abenteuerliches zu, und er glaube bestimmt, daß Du, wenn es so wäre, bloß wegen Deinem Vater noch nicht heiratest und daß Du regelrecht mit Flemming verlobt und nur unvorsichtig gewesen bist. Aber Mama sagt, es giebt ja so viele Verhältnisse, die eine lange heimliche Verlobung nötig machen – sie selbst war zwei Jahre lang heimlich mit Papa versprochen, bis er seinen Assessor gemacht hatte; aber, sagt Mama, eines schickt sich nicht für alle und Du, als mutterloses Mädchen, dürftest nicht heimlich verlobt sein und keinen Anlaß zu Gerede geben. Ach Magda, siehst Du, deshalb sollen wir nicht zum Malen kommen und es soll erst abgewartet werden, was weiter passiert.“

„Aber,“ begann Magda mit einem Lächeln, das wie Bitterkeit um ihre Lippen spielte, „das Fräulein von Deggenburg und die Frau Doktor Behrens kennen mich ja gar nicht.“

„Ach das ist doch dem Klatsch einerlei, ob er sein Opfer kennt oder nicht.“

In Magda war eine dumpfe Verzweiflung. Wenn ihr etwas widerfuhr, war ihr nächster Zustand immer der einer völligen Hilflosigkeit. Ihr war, als müsse sie sich rund umsehen, woher der Schlag käme und wo der Schutz dagegen sei.

„Wenn ich den Brief nicht geschrieben hätte,“ dachte sie, „dann könnte ich jetzt stolz sagen: ja ich bin mit ihm verlobt!“ Gewiß würde er in eine sofortige Veröffentlichung ihres Bundes gewilligt haben.

Sie hatte sich selbst alle Brücken zur Wiederherstellung ihres gefährdeten Rufes abgebrochen.

Aber gleich regte sich eine andere Stimme in ihr mit der Gegenfrage:

„Würdest Du aus Furcht vor dem Gerede der Welt gethan haben, was Du aus Vertrauen nicht vermagst – Deine Hand in seine legen?“

„Nein, nein, nein!“ sagte sie ängstlich laut vor sich hin.

Sie fühlte auch, wenn sie René zu Wehr und Schutz anrufen wollte, so durfte und konnte sie das trotz ihres Briefes.

Aber neben ihm zu stehen im Leben, dies schien ihr trotz ihres Mangels an Mut unmöglich!

„Ich kann mich nicht verteidigen,“ sprach sie vor sich hin.

„Aber ich könnte es,“ rief Sibylle, „und ich kann es doch nicht. Ach Magda, ich habe noch längst nicht alles vom Herzen runter. Seit Montag nachmittag lauf’ ich damit ’rum. Denk’ Dir das – seit Montag nachmittag! Ob ich’s Dir sagen soll und ob Du ’was helfen kannst? Insofern ist ja der Klatsch über René Flemming und Dich ein Glück, denn sieh, wenn ich auch weiß, daß Du nicht die verschleierte Dame warst, so ist es doch sicher, daß Du mit René Flemming gut Freund bist. Er darf und er soll mir meinen Walfried nicht totschießen! Grade wo Sonntag Verlobung sein soll!“

Sie warf sich auf die Ottomane und weinte laut.

„Was redest Du von Totschießen?“ fragte Magda am ganzen Leibe zitternd. „Ich flehe Dich an, sprich deutlich!“

Sibylle richtete sich auf, schluchzte sehr und schnupfte sich lange aus. Ihre Augen waren ganz rot.

„Montag nachmittag wollt’ ich zu Lilly gehn – Lilly war gleich gar nicht nett, als sie das von mir und Walfried hörte, sie thut immer so großartig, als ob sie mehr wäre und mehr wisse als ich – ja und trotzdem ging ich Montag ’mal hin. Und als ich in die Stube kam, wo sie saß, war sie wie besessen und hatte Weinkrämpfe und schrie immer ‚Walfried soll kommen!‘ Aber dabei hielt sie mich am Kleid fest, als ich die Großmama holen wollte. Walfried kam denn auch. Und da – nein, Magda, so ’was Schändliches kannst Du Dir gar nicht denken, da sagte Lilly einfach, ich sollte ’raus gehen, sie habe allein mit ihm zu sprechen.“

Die Kränkung empörte Sibylle noch so, daß sie ihr Taschentuch in ein Knäuel zusammendrückte vor nachträglichem Zorn.

„Ich stehe ihm doch jetzt näher als seine Schwester! Das sieht doch wohl jeder ein. Aber ich dachte an Mama, die Lilly auch greulich findet, seit wir sie näher kennen; denk’ Dir, sie schlägt auch gegen Mama einen belehrenden und blasierten Ton an. Und Mama sagt: es dauert ja nur die paar Monate mit der Lilly, nachher geht sie weg und um der alten Wallwitz wegen soll ich so lange lieber zehnmal stillschweigen als einmal auftrumpfen. Na und da ging ich in die andere Stube. Aber ich war so wütend und ich will nicht, daß jemand Geheimnisse mit Walfried hat, und da hab’ ich gehorcht.“

„Sibylle – –“

„Na ja – gehorcht, so viel ich konnte! Und da hab’ ich viel gehört – leider nicht alles und nicht im Zusammenhang. Aber es war gräßlich, wie Walfried im Zorn war. Lilly scheint ein bißchen in René Flemming verliebt gewesen zu sein – dabei ist doch gar nichts. Vorigen Winter sagte Frau von Eschen erst noch: ‚Das ist die Modekrankheit unserer Novizen‘. Und er thut doch immer so, als wenn es ihm egal sei. Sie sagen, er wirft die Briefe in den Papierkorb, die er so bekommt. Lilly ist ’mal bei ihm gewesen, sie sagt, es habe ihr keine Ruhe gelassen und sie habe es in romantischer Neugier gethan. Dabei ist schließlich doch auch nichts, man sollte es eigentlich der Deggenburg ’mal unter die Nase reiben. Warum soll man nicht ’mal hingehen und einen Freund besuchen; freilich hätte Lilly es mir sagen können, ich wäre gern mitgegangen. Aber gerade darüber schien Walfried so in Wut.“

Magda fiel beinahe neben Sibylle auf den Sitz nieder. Ihre Kniee trugen sie nicht mehr. Sie zog die eifrig Redende an sich und streichelte ihr das schwarze Haar.

„Du liebes Kind,“ murmelte sie, „Du gutes Kind!“

[792] „Und dann hörte ich Walfried immer mit so rauher, halblauter Stimme sagen – ach Magda, die Stimme hör’ ich Tag und Nacht! – ,Gerade er! er! er! aber Rechenschaft soll er mir geben – blutige.‘“

Sie verbarg schaudernd ihren Kopf an Magdas Schulter.

„Nicht wahr, so dumm sind wir beide nicht, wir wissen, was das heißt. Walfried wird ihn fordern. Ach, er schießt ihn tot!“

Sie schrie es heraus und umkrallte Magdas Oberarm mit ihren Fingern.

Magda fühlte plötzlich keinen Schmerz mehr. Eisige Ruhe überkam sie. Ihre Gedanken waren ganz klar.

„René Flemming ist verreist,“ sagte sie. Ihre ruhige Stimme, ein gewisses Etwas in ihrer Haltung wirkte so bezwingend auf Sibylle, daß sie sogleich auch ihrerseits mehr Ernst als Jammer empfand.

„Ich weiß es,“ sprach sie, „ich bin seit Montag nachmittag mindestens schon zwölfmal die Ringstraße entlang, an seiner Wohnung vorbei gegangen. Montag und gestern abend war kein Licht da. Und einmal sah ich den Lieutenant von Keller hineingehen in Flemmings Wohnung. Ich wartete von fern. Keller kam gleich wieder heraus. Keller ist Walfrieds Intimus. Gewiß sollte der die Förderung überbringen. O Gott, er schießt mir Walfried tot!“

Dieser immer wiederkehrende Refrain marterte die Hörerin aufs äußerste.

„Es könnte ja auch sein,“ sagte Magda und ihre Hände falteten sich fest, fest ineinander, „daß Walfried ihn erschösse – –“

„Gott – ja,“ sprach Sibylle in naiver Hoffnungsfreudigkeit.

„Glaubst Du denn,“ sagte Magda schwer, „daß das so leicht ist, einen Freund erschießen – meinst Du nicht, daß Leben oder Sterben gleich schrecklich sein kann – daß nicht beide leiden?“

Sibylle fand vor Entsetzen kein Wort. Die Sache trat in eine neue, noch schrecklichere Beleuchtung für sie.

Magda holte tief Atem.

„Höre mir genau zu,“ begann sie mit strengem Ton, während aus ihren blassen Zügen alles Leben gewichen schien, „vielleicht irrst Du Dich und Deine Phantasie hat halb erhorchte Sachen unheilvoll durcheinander gemengt. Das wird sich ja binnen vierundzwanzig Stunden zeigen, denn René ist gestern abend spät heimgekommen oder kommt heute morgen. Dann wirst Du vor Deiner Verlobung Walfried beichten, daß Du gehorcht hast.“

„Das hatte ich so wie so vor, Magda. Ganz gewiß. Mich drückt das Bewußtsein und die Heimlichkeit schon gräßlich!“ versicherte sie weinerlich.

„Und doch,“ fuhr Magda in immer demselben Tone fort, „mußt Du sie der Welt gegenüber immer tragen. Verstehst Du, immer! Wir wissen nicht, ob Wallwitz und Flemming sich schlagen werden, und alle unsere Versuche, etwas Gewisses zu erfahren, werden unnütz sein, denn dies gesteht kein Mann ein. Aber wenn sie es thun, gethan haben, dann, das merke Dir genau, darf auch nicht einmal das Gerücht davon unter die Leute kommen. Es könnte ja ganz ungefährlich verlaufen, nicht wahr? Aber wenn es bekannt wird, bekommen sie Festung!“

Sibylle nickte vor sich hin. Das begriff sie völlig. Die Sache erschien ihr immer fürchterlicher. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, an die Festungsstrafe. O, in welchen Gefahren war ihr Brautstand!

„Ich schwöre es Dir, daß ich schweigen werde,“ sagte sie fest. „Aber ich darf heut’ nachmittag und morgen und oft wiederkommen und mich aussprechen? Ich will Dir’s nie vergessen, wenn Du mir beistehst, Magda. Und Sonntag lad’ ich Dich zur Verlobung ein, ich setze es durch. Und dann wird wohl der dumme Klatsch verstummen.“

„Laß das –“ wehrte Magda ab. Der Klatsch, der sie betraf, erschien ihr jetzt als etwas so Geringes.

Sibylle ging.

Magda trat an das Fenster und schaute in den kalt klaren Tag hinaus. Von drüben her grüßte der Wald, der den Horizont verschrankte. Grün und braun standen die toten Farbentöne vor dem lichten Himmel. Der Wald schien näher gerückt, keine zitternde Sommerwärme durchwebte die Luft und gab der Ferne weiche Linien. Hart und herbe war das Bild der Natur.

Magda legte die Stirn gegen die kühlende Scheibe.

In ihrem Ohr lag noch immer der unerträgliche Nachhall der weinerlichen Mädchenstimme, die klagte: „er soll mir meinen Walfried nicht erschießen!“

Mit gramvollen Augen, thränenlos sah Magda ins Unbestimmte hinaus.

Ihre Lippen waren fest verschlossen. Und in ihrem Hirn kreiste der eine Gedanke: „Und wenn der andere ihn tötet?!“

8.

Seit jenem Tag, an welchem Nicolai erfahren, daß Magda René liebe, hatte er versucht, sich durch Arbeit zu betäuben. Seine zarte Gesundheit verbot ihm, stundenlang vor der Staffelei zu stehen oder zu sitzen und den Pinsel zu führen. Gleich that ihm Rücken und Lunge weh.

Er hatte diesen Zwang, unendlich langsam arbeiten zu müssen, nie als etwas Lästiges empfunden. Die Not drängte ihn nicht, schnell verkäufliche Sachen in nie abbrechender Reihenfolge anzufertigen. Die Zinsen eines bescheidenen Kapitals genügten seiner Anspruchslosigkeit völlig. Wenn jemand von seinen Bekannten die Summe Geldes gekannt hätte, mit welcher er jährlich auskam, er würde sich unaussprechlich gewundert haben.

Nicolai war aber zufrieden. Um sich größere Lebensgenüsse zu verschaffen, hätte er Konzessionen machen, sich mit Kunsthändlern feilschend einlassen müssen. Das hätte seiner Seele wie Roheit weh gethan und er fand eben den besten Lebensgenuß darin, sich alle Roheit fern zu halten.

„Mein Körper ist zu schwach, um das Gefäß einer robusten Gesinnung sein zu können,“ sagte er manchmal.

Ganz selten ward ihm die Freude, daß er ein Bild verkaufte, obschon das Schaufenster der Kunsthandlung, wo er in großen Zwischenräumen etwas ausstellte, immer von Menschen belagert war, wenn „ein Nicolai“ darin erschien.

Aber wenn dies sich ereignet hatte, faßte Nicolai eine scheue Zuneigung für den Käufer. Wer ihn verstand, müßte sich innerlich ihm nahe fühlen, in einer Geistesgemeinde mit ihm stehen, dachte er. Er war zu ängstlich und zu verschlossen, sich jemand aufzudrängen oder eine flüchtige geschäftliche Begegnung festzuhalten und zu weiterem Verkehr auszubauen, und so gelang es ihm nie, mit einem dieser Käufer in Beziehung zu treten. Doch konnte er sich freuen und Herzklopfen bekommen, wenn er einem begegnete.

Er legte sich dann tausend Fragen vor: ob der Besitzer des Bildes noch in einem nahen geistigen Verhältnis zu demselben stehe? Ob er mit der Zeit noch tiefer hineinsehen gelernt habe? Oder ob die Freude erkaltet sei?

Seine Kollegen schätzten ihn und sein Können ganz besonders. Sie respektierten auch seine Selbständigkeit ganz außerordentlich und trösteten sich, soweit sie in sich selbst einen Mangel daran verspürten, damit, daß er bei besserer Gesundheit auch wohl weniger unberührt von der leidigen Notwendigkeit, sich zu drücken und zu bücken, geblieben wäre. Sie sagten auch von ihm: er malt seine Bilder nicht, er träumt sie.

Und in der That, wer ihn in seinem Atelier so sitzen sah, in seiner feinen, leisen Malweise die Leinwand mit wunderlichen Gebilden bedeckend, konnte ihn wohl für einen Träumer halten.

Er war in diesen Stunden ganz glücklich, er lebte in einer anderen Welt und von der Wirklichkeit um ihn blieb nichts in seinem Erinnern als die Liebe für Magda.

Sein bestes Bild, das, welches er für sein bestes hielt, „Die Stimmen des Frühlings“, hatte er ihr geschenkt. Und seit sie es freudig angenommen, war ihm, als sei ein Teil von ihm immer bei ihr, als bestehe zwischen ihnen ein untrennbares geistiges Band.

Niemals dachte er daran, daß sie lieben, heiraten, fortgehen könne. Das stille Leben, das sich seit vier Jahren so immer gleichmäßig abgesponnen, mußte, so meinte er, immer dauern. Es schien so natürlich und so ihnen allen gemäß, daß Nicolai nicht einmal die Furcht bekam, es könnte sich je verändern.

Im Sommer, wenn Magda mit Frau von Eschen aufs Land ging, gönnte auch er sich vierzehn Tage Waldluft, die er in einem Försterhaus in den nahen Bergen verbrachte. Mehr gestattete seine Kasse nicht.

Aber er hätte auch gar nicht länger fortbleiben mögen. Er wußte, was Sterben heißt, was ewige Trennung und Nimmerwiedersehen bedeutet. Er hatte all die Seinen hingehen sehen, ein unglückliches Geschlecht, das geboren ward, um hinzusiechen. Er wollte sich keinen Tag Magdas Gegenwart und Nähe rauben.

[793]

Adolph Menzel.
Nach einer Radierung von G. Eilers.

[794] Er war immer ernst und nachdenklich, aber eigentlich niemals traurig. Er verlor sich nie in sentimentalen Klagen oder ohnmächtigem Aufbäumen gegen sein Geschick. Still in das Unabänderliche ergeben, sog er aus allem reine, unausgesprochene Freude: aus dem Zufall, der ihm Magda zur Nachbarin und Freundin gegeben, aus der Gunst, nicht hungern zu müssen und malen zu können, was er wollte, ja sogar aus seiner Krankheit, die ihm Magdas liebevolle Fürsorge eintrug.

Seine Wirtin glaubte manchmal, ihn beklagen zu müssen. Sie war eine gute, aber etwas wichtigthuende Person, deren Gatte in der Hofkanzlei einen Posten als Bureauvorsteher bekleidete. Infolgedessen sprach die Frau Böhmer immer von „Seiner Hoheit“ und „Ihrer Hoheit“, als sei sie täglich in persönlichem Verkehr mit den Herrschaften und als werde das Budget des herzoglichen Hauses von ihrem Manne bestimmt und im Gleichgewicht gehalten.

Aber wenn sie mit ihrem zudringlichen Mitleid ankam, setzte ihr Nicolai auseinander, daß man nie die Blicke auf diejenigen gerichtet halten müsse, die es besser hätten, sondern daß man nach unten zu schauen habe, wo größeres Elend und wahre Not sei.

Nein, er fand kein Recht, sich unglücklich zu nennen. Ein Leben, das mit harmonischer Arbeit und mit einer reinen Liebe ausgefüllt ist, bleibt immer beneidenswert, auch wenn der Träger desselben weiß, es kann kein langes sein.

Lang oder kurz – es kommt auf des Daseins Inhalt an. Achtzig Jahre voll Gesundheit und Unzufriedenheit sind weniger als dreißig voll innigster Harmonie.

Nicolais Seele war von einer wahrhaft vornehmen Zufriedenheit erfüllt – erfüllt gewesen, bis zu dem Tag, wo er erfuhr, daß Magda einen andern liebe.

Da kam eine quälende Unruhe über ihn. Er wollte sich nicht gestehen, daß dies Eifersucht sei, und redete sich ein, daß nur Sorge wegen Magdas Liebeswahl ihn erfülle. René Flemming? Gerade diesen hatte sie erkoren, der durch seinen Beruf und persönliche Veranlagung der wenigst Geeignete war, sich stetigem und ergebenem Frauendienst zu widmen! Und Nicolai, der so wenig von den Bedürfnissen eines Frauenherzens wußte, dessen feine fast weibliche Psyche nicht befähigt war, einen Mann wie Flemming ganz in seiner Wirkung auf Frauen zu beurteilen, Nicolai verstand die Wahl einfach nicht. Gewiß, René Flemming hatte etwas Bestrickendes, er selbst erlag immer dem Zauber seiner sonnigen Persönlichkeit – aber daß Magda diesem Mann ihr Leben anvertrauen wollte – nein, das begriff er doch nicht.

Aber als er nun das strahlende Glück in Magdas Angesicht las, als sie so schön erblühte, daß es schien, als sei bisher all ihr Jugendreiz versteckt gewesen, gelang es ihm, seine Unruhe zu bemeistern und in seiner grenzenlosen Ergebung für Magda dem Manne dankbar zu sein, der ihr diese Sonnenzeit gab.

Um nicht zu viel zu grübeln, um alles, was sich an bitterem Schmerz etwa regen und das Gleichgewicht seiner Seele stören wollte, gar nicht aufkommen zu lassen, fing Nicolai an, gegen alle seine Gewohnheit eifrig zu arbeiten.

Sein großes Bild „Das Glück küßt zum erstenmal die Stirn eines Menschen“ stand fertig auf der Staffelei. Er suchte nach einem knappen Titel dafür und war noch gar nicht mit sich einig, ob er es ausstellen solle. Der Engel trug doch ihre Züge und er bedachte, daß man dies bemerken könnte.

Er fing sogleich ein anderes an. Er arbeitete nicht nach dem Modell, sondern fand für seine visionären Gestalten in seinen mit Aktstudien gefüllten Mappen immer die nötige anatomische Grundlage. Jetzt wollte er eine „Sommernacht“ malen. Zwischen den Stämmen eines Waldes, der vom silbernen Mondlicht wie durchwirkt erschien, sollte eine hohe, blasse Frauengestalt hervortreten, mit einem schwülen Liebeslächeln auf den Lippen. Aber die Gestalt sollte transparent sein, einer mystischen Erscheinung gleichen.

Er hielt sich jeden Morgen viele Stunden an die Arbeit und sein Husten ward ärger.

Frau Böhmer, die trotz ihrer bedeutenden Stellung gern ein wenig mit Kathi klatschte und alle Hausbewohner abfällig beurteilte, klagte sehr, daß Herr Nicolai wieder Blut aushuste. Während sie ihn bemitleidete, wußte sie ihre christliche Opferwilligkeit für ihn in ein ausgezeichnetes Licht zu stellen. –

Da sah Nicolai, daß der Sonnenschein von Magdas Stirn entwich und daß ihr Wesen in wartende Unruhe geriet. Er merkte, auch ohne aufzupassen, daß René nicht kam und daß Magda nicht ausging, daß sie sich also nicht sahen.

Eine große Angst kam in sein Herz. Er ging jeden Tag wohl zehnmal hinüber, um nach dem alten Ruhland zu sehen, und seine Augen hafteten dann voll Sorge und mit unausgesprochenen Fragen auf Magdas Gesicht. Er ahnte nicht, daß er ihr damit eine große Qual bereitete. Das Anrecht seines Herzens an ihren Kümmernissen war ihm etwas so Selbstverständliches, daß ihm nicht der Gedanke kam, er sei zudringlich mit seinen Frageblicken.

Er schlief keine Nacht mehr ruhig und sein Befinden verschlechterte sich mehr und mehr.

Und seit Sonnabend abend wußte er gewiß, daß Magda ein großes Unglück zugestoßen sei. Er hatte Frau von Eschen auf der Treppe gesehen, sie war ohne den gewohnten freundlichen Gruß an ihm vorbei weiter hinabgegangen. Ihr Gesicht war abgespannt gewesen und erschien sehr alt.

Nicolai fragte an der Etagenthür an, ob es dem alten Herrn schlechter gehe, aber Kathi sagte, es gehe wie gewöhnlich. Und dem gnädigen Fräulein? Das Fräulein sei nicht wohl.

Er wußte genug.

Von einem thörichten Gefühl getrieben, ging er wieder fort, in den Abendnebel hinein, und wanderte vor Renés Fenstern auf und ab. Von drinnen her leuchtete so friedlich eine Lampe.

Nicolai war, als müßte er mit der Faust gegen das Fenster schlagen, daß es zersplittere, und müßte hineinrufen: „Was hast Du ihr gethan?“

In seinen Adern brannte Fieber. Kaum schleppte er sich wieder heim. Seinem Atem that der klebrige Nebel unsäglich weh.

Er wagte am anderen Tag eine Frage an Magda. Sie schüttelte nur den Kopf und hörte nicht einmal, daß Nicolais Stimme rauh war, daß seine Brust sich mühsam hob. (Fortsetzung folgt.)


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Adolph Menzel.

Von Ludwig Pietsch.

Dasselbe Jahr 1815, welches Deutschland und Europa den Frieden und die endgültige Befreiung von der Besorgnis der Möglichkeit einer Wiederkehr der Unterjochung und Fremdherrschaft gab, hat noch eine andere hohe Bedeutung und Wichtigkeit für unser Vaterland erhalten. Unter den Knaben, welche in deutschen Häusern in jenem Jahre das Licht der Welt erblickten, waren zwei, die, zu Männern erwachsen, dem deutschen Namen auf zwei ganz verschiedenen Gebieten den höchsten Ruhm bei den Menschen erwerben und der größte Stolz unseres Volkes werden sollten. Der eine von ihnen wurde in dem einfachen Herrenhause auf dem Landsitz eines märkischen Edelmanns, des Herrn von Bismarck auf Schönhausen, geboren. Der andere in einer bürgerlichen Mietwohnung zu Breslau, der Sohn des Vorstehers einer Mädchenschule, Namens Menzel. Jener war berufen, dem deutschen Volk ein Vaterland zu schaffen, das mehr als ein „geographischer Begriff“, das ein geschlossenes, großes, mächtiges, einheitliches Reich ist. Der andere: in zahlreichen Werken des Stiftes und Pinsels die Muster einer wahrhaft originalen und wahrhaft nationalen gesunden Kunst zu geben und die deutsche Malerei zur Erkenntnis der Natur und der Schönheit in der Wahrheit zurückzuführen. Beide sind wie die deutschen Eichen „kernfest und auf die Dauer“. Die gewaltigen Heraklesthaten im Dienste des Vaterlandes haben des ersteren Kraft so wenig aufzureiben vermocht wie die ungeheure nie rastende schöpferische, künstlerische Arbeit die des andern. An der dem Menschendasein, „wenn es hoch kommt“, gesetzten Grenze, dem Abschluß des achtzigsten Lebensjahres, angelangt, stehen Fürst Bismarck und Adolph Menzel noch immer so schaffenskräftig, so geistesmächtig und den jüngeren Nachwuchs so weit überragend wie vor manchen Jahren da. Dem großen Künstler aber fiel das glücklichere Los: ihn hemmt und hindert nichts, diese Geisteskraft noch immer in jedem Augenblick auf seinem eigensten Gebiet zu bethätigen. Dem großen Kanzler ist es versagt. Lange [795] vor der Zeit und wider seinen Willen sieht er sich sein ganzes Arbeitsgebiet verschlossen, auf dem er so Gewaltiges, wie kein zweiter, zum Heile Deutschlands geschaffen und vollbracht hat und heute noch wirken könnte.…

In ihren jüngeren Mannesjahren nach ihrem vollen Wert von der Menge nicht erkannt und gewürdigt, haben beide, erst als sie über die Mitte des Lebensweges hinaus waren, ihre Zeitgenossen durch die Kraft ihres Genies und die Größe ihrer Leistungen bezwungen und die frühere Gleichgültigkeit, ja die Gegnerschaft, in Bewunderung und begeisterte Verehrung gewandelt. –

Von dieser Stimmung unseres Volks für ihn hat Fürst Bismarck gelegentlich seines achtzigsten Geburtstages eine überschwengliche Fülle von Beweisen der mannigfachsten Art empfangen. Auch dem um acht Monate jüngeren großen deutschen Künstler gegenüber wird es wenigstens der Teil seiner Nation, welcher seine Ehrung, die ihm indes noch erwiesen werden könnte, würde dennoch den Wert und die Bedeutung derjenigen nicht zu überbieten vermögen, welche dem Meister um die Mitte dieses seines achtzigsten Lebensjahres durch seinen Kaiser und König bereitet worden ist: jene für Adolf Menzel im Konzertsaal Friedrichs des Großen zu Sanssouci durch Kaiser Wilhelm II. veranstaltete Verlebendigung und Realisierung des von dem Meister vor dreiundvierzig Jahren gemalten unvergleichlichen Bildes „Konzert bei Hofe. Sanssouci 1750“ durch das Kaiserpaar, die Herren und Damen des Hofes und die dazu eingeladenen und darin mitwirkenden Musiker. Eine ausgesuchtere, sinniger erdachte, schmeichelhaftere, geistreichere und liebevoller durchgeführte Auszeichnung ist nie zuvor einem großen Künstler durch einen Herrscher zu teil geworden als diese. Was den Kaiser dazu bewog, war – ebenso wie das, was vor zehn Jahren Kaiser Wilhelm I. zu dem unvergeßlichen Schreiben bestimmte, in welchem er den Meister an dessen siebzigstem Geburtstage beglückwünschte – nicht allein die allgemeine künstlerische Bedeutung des so Gefeierten. Beide kaiserliche Ehrungen galten doch in erster Reihe dem „Maler Friedrichs des Großen“, dem Verherrlicher dieses Monarchen, dem Schilderer seiner Persönlichkeit, seines Lebens und Wirkens und seiner unsterblichen Thaten für Preußens Größe und Ruhm im Kriege wie im Frieden. Aber Menzels diesen Aufgaben gewidmete künstlerisch schöpferische Thätigkeit bildet doch nur einen Teil seines allumfassenden kaum noch übersehbaren Lebenswerks. Ein glückliches Ungefähr veranlaßte einst den wenig über zwanzig Jahre alten Zeichner, sich intimer mit jenem königlichen Helden und der durch ihn heraufgeführten Heroenzeit Preußens zu beschäftigen und während einer längeren Reihe von Jahren seine ganze frische Kraft, wenn auch nicht ausschließlich, so doch überwiegend, auf die Lösung der großen künstlerischen Aufgabe der Schilderung König Friedrichs und seiner Zeit zu richten.

Menzels Jugendgeschichte ist ziemlich allgemein bekannt. Man weiß, daß dem ernsten nachdenklichen in sich zurückgezogenen Knaben in Breslau schon keine Beschäftigung lieber, keine von ihm eifriger betrieben war als das Zeichnen; daß er ohne Lehrer und Anleitung selbstkomponierte geschichtliche Scenen in der Weise des Linienstichs, Porträtköpfe und die Teile des menschlichen Körpers nach der Natur zeichnete und darin frühe bereits sein großes Talent bekundete. Durch die Uebersiedlung des Vaters mit der Familie im Jahr 1830 nach Berlin, wo er ein lithographisches Institut errichtete, erhielt der junge Zeichner die Möglichkeit, seine Begabung weiter auszubilden. Die damalige Berliner Kunstakademie mit ihrem verzopften Unterricht konnte ihm das, was er brauchte und suchte, nicht bieten. Seine Lehrer waren die lebendige Natur, die Werke der alten Meister in den Museen und die Nachbildungen der in den Galerien anderer Städte enthaltenen, die er an den Schaufenstern und in den Mappen der großen Kunstläden sah. Die damals zumeist gepriesenen Sterne der Düsseldorfer und Münchener Schule imponierten ihm wenig und vermochten keinen Einfluß auf ihn zu gewinnen. Ueber ihre innere Unwahrheit konnten sie sein in der steten Beobachtung der Natur geschärftes Auge nicht täuschen. In der lithographischen Anstalt seines Vaters und der des Hofkunsthändlers Sachse übte er sich gleichzeitig in der Technik des Steinzeichnens mit der Feder und der Fettkreide. Unberaten durch andere, versuchte er zu malen und im zähen tapferen Kampf mit allen Schwierigkeiten sich aus eigener Kraft die Beherrschung auch dieser Technik zu erobern. Des Vaters früher Tod, welcher dem kaum zum Jüngling Gereiften die heilige Pflicht der Sorge für die des Hauptes und Ernährers beraubte Familie, die Mutter und zwei Geschwister, auferlegte, nötigte Menzel zur Uebernahme von Brotarbeiten, von Zeichnungen und Lithographien jeglicher Art. Aber in seinem stetigen Vorschreiten zu den hohen Zielen echter Kunst ließ er sich dadurch nicht hemmen. Von den während der dreißiger Jahre erschienenen zahlreichen, teils mit der Feder, teils mit der lithographischen Kreide auf Stein gezeichneten Werken eigener Erfindung, vor allem den Tisch- und Festkarten, Titelblättern und Randzeichnungen, Illustrationen, Einzelbildern und Bilderfolgen, in denen sich das ganz originelle Genie, das eindringende Naturstudium und das so früh schon erworbene außerordentliche Können des jungen Künstlers glänzend bekundeten, nenne ich hier nur die am bekanntesten gewordenen Kompositionen von phantasievoller, sinniger Erfindung und bewundernswürdiger Gestaltung. Es sind die Bilderfolgen „Künstlers Erdenwallen“, „Die fünf Sinne“, „Das Vaterunser“, Titelblatt und Randzeichnungen zu dem „Gedenkbuch“, die Meisterbriefe der Maurer und Zimmerleute (sämtlich Federzeichnungen auf Stein), die Bilder aus brandenburgisch-preußischer Geschichte – mit der Kreide auf Stein gezeichnete Blätter, in denen eine Größe, Kühnheit und innere Wahrhaftigkeit der geschichtlichen Auffassung und der Zeichnung zu Tage tritt, wie wir sie vergebens in den Werken der gleichzeitigen deutschen Historienmalerei suchen würden; ferner sind hervorzuheben die ersten der von Menzel für den eben damals wieder zum Leben erweckten Holzschnitt auf den Stock entworfenen Zeichnungen: die Illustrationen zu „Peter Schlehmihl“, der Tod des Franz von Sickingen und das herrliche Gedenkblatt zur Feier der Erfindung der Buchdruckerkunst vor 400 Jahren.

Alle diese Schöpfungen voller Leben und Geist hatten die Aufmerksamkeit der einsichtigeren Kunstfreunde auf ihren Zeichner gelenkt. Unter diesen wurde besonders Franz Kugler, der Dichter und Kunstgelehrte, mit der höchsten Meinung von Menzels Künstlerschüft erfüllt. Als er in buchhändlerischem Auftrage eine populäre Geschichte Friedrichs des Großen schrieb, die mit 400 Illustrationen geschmückt werden sollte, verlangte er, daß keinem anderen als Menzel die Ausführung dieser in Holz zu schneidenden Zeichnungen übertragen werde.

Dieser von ihm übernommene und in unvergleichlich vollendeter Weise durchgeführte Auftrag war es, welchem wir es danken, daß Menzel „der Maler Friedrichs des Großen“ geworden ist. Nie hatte ein Künstler vor ihm dieser ganzen Epoche ein so umfassendes und so tief eindringendes Studium gewidmet, das sich auf alle ihre Lebensäußerungen, ihre Menschen, vornehme und geringe, ihre Sitten, ihre Einrichtungen, ihre Paläste, Kirchen, Bürgerhäuser und Dorfhütten, ihre Kriegs- und Friedensgebräuche, Trachten und Waffen, ihre Architektur und gewerblichen Erzeugnisse bezog. So erwarb er sich die vollständigste lebendigste Anschauung dieser Vergangenheit. Nur so konnte es ihm gelingen, sie mit ihrem großen Könige und den Seinen, mit dessen Feinden und Gegnern in voller Realität und überzeugender Wahrheit aus ihrem Grabe in seinen Zeichnungen und seinen späteren Gemälden wiedererstehen zu lassen. Die bei diesem Anlaß erworbene intimste, vertrauteste Kenntnis des Zeitalters Friedrichs und dies tiefe Versenken in den Geist und das Wesen des großen Königs befähigten Menzel dann auch zur vollkommensten und fesselndsten Lösung jener noch schwierigeren Aufgabe, die ihm König Friedrich Wilhelm IV. nach dem Erscheinen des Kuglerschen Friedrichbuches stellte: die auf königlichen Befehl unternommene große Prachtausgabe der sämtlichen Schriften Friedrichs mit Holzschnittillustrationen zu schmücken. Im Schneiden der Menzelschen Zeichnungen zu Kuglers Buch hatte sich eine Anzahl deutscher Xylographen zu einer Höhe der Meisterschaft im Faksimileschnitt entwickelt, die ohne Beispiel war; Kretzschmar, die beiden Vogel und andere bewährten dieselbe in vielleicht noch gesteigertem Maße in der Ausführung dieser bewundernswerten Zeichnungen mannigfachster Gattung – Bildnisse, Darstellungen geschichtlicher Vorgänge, Sittenbilder, symbolischen und ornamentalen Kompositionen – zu den Werken Friedrichs. So danken wir Menzel mittelbar auch den neuen glanzvollen Aufschwung der deutschen Holzschneidekunst.

Einen Hauptgegenstand seiner das Zeitalter des Großen Königs betreffenden Studien bildete dessen gesamtes Heerwesen. Mit wahrhaft staunenswertem Fleiß und unermüdlicher Ausdauer durchforschte er alle darauf bezüglichen Dokumente, die Montierungskammern und Zeughäuser, maß die vorhandenen Uniformen, Waffen und [796] sonstigen Ausrüstungsgegenstände mit dem Zollstock aus, zeichnete mit peinlichster Genauigkeit jedes irgend erreichbare Stück derselben nach. Das so gewonnene Material verwertete er zu den lithographischen großen Federzeichnungen, welche den Inhalt des nur in dreißig Exemplaren gedruckten Werkes „Die Armee Friedrichs des Großen“ bilden. Die Soldaten, in die echten Uniformen gekleidet und mit den echten getreu nachgebildeten Waffen ausgerüstet, erscheinen jeder in so charakteristischer Haltung, Aktion und Physiognomie und als so lebensvolle Typen des altprenßischen Militärs, daß sie täuschend so wirken, als müßten sie direkt nach solchen gezeichnet sein. Diese wunderbare Fähigkeit, die Menschen vergangener Zeitalter in voller Lebendigkeit in der Zeichnung oder im farbigen Bilde hinzustellen, bewies Menzel jedoch nicht nur in seinen Schilderungen aus der Fridericianischen Epoche. Mindestens ebenso in den zahlreichen Darstellungen von Gestalten und Scenen aus früheren Jahrhunderten, von denen das Bild „Die Schweden kommen“ im Jahrgang 1866 der „Gartenlaube“ den Lesern eine Probe bietet. Aber die seiner ganzen Geistesart zumeist sympathische Kulturepoche bleibt jene Fridericianische. Er zuerst hat diese der modernen bildenden Kunst gleichsam erschlossen und mit dem reichen malerischen Stoffgehalt und Reiz derselben seine Zeitgenossen bekannt gemacht.

Menzel betritt als Ehrengast des Kaisers Schloß Sanssouci.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

Noch viele der bedeutendsten Werke Menzels bleiben aufzuführen, denen er seinen volkstümlichen Ruhm und Titel als Maler Friedrichs des Großen mit verdankt. Da sind die meisterhaft in Holz geschnittenen großen Zeichnungen von Einzelgestalten (Kniefiguren) des Königs und seiner zwölf Paladine zu nennen, die mit Text von Al. Duncker in dessen Verlag unter dem Titel „Aus König Friedrichs Zeit“ 1856 erschienen und und aus deren Reihe das auf der nächsten Seite wiedergegebene Bildnis des Königs stammt; ferner die Kohlezeichnung „Friedrich am Sarge des Großen Kurfürsten“, welche die „Gartenlaube“ im Jahrg. 1878 (S. 825) brachte, die prächtigen Holzschnittzeichnungen für das Prachtwerk „Germania“, eine ganze Reihe köstlicher Gouachebilder aus dem Leben seines Helden in den heitern Tagen von Rheinsberg. Vor allem aber die Oelgemälde, mit denen Menzel sich seit 1850 seinen Platz in der ersten Reihe auch der zeitgenössischen Maler eroberte: die „Tafelrunde zu Sanssouci“ – der König mit Voltaire und den andern geistreichen, witzigen Genossen seines Kreises beim Dessert des Diners; das schon oben erwähnte „Konzert bei Hofe“ – Friedrich die Flöte blasend, auf dem Flügel und Streichinstrumenten von seinen Musikern begleitet, in Gegenwart des Hofes und der Schwester, der Markgräfin von Bayreuth; „Friedrich der Große auf Reisen“; das großartige packende und erschütternde Bild des vom Flammenschein des brennenden Dorfes beleuchteten nächtlichen Heldenkampfes König Friedrichs und der Seinen bei Hochkirch; „Friedrichs Zusammenkunft mit Kaiser Josef im Schloß zu Neiße“. Unvollendet geblieben ist leider das so herrlich begonnene große Bild „Friedrich, seine Generale am Morgen der Schlacht bei Leuthen anredend“ und das, welches des Königs Erscheinen nach jenem Siege im Quartier der österreichische Offiziere im Schloß zu Lissa schildert.

Gleichzeitig mit diesen Werken gingen künstlerische Schöpfungen jeder Gattung, und in jeder Technik ausgeführt, aus seinen nie rastenden Händen hervor: kleinere Oel-, Gouache- und Pastellgemälde; große Transparente, wie „Adam und Eva nach der Vertreibung“, „Jesus als Knabe im Tempel zwischen den Schriftgelehrten“, „Christus vertreibt die Händler aus dem Tempel“; die Folge von geistsprühenden, auf dem Lithographierstein mit Tusche gemalten und ausgeschabten Bildchen, die unter dem Titel „Versuche mit Pinsel und Schabeisen“ gesammelt erschienen sind; das in der gleichen Technik mit größter Meisterschaft ausgeführte Blatt nach jenem Transparentgemälde „Jesus als Knabe im Tempel“; eine Sammlung in Kupfer radierter Landschaften uud Genrescenen. Dann im Jahre 1861 beginnt in Menzels künstlerischem und bürgerlichem Leben eine neue Epoche. Er wird berufen, in einem großen figurenreichen Bilde mit dokumentarischer Treue die Krönung König Wilhelms I. in der Schloßkapelle zu Königsberg zu malen. Nach seinen während dieses feierlichen Aktes aufgenommenen Skizzen uud Notizen führt er in mehrjähriger angestrengter Arbeit das Gemälde, diesen Triumph der realistischen und gewissenhaften Darstellung eines geschichtlichen Aktes seiner Zeit, jeden der Hunderte von Teilnehmern nach dem Leben porträtierend, im Garde-du-Corpssaal des Königlichen Schlosses zu Berlin aus. Geschmeichelt hatte er den hohe Herrschaften in ihren Bildnissen nicht, am wenigsten den Damen. Aber seine ernste, in sich

[797]

Friedrich der Große.
Nach einer Zeichnung von Adolph Menzel.

[798] gefestete, charaktervolle künstlerische und menschliche Persönlichkeit hatte sich in dieser glänzenden Welt des Hofes, wo sonst der Schein oft sehr viel mehr gilt als die Wahrheit, den ihr gebührenben Respekt, ohne sich darum besondere Mühe zu geben, zu erringen verstanden. Die Hochschätzung und Gunst des königlichen und des kronprinzlichen Paares wandte sich dem Meister zu. Er sah sich in jene höchsten Gesellschaftskreise gezogen und – fand in diesen eine Fülle von Anregungen und Motiven zu einer Reihe von größeren und kleineren Oel- und Aquarellgemälden, Farbenskizzen und Zeichnungen, in denen sich der schärfsten, oft fein satirischen und treffendsten Charakteristik eine überraschende Grazie und Eleganz, der Strenge der Zeichnung Reichtum und Reiz der Farbengebung und eine hohe Vollendung der malerischen Durchführung gesellt.

Zu dieser Gruppe von Gemälden gehören das bezaubernde Aquarellbild „Auf dem Hofball“, „Ballpause“, das vielbewunderte „Ballsouper“, mit der überströmenden Masse glücklich erfundener, dem Treiben auf einem solchen Fest am Berliner Hof abgelauschten Gruppen, Gestalten, Farben- und Beleuchtungseffekte, „Kaiser Wilhelm, Cercle auf einem Hofball haltend“, die Federzeichnung „Im Salon der Gräfin Schleinitz“ u. a. m.

Wo unser Meister sich auch befinden mag, sein Auge erfaßt und beobachtet alles. Die Bilder der ihn umgebenden Wirklichkeit prägen sich unauslöschlich seinem Gedächtnis ein und treten in jedem Moment, wo er dessen bedarf, in voller Klarheit und Bestimmtheit hervor. Und alles und jedes wird – von ihm angeschaut und dargestellt – zum fesselnden reizvollen Bilde: ein Anderen gleichgültig und nicht des Ansehens wert erscheinendes Stück Straße, eine kahle Hauswand, ein Gartenwinkel, ein Zaun an einem Rasenfleck, jede Gestalt und Gruppe auf der Gasse, in der Kirche und Sakristei, in der Werkstatt, im Theater, im Konzertsaal, im Biergarten und Weinkeller, im vornehmen Salon, im Eisenbahnwagen, auf der Brunnenpromenade, auf dem Markt, in Wald und Wiese, jeder Vorgang des alltäglichen Menschendaseins wie des Tierlebens, der wilden großen Bestien, der Vögel und Vierfüßler unserer Zoologischen Gärten, wie der in der Freiheit lebenden scheuen Geschöpfe und unserer gezähmten Hausgenossen! Wer will sie alle nennen und schildern, die in unabsehbarer Reihe an unserem inneren Blick vorüberziehen, wenn wir Seiner gedenken – jene Wunderwerke der Beobachtung der Wirklichkeit und der jeder Schwierigkeit spottenden Darstellungskraft, die Bilder, die den Mann der rauhen Handarbeit am Werke darstellen, wie die humorvolle 1885 in der „Gartenlaube“ (S. 809) wiedergegebene „Kunstpause“ und das machtvolle „Eisenwalzwerk“, das die „modernen Cyklopen“ vor der Glut der Schmelzöfen zeigt, wie sie das erweichte Eisen recken und schmieden; die Schilderung des vom buntesten Leben überwimmelten Marktplatzes zu Verona, und wieder die kleinen lieblichen Idyllen, die Tierbilder, Garten- und Straßenscenen in dem Album, das er ursprünglich als Bilderbuch für die beiden Kinder seiner Schwester angelegt hatte! Nicht minder groß an Zahl und nicht minder bewundernswert sind die einzelnen in der Reihe der reinen Phantasieschöpfungen, der Gouache- und Oelbilder novellistischer Scenen aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert und die in Aquarell ausgeführten, ebenso beziehungs- und gedankenreichen wie schönheitsvollen, farbenprächtigen Gedenkblätter und Adressen für hervorragende Männer und jubilierende Institute. Ich nenne nur die im Auftrage des Berliner Magistrats ausgeführte Illustrierung des Begrüßungsgedichtes Scherenbergs an König Wilhelm beim Einzuge der Sieger von 1866 in Berlin; die Ehrenbürgerbriefe für Moltke und Bismarck; das Jubiläumsblatt der Heckmannschen Fabrik; die Adresse der Berliner Akademie an Kaiser Wilhelm nach den Attentaten; das Widmungsblatt Hamburgs für den Oberbürgermeister Peters. In diesen Kompositionen läßt er „Phantasie mit allen ihren Chören, Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft“, wie es in Goethes „Faust“ heißt, dazu reizenden Humor und holde Anmut aufspielen in wundervollen Harmonieen.

Im achten Jahrzehnt pflegen bei anderen Menschen die Sinne an Schärfe, die Hände an Geschicklichkeit mehr und mehr einzubüßen. Wenn man Menzels Kunstschöpfungen, die Zeichnungen und Aquarelle betrachtet, welche er in seinen siebziger Jahren ausgeführt hat, so könnte man zu dem Glauben verleitet werden, bei ihm hätte sich der entgegengesetzte Prozeß vollzogen. Alle diese unschätzbaren, meist in Gouachefarben gemalten Genrebilder, deren Motive größtenteils auf seinen sommerlichen Ausflügen nach Süddeutschland und während seines alljährlich wiederholten Badeaufenthalts in Kissingen von ihm gesammelt wurden, sie zeigen in der Durchführung eine Delikatesse, eine miniaturartige Vollendung bis in das geringste Detail, eine Präzision und unfehlbare Sicherheit der Pinselzeichnung, die uns selbst in Gemälden eines Meisters im frischesten Mannesalter ans Wunderbare grenzend erscheinen würde. Die volkstümlichsten dieser lebensvollen Bilder hat die „Gartenlaube“ ihren Lesern in vortrefflichen Holzschnitten vorgeführt, wir erinnern an die „Brunnenpromenade in Kissingen“ (Jahrg. 1891, S. 413), den „Biergarten in Kissingen“ (1893, S. 345), „Auf der Fahrt durch die schöne Natur“ (1894, S. 452), und auch die dieser „Menzel-Nummer“ beigegebene Kunstbeilage „Das Morgenbüffett der Feinbäcker in Kissingen“ gehört zu dieser Gruppe.

Alle höchsten Ehren, die in unserem Zeitalter einen Künstler lohnen und auszeichnen können, sind Menzel in vollem Maße zu teil geworden. Nach ihnen hat er nie gestrebt. Die That war ihm immer alles – nichts der Ruhm. Was er einzig suchte, war stets nur die Befriedigung seines unbestechlich strengen künstlerischen Gewissens. Er ging einsam seine eignen Wege, lange weit vorauf der Kunst seiner Zeit, den Blick auf seine hohen Ziele gerichtet. Er machte dem Geschmack des Tages und des großen Publikums keine Konzessionen. Er hat nie einem Modegötzen gehuldigt, kam der Menge keinen Schritt entgegen. Aber schließlich sind die Künstler und das Publikum zu ihm gekommen und blieben in seinem Kreise willig festgebannt. Wie jenen Frommen, die zuerst nach dem Reich Gottes trachten, alles andere von selbst zufällt, so ist es ihm ergangen, der unentwegt und unbeirrt nur nach dem trachtete und strebte, was er in der Kunst als das Wahre und Rechte erkannte.

Der modernen Kunst hat er die Wege dahin gewiesen und gebahnt. Ueberholt hat ihn noch keiner. Aber immer wird sich auch in der Zukunft das von ihm gegebene Beispiel segensreich erweisen – dies Beispiel der Wahrhaftigkeit, der Gewissensstrenge, der sittlichen Energie in der Kunst wie im Leben, der Freiheit von allem, was Phrase, Lüge, schwindelhaftes Scheinwesen heißt, das über die innere Leere und Schwäche durch falschen Aufputz verblenden will, dies Beispiel des immer vorwärtsstrebenden Fleißes, des heiligen Respektes vor der Meisterin der Meister, der Natur!


Wie Meister Menzel lebt.

Von Agnes Schöbel. Mit Abbildungen von Georg Schöbel.

Wer sich unter Menzels Heim und Atelier Prunkräume, wie sie sich Lenbach, Makart, Herkomer oder Alma Tadema schufen, vorstellt, der würde verwundert vor dem schlichten Hause in Berlins Westen, Sigismundstraße 6, stehen bleiben und dann kopfschüttelnd drei Treppen hinaufsteigen, bis er die Thür erreicht hat, neben der ein einfaches Porzellanschild ihn belehrt, daß hier „A. Menzel“ wohnt. Kleinbürgerliche Räume thun sich auf, das Licht fällt durch oft gewaschene Gardinen, durch Musselinvorhänge mit eingedruckten Bouquets auf Urväter Hausrat, auf längst aus der Mode gekommene Polstermöbel mit ein paar verschossenen Tapisserien, auf eine Servante, hinter deren Glaswänden allerhand Familienraritäten aufgestellt sind. Die Wände schmücken einfach gerahmte Bilder, zum teil von des Meisters Hand herrührend. Das einzige Prunkstück inmitten all dieser Schlichtheit bildet ein kostbarer Flügel, der auf Menzels musikalische Neigungen hindeutet.

Jener unbeschreibliche Hauch, wie er Großmutter- oder Altjungfernstübchen durchschwebt, liegt über diesem friedlichen Heim. Hier lebt der große Maler seit Jahren mit seiner Schwester, der Witwe des Musikdirektors Krigar, deren Kinder er als die seinen betrachtet. Als er vor Zeiten in Albrechtshof (der jetzigen Rauchstraße) wohnte, konnte man ihn morgens beobachten, wie er in dem poesieerfüllten, buschumhegten und blumendurchblühten Garten seine goldköpfigen Neffen im Kinderwagen umherkutschierte.

Der Eingang zum Atelier, das eine Treppe höher als die Wohnung liegt, ist für Besucher vom Hofe aus gelegen. Der Meister selber erreicht es von seinen Privaträumen aus, über einen langen Gang, zu dessen linker Seite ein mit grünen Ripsmöbeln ausgestattetes Zimmer voller Studien liegt.

Der hohe, durch eine unvergleichliche künstlerische Persönlichkeit [799] geweihte Raum ist von einer Einfachheit, die geradezu verblüffend wirkt. Graue, durch den Rauch eines eisernen Ofens geschwärzte Wände, – aber welche Meisterwerke blicken von ihnen herab! Jenes herrliche, leider noch unvollendete Kolossalgemälde „Friedrich II. am Morgen von Leuthen“, das zwei Kaiser zu besitzen wünschten und zu dessen Fertigstellung sie den Maler drängten, ohne ihn doch bis heute dazu bewegen zu können! „Wenn ich da einmal herangehe, da giebt’s noch Arbeit!“ äußerte sich Menzel hierüber. Die Stelle des Alten Fritz ist bisher noch leer auf der Leinwand, obwohl ganze Partien des Werks schon vollendet sind. Hat doch der Meister die Eigentümlichkeit, jede Einzelheit eines Bildes gleich fertig auf die dazu ausersehene Stelle zu setzen ohne Aenderung, mit festen sicheren Strichen nach einer bis ins kleinste durchgeführten Skizze. „Man muß jeden Pinselstrich nachrechnen können, nichts darf mit Pedal gemalt sein,“ pflegt er sich auszudrücken auf die Rolle des Pedals beim Klavierspiel hindeutend.

Weiterhin erblickt man an den Wänden Studien zu dem gleichfalls noch unvollendeten Bild „Friedrich II., österreichische Offiziere im Schlosse zu Lissa überraschend,“ sowie das wunderbar gemalte Brustbild einer älteren Frau, neben Gipsmasken und anderen Abgüssen. Im übrigen füllen den Raum Tische mit Malgeräten, eine Art von Estrade, ein Schreibsekretär alten Stils und Staffeleien. Die letzteren sind leer, bis auf eine, welche das gerade in Arbeit befindliche Bild trägt. Nirgends liegen Cartons oder Skizzenblätter umher. Mit der peinlichsten Sorgfalt läßt der Meister dergleichen von Mappen aufnehmen, die er in einem Nebenraum verwahrt.

Er ist überhaupt ein abgesagter Feind des von so vielen gepriesenen ersten Wurfs. „Zu Anfang ist man der größte Esel,“ hat er selber zu diesem Punkt bemerkt.

Zeitweilig war Menzel genötigt, sein Atelier zu verlassen: wegen auswärts abzuhaltender Sitzungen und während jener Jahre, da er an der „Krönung König Wilhelms in der Schloßkirche zu Königsberg“ malte, für welche Zeit man ihm, wie schon im voranstehenden Aufsatz bemerkt ward, den Garde-du-Corps-Saal im Königlichen Schlosse zu Berlin eingeräumt hatte.

Unsere Abbildung auf Seite 804 führt den an Gestalt so kleinen, an Geist und Genie so großen Meister bei der Arbeit an diesem Werke vor. Man hatte die den Raum sonst füllenden Rüstungen bei Seite geschoben, um Platz zu gewinnen für die Aufstellung der Riesenleinwand (sie ist 14 Fuß lang und 11 Fuß hoch), sowie für das Gerüst für den Maler.

Menzel selbst äußerte sich über jenen ehrenvollen Auftrag folgendermaßen: „Sonnabend den 12. Oktober 1861 überraschte mich der damalige Kultusminister v. Bethmann-Hollweg durch die Mitteilung, daß der König den Akt der Krönung in einem Bilde festgehalten zu sehen wünsche und daß ich zu dem Maler desselben ausersehen sei.“ Einen Tag vor der Krönung reiste der Künstler nach Königsberg, um das Innere der Kirche, sowie ihre Ausschmückung zu skizzieren, sowie den günstigsten Standpunkt zum Erfassen des historischen Vorganges zu wählen. Die Tribüne für die Mitglieder des Herrenhauses erschien ihm dazu am geeignetsten. Seine körperliche Kleinheit bereitete ihm aber nicht geringe Schwierigkeiten. Er selber bemerkt darüber: „Der meist hochgewachsenen Umstehenden wegen mußte ich während der Stunden des feierlichen Aktes auf einem Stuhle stehen, dessen Wackeln meinem heftigen Zeichnen nicht zur Erleichterung diente.“

Die Vorstudien zu dem großen Werk erforderten Monate. Am 6. April 1862 begann Menzel das Bild in Angriff zu nehmen. Die ungeheuersten Schwierigkeiten türmten sich vor dem Maler. Galt es doch, den Urbildern zu den 132 Porträts, die festzuhalten waren, Porträts der erlesensten Vertreter der Monarchie und des Volkes, Sitzungen abzuringen, was bei der knapp zubemessenen Zeit jener Persönlichkeiten, bei dem raschen Wechsel ihres Aufenthaltsortes eine fast nicht zu lösende Aufgabe schien. Auch die Königin Augusta weigerte sich, dem Künstler zu sitzen. Die vier zu dem Bilde gemachten Studien nach ihrem Kopfe sind von Menzel auf Hoffesten flüchtig entworfen. Aber der Mann mit dem Eisenkopf, dem die künstlerische Gewissenhaftigkeit über alles geht, setzte schließlich an allen Stellen und den „schwierigsten“ Herren gegenüber seinen Willen durch. Die Porträtsitzungen begannen am 19. März 1863 und am 16. Dezember 1865 konnte das Werk als vollendet im edelsten Sinne des Wortes gelten. Ein Historienbild von überzeugendster Echtheit, von erhabener Größe und Wucht der Darstellung war der Welt geschenkt durch ihn, der seine Zeit und die vergangener Jahrhunderte versteht und erfaßt wie kein zweiter – durch Meister Adolph Menzel!

Schier unerschöpflich scheint die Arbeitskraft des rastlos schaffenden Künstlers. Nur sein Geburtstag, der 8. Dezember, gehört der Geselligkeit, sonst steht er Tag für Tag in seinem einfachen Arbeitsraum. Vom Morgen an bis gegen 1/2 2 Uhr malt er, dann wird ihm ein mäßiges Frühstück gebracht, das er häufig stundenlang unberührt läßt. Es kostet immer Mühe, ihn zu bewegen, sich zum Mittagsmahl einzufinden. Nach demselben arbeitet er weiter bis in die neunte Stunde hinein. Dann greift er zu seinem Schlapphut und geht ins Café Josty, um bei einer Schale „Melange“ den „Punch“ zu durchblättern. Unser Bild S. 801 läßt ihn uns in solcher Mußestunde belauschen. Häufig nimmt er auch bei Frederich oder in der Società Italiana ein Glas Weißwein. Im Winter folgt er hin und wieder einer Einladung. Selten versäumt er den Besuch des Joachim-Quartetts und der Symphoniesoireen der Königlichen Kapelle. Menzel ist, wie wenige, ein Verehrer der klassischen Richtung, besucht aber nur Instrumentalkonzerte. Die leider zu früh heimgegangene Hermine Spies, die durch den Zauber ihrer Stimme und ihrer Kunst Seelen zu schmelzen verstand, hat es nicht erreicht, den Meister in einem ihrer Konzerte zu sehen. „In solchen Liedern, da ist immer von so Amouren die Rede, und davon verstehe ich nichts,“ entschuldigte er in humoristischer Weise sein Fernbleiben. Den Quartettsoireen in den Häusern seiner Kollegen Becker und Paul Meyerheim hat er stets mit hohem Interesse beigewohnt und sich an des berühmten Tiermalers herrlichem Cellospiel oftmals erquickt.

Wenn man Menzels Gesicht, das wie verschlossen und verriegelt erscheint, betrachtet, so sucht man vergebens darin nach einem Zug, der jenen feinen geistreichen Humor andeuten könnte, den der Meister wie einen goldenen Regen hingesprüht hat über Hunderte seiner Zeichnungen. Und doch taut der Ernste, Strenge in Gesellschaft guter Freunde auf, lacht wie ein Kind über die harmlosesten Scherze und läßt ein Brillantfeuerwerk blitzender, feingeschliffener Bemerkungen sprühen. Der anmaßenden Unzulänglichkeit gegenüber kann er sarkastisch, schroff, ja grob werden.

Die weit verbreitete Ansicht, daß Menzel ein griesgrämiger Weiberfeind sei, ist wie so manches über ihn umlaufende Geschichtchen Legende. Er ist charmant mit Damen von einer feinen altmodischen Galanterie, wenn er auch die schönste Frau und ihren Namen bald wieder vergißt. Daß sein Inneres je von einer großen Liebe, ja nur von einer flüchtigen Neigung erfüllt gewesen wäre, davon meldet keine Ueberlieferung der mit ihm jung Gewesenen. Vielleicht liegt in diesem gänzlichen Fernbleiben aus der Atmosphäre der Leidenschaft das Geheimnis der starren Größe des Mannes. Unbeirrt von irgend einem Einfluß, von Beifall oder Mißgunst der ihn Umgebenden schritt er seinen Weg dahin. Der Kunst opferte er alles: Bequemlichkeit, die Freuden des Lebens, jede Rücksicht, auch die auf hochgestellte Persönlichkeiten. Während der Hoffeste steht er ungeniert auf einem Stuhl, beobachtend, messend, skizzierend. Er, einer der Kleinsten unter den Größten, hat bewiesen, zu welchen Höhen Unerbittlichkeit gegen sich selber zu führen vermag. Er durfte, als der alte Wrangel ihn jovial mit „Na, Sie kleiner Mann“ anredete, voll stolzer Gelassenheit erwidern: „Excellenz sind gewohnt, die Menschen nach der Elle zu messen.“

Ruhm und Gold, Ehrungen ohnegleichen sind über Menzel ausgeschüttet worden, alle Erdenpracht hat sich in berückenden Bildern vor seinen Augen entfaltet. Niemals versäumt der Kaiser eine Gelegenheit, den von ihm hochverehrten Künstler durch eine Ansprache auszuzeichnen. Eine dieser nicht seltenen Begegnungen ist in unserer Abbildung S. 789 wiedergegeben. Im letzten Sommer ersann der Kaiser für den Mann, der seinen großen Ahn, dessen Armee und Zeit so meisterhaft vergegenwärtigt hat, jene im voranstehenden Aufsatz von Ludwig Pietsch schon gewürdigte Huldigung, daß er am 13. Juni Menzels Bild „Konzert bei Hofe in Sanssouci“ an der historischen Stätte darstellen ließ und neben seiner Gemahlin selber dabei mitwirkte. Zwei Riesengrenadiere empfingen den greisen Künstler am Eingang des Schlosses (Bild S. 796) und die Leibkompagnie der Fridericianischen Garde exerzierte vor ihm.

So auf den Höhen des Lebens wandelnd, umstrahlt von der Sonne einzigen Ruhms, ist Menzel einfach geblieben, anspruchslos wie kaum ein anderer. Er kennt nur einen Luxus, den der Arbeit, – nur eine Genugthuung, die des Schaffens, – nur eine Freude, die am Schönen und Wahren!


[800]

Sterben.

Novelle von Eva Treu.

 (Schluß.)

Der alte Herr holte tief Atem.

„Ich weiß, daß Sie mir helfen können,“ sagte die junge Frau, das Schweigen unterbrechend, zu dem alten ergrauten Freunde, „und wenn Sie es mir weigern, werden Sie mich doch nicht zu hindern vermögen, zu thun, was ich mir vorgenommen habe. Nur auf eine andere, häßlichere Art wird es dann geschehen müssen, nur mein Elend muß ich dann preisgeben, das ich vor neugierigen Augen wahren möchte, ach, nicht um meinetwillen! Nur daß dann die Welt auf mich oder sonst jemand Steine werfen wird, während ich mich doch still fortschleichen möchte, ohne daß jemand ahnt, wie es zugeht. Dazu nur sollten Sie mir helfen! Es giebt Stoffe – ich weiß, Sie haben seltene und geheim wirkende Gifte, deren Spur sich verflüchtigt. Sie selbst zeigten sie mir einst. Wenige Tropfen vielleicht würden genügen, mir die Qual eines langen Kampfes und noch vieles, vieles andere zu ersparen.“

„Kind,“ sagte der Alte und machte leise seine Hand los, die Frau Agnes umklammert hielt, „wissen Sie, was Sie von mir verlangen?“

„Ja, eine That der Barmherzigkeit.“

„Nein, einen Mord.“

Aber wenn ich Ihnen sage, daß es auf jeden Fall geschehen wird? Heute, morgen oder an einem der nächsten Tage, aber ganz gewiß bald, ob Sie mir nun helfen oder nicht.“

Der alte Mann sah schweigend auf sie hin, auf ihr junges Gesicht und ihr schönes Haar, das sich, feucht vom Regen, ihr an die Schläfen legte. Er schüttelte leise den Kopf.

Haben Sie von dem, was Sie so elend macht, Ihre eigene Schuld abgezogen?“

„Ich trage keine.“ Sie stand auf und reckte ihre schlanke Gestalt ein wenig empor. „Also Sie wollen mir nicht helfen? Ich hatte es anders gedacht. Es bleibt mir also nur der Fluß. Nun, wie Sie wollen! O nein, fürchten Sie nichts, ich werde nicht von hier aus direkt ins Wasser gehen und Sie kompromittieren. So sehr eilt es nicht damit. Ich habe noch verschiedenes zu ordnen, aber wiedersehen werden wir uns wohl kaum. Leben Sie wohl!“

Sie nahm ihren Mantel und wandte sich zur Thür, müde, entmutigt, enttäuscht, aber in ihren Augen flimmerte etwas, was den alten Mann die Hand auf ihren Arm legen ließ.

„Bleiben Sie, Sie sollen nicht in den Fluß gehen. Ich sehe, daß Sie es thun würden. Kann ich Sie nicht zurückhalten, so kann ich es Ihnen doch erleichtern. Ich will Ihnen geben, was Sie wünschen.“

Sie sagte nichts, dankte auch nicht, aber sie kehrte an den Tisch zurück und ließ sich wieder in den Sessel nieder, aus dem sie sich soeben erhoben hatte.

Der alte Mann ging an einen Wandschrank, schloß auf, nahm ein Glas heraus und füllte es mit altem dunklen spanischen Wein. „Sie werden noch einen Augenblick verweilen müssen,“ sagte er ernst und ruhig, trinken Sie das inzwischen; Sie sind naß und erschöpft, es wird Ihnen gut thun.“

Sie nahm das Glas mechanisch. Ja, trinken – etwas trinken – etwas, das heiß und feurig war! – Es war ihr nun auf einmal, als hätte sie danach gelechzt, und sie setzte das Glas an die Lippen und trank es leer. Ach, wie wohlig das durch die Adern rieselte! Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, während der alte Mann eine Kerze anzündete und in das Nebenzimmer trat.

Frau Agnes war so erschöpft, daß der schwere Wein sie fast einschläferte. Die Lider sanken ihr herab, und sie lag eine ganze Weile, in den Sessel zurückgelehnt, in jenem sonderbaren, dämmerigen Zustand, der nicht Wachen, nicht Schlafen ist und in dem man den Maßstab für Zeit und Raum verliert. Wie lange? Vielleicht fünf Minuten, vielleicht eine halbe Stunde, oder länger, sie hätte es nicht sagen können, als sie endlich wieder empor schreckte, von der Stimme des alten Mannes geweckt.

„Sie haben lange warten müssen.“

„Nein, nein,“ sagte sie; sie war auf einmal wieder ganz wach und streckte die Hand aus, das winzige Gläschen in Empfang zu nehmen, welches in der seinen glänzte.

„Gott allein weiß, ob ich das Rechte thue, und wenn ich nicht überzeugt wäre, daß sonst Schlimmeres geschähe, so würde ich mich um keinen Preis dazu verstehen,“ sagte der alte Mann mit einem Seufzer, die Hand noch zögernd zurückziehend.

„Sie handeln barmherzig.“ Ein feines Rot trat in ihr schönes Gesicht, ein Aufleuchten von Freude in ihre Augen.

Und nun hielt sie es in der Hand, das kleine Glas, winzig, nicht größer als das oberste Glied ihres kleinen Fingers, nur wenige Tropfen einer klaren Flüssigkeit fassend, von wunderlicher Form und mit einer Art Kautschuk verschlossen.

„Und wie – wie wird die Wirkung sein?“

Der alte Mann schwieg eine ganze Weile und sah auf sie, wie sie das Gläschen gegen das Licht hielt und mit einem beinahe freudigen Ausdruck darauf blickte. Als er nicht antwortete, wendete sie die Augen fragend ihm zu.

„Das Fläschchen darf nicht geöffnet werden, ehe man den Inhalt benutzen will. Dieses indische Gift“ – er nannte einen fremd klingenden Namen – „verflüchtigt sich sonst fast augenblicklich, und die wenigen Tropfen, die das Glas enthält, reichen ganz genau aus, um“ – er zögerte und fuhr dann langsam fort zu dem Zwecke, den Sie wünschen. Nicht ein Tropfen darf fehlen. In eine Speise geschüttet, färbt es dieselbe, obgleich es, wie Sie sehen, an sich farblos ist, sofort dunkel violett. Der Geschmack dagegen soll nicht unangenehm sein, sondern etwas fade süßlich. Die Wirkung tritt im Laufe von vierundzwanzig Stunden allmählich ein, ohne Schmerzen zu verursachen. Man wird müde, die Glieder werden schwer, man schläft ein und – erwacht nicht wieder.“ Er hatte eintönig und leise gesprochen. „Nein, nein, Kind, geben Sie es mir zurück!“ rief er plötzlich lebhaft. „Was Sie thun wollen, ist Wahnsinn, und ich bin schlimmer als ein Wahnsinniger, Ihnen dazu zu verhelfen!“

Sie schüttelte den Kopf und barg die Hand mit dem Glase in der Tasche.

„Ich danke Ihnen so sehr,“ sagte sie mit einer plötzlichen herzgewinnenden Wärme in Stimme und Blick, „es ist lange her, seit jemand so gut gegen mich war. Leben Sie wohl! Und fügen Sie Ihrer großen Güte noch das hinzu: schweigen Sie gegen jedermann über dies alles!“

Sie hatte ihm die Hand gedrückt und war rasch aus der Thür gegangen, ehe er ein Wort hatte erwidern können. Der alte Mann stand mitten im Zimmer und sah ihr nach. „Armes Kind – gebe Gott, daß es das Richtige war,“ murmelte er, indem er mit der Hand über die Stirn und dann über den schneeweißen Bart strich.

Er setzte sich an sein Buch zurück, aber es war ihm unmöglich, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, er klappte es zu, legte es beiseite und ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ruhelos in dem Gemache auf und ab, bald vor dem Sessel stehen bleibend, auf dem die schöne Frau gesessen hatte, als spräche er zu ihr, bald gedankenverloren in das Licht starrend, und dann wieder mit tiefgesenktem Haupte seine Wanderung fortsetzend.

„Armes Kind – armes Kind! – Es war schließlich das einzige, was ich thun konnte, um ihr darüber weg zu helfen.“

Die junge Frau eilte indessen raschen Schrittes denselben Weg, den sie gekommen war, zurück. Das Wetter hatte sich noch verschlechtert, aber das ließ sie ganz gleichgültig. Beinahe leicht war ihr zu Mut, seit sie das kleine Glas in ihrem Besize wußte. Es war ein köstlicher Gedanke, allem, was ihr das Herz so schwer gemacht hatte, nun entrinnen zu können, sobald sie wollte, morgen, heute, in einer Stunde – jetzt, wenn es ihr so gefiel.

Aber nein, jetzt sollte es noch nicht geschehen. Es gab noch so manches zu ordnen, Bestimmungen zu treffen über ihr kleines Eigentum – sie wußte, die würde „er“ respektieren, so fremd sie sich auch geworden waren – Briefe zu verbrennen, die sie in niemandes Hände fallen lassen mochte, nicht einmal in die seinen, obgleich er selbst sie geschrieben hatte – einst in der Brautzeit.

Ja, selbst Kleinigkeiten fielen ihr nun ein, die sie nicht so zurücklassen mochte wie sie waren, wenn sie für immer ging. Sie wußte, daß fremde Augen in Kasten und Schränke blicken würden, und hier und da war in der lezten Zeit, wo der Gedanke an ihr Elend sie so ganz hinnahm, etwas vernachlässigt worden. Es sollte alles sein, wie es sich gehörte, wenn sie ging; kein Tadel, selbst um geringfügiger Dinge willen, sollte sie treffen.

[801] 

Menzel im Café Josty.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

[802] Noch vor einer Stunde hätte sie es nicht für möglich gehalten, daß ihre Gedanken sich um so nebensächliche Dinge drehen könnten, aber jetzt, wo sie sozusagen das Reisegeld für die große Reise in der Tasche trug, kam es ja auf einen Tag Verzug nicht an. Sie konnte ja jetzt sterben, sobald sie wollte. Ihre Hand glitt während des Gehens in die Tasche. Ja, es war da, das kleine Glas, und fast wie ein Lächeln ging es über ihr Gesicht.

Licht und Wärme strömten ihr entgegen, als sie in ihr Wohngemach eintrat. Die Magd hatte aus eigenem Antriebe die Vorhänge herabgelassen, das Feuer geschürt und die Lampe auf den Tisch gestellt. In dem anstoßenden kleinen Eßzimmer, zu dem die Vorhänge zuruckgeschlagen waren, stand der Tisch zierlich für das Abendbrot vorbereitet. Dort brannte noch keine Lampe, aber das Feuer warf seinen unbestimmten, zitternden Schein über den dunkelroten Teppich uud das blanke Tischgerät. Die Magd brachte das bereit gehaltene wollene und gewärmte Schuhwerk und nahm ihr den Hut und den nassen Mantel ab.

„Danke, Marie, daß Sie daran dachten,“ sagte die junge Frau gütig, „Sie sind ein kleines gutes Mädchen.“ Sie war gewohnt, freundlich mit ihren Dienstboten zu verkehren, aber das Mädchen, ein anhängliches junges Ding, das seine schöne Herrin vergötterte, sah dennoch überrascht zu ihr empor. Es hatte etwas gar so ungewohnt Weiches in der Stimme gelegen. In Wahrheit war Frau Agnes, während sich die Kleine so geschäftig um sie mühte, auf einmal eingefallen, es sei vielleicht das letzte Mal, daß ihr jemand einen Liebesdienst erweise, uud daß die Magd sicher heiße und aufrichtige Thränen um sie weinen würde – vielleicht die einzigen, die um sie flossen.

„Die gnädige Frau ist doch wohl?“ fragte das Mädchen und sah ihr in das blasse Gesicht. „Es ist so abscheulich draußen, und gnädige Frau ist nicht daran gewöhnt.“

„Ganz wohl, Marie; so wohl wie seit lange nicht.“

„Ich will ihr in unauffälliger Weise irgend etwas von meinen Sachen schenken, ehe ich gehe,“ dachte sie, als das Mädchen fort war. Nun, da es in ihrem Innern so viel ruhiger geworden war, sie nur den Schlüssel umzudrehen brauchte, um die große, dunkle Pforte zu öffnen, überkam sie plötzlich der Wunsch, noch irgend jemand etwas Liebes zu erweisen, bevor sie schied. Daran hatte sie nie vorher gedacht, sonderm immer nur an sich uud ihr Weh.

Langsam schritt sie hin uud her auf dem weichen Teppich, der ihren Schritt zur Unhörbarkeit dämpfte. Wie traulich gerade jetzt alles aussah, was sie umgab! Wie glücklich, o wie unbeschreiblich glücklich war sie einst in diesen hellen behaglichen Räumen gewesen, in denen sich fast an jedes Stück irgend eine Erinnerung knüpfte, wie glücklich könnte sie noch darin sein, wenn nicht das Beste an jeder dieser Erinnerungen tot wäre!

So, wie es nun war, in dieser Stunde, sah sie alles vielleicht zum letztenmal, so, mit dem traulichen Lampenschein, mit den heimlich zugezogenen Vorhängen. Morgen um diese Stunde hatte sie vielleicht schon kein Verständnis mehr dafür.

Wie laut doch die Uhr tickte! Die kleine Rokokouhr, die er ihr gleich nach der Hochzeit geschenkt hatte. Ob sie wohl auch künftig immer regelmäßig aufgezogen werden würde? Das hatte sie bisher immer selbst gethan; das kleine Werk hatte nie stillgestanden, so lange sie es besaß.

Und ihr liebes Klavier! Wie lange sie es nun schon nicht mehr berührt hatte! Den Ton hörte sie wohl nicht wieder in diesem Leben. Sie schlug den Deckel zurück und fuhr mit der Rechten leicht, als wollte sie Accorde greifen, über die Tasten, ohne doch einen Ton anzuschlagen. Nicht – o nein! Sie hätte den Klang nicht ertragen. Dann schloß sie leise wieder den Deckel und zog den Schlüssel ab. Wer wohl auf diesen Tasten spielen würde – später?

Und dann lächelte sie trübe. Wie, das waren doch nicht Thränen, die ihr in die Augen stiegen? Sie ging ja doch freiwillig und gern.

Wie sonderbar losgelöst von allem sie sich schon vorkam, wie ihr alles nur noch erschien, als habe sie es früher einmal besessen!

Damals, in der kurzen Zeit ihres Glücks, waren ihr diese Räume doch ein inniggeliebtes Heim gewesen. Sie verließ es freiwillig und gern, weil es ihr kein Heim mehr war. Aber daß ihr die Thränen kamen und langsam, schwerfällig eine nach der anderen ihr über die Wange rollten, das konnte sie nun doch nicht hindern.

Das Glas – wo war doch das Glas? Ja so, in ihrer Tasche, natürlich.

Sie zog es hervor uud hielt es wieder gegen das Licht, das sich in der vielfach abgeschliffenen kleinen Oberfläche blitzend spiegelte. Dann schloß sie schnell die Finger darüber. Morgen gehörte der Tag seinem geheimnisvollen Inhalt, heute war es besser, es nicht mehr anzusehen.

Heute abend, wenn sie, wie gewöhnlich, allein daheim blieb, wollte sie ordnen, was zu ordnen war, dann morgen in der Frühe die verhängnisvollen Tropfen nehmen, das kleine Glas vernichten, so daß nichts zurückblieb, was auf eine Spur hätte leiten können, die wenigen Menschen, an welchen ihr lag, noch wie zufällig aufsuchen – und abends würde sie dann, wie der alte Mann gesagt hatte, früh müde werden, sich zur Ruhe begeben und – ja, am nächsten Morgen tot in ihrem Bette gefunden werden wie eine ruhig Schlummernde. Und so war es am besten. Sie überdachte es so klar, als wenn sie sich nur zu einer kleinen Reise rüstete.

Nun hörte sie die Thürglocke, uud jetzt trat mit kurzem Gruß ihr Mann ein. Die Lampe im Eßzimmer wurde angezündet, und sie setzten sich zum Abendbrot nieder, welches die kleine Magd inzwischen aufgetragen hatte. Frau Agnes genoß nichts, sondern saß, leicht zurückgelehnt, offenbar nur aus Höflichkeit da, und der Mann aß eilig, ohne viel auf sie zu achten.

Sie sprachen nicht miteinander. Das thaten sie jetzt überhaupt so selten, sie hatten sich so wenig zu sagen. Nur einmal fragte er, da er merkte, daß ihr Teller leer blieb, ob sie nicht essen wolle.

„Nein,“ entgegnete sie kurz, und er sagte nichts weiter darüber.

Als er seine Mahlzeit beendet hatte, stand er auf und ging sofort hinaus, und sie kehrte in die Wohnstube zurück, schloß ein Fach ihres Schreibtisches auf und nahm ein Päckchen halb vergilbter Briefe hervor.

Sie hatte sie nicht lesen, sondern gleich dem Feuer übergeben wollen, aber eines der Blätter entglitt dem umschlingenden Bande und fiel offen auf den Tisch, uud sie konnte es nicht lassen, einen Blick darauf zu werfen. Und dann las sie den Brief von Anfang bis zu Ende, setzte sich weder, löste das Band mit zögernden Fingern und begann den ersten, den zweiten, den dritten Brief zu lesen, den das Paket enthielt.

Es waren viele eng beschriebene Blätter, alle von einer Hand – die Briefe, die sie als Braut von dem Manne empfangen hatte, den sie jetzt für Zeit und Ewigkeit verlassen wollte. Wie lange war es her, seit ihre Hand sie nicht berührt hatte!

Eine große, unbeschreibliche Bitterkeit stieg in ihr empor, als sie so Seite um Seite überflog, und doch las sie weiter, wie gebannt. O mein Gott, wie konnte es denn sein, daß dies alles einst Wahrheit war!

Und doch, es war Wahrheit – damals! Manchmal in der letzten Zeit hatte sie daran gezweifelt, jetzt, da die alten, heißen Liebesworte wieder vor ihr standen, die alten, heißen Liebesworte, die sie einst so unsagbar beglückt hatten, jetzt wußte sie wieder, daß der Mann, der sie schrieb, damals nicht gelogen hatte.

O, wenn sie nur noch einmal, ein einziges Mal ein solches Wort hören könnte, ehe alles zu Ende war, es mit hinüber nehmen könnte in das lange Schweigen, das nun kam – nur ein einziges, kleines Liebeswort! Vergebens – was vergangen ist, kehrt nicht wieder!

„Du wirst mich eine Stunde hier dulden müssen,“ tönte es da von der Stubenthür her, die sich geöffnet hatte, ohne daß sie es merkte, und der Mann, an den sie gedacht hatte, schritt auf den Tisch zu. Sie fuhr empor, und im Augenblick hatte ihr Gesicht wieder den eisigen Ausdruck angenommen, den es ihm gegenüber zu tragen gewohnt war. Mit einer raschen Handbewegung schob sie die Briefe zusammen und ließ sie in den Falten ihres Kleids verschwinden.

„Ich wollte in den Klub gehen, aber das Wetter ist gerade jetzt so abscheulich, daß ich warten will, bis es besser wird. Bei mir ist nicht geheizt, ich hatte es so angeordnet. Hoffentlich störe ich Dich nicht.“

Sie schüttelte stumm den Kopf, und er machte es sich am Tische mit den Zeitungen, die er mitgebracht hatte, bequem, war auch gleich ganz ins Lesen vertieft, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Auch sie griff nach einem Buche und schlug es auf. Was sie zu ordnen hatte, mußte nun bis später verschoben werden, es kam ja auch auf ein paar Nachtstunden nicht an. Schlafen konnte sie ja dann später noch lange, lange.

[803] Aber sie las nicht. Sie machte nicht einmal den Versuch, ihre Gedanken auf das Buch zu richten, sie hielt es nur in der Hand. In ihren Sessel zurückgelehnt, sah sie auf den Mann ihr gegenüber, und nur wenn er manchmal von seiner Zeitung emporblickte – es geschah nicht oft – senkte sie schnell die Augen, als läse sie.

Gott, wie hatte sie ihn geliebt, diesen Mann, wie würde sie ihn noch lieben in dieser Minute, wenn er es noch wert wäre!

Sie sah ihn an, als wollte sie sich jeden Zug seines Antlitzes für die Ewigkeit einprägen. Welch ein schönes, anziehendes Gesicht er doch hatte! Freilich, es war gealtert, sie wußte nicht, seit wann, sie hatte sich so lange nicht die Mühe genommen, anders als flüchtig über ihn hinzusehen. Furchen zogen sich über die Stirn und – ja, war es denn möglich? – das dichte, dunkle Haar war an den Schläfen fast grau. Er war ja doch noch so jung, sie beide waren so jung! Wie oft hatte sie früher zärtlich und spielend über dies schöne, leicht gewellte Haar hingestrichen; eine unsinnige Sehnsucht erfaßte sie plötzlich, es noch einmal, ein letztes Mal in diesem Leben zu thun.

Er war es ja nicht wert, aber – Gott, o Gott, wie heiß liebte sie ihn noch immer! Nur deshalb ertrug sie’s ja nicht, so neben ihm hinzuleben.

Wenn sie das ihm noch sagen dürfte! Aber das kann eine ungeliebte Frau nicht thun. Und doch, morgen, wenn sie das kleine Glas geleert hatte und ganz gewiß wußte, daß sie sterben würde, dann durfte sie es. Dann war es kein Betteln mehr um Gegenliebe, und dann würde er vielleicht bereuen und um sie weinen, wenn sie tot war – eine kurze Weile wenigstens.

Ja, das wollte sie thun. Sie wollte morgen, wenn der Tod unvermeidlich war, noch einmal ihre ganze heiße, verschmähte Liebe über ihn ausschütten – morgen! Der ganze Tag lag ja noch vor ihr. Vierundzwanzig Stunden, hatte der alte Mann gesagt, brauchte das Gift, um zu töten. Sie hatte so sehnsüchtig gewünscht, zu sterben, und sie wollte und wünschte es ja auch noch unerschütterlich, aber o, wie gut war es doch, daß morgen noch ein ganzer Tag vor ihr lag, an dem sie sanft und freundlich sein durfte.

Nun faltete der Mann die Zeitung zusammen, die er ausgelesen hatte, ging an das Fenster, schob den Vorhang zurück und spähte in die Dunkelheit draußen hinein.

„Es ist stiller geworden, der Regen hat nachgelassen,“ sagte er zurückkehrend. „So will ich denn noch eine Stunde in den Klub gehen und von da gleich auf den Bahnhof. Die kleine Handtasche nehme ich jetzt mit. Ach so; ich sagte Dir wohl noch gar nichts davon, ich bin morgen nicht da, muß mit dem Nachtzuge nach Hamburg, wo ich morgen in der Frühe jemand zu vertreten habe. Vor übermorgen bin ich kaum zurück. – Gute Nacht denn, und adieu!“ Er nickte kühl, ohne ihr die Hand zu reichen, und schritt mit seiner Zeitung der Thür zu.

„Gert!“

Da stand sie mitten im Zimmer, totenblaß, mit halb geöffnetem Munde und fliegendem Atem. Dies konnte nicht sein! Daß er jetzt von ihr ging, um sie in diesem Leben nicht wieder zu sehen, mit einem frostigen „Gute Nacht und adieu“ auf den Lippen, daß sie nicht mehr seine Hand berühren, nicht noch ein einziges Mal ein gutes Wort zu ihm sprechen sollte – das durfte nicht sein! Es fiel ihr in diesem Augenblicke plötzlichen Erschreckens nicht ein, daß es ja in ihrer Macht lag, um einen Tag hinauszuschieben, was sie vorhatte. Er ging – ging jetzt – ging so – und sie hörte seine Stimme nie wieder, seine geliebte Stimme!

„Gert!“ Sie hatte es gerufeu im ersten Schreck, und er wandte sich hastig nach ihr um. Den Ton hatte er lange nicht gehört – er wußte selbst kaum, wie lange nicht.

„Aus Barmherzigkeit, gehe nicht so von mir, heute nicht! Sprich ein freundliches Wort!“ sagte sie mit zuckenden Lippen, die Hände fest ineinander pressend.

„Agnes,“ rief der Mann und war an ihrer Seite, „das bittest Du?“

„Es könnte vielleicht eine Zeit kommen, wo es Dich reute, so von mir gegangen zu sein!“

Er sah sie verständnislos an, so bleich wie sie.

„Ein freundliches Wort erbittest Du, Du, die es mir versagt hat diese lange, lange Zeit? Agnes, Agnes, kannst denn auch Du es so nicht länger ertragen?“

Sie schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie nicht.

„Ein freundliches Wort,“ sagte der Mann, und eine unbeschreibliche Bitterkeit klang aus seiner Stimme, „ich habe ja nicht gewagt, es Dir entgegen zu bringen, es erstarrte mir auf den Lippen, wenn Du mir Dein eisiges Gesicht zuwandtest. Ein freundliches Wort – Gott im Himmel, wie habe ich gelechzt danach, es sprechen zu dürfen, aber ich meinte, es würde an Deiner Unnahbarkeit abgleiten wie an einem Stein. Und nun bittest Du darum!“

„Weiter!“ Sie wollte es sagen, aber ihr versagte der Laut.

„Ich wußte es ja, daß ich im Unrecht war, ich wußte es seit – seit jener Unglücksnacht. Aber Du selbst wolltest es, daß alles zwischen uns aus sei. Dein Blick sagte es mir täglich und stündlich. Du triebst mich von Dir. Was sollte ich denn thun? Was konnte ich thun? Ich hatte Dich lieb, trotz allem! Ja, ich habe nicht gemeint, daß ich dies noch einmal aussprechen würde – ich habe dich noch jetzt lieb, trotz allem, was dagegen zu sprechen scheint, und trotzdem Du alles gethan hast, um die Liebe in mir zu ertöten. Ich habe das mit mir umhergeschleppt wie eine Fessel, die ich nicht loswerden konnte und die um so fester anzog, je weiter Du Dich von mir entferntest. Oft habe ich gemeint, ich könnte es nicht mehr ertragen. Ein freundliches Wort! – Ich habe mir wahrlich nicht denken können, daß Dir daran noch läge.“

„Und ich starb vor Sehnsucht danach,“ sagte das junge Weib und legte die Arme um seinen Hals, als müßte es so sein. Und dann nach einer ganzen Weile fügte sie leise hinzu: „Verzeih', die Schuld war mein.“

„Mein und Dein. Laß uns beide verzeihen!“

„Ja.“

„Und neu beginnen!“

„Ja.“

„Und künftig Geduld miteinander haben, Agnes!“

Sie nickte.

„Und vergessen, was gewesen ist!“

„Ich weiß nicht, ob wir das können,“ sagte sie leise. „War es dies, was Dein Haar bleichte?“ und sie strich leise, scheu mit der Hand darüber.

Er nickte bloß.

Sie gingen auf und ab in dem traulichen Gemach, bis es Zeit wurde, daß er an seine Abreise dachte, die er nicht verschieben konnte, und als sie einsam zurückblieb, fühlte sie sich zum erstenmal seit langer Zeit nicht einsam. Sie war sehr glücklich, und als sie sich endlich zur Ruhe legte und ihr beim Entkleiden das Gläschen in die Hand fiel, stellte sie es mit einem Schaudern beiseite. – – –

Am nächsten Morgen schien die Sonne, so gut sie es im November vermochte, und der Regen, der doch so dauerhaft sich angelassen, hatte ganz aufgehört.

Der alte Mann saß in einem Lehnstuhl am Fenster und blickte gedankenvoll, als wartete er auf etwas, über den schmalen Pfad hin, der durch den Garten bis an seine Hausthür führte. Auf einmal lächelte er und stand auf.

„Da ist sie,“ sagte er für sich. „So bald, das hätte ich kaum gedacht!“

Draußen auf dem Flur erscholl ein leichter Schritt, und dann klopfte etwas leise an die Stubenthür.

„Herein,“ sagte der alte Mann und öffnete zugleich selbst die Thür von innen. Frau Agnes stand auf der Schwelle, errötend und sehr verlegen.

„Guten Morgen, Frau Agnes!“ sagte er und lächelte.

Sie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Ich wollte Ihnen – ich möchte Ihnen – ich bringe Ihnen Ihr Eigentum zurück,“ stammelte sie. „Ich habe keine Verwendung mehr dafür. Es hat sich alles geklärt, ich möchte leben, so lange Gott es will und – es ist mir unheimlich, dergleichen im Hause zu haben.“

Er nickte und schien sich gar nicht zu wundern.

„Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten wegen meiner gestrigen –“ fing sie wieder an, aber er wehrte lächelnd mit der Hand ab.

„Kein Wort mehr davon, mein Kind! Es war eine Krisis, und Sie haben sie so überstanden, wie ich hoffte. Ich habe alles vergessen, bis auf das eine, daß Sie wieder glücklich sind. Aber Sie hätten das Gläschen immerhin behalten können. Wissen Sie, was es enthält?“

„Nun, ein indisches Gift!“

„Nein, Zuckerwasser,“ sagte der alte Mann und lächelte.


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BLÄTTER UND BLÜTEN.



Das Morgenbüffett der Feinbäcker in Bad Kissingen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wohl jeder, der, ohne das Original zu kennen, die meisterhafte Wiedergabe dieses dem modernen Badeleben entnommenen Werkes von Adolph Menzel betrachtet, wird in dem Glauben befangen sein, es handle sich um ein Kolossalgemälde oder doch um ein Bild, für das die Wände eines bescheidenen bürgerlichen Zimmers keinen Platz bieten würden. In Wirklichkeit aber hat Menzel das „Morgenbüffett“ auf eine Fläche gemalt, die kaum doppelt so groß ist als eine Seite der „Gartenlaube“, und bei der Ausstellung des Werkes, die ein Berliner Kunsthändler nach seiner Vollendung veranstaltet hatte, standen den Besuchern Vergrößerungsgläser zur Verfügung, mit deren Hilfe man auch die zahlreichen kleinen Meisterstücke, die dieses große Meisterstück enthält, gründlich studieren konnte. Menzel hat durch die Wahl dieses kleinen Formats, das in so großem Gegensatz zu den Verhältnissen vieler seiner historischen Bilder oder des modernen Arbeiterbildes Eisenwalzwerk steht, zweierlei erreicht. Das bunte, unruhige, ins Unklare verlaufende Gewimmel wirkt in dieser Beschränkung übersichtlich auf unser Auge. Und ferner tritt in dem Bild, wo es sich um die humoristische Darstellung einer von der gleichen Eßbegier bewegten Menge handelt, der einzelne nicht als Persönlichkeit hervor, er erscheint nur als Glied des Massenaufgebots, um das es sich handelt. Der Vorgang selbst ist einer der allerbezeichnendsten für das Badeleben in Kissingen, ja er ist gewissermaßen der Höhepunkt des gemeinsamen Badelebens daselbst. Um dies zu verstehen, bedenke man, daß das Frühaufstehen in Kissingen an der Tagesordnung ist, daß man dort schon zwischen sechs und acht Uhr sich nüchtern im Freien bewegt und seinen Brunnen trinkt und daher die Frühstückszeit als eine Erlösung von strenger Kasteiung begrüßt. Dazu kommt, daß man in Kissingen in der Regel nicht in öffentlichen Lokalen frühstückt, sondern in seiner Wohnung, in dem gemütlichen Hausgärtchen, das man meist zur Verfügung hat. Man geht frühzeitig nach dem Kurgarten und trinkt dort seinen „Rakoczy“ oder „Pandur“ – beide Wasser sind von besserer Wirkung, wenn sie nüchtern genossen werden. Da infolgedessen der Appetit, mit dem man dem Frühstück entgegensieht, ein gesteigerter ist, so war es jedenfalls keine unglückliche Idee der Kissinger Feinbäcker, den Brunnentrinkenden gleich im Kurgarten Gelegenheit zu geben, einzukaufen, wonach ihr Herz trachtet. Vorausgesetzt, daß es – kurgemäß ist! In ganz Kissingen dürfen ja nach amtlicher Anordnung an Kurgäste nur kurgemäße Speisen verabreicht werden und das bezügliche Gesetzbuch zählt nicht weniger als 67 Speisen auf, die überhaupt verboten sind. Dem Grundsatz der „leichten Verdaulichkeit“ muß auch das Gebäck entsprechen, und an die Kunst des Bäckers werden um so größere Anforderungen gestellt, als auch die Butter zu den verbotenen Genüssen gehört. Diese Schranke hat aber die Leistungsfähigkeit der Kissinger Feinbäcker nur gesteigert, und so ist das berühmte Kissinger „kurgemäße Kaffeebrot“ entstanden, das man am „Morgenbüffett“ in den mannigfaltigsten Formen einkauft, um es zum Frühstück nach Hause zu nehmen oder sich schon unterwegs damit zu stärken. Da nun so ziemlich die ganze Badebevölkerung um die achte Morgenstunde hier zu finden ist und das so lebhaft besuchte fränkische Badestädtchen eine wahre Musterkarte aller möglichen Menschentypen bietet, so erhält man vor dem „Morgenbüffett“ ein ganz einziges Weltbild.

Menzel, am Krönungsbild malend.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

Menzel hat dieses Weltbild mit überwältigender Treue und Lebendigkeit festgehalten, er hat sich, seiner Art gemäß, nicht damit begnügt, die eigentümliche Stimmung der Szene in Farben wiederzugeben und die paar Gestalten im Vordergrunde charakteristisch durchzuführen, man wird leicht erkennen, daß auch die im Gewühle verschwindenden Figuren Studien nach dem Leben sind, nach dem Kissinger Badeleben, das eben Menschen der verschiedensten Stände und aller sogenannten Kulturvölker vereinigt. Die Heimat der charakteristischen Frauen links vor dem Büffett ist offenbar ein Petersburger oder Moskauer Palais, während sie ihren Aufenthalt mit Vorliebe nach Baden-Baden, Paris oder Nizza verlegen. Dagegen guckt unweit von ihnen aus dem Gewühle das Profil eines deutschen Gelehrten hervor, der uns an eine Lebenssphäre erinnert, die von jener der herb-schönen Russin ebenso weit entfernt ist wie von jener schlichten Bürgersfrau aus Schweinfurt oder Aschaffenburg, die sich am anderen Ende des Tisches ihre Tüte füllt, oder von der des norddeutschen Rittergutsbesitzers, der sich gerade im geometrischen Mittelpunkt des Gemäldes befindet, oder von jener internationalen Diplomatenerscheinung ganz rechts, in deren nächster Nähe wir wieder den Meister von der Hobel- oder Drehbank erblicken, oder endlich von jener lieben Jugend ganz vorn, der die Kurgemäßheit des Kaffebrots noch ebenso gleichgültig ist wie das ganze Weltbild und die ganze Welt. Menzel hat eben alles individualisiert, jede der zahlreichen Figuren hat ihr Wirklichkeitsgepräge: kein Hütchen und kein Schleifchen, das nicht beobachtet wäre! Und dieses Meisterwerk, an dem man alles bewundern muß, von der geistigen Bewältigung des spröden Stoffes angefangen bis hinab zu den Pikanterien des Kolorits – dieses Meisterwerk, in dem die reifste Erfahrung mit jugendlicher Frische und Sicherheit gepaart ist, hat die Hand eines Greises geschaffen! Denn Menzel näherte sich bereits seinem 80. Geburtsjahr, als er dies Bild entwarf und vollendete.Emil Peschkau.     


manicula 0Hierzu Kunstbeilage XIII: „Das Morgenbüffett der Feinbäcker in Kissingen.“ Von Adolph Menzel.

Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Jda Boy-Ed (7. Fortsetzung). S. 789. – Adolph Menzel. Bild. S. 793. – Adolph Menzel. Von Ludwig Pietsch. S. 794. – Friedrich der Große. Bild. S. 797. – Wie Meister Menzel lebt. Von Agnes Schöbel. S. 798. Mit Abbildungen S. 789, 796, 801, 804. – Sterben. Novelle von Eva Treu (Schluß). S. 800. – Blätter und Blüten: Das Morgenbüffett der Feinbäcker in Kissingen. Von Emil Peschkau. S. 804. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.