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Die Gartenlaube (1895)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[821]

Nr. 49.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Weihnachten.

Das war in den Häusern ein Tummeln und Treiben,
Das that so verstohlen und wisperte sacht,
Und durch Gardinen und frostige Scheiben
Schien oft das Lämpchen die halbe Nacht.
Nun kam das Christkind wirklich hernieder
Vor jede Thür mit seligem Schritt
Und brachte singend auch diesmal wieder
Die alten Glocken und Lieder mit.

Ich aber bin einsam hinausgegangen
Und ließ die Fröhlichen fröhlich sein,
Selbst aus den ärmlichsten Häusern drangen
Schon Kinderlachen und Lichterschein.
Und in der Vorstadt, am äußersten Ende,
Da hab’ ich still in ein Fenster gesehn,
Und lehnte den Kopf an die glitzernden Wände
Und stand und konnte nicht weiter gehn:



Ein kleines Bäumchen, ein Dutzend Lichter,
Und aus den Zweigen sehn Aepfel hervor,
Das Beste: drei glühende Kindergesichter,
Die jauchzen voll Dank zu den Eltern empor.
Darüber das Glück auf heimlichen Schwingen,
Das macht die Herzen so warm und so weit,
Und bis auf die Gasse hör’ ich sie singen
Von fröhlicher, seliger Weihnachtszeit. –

Christglocken im gläubigen Kinderherzen,
Sein Weib an der Seite, den Jüngsten im Schoß –
O gäbe der Herr nach Stürmen und Schmerzen
Auch Dir und mir solch seliges Los!
Und wankt ein Bettler auf dunklen Pfaden
Mit wunden Füßen – Er führ’ ihn fortan
Und zünde, wie uns, auch ihm in Gnaden
Die goldenen Kerzen der Weihnacht an!
  Carl Busse.


[822]

Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

     (9. Fortsetzung.)

Es konnte und es sollte nicht sein, daß René davonging, ohne ein Dokument seiner Kraft zu hinterlassen. Wenn er sein Werk vollendet hatte, dann mochte gern die Kugel herangepfiffen kommen und ihm das Hirn durchbohren. Dann war es die rechte Zeit, aber so nicht, noch nicht!

Er hatte noch viel zu sagen. Und nicht stumm sollte das mit ihm hinabgehen in das Grab.

Er tauchte die Feder in die Tinte, seine Hände flogen. Die Notenblätter lagen in wirrer Unordnung vor ihm. Sein Beginnen war sinnlos – er begriff es – er lachte hart auf. Er neigte das Haupt tief, tief und barg die Stirn zwischen den Notenblättern.

Und wenn der Gott, der ihm die heiße Schaffenslust ins Herz gelegt, ihm jetzt auch eine überirdische Macht gab; die, mit hundertfacher Schnelligkeit zu schreiben und zu denken, die armen kurzen zwölf Stunden würden doch nicht ausgereicht haben, sein Werk, wie es ihm im Kopfe stand, niederzuschreiben.

„Ich will leben! Ich muß leben!“ dachte er verzweifelt.

Das „schade“, das der Freund gesprochen, klang ihm wieder.

Ja – schade! Vielleicht sehr schade. Ihm war ein größeres Pfund gegeben worden als anderen und er hatte recht damit gewuchert. In dieser bitteren Stunde durfte er es sich stolz eingestehen.

Freilich war er daneben auch ein Mensch gewesen, der den Lockungen der Freude nicht widerstanden. Das Leben lachte ihn an – so lachte er das Leben wieder an. Er nahm es sonnig und wonnig, wie es sich ihm bot. Ernst und grämliche Bedenklichkeiten kannte er nicht. Gott hatte ihm die besonders geschärften Sinne gegeben, das Schöne zu erfassen. Und alles, was er genoß, erlebte, wandelte sich ihm später zu neuem Schönen – es war, als setze es sich in seinem Innern um, als forme Lebensfreude sich zur Kunst.

Wie unaussprechlich viel hätte er noch schaffen mögen!

Man würde ihn beweinen und sagen, daß die deutsche Kunst einen harten Verlust gehabt habe und daß der erst achtundzwanzigjährige Mann seinem Vaterland noch manche große Gabe geschenkt haben würde.

Achtundzwanzig Jahre? René konnte es selbst kaum begreifen. Sein Leben kam ihm viel länger vor. Es umfaßte schon eine Unsumme von Arbeit und Ereignissen.

Aber all’ diese Ereignisse waren tolles Gähren gewesen, all’ diese Arbeit nur Vorbereitung auf sein Werk.

Und er sollte es verlassen? Unmöglich, undenkbar!

Eine verzehrende Lebensgier brannte in seinen Adern. Die Zukunft kam als rosige Gestalt, Lorbeeren in den Händen und ein glückstrahlendes Lächeln auf den Lippen. Sie schien ihm so nahe und so greifbar – sie war sein, mit allem Glanz eines auserlesenen Künstlerlebens. Nur klaffte zwischen ihr und ihm ein kleiner, kurzer Abgrund auf – die frostige Frühstunde des kommenden Tages! Und in diesen Abgrund konnte er versinken – – –

Ihm schauderte. Er sah wieder den sterbenden Nicolai vor sich.

Ein Schuß in die Lunge und morgen um diese Zeit vielleicht lag er, in derselben Atemnot wie Nicolai mit dem Tode ringend.

Alle höchsten Güter, die der Mann sich wünschen kann, waren sein gewesen, oder er wußte, daß er sie noch erringen werde: ein Beruf, der ihn ganz mit höchster Befriedigung sättigte, das Genie, Neues zu schaffen, der Reichtum, seines Volkes ideale Güter vermehren zu können, und eine edle, reine, grenzenlose Frauenliebe.

Seine Augen feuchteten sich von Thränen mehr des Zornes als der Schwäche. Dies alles sollte er verlassen!

Er rang mit dem Schicksal in ohnmächtiger Wut.

„Ich will leben!“ murmelte er vor sich hin und schrak vor dem Ton seiner Stimme zusammen.

Plötzlich fiel er in ein Nachsinnen. Seine Blicke bohrten sich ins Wesenlose. Sein Atem ging keuchend, seine Hände wurden feucht.

Eine Offenbarung war über ihn gekommen. So, gerade so wie ihm, so elend, so ohnmächtig, so lebensdurstig, so vom Bewußtsein seiner Künstlerkraft durchglüht, so mußte seinem Filippo Lippi, dem sterbenden Mönch, zu Mut sein.

René sprang auf. Diese Erkenntnis sprengte fast sein Herz. Er lief wie ein Rasender im Zimmer hin und her. Ihm schien es, als verwirrten sich seine Gedanken.

„Erleb’ ich das? Träum’ ich das? Sind das schaffende Gedanken? Soll ich morgen sterben? Ist es die Todesnot meines Helden?“

Die Stunde verrann. René wanderte rastlos hin und wieder. Sein Gesicht war bleich, seine Augen funkelten. Aber er trug die Stirn hoch, wie gestern abend, da er, die Brust von stolzer Arbeitsfreude geschwellt, aus dem Walddorf heimkam.

Das, was ihm so drohend nahte, hatte alle Schrecken verloren, er betrachtete sich, seine Lage und seine Empfindungen, wie etwas, das er studierte, um es nachzuschaffen. Und daneben schwellte ein Gefühl wie von freudiger Zuversicht seine Brust. Er glaubte wieder an seinen Stern und daran, daß er leben werde.

Wie ein Adler schwang sich seine Seele zu stolzer Höhe empor, aber auch das Geschoß war schon bereit, welches ihm noch einmal die Flügel zerschmettern sollte.

Der Tag stand nicht still, weil eben in seinem Leben der Stillstand einer großen Erwartungspause war. Und der Tag hatte seine gewohnten kleinlichen Geschäfte abzuwickeln.

Die alte Frau kam herein, sie wußte nichts davon, daß ihrem Herrn anders zu Mute war als an anderen Abenden. Sie brachte einen Brief und hatte allerlei Fragen. Der Brief kam von Herrn von Rechenbach und bewilligte den erbetenen Urlaub. Und draußen sei der Theaterdiener und wolle etwas holen für Herrn Viebig. Auch wollte sie wissen, ob der Herr denn gar nicht zu Abend essen würde, es sei schon neun Uhr.

René gab für den Theaterdiener die Partitur der Gluckschen „Iphigenie“ mit und sagte, daß er nichts essen wolle.

Die Alte sah ihn aufmerksam an und ging seufzend hinaus. Ihr Herr gefiel ihr nicht heute, er hatte sie den ganzen Tag weder gescholten noch geneckt.

René überflog Rechenbachs Brief. Richtig, er bekam Zeit, soviel, solange er sie brauchte. Wie überflüssig ihm diese Erlaubnis schien. Er warf den Brief achtlos auf ein Tischchen.

Dabei sah er, daß dort ein anderer lag. Es war der nicht abgeschickte Brief an Magda.

Magda!

Seine Seele erstarrte vor Schreck. Alles Blut wich aus seinem Gehirn, er fühlte einen Schwindel. Er fiel herab aus dem stolzen Himmel, in dem seine Phantasie sich bewegte, und die schreckliche, nahe Wirklichkeit trat wieder zu ihm.

Er legte erschaudernd beide Hände vor sein Gesicht.

„Mein Tod ist der ihrige,“ sagte er vor sich hin. Er stand unbeweglich, der Schreck dieses Gedankens lähmte ihn völlig.

Wie es geschah, daß er jetzt erst an Magda dachte – er wußte es nicht. Aber er wußte, daß er von diesem Augenblick an nichts denken könne als an sie, an sie und sein Werk.

Er sah sie vor sich, er wußte, wie sie aussah, wenn Leid sie traf. Er hatte es gesehen – damals, als er ihr so weh gethan. Sie bäumte sich nicht auf, sie erlag und verging.

Viele Frauen hatten ihm schon gesagt, „ich liebe Dich!“, viele ihm mit drohenden und großen Worten versichert, den Verlust seiner Liebe nicht überleben zu können. Er hatte dazu ungläubig in sich hinein gelächelt. Er war kein eitler Mann und er wußte, daß Frauen sich trösten. Und er hatte gesehen und erlebt, daß sie sich trösten.

Magda aber, die Eine, Wahrhaftige, hatte ihm noch keine großen Worte gesagt und sie würde vielleicht tapfer versuchen, weiter zu leben ohne ihn. Aber sie würde es nicht können.

Er fühlte tief und mit einer Gewißheit, die jeden Trost und jeden Zweifel ausschloß, daß Magdas Leben auf das seinige gepflanzt war, daß ihre Liebe von jener Art war, die zum Tode führen muß, wenn sie nicht zum Glücke führen kann.

Durch seine Finger, die seine Augen bedeckten, drangen nasse Tropfen.

Er weinte!

Es war das erste Mal seit dem Tode seiner Mutter.

Dann wurde es still in seiner Seele, eine heilige und ernste Ruhe kam über ihn.

Er nahm den Brief und öffnete ihn wieder. Sechs Seiten von seinen Bogen waren beschrieben. Mochte stehen bleiben, was da einmal stand, es war in glücklicher Stimmung hingesetzt, und wenn Magda es las, so wehte sie vielleicht ein Atem seines Wesens an.

[823] Außen, auf die achte Seite, schrieb er mit großen festen Buchstaben nichts hin als dies:

„Magda, ich liebe Dich! Meine Seele ist Dir nicht untreu gewesen. Du darfst Dich ihr vermählt fühlen, als wärest Du mein Weib geworden. Lebe wohl und sei mein starkes Weib!

Dein René.“ 

Dann nahm er ein anderes Blatt und schrieb an Hortense:

„Teure, hochverehrte, gütige Freundin, geben Sie den beigeschlossenen Brief an Magda, wenn Sie bis morgen mittag von mir keine andere Bestimmung hören.

Immer Ihr dankbar ergebener 
René Flemming.“ 

Als das doppelte Schreiben fortgetragen war, schien ihm, als habe er geordnet, was für ihn zu ordnen war.

„Ich will zu Bett gehen,“ dachte er, „ich brauche meine Nerven.“

Ein ganz seltsames Gefübl trieb ihn an, alle seine Papiere, die zu seinem Musikdrama gehörten, mit sich in sein Schlafzimmer zu nehmen. Er mußte seinen Schatz ganz nahe bei sich haben. Fast liebkosend schichtete er die Blätter zusammen auf der Marmorplatte seines Nachttischchens.

Lange lag er mit geschlossenen Lidern wach und bemühte sich, Magdas liebes, blasses Gesicht und ihre ernsten Augen vor sich zu zaubern.

Es war und blieb still in seinem Innern. Der Gedanke an das Leid seiner Geliebten breitete eine Art Andacht aus in seiner Seele. Er konnte nicht schlafen und er wollte auch nicht schlafen.

Er faßte auch keine Vorsätze und that sich keine Gelöbnisse für den Fall, daß alles glücklich ablaufen sollte.

Mit einem tiefen und gesammelten Ernst sah er dem Unabwendbaren entgegen.

Die schleichenden Stunden der Nacht wurden ihm nicht lang, sie waren ausgefüllt von Gedanken. Er erstaunte fast, als draußen ein erster Menschentritt vorbeischlurrte und bald danach ein Wagen dahinrasselte, daß es im Haus wiederschütterte. Als er Licht machte, sah er, daß es sechs Uhr war.

Er stand auf. Ihn fror es. Langsam und in genau derselben Reihenfolge wie jeden Tag machte er seine Toilette.

Seine Wirtschafterin brachte ihm den Thee. Er trank mit durstigen Zügen.

Draußen lag noch die Nacht auf den Gassen, nur oben fing der Himmel an, sich mit einem leisen Grau zu durchwirken.

Eine Droschke fuhr vor.

René nahm seinen Pelz um und war noch damit beschäftigt, ihn zuzuknöpfen, als Bohrmann eintrat. Der sah ernst aus und trug Civil.

Sie drückten sich die Hand.

„Geschlafen?“ fragte Bohrmann.

„Nein,“ sagte René mit klarer Stimme, „aber mir ist ganz wohl. Ich empfinde keine Spur von Nervosität.“

„Bravo, bravo!“ meinte Bohrmann und klopfte ihm wohlwollend und ermunternd auf die Schulter.

Doktor Magius war aus Vorsicht im Wagen sitzengeblieben. Als René nun zu ihm einstieg, drückte auch er ihm herzlich die Hand.

Der Wagen fuhr davon. Die Männer schwiegen.

Bohrmann erwog, ob ein zerstreuendes Gespräch angebracht sei. Er war schon ’mal Sekundant gewesen, bei einem Duell, das fröhlich und mit einem großen Champagnerfrühstück geendet hatte. Damals hatte der Duellant ihm nachher gesagt: „Bohrmann, wenn Sie ’mal wieder jemand nach’m Terrain begleiten, zieh’n Sie nicht solche Leichenbittermiene auf. Wenn ich Disposition zur Todesfurcht gehabt hätte, würde ich sie von Ihrem Gesicht gekriegt haben.“

Aber Bohrmann wußte nicht recht, ob Flemming nach seinem Vorgänger artete. Auch hatte Bohrmann eine dumpfe Ahnung, daß es heute nicht mit einem Champagnerfrühstück enden werde. Er beschloß bei sich, abzuwarten und jede etwa von René oder dem Doktor fallende Bemerkung aufzugreifen. Schweigen kann nie taktlos sein, sprechen sehr leicht. Und die Erfahrungen bei einem Duell reichten sicher nicht aus, das Benehmen bei einem anderen zu bestimmen. Er hatte einmal einen berühmten Duellanten sagen hören, kein Zweikampf gleiche dem andern, es sei jedesmal etwas völlig Neues und Ueberraschendes.

Doktor Magius schwieg, weil er müde war. Man hatte ihn in der Nacht herausgeklingelt gehabt und das lag ihm noch in den Gliedern.

Auf den sandigen Waldwegen fuhr der Wagen fast geräuschlos dahin. Die Fenster waren beschlagen, die Luft war dumpf.

René seufzte einmal und legte die Hand an den Fenstergurt.

Mit ungeheurer Beflissenheit griff Bohrmann zu, und den Gurt schon hochhebend, fragte er:

„Soll ich öffnen?“

„Bitte!“

Die herbe Frühluft schlug mit eisigem Atem herein. Magius riß die Augen auf, schauerte zusammen und wickelte sich fester in seinen Pelz.

„Darf ich Ihnen eine Cigarette geben?“ fragte Bohrmann, um nur etwas zu thun.

René nahm sie gern.

Sie schwiegen wieder.

Draußen war ein bleifarbenes Dämmern zwischen den Bäumen. Der Tag kroch herauf am wolkenlosen Winterhimmel. Die Tannenstämme wurden rötlich und erkenntlich, aus dem grauen Morgen trat das Grün des Nadelwaldes hervor: der Tag gewann Farbe und Licht.

Plötzlich fragte René: „Ist Nicolai tot?“

„Ja,“ sagte Magius. „Ich höre, er ist mit einem Lächeln und leicht eingeschlummert.“

„Armer Teufel,“ murmelte René, „das war kein Mann und kein Leben. Das war ein feiner Träumer, der ein Schattendasein führte.“

Bohrmann wurde unruhig. Wenn schon gesprochen werden sollte, war dies ganz gewiß kein Gespräch für jetzt: über einen Freund, der eben gestorben war.

„Ich habe schon ’mal auf der Moorwiese ’ne Affaire gehabt,“ begann er, „es war die Geschichte mit Krausneck und dem Hauptmann Morgens. Keiner wurde verwundet. Sie vertrugen sich gleich. Ich bin überhaupt ein Anhänger von der Versöhnung auf dem Terrain.“

Das hatte er einmal irgendwo gelesen und die Wendung sehr hübsch und elegant gefunden. Sonst hatte er in diesen Dingen gar nicht soviel Praxis, um sich eine Theorie bilden zu können.

René hörte nicht zu. Magius aber nahm das Gespräch auf, denn er war seiner Zeit auch dabei gewesen und die beiden Herren vertieften sich in die Erinnerung an all die damaligen Geschichten.

René sah zum Fenster hinaus. Es ward heller und heller. Der klare Himmel stand noch ohne Glanz, aber er war wolkenlos und licht.

Dem vorgeschrittenen Tag nach mußten sie bald an der Moorwiese sein.

Er zog die Uhr. Es war beinahe ein Viertel nach Acht.

„Wir werden zu spät kommen,“ sagte er.

Es kam Bohrmann vor, als hätte die Stimme scharf geklungen. Vielleicht fand Flemming es taktlos, daß sie sich so lebhaft unterhalten hatten. Er guckte zum Wagenfenster hinaus, gerade lag links am Weg eine Kiefernschonung.

„Wir sind in zehn Minuten da,“ erklärte er. Die zehn Minuten verrannen in Schweigen.

René sah immer hinaus, wo wie ein Wandelbild die Mauer des Waldes an ihm vorbeizog. Sein Gesicht war unbeweglich, sein Auge groß und klar.

Der Wagen hielt. Als die drei Insassen ausstiegen, sahen sie, daß von der anderen Seite her eben auch eine Droschke kam. Es mußte Wallwitz und Keller sein, denn Plüskow und der Stabsarzt waren aus Klugheitsgründen auf Plüskows Jagdwägelchen, das der Bursche lenkte, hinausgefahren.

René ging mechanisch hinter Bohrmann her, sie hatten noch fünf Minuten am Saume der Kiefernschonung entlang zu gehen, ehe sie auf die Moorwiese kamen.

Dort stapften schon der lange Plüskow und der Stabsarzt Friedrichs auf und ab. Es war sehr kalt und Plüskows Gesicht schimmerte blau und rötlich.

Man begrüßte sich mit schweigendem Ernst. Dicht hinter René und seinen Begleitern kamen Wallwitz und Keller daher. Sie lüfteten die Hüte, René und Wallwitz sahen an einander vorbei.

Während der knappen Minuten, wo die Formalitäten erledigt wurden, stand René und sah die Landschaft an, als sei er zu dem einzigen Zweck hergekommen, sie zu bewundern.

Die Moorwiese war ein kleines Hochplateau, zu dem man auf sanft ansteigenden Wegen gelangte. Kiefernwald und Schonung [824] umgab sie wie ein graugrüner Wall. Die struppige Grasnarbe, die den zerklüfteten Boden bedeckte, war braun angefroren.

Birken standen vereinzelt und in Gruppen umher. Ihre weißen Stämme wuchsen anmutig, wie viele Blumenstengel aus einer Zwiebel, zu mehreren aus einer Wurzel empor, das feine, braune Gezweig ihrer melancholisch gesenkten Wipfel hing wie Trauerschleier hernieder.

Mitten auf dem Platz befand sich ein teichähnliches, flaches Gewässer. Es war still und blank überfroren. An seinem Ufersaum spießten sich die harten Halme des Riedgrases durch das Eis empor.

Die Sonne war aufgegangen und gab den weißen Baumrinden einen rosigen Schein. Im Eise des Teiches spiegelte sich das nächste Bouquet von Birkenstämmen so klar wieder, als sei da blinkendes Wasser.

Mit lautlosem Flügelschlag flogen ein paar Raben hoch über die Lichtung dahin.

„Bitte!“ sagte Bohrmanns Stimme neben René.

Er folgte wie gedanken- und gefühllos. Er hatte weder Furcht noch Zuversicht, noch irgend ein Gefühl besonderer Erregung. Es war, als handelte er unter einem Bann.

Dann fand er sich, mit der Pistole in der Hand, seinem Gegner gegenüber.

Er sah ihn an. Und plötzlich ging es wie ein Erwachen durch all’ seine Glieder.

Er begriff, daß er da stand, um auf Leben und Tod zu streiten. Alles in ihm empörte sich.

Eine Vision äffte ihn. Neben Wallwitzens finsterem, feindlichem Gesicht sah er ein anderes, ein lachendes Gesicht mit einer zackigen, dunklen Zahnlücke im Perlengebiß. Und wie ein Ekel schüttelte es ihn, daß er diesen Mund geküßt, der ihm jetzt so raubtierähnlich erschien.

Und darum?! Darum?!

Seine Brust dehnte sich, er hob das Haupt höher. Jeder Nerv in ihm spannte sich an und seine Nasenflügel bebten.

Er stand nicht mehr da als ein Mann, der in ritterlicher Haltung einen Ehrenhandel abwickelt. Er stand da als einer, der sein wertvolles Leben verteidigen will und sich dagegen aufbäumt, es um einer Thorheit willen dran zu geben.

Seine Hand, die ausgestreckt die Waffe hielt, war kalt und fest wie Eisen.

Sekundenlang Totenstille –

Und dann das Kommandowort.

Der kurze, scharfe Doppelhall verrollte rasch in der Luft. Zwei kleine bläuliche Wölkchen flockten auf.


10.

In einer höchst unbehaglichen Stimmung saß Hortense von Eschen bei ihrem Morgenthee. Sie war gestern abend in einer Gesellschaft gewesen, wo sie zu ihrer grenzenlosen Erbitterung erfahren mußte, daß die Gerüchte über René Flemming und Magda Ruhland einen sehr häßlichen Charakter angenommen hatten. Frau von dem Busche sagte es gerade heraus, daß ihre Tochter nicht mehr bei Magda malen solle, bis man genau erfahren, was an der Sache sei.

Hortense hatte sonst den Mund sehr auf dem rechten Fleck; wenn sie jemand verteidigte, konnte der Angreifer gewiß sein, den kürzeren zu ziehen. Aber hier blieb ihre Verteidigungskraft gebunden. Es war ja wahr, René und Magda hatten in jenem Schweizerdorf Arm in Arm die Wälder durchstreift; es ließ sich ja nicht leugnen, sie hatten in Leopoldsburg an manchem Nachmittag zusammen weite Spaziergänge unternommen. Hortense konnte noch so lebhaft für die harmlose Unschuld dieser Thatsachen eintreten, man entgegnete ihr:

„Gut, dann sollen sie sich verloben, damit man weiß, woran man ist.“

Sie konnte nicht antworten: „Sie waren es, aber seit einigen Tagen ist alles aus.“ Neben dem großen Kummer, den ihr die ganze Geschichte, Magdas wegen, bereitete, empfand sie auch noch einen recht kräftigen allgemeinen Aerger. Sie gab sich Betrachtungen über die Verlogenheit der Gesellschaft, über die Unnatur der Sitten hin.

Gesetzt den Fall, René und Magda wären gar kein heimliches Brautpaar gewesen, sondern nur zwei Menschen, die sich als gute Freunde schätzen und im traulichen Verkehr voneinander geistigen Gewinn ziehen, dann hätten sie auf diesen unschuldigen, förderlichen, ja edlen Verkehr verzichten sollen? Bloß weil er ein Mann und sie ein Weib war? Welche Albernheit eigentlich!

Wie viel innere Unabhängigkeit gehörte doch dazu, inmitten der Gesellschaft einfach und wahr zu handeln! Hortense hatte sie ihr Leben lang gehabt. Wenn ihr jemand gefiel, zog sie ihn zu ihrem nächsten Verkehr mit heran – und sah in ihm nur den wertvollen Menschen, nicht den Mann oder das Weib.

„Wenn man immer auf der konventionellen Oberfläche bleiben sollte, so wäre es ja Unsinn und Zeitverschwendung, unter Menschen zu leben, und man hätte mehr von der stillen Sammlung eines Einsiedlerdaseins,“ sagte sie manchmal. „Obenauf, von außen sind die Menschen fast alle egal. Sie kommen aus der Münze der Kultur. Erst wenn man das Typische abstreift und der Persönlichkeit nahe kommt, lohnt es sich manchmal, mit jemand umzugehen.“

Manchmal – im Grunde genommen auch selten genug. Inmitten ihres glänzenden Lebens war sie immer ein bißchen wie Diogenes mit der Laterne auf der Suche nach Menschen gewesen. In René Flemming hatte sie einen gefunden.

Und den vielleicht mußte sie jest verloren geben. Da er mit Magda so gebrochen hatte, konnte Hortense nicht gut die Freundschaft mit ihm weiter pflegen. Sie war ein loyaler Mensch, und obschon es ihr herzhaft weh that, den frischen, arbeits- und lebensfrohen René nicht mehr sehen zu sollen, fühlte sie doch, daß sie dies der armen Magda schuldig war. Sie mußte die Möglichkeit hinwegräumen, daß Magda den verlorenen Geliebten bei ihr traf.

Es fiel ihr gar nicht ein, über René den Stab zu brechen.

Sie schätzte ihn nach dieser That um keinen Deut geringer.

Das in seinen Adern so übermäßig rasch und feurig pulsierende Blut hatte ihn fortgerissen, hinein in eine Lage, wo er dem treuesten Herzen wehthun und es vielleicht für immer verlieren mußte. Das, so wußte Hortense, strafte sich schon von selbst. Sie hatte noch niemals gesehen, daß das Schicksal einem etwas schenkte. Auch René würde bezahlen müssen – wahrscheinlich mehr und schwerer, als er es sich jetzt noch vorstellte.

Immerhin mochte er den Verlust von Hortensens Haus als eine dieser Folgen ansehen. So leid es ihr that – es ging wahrscheinlich nicht anders – sie mußte um Magdas willen auf seinen Umgang verzichten. Wenn er sich wirklich mit Lilly Wallwitz verlobte, war der Grund für die Welt leicht gefunden. Sie konnte nur sagen, und zwar der Wahrheit gemäß, sie liebe diese Lilly nicht.

René schien übrigens selbst so etwas von der Notwendigkeit, fortan ihr Haus zu meiden, zu fühlen. Er hatte ihr da gestern abend einen Brief für Magda geschickt und ein paar Zeilen dabei, die Hortense sehr beunruhigten, denn sie waren unterzeichnet: „immer Ihr dankbar ergebener“. Dies Wort „dankbar“ fiel Hortense auf die Nerven. Er war einer von den wenigen, ach, so wenigen, die das Wort Dankbarkeit niemals im Munde führen, von denen man aber mit Felsensicherheit weiß, daß sie in ihrer Seele tief und treu diese Empfindung hegen. Wenn Hortense ihm einen Dienst erwiesen – und sie war wahrlich sein fürsorglicher Geist gewesen – hatte René allerhöchstens kritische oder gar kühle Worte dafür gefunden. Aber sie wußte: er vergaß keine Freundschaftsprobe und verwuchs ihr nach jeder nur fester.

In seinem Munde hatte die Versicherung von „Dankbarkeit“ so etwas Abschiednehmendes, Letztes. Es klang wie ein Lebewohl.

Und was wohl in dem Brief an Magda stand? Es war doch alles aus zwischen den beiden. Hatte auch er vielleicht erkannt, daß die Umwandlung von dem bräutlichen in ein geschwisterliches Verhältnis ein Unding sei, und schrieb er nun in diesem Sinne noch ein allerletztes Lebewohl an Magda?

Hortense seufzte einmal über das andere und erwog, was sie nun alles zu thun habe. Denn Magdas Ruf wiederherzustellen, lag ihr ob. Dazu gab es nur einen Weg: die Herzogin.

Diese mußte bewogen werden, sich einmal wieder persönlich nach dem Befinden der armen alten Excellenz Ruhland zu erkundigen.

Vor einem Jahr war die hohe Dame zuletzt bei dem Leidenden vorgefahren. Dann mußte die Herzogin Magda zu einem Theeabend einladen. Hortense kannte die hohe Frau: unter all’ dem programmmäßigen Wohlthun hatte sie sich ein warmes Herz bewahrt, an das man nur in der richtigen Weise anpochen mußte. Die Herzogin hatte ja auch selten Zeit, ein Weib zu sein; ihr Beruf legte ihr die Pflicht ob, immer als „Vorbild“ dahin zu leben, und ihre Angst vor der Welt die Pflicht, immer die harmonisch glückliche Gattin zu markieren. Denn die Herzogin war keine mutige Natur und auch keine stolze. Aber im tiefsten Grunde eine barmherzige. (Fortsetzung folgt.)

0

[825]

Ein Weihnachts-Krippel.
Nach einer Originalzeichnung von Peter Schnorr.

[826]

Die Vorfahren unserer Weihnachts-Schauspiele.

Von Alexander Tille. Mit Illustrationen von Peter Schnorr.

Der Aufschwung, den neuerdings die Gattung der Weihnachts-Märchenspiele genommen und von welchem in der letzten Weihnachtsnummer der „Gartenlaube“ die Rede war, richtet unwillkürlich den Blick auf die früheren Zeiten, in denen der Ursprung des Brauchs, das Christfest in Bühnenbildern zu feiern, gesucht werden muß.

Wo im 9. Jahrhundert die ersten deutschen Weihnachts-Schauspiele aus dem Dunkel treten, da führen sie uns mitten hinein in die Kultusstätten der neuen Religion, die unter den rheinischen Germanen eben erst festen Boden zu gewinnen suchte. Noch ist Epiphanias der höchste kirchliche Festtag des ganzen Winters, der Gedenktag der Erscheinung des neugeborenen Gottes in göttlicher Herrlichkeit; noch weiß das Volk nichts von einer deutschen Weihnacht, noch kennt es kein Jesusgeburtsfest, kein Kinderfest um Mittwinter, kein Fest in den Tagen der Wintersonnenwende; noch steht es der fremden Religion, die aus dem römischen Süden gekommen, innerlich fremd gegenüber, wenngleich das Taufwasser die meisten Häupter befeuchtet hat und die meisten trotzigen Nacken sich vor den fremden Bischöfen gebeugt haben. Noch liegt ihnen der Gedanke fern, um Wintersmitte, wenn draußen Schnee und Eis die Fluren deckt und es kaum ein Drittel des ganzen Tages hell ist, ein Fest zu feiern. Noch wagen selbst die kühnsten Apostel der neuen Religion nicht daran zu denken, daß nach einem Jahrtausend das Jesusgeburtsfest der Kirche am 25. Dezember, dem neben dem glänzenden Erscheinungsfeste am 6. Januar nur eine ganz bescheidene Stelle zukommt, zum glänzendsten Winterfeste, zum Volksfeste, zum deutschen Kinderfeste geworden sein könnte, das so tief in der Anschauung der Lebenden wurzelt, daß die Gelehrten dasselbe nur durch die Existenz eines germanischen Wintersonnwendfestes erklären zu können meinen und ein solches ihren Vorfahren andichten. Noch gilt es vor allem, die Herzen dem neuen Glauben zu gewinnen, und dazu reicht bei einem Naturvolke, das im Sinnen und Denken noch träge ist, die reine Lehre nicht aus, dazu braucht’s Bilder und Klänge, das Wort des Dichters und die Kunst des Darstellers, ein buntes Geschehen in leuchtender Pracht, weiche einschmeichelnde Musik und wunderbare Vorgänge.

Im hellen Lichterglanze strahlt die weite Domkirche und hundertköpfig harrt die Menge, während ein leises Singen vom Chore niedertönt. Da wenden sich die Köpfe nach der Pforte am rechten Seitenaltare: in Königspracht schreitet aus ihr eine ernste Schar. Voran ein Herr mit gekröntem Haupte und langem Mantel, hinter ihm Diener, reich beladen mit Geschenken. In feierlichem Zuge geht’s nach dem Mittelgange zu. Die Köpfe wenden sich: noch prächtiger gekleidet und noch reicher ausgestattet, naht von links eine gleiche Schar, und noch ehe diese ein paar Schritte durch die Menge gemacht, taucht hinten eine dritte auf. Die Menge bestaunt den Pomp und Lichterglanz, aber ehe sie sich noch recht besinnen kann, erhebt der Führer der Mittelschar die Hand, deutet nach dem leuchtenden Stern, der über dem Altarplatz strahlt, und spricht feierlich:

„In sonnenhellem Glanze strahlt der Stern!“

Von rechts kommt Antwort:

„Der als geboren verkündigt den Herrn der Herrn!“

und von links tönt der Schluß:

„Dessen Kommen dereinst Weissagungen verkündigt.“

Indessen nahen sich die drei Scharen; vor dem Altar treffen sie sich, die sich Begegnenden küssen sich und singen:

„Laßt uns gehen, ihn suchen, und rotes Gold,
Weihrauch und Myrrhen ihm bringen als Sold.“

Da teilt sich ein Vorhang, und den erstaunten Blicken bietet sich das Bild einer Krippe dar, in der ein Kind ruht vom Glanze göttlicher Herrlichkeit umstrahlt. Die Könige knieen nieder und bringen dem Kinde ihre Geschenke. Der Chor setzt ein, und der Gottesdienst ist zu Ende.

Die Menge versteht die lateinischen Worte nicht, aber sie hat das dunkle Gefühl, daß da etwas Großes, Geheimnisvolles vorgeht, daß die Könige in den prächtigen Gewändern mit all ihrem Reichtum sich nicht umsonst vor einem Kinde beugen, sie ist sich nicht bewußt, daß sie nur ein Schauspiel sieht, sondern sie hat wirkliche Könige kommen und das Kind anbeten sehen: wie sollte sie da nicht das Gleiche thun? Und von der Macht dieses Eindrucks erregt, drängen sich die Hunderte zur Wiege, knieen nieder und spenden dem neuen Gotte, der Wuotan, Donar und Ziu entthront hat, ihre Gaben.

Das ist das älteste deutsche Weihnachtsspiel.

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Ein halbes Jahrtausend ist ins Land gegangen. Hat sie auch die deutsche Volksart nicht in ihr Gegenteil zu verkehren vermocht, so triumphiert die neue Religion doch äußerlich über die Reste germanischer Weltanschauung und germanischer Sitte. Ist sie auch noch nicht imstande gewesen, ihr Jesusgeburtsfest zum Volksfeste zu machen und ihm Eingang zu schaffen in die Burgen und Hütten, so hat sie doch die Freude am dramatischen Spiel richtig als das erkannt, womit man den Massen einen Tag als Festtag aus der Menge der Arbeitstage herausheben kann. Noch immer besteht die Weihnachtsfeier im wesentlichen im Weihnachts-Schauspiel; aber es ist nicht mehr das alte rein kirchliche Spiel. Die deutsche Volksart hat begonnen, es aufzusaugen und umzubilden in der Richtung ihres eigenen tiefsten Wesens. Volkstümlich, deutsch werden die Gestalten der heiligen Sage. Aus dem Zimmermann von Nazara, der vordem nur ein Typus gewesen, wird ein gebrechlicher Greis, aus der Jungfrau Maria ein blühendes, junges Weib mit rosigen Wangen, und diese Gestalten treten herein in die Verhältnisse und die Umgebung eines deutschen Fleckens, in deutsches Wetter und deutschen Winter, deutschen Volkshumor und deutsche Volksderbheit, deutschen Brauch und deutsche Anschauungen. Kaum aber begann das Weihnachtsspiel sich national zu entwickeln, indem es lustige possenhafte Scenen, deutsche Lieder und Scherze aufnahm und auch in seiner Sprache deutsch wurde, da versuchte die Kirche den Entwicklungsfaden abzuschneiden, den sie selbst angesponnen hatte, da entzog sie ihm seinen alten Schauplatz, indem sie es aus den Pforten der Kirche hinauswies. Das Weihnachts-Schauspiel aber wanderte ins Wirtshaus oder ins Rathaus, ja wenn die Wintersonne nur freundlich über Schnee und Eis glitzerte, daß die Dächer in ihren Strahlen widerschienen, auch hinaus auf den offenen Markt, auf den ebenen Plan, oder auf ein Brettergerüste.

[827] Ein einfacher Strick, wie auf dem Bilde S. 828 ersichtlich, teilt einen schmalen Streifen des Rathaussaales ab. Vor ihm sitzt und steht die Menge, Männer, Weiber und Kinder. Trotz der Mittwinterzeit ist es erdrückend heiß, aber niemand scheint die Hitze zu spüren. Jeder wickelt sich fester in seinen Mantel, und die Wangen der Kleinen erglänzen blau und rot. Eine Schelle klingt, und hinter dem Strick beginnt das Spiel. Da kommt ein seltsames Paar gezogen, das sich auf der Reise befindet und in der Winterkälte nach einer Herberge sucht, nach Unterkommen für eine einzige Nacht; die hübsche junge Frau mit den runden roten Backen, die ausschaut wie eine dralle Bäuerin, weint und klagt über die Kälte und die harten Menschen. Aber das trägt ihr von dem gebrechlichen Greis, der sie begleitet, nur Schelte ein. Obgleich er, nach seinen Schritten zu schließen, lahm scheint, thut er doch, als könne und werde er die Welt erobern. Mit einem Knüttel donnert er an die nächste Thür und schreit um ein Nachtlager. Aber da kommt er schön an. Aus der Thür kommt der Wirt und putzt ihn weidlich herunter. Er, der ehrsame Zimmermann von Nazara in Galiläa, muß sich hier einen Herumtreiber schimpfen lassen. An einer anderen Thür ergeht’s ihm nicht besser, und so bleibt ihnen nichts übrig, als ins Gemeindehaus zu gehen. Da sieht’s freilich schlimm aus. Ein Dach hat’s nicht. Unhold fährt der Wind herein, und schaurig kalt prasseln die Flocken nieder. Kaum zum Stalle taugte der Raum, und doch haben sich Ochs und Esel dahin verkrochen. In diesem Raum wird das Jesuskind geboren, und nun scheint einen Augenblick eine andere Welt sich aufzuthun. Aus unsichtbarem Munde ertönt ein kräftiger Chor: Gloria in excelsis Deo. Die Kinderaugen werden immer größer, und die Erwachsenen fühlen sich andächtig gestimmt. Aber schon wischt ein anderer Eindruck diese Stimmung wieder hinweg: in der Mitte die Wiege mit dem Säugling, rechts und links eins der Eltern auf einem Strohsessel. Mit dem Fuße den Wiegenbügel kräftig tretend, singt Maria:

„Josef, lieber Vetter mein,
Hilf mir wiegen das Kindelein,“

und noch ehe Josef antworten kann:

„Gerne, liebe Base mein,
Helf’ ich Dir wiegen das Kindelein!“

stimmt die ganze hundertköpfige Menge den ihr wohlbekannten Sang an, und es bedarf des Einschreitens der Spielhelfer, um sie zu verhindern, sich augenblicklich am Wiegen des Kindes zu beteiligen. Diese Gefahr wächst noch bei dem, was unmittelbar folgt. Dem alten Josef erstehen plötzlich mehrere Diener; eine Reihe Jungfrauen kommt, noch ein paar Engel stellen sich ein; da ist’s denn nur zu natürlich, daß sie alle sich die Hände reichen und rings um die Wiege hopsen; denn ein Tanz ist’s nicht zu nennen. Die Menge steht auf. Im Nu ist die Wiege trotz der Schranke des Strickes in die Mitte des Raumes geschleppt, und die gesamte Zuschauerschaft tanzt und tobt im Reigen darum. Während die Wiege fast gefährlich hin und her schwankt, braust ringsum der Sang: „Josef, lieber Vetter mein“, und die Beine stehen nicht eher still, als bis die allgemeine Erschöpfung dem Tosen ein Ende macht.

Die Schauspieler trennen sich wieder von den Zuschauern und nehmen die Wiege mitsamt dem Holzkinde mit; denn nun soll nach dem kleinen Zwischenspiel der zweite Akt beginnen. Ein halbes Dutzend verschlafene Gesellen, die Hirten, liegen kreuz und quer übereinander auf dem Boden und schnarchen, daß alle Wände beben. Ein Engel in langem weißen Hemd tritt auf und macht an ihnen Weckversuche. Aber er muß schon sehr handgreiflich werden, ehe er einen Erfolg erzielt. Auch dann wacht nur der Oberhirt auf. Der giebt dem Knechte Zechenbart mit seinem Stock einen tüchtigen Puff in die Seite. Da öffnet auch dieser die Augen. Das Publikum vergnügt sich über diese Art Schlaftrunkenheit köstlich. Der Engel hat weiter nicht wenig Mühe, den Schlafmützen klar zu machen, daß sie hingehen müssen, um dem neugeborenen Jesuskind ihre Verehrung zu erweisen. Endlich verstehen sie sich dazu, bitten es aber zugleich, ihnen recht reichliches Essen zu bescheren. Doch dieses hat wenig Verständnis für ihre Bitten. Es schreit und will versorgt sein. Josef bekommt es zum Warten. Das steht dem Alten freilich komisch zu Gesicht, und sein „Suße, liebe Ninne“ macht auf das Kind sichtlich wenig Eindruck. Er ruft die Mägde zum Warten. Aber denen gegenüber ist seine Autorität nicht besonders: sie geraten in Streit miteinander. Und als endlich die Versöhnung erfolgt ist, entsteht allgemeine Tanzbelustigung. Die Fiedel klingt. Die Engel, der harte Wirt, die Knechte kommen zum Tanze herbei gestürzt. Die Zuhörerschaft wird zum zweitenmal lebendig, und noch lange brausen die Weisen des Sanges und Klanges hinaus in die Nacht, während die Wiege mit dem Kinde vergessen in der Ecke steht.

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Jemehr sich im Laufe des 15., 16. und 17. Jahrhunderts das kirchliche Jesusgeburtsfest zur deutschen Weihnacht, zum volkstümlichen Haus- und Familienfest entwickelt, desto mehr verliert es sein ursprünglich kirchliches Gepräge und nimmt immer neue volkstümliche Züge in sich auf. Vom Martinstag und Nikolaustag wandert die Kinderbeschenkung und das Martins- und Nikolausbäumchen hin, das bereits um 1600 hier und dort zum Weihnachtsbaum geworden ist. Der volkstümliche Kalender bildet einen ganzen Kreis von Wetterglauben der Weihnachtszeit aus, und langsam rückt allerhand Volksbrauch auf den Vorabend des neuen Festes. So entsteht ein ganzer Bau volkstümlichen Weihnachtsbrauches und Weihnachtsglaubens, und derselbe wird den breiten Massen wie den führenden Schichten bald so vertraut, daß sie der Gedanke, diese Züge könnten einstens nicht am Weihnachtsfeste gehaftet haben, ja ein Weihnachtsfest habe es einstens gar nicht gegeben, ganz fremd anmutet. Dennoch verleugnet die volkstümliche Weihnachtsfeier, namentlich im Süden Deutschlands, noch in äußerlichen Zügen lange nicht ihren Ursprung und bewahrt wenigstens noch kirchliche Namen, auch wo die Sache schon längst inhaltlich modernes Volkstum geworden ist.

Das Weihnachtsspiel wendet sich jetzt vornehmlich an die Kinderwelt. Nicht mehr die Kirche, nicht der Rathaussaal liefern die Stätte der Aufführung; die ärmliche Hütte des Bauern ist an ihre Stelle getreten. Den Ersatz für die wirkliche Bühne bietet ein Mechanismus, dessen Holzfigürchen sich beim Drehen einer Walze bewegen, und wo der Mechanismus allein nicht lebendig genug ist, hilft eine Menschenstimme aus dem Hintergrunde ober ein wenig Rotfeuer nach. Wie der Schauplatz der Weltgeschichte sich langsamer verändert als die Gestalten, die über ihn hinwandeln, so wohnt auch dem Schauplatz des mittelalterlich-christlichen Weihnachtsspieles mehr Dauer inne als den Gedanken und Handlungen der kleinen hölzernen Personen, die sich auf ihm bewegen. Und der Name ist wiederum noch konservativer als der Schauplatz. „Krippel“ heißt dieser noch heute in Tirol, Nieder- und Oberösterreich, Salzburg und Bayern; aber was ist aus dem Kripplein geworden! In drei Terrassen türmt sich eine ganze weite Gegend auf. Auf der untersten Stufe dehnt sich eine Wiesenlandschaft. In keckem Sturze fällt das gläserne Wasser flimmernd nieder über Felsen aus Baumrinde, treibt eine klappernde Mühle und windet sich als frischer Spiegelbach durch die grüne Flur. An seinen Ufern weiden und liegen kauend friedliche Lämmer. Das frische Gras aus grüner, feingeschnittener Wolle scheint ihnen wohl zu behagen. In der Mitte der Gegend ein Felsen, in dem Felsen eine Grotte und in der Grotte noch immer das alte Kripplein mit dem Jesuskind. Dabei die Eltern und die Tiere, darüber der Glori-Engel in silbernen Wolken mit dem Spruchband: Gloria in excelsis Deo – Ehre sei Gott in der Höhe. Auf steilen Pfaden und Steigen eilen Hirten und Hirtinnen mit Geschenken zu der Grotte hernieder. Das ist noch das alte Bild des 16. und 17. Jahrhunderts. Aber rings herum ist so manches anders geworden.

Auf der zweiten Stufe ragt wohl auch in der Mitte ein Felsenthor bestreut mit Schneckenhäuslein und Frauenglas, aber rechts und links ist die Gegend dem Menschen noch in anderer Weise dienstbar geworden als auf der Flur da drunten. Da stehen zierliche Häuschen, in jedem wohnt ein Handwerker und sitzt oder steht bei seinen Werkzeugen an der Arbeit. Da hämmert der Schmied, da hobelt der Schreiner, da läßt der Müller die Mühle klappern und windet die Säcke auf, da behaut der Zimmermann den Balken, da rührt der Drescher den Flegel, da schnurrt der Spinnerin das Spinnrad, da nagelt der Schuster und flickt der Schneider.

Auf der obersten Stufe ein drittes Bild. Ein freundliches Städtchen mit seinem Marktplatz liegt vor den Augen. Von drei Seiten ist der Markt von stattlichen Gebäuden umschlossen. Rechts steht das Kaffeehaus, daran schließt sich das Mautamt, daneben das Stadtthor und unweit von ihm die schöne zweitürmige Kirche, daneben im Hintergrunde das Rathaus, an das sich auf der linken Seite des Platzes das Schulhaus, ein zweites altertümliches Thor und das einladende Wirtshaus zur „Sonne“ anschließen. Die [828] Kinder nennen die Stadt Bethlehem, für sie ist sie Bethlehem, und wenn sie von Bethlehem träumen, dann tritt es ihnen so vor Augen. Der Name ist geblieben, aber weiter auch nichts.

Das Glöcklein klingt, das Gekreisch des kleinen Publikums verstummt, und es spitzen sich die Ohren.

Von ferne her klingt erst leise, dann lauter und lauter der Chor der Weihnachtsengel mit seinem „Gloria! Gloria!“ Da wacht die Zenzerl, das muntere Hirtenmädel, auf, die unten am Bache geschlafen, und singt ihr Liedchen. Sie weckt die Genossen, es entspinnt sich ein Wechselgesang, und die Hirten gehen zur Krippe und bringen dem Kinde ihre Gaben dar. Damit ist der alten Weihnachtssage genug geschehen. Der Hirt schmettert ein Stück „auf der Blas’n“ und dieses Stück weckt das profane Leben. Allenthalben regt sichs auf der mittleren Etage. Singend schwingen die Drescher in der Hütte ihre Flegel, die Schmiede hämmern, die Schreiner hobeln, die Zimmerleute hauen auf die Balken los, in der Spinnstube schnurren die Rädchen und spinnen die Mädchen. Der Schuster gesteht seine heimlichen Schwächen ein:

„I bi der Schuasta Nazl
Dö Arwat is’ mein Greu’l;
I öffat liabar a Bradl
Und schmierat ma mein Mäul.“

In der Mitte steigt aus Schachtestiefe ein Bergknappe mit einem Lichtlein und klagt über die nutzlose Plage in der Tiefe. Da steigt in rötlichem Schein ein Berggeist auf, der Knappe sinkt auf die Knie, der Berggeist spricht ihm Mut zu und führt ihn in den Berg, um ihm reiche Metalladern zu zeigen.

Da steht die Mühle still, die bisher klapperte. Mit der Zipfelmütze guckt der Müller aus dem Fenster, horcht und schimpft darüber, daß der Müllerbub’ eingeschlafen sei. Dann macht er sich auf, kommt herunter und öffnet das Thürchen; da liegt der Faulenzer auf der Bank und schnarcht. Ungeduldig zerrt der Müller an dem Hansl herum; der Bub’ will nicht aufwachen. Eine tüchtige Ohrfeige – bei deren Klatschen sich die kleinen Mädchen im Zuschauerraum nach der Backe fassen – bringt endlich das Wunder fertig. Der Müller entfernt sich voll Befriedigung, und die Mühle klappert wieder.

Weihnachtsspiel im Rathaussaal: Der Engel weckt die Hirten.

Und nun welch Leben auch droben in Bethlehem auf dem Berge. Am Ende der Stadt steht ein hoher Baum. Diesem nahen sich zwei Buben – die „Baumkraxler“. Der eine klettert empor und singt nach der Weise ‚z’ Lauterbach hab’ i mein Strumpf verlor’n‘:

„Sitzt a kloans Vögel au’m Tanabam,
Thuat nix als singa und schrein.“

Kaum ist der Baumkraxler droben, da purzelt er kopfüber herunter und verzieht sich heulend mit seinem Freunde.

Eine immer größere Fülle von Gestalten erscheint, der Bärentreiber mit Freund Braun und Publikum, der Salamimann und der Uhrenhändler aus dem Schwarzwald, die Milchfrau, die sich mit dem Zolleinnehmer zankt, der Postillon und die Kutsche, die dem Sonnenwirt einen Gast bringt. Der Rastelbinder (Pfannenflicker) ist der eigentliche Randalierer. Ueberall fängt er Zank an, und im Kaffeehaus bekommt er endlich Arbeit. Er hämmert und rasselt. Da gerät er in Streit mit der Kaffeehauswirtin. Er will gar zu viel haben, und sie will gar zu wenig geben. Als sie den Rücken wendet, steckt er das Haus an und entflieht. Das Kaffeehaus brennt lichterloh. Die Kindergesichter röten sich und bekommen einen ängstlichen Zug. Aber die Feuerwehr von Bethlehem ist ausgezeichnet organisiert. Im Nu läutet es Sturm von beiden Kirchtürmen. Zwei Essenkehrer nahen mit der Spritze, und das Feuer, dessen Raum sorgfältig durch Eisenblech begrenzt ist, wird bewältigt. Als aber der eine Essenkehrer aus dem Rauchfang in eine auf dem Herde stehende Milchschüssel patscht, beginnt die Hausfrau zu schimpfen. Er antwortet. Sie ergreift einen weißen Besen, er faßt seinen schwarzen. So geht’s auf die Straße heraus, hier setzt es wechselseitig färbende Hiebe, bis die beiden Kämpfer, der schwarze Mann und die Walküre, noch immer erbittert dreinschlagend, im nächsten Thor verschwinden.

Inzwischen hat die Polizei den Rastelbinder gefangen und aufs Mautamt gebracht. Rasch wird er verhört und abgeurteilt, und die Strafe folgt auf dem Fuße. Im Strafgesetzbuch zu Bethlehem stehen auf derlei Dingen einfach Fünfundzwanzig auf die Rückseite; der Polizist hat sie auszuzahlen. Während der Rastelbinder heult und schreit, saust der strafende Arm der Gerechtigkeit die vorgeschriebene Anzahl Male auf ihn nieder, und das kleine Publikum mit den wenig mitleidigen Herzen zählt gewissenhaft die Fünfundzwanzig nach. Ehrfurcht vor Gerechtigkeit und Gericht beseelt die kleinen Gewissen.

Es kann wohl die Frage sein, ob eine andere Weihnachtsaufführung diesen tiroler und oberösterreicher Dorfkindern denselben Genuß zu bieten vermöchte. Was sie dort auf der wunderbaren dreiteiligen Bühne sehen, das ist ihrer Welt entnommen und greift ihnen darum ans Herz. Kein Wunderland öffnet sich ihren erstaunten Blicken; aber aus der Wirklichkeit auf die kleine saubere Landschaft mit ihrer schimmernden Helle übertragen, scheinen all diese Züge aus dem Leben doch einer anderen Welt anzugehören.

Damit sind wir der Gegenwart bereits sehr nahe gekommen, und wenn wir den Blick zurücklenken auf das moderne Weihnachtsspiel der Großstädte, von dem wir ausgingen, seien es nun die „Sieben Zwerge“ oder „Hänsel und Gretel“, da tritt uns die innere Verwandtschaft des Alten und Neuen deutlich entgegen. Auf der Luxusbühne der Weihnachtstage heißen der Schuster Nazl und der Rastelbinder „der faule Königssohn“ und „Pechmarie“, aber der Grundgedanke des Weihnachtsmärchenspieles ist derselbe wie der des halbverschollenen „Krüppels“. Dieselbe naive Kindermoral von Artigsein und Lohn, Unartigsein und Strafe herrscht in ihm, und sie beide sind Denkmale des unbewußten Verständnisses der Großen für die künstlerischen Bedürfnisse der Kleinen, das den germanischen Stämmen erst in den letzten drei Jahrhunderten aufgegangen ist.

In jüngster Zeit hat der tiroler Dichter Rudolf Greinz ein „Krippenspiel von der glorreichen Geburt unseres Heilands“ im alten Sinn neu geschaffen, welches von der Bühne des Münchener Gärtnertheaters aus, wo es fortwährend unter großem Andrang gegeben wird, seinen Umzug durch Deutschland wohl bald halten dürfte. In sehr glücklichem Gegensatz wechseln darin die weihevollen Scenen: Verkündigung, Geburt, Anbetung des Heilandes u. s. f. mit allerhand drolligen Volksbildern, wo Dialekt geredet wird und namhafte Anachronismen niemand stören. Die Musik dazu rührt von dem bekannten Komponisten Zenger her, sie giebt einen vortrefflichen Rahmen für die ernsten sowohl als für die heiteren Scenen dieses auf die alte deutsche Anschauung zurückgreifenden Krippenspiels.


[829]

Das Kreisstehen in der Christnacht.

Eins aus dem steirischen Volksleben von Peter Rosegger.

An einem Dezemberabend kam der Bettelmann zu uns ins Waldbauernhaus. Er war noch nicht betagt, war nicht mühselig, aber er bettelte. Er stehe sich beim Betteln besser, meinte er, als beim Arbeiten. Erstens sei im Winter bei den Bauern schwer eine Arbeit zu bekommen, zweitens sei das Holzhacken im Schnee weniger angenehm als das Sitzen in der warmen Stube als „Statthalter Gottes“. Damit spielte der Schalk auf den Pfarrer an, der gerne predigte über den Text, daß der Herr Jesus heute noch auf Erden wandle, und zwar in Gestalt der Armen, und daß, was man den Armen thue, ihm selbst gethan sei.

Diese schöne Lehre der Barmherzigkeit verstand der Bremer-Sepp – wie er hieß – nicht übel auszunutzen und so saß er in den Bauernstuben herum, einmal am Herde, einmal am Tische, dann wieder neben dem Strohschaub, den er als Bett erhielt unter dem Ofen. Freimütig gesagt, waren aber die Bauern in unserem Alpel immer noch nicht evangelisch genug gesinnt, um eine solche Statthalterschaft recht zu schätzen, sie duldeten den Faulenzer aus einem andern Grund. Etliche Wochen früher war der Bremer als Verabschiedeter vom Militär zurückgekommen. Seine Verwandten waren während seiner Abwesenheit gestorben, er fand kein Heim mehr, nachdem er zwölf Jahre lang bei den Soldaten gewesen. Aber er wußte sonderlei Merkwürdigkeiten zu erzählen von der weiten Welt und aus seinem Leben als Tambour, er kannte auch viel wundersame Geschichten, Märchen und hatte allerhand Schnurren und Schwänke in sich, mit denen er die Leute an den langen Abenden gar köstlich unterhielt. Dem Hausvater war stets daran gelegen, daß die Knechte und Mägde beim Späneklieben, Rübenabkräuteln, Krautschaben und Flachsspinnen nicht allzufrüh schläferig wurden und dann etwa von der alten Gewohnheit, um neun Uhr ins Bett zu gehen, Gebrauch machten. Der Bremer packte seine „Faxen“ aus, sie bewunderten, sie lachten, sie schauderten und blieben oft bis gegen Mitternacht bei der Arbeit.

Am Kreuzweg in der Christnacht.
Nach einer Originalzeichnung von F. Schlegel.

So hat sich der „Statthalter“ erklecklich ausgezahlt und wir, die jüngeren, hatten an dem vielerfahrenen Manne einen lustigen Lehrmeister, dem besonders ich etwelches zu verdanken habe; manche meiner Geschichten, die erst in späten Jahren reif geworden, hat damals der Bremer gesät. Wenn der Bettelmann Gefahr witterte, daß er am nächsten Tage mit seinem Tragkorbe höflich weitergeschickt werden könnte zum Nachbar, so hub er am Abende zuvor eine gar wunderbare Begebenheit an zu erzählen und verschob die Fortsetzung auf den nächsten Abend. In alten Zeiten hat diesen Spaß schon die berühmte Scheherezade erprobt, heute wiederholen ihn die Zeitungen, er bewährt sich immer und den Bremer haben sie nirgends fortgeschickt, bevor er eine merkwürdige Geschichte zu Ende erzählt.

So war der Bremer Sepp also auch bei uns eingetreten mit der artigen Bitte, er möchte seine verfrorenen Beine gerne ein wenig wärmen an dem Herdfeuer. Meine Mutter riet ihm das Schneeschaufeln, das mache auch warm.

„O, meine liebe Waldbäuerin!“ rief der Bremer, „warm macht’s freilich, aber helfen thut’s nichts; schaden thut’s. Die sündteuren Schaufeln wetzt man dabei ab und morgen schneit es doch wieder alles zu. Und wenn’s nicht zuschneit, so ist’s noch schlimmer bei der unsicheren Zeit, wo die Schelme und Räuber frei truppenweise umherziehen bei der Nacht. Sich gut in Schnee einmauern lassen und das Haus mit Mannerleuten besetzen, auch mit solchen, die von Wehr und Waffen ’was verstehen, ist das allerbeste, was gescheite Waldbauersleute thun können.“

Wir im kargen Waldhause hatten zwar nie besonderen Anlaß, [830] uns vor Räubern zu fürchten, doch aber mochte meine Mutter gedacht haben: weil er gar so schlau schwatzen kann, mag er halt sitzen bleiben in der Stube. Gut schwatzen muß man auch lohnen. – Saß also der Bremer noch am selbigen Abende beim Ofen und saß eine Woche später auch noch beim Ofen.

Wir hatten ihn recht gern, er war auch außerhalb seiner Schnurren ein ergötzlicher, ganz artiger Mensch. Und gar nicht übel anzusehen! Die blaue Soldatenhose hatte er an und die graue Holzmütze auf, unter welcher an beiden Ohren die schneidigen Lockensechser, hübsch glatt gewichst, hervorstanden. Er hielt was auf sich und that sich täglich an den Backen und dem Kinn rasieren, auch hinten am Nacken; weil er dorthin selbst nicht gelangen konnte, so mußte ihm unser Altknecht die goldigglitzernden Härchen wegkratzen. Das Schnurrbärtlein ließ er stehen und spitzte es mit Schusterpech scharf auf, daß es nach beiden Seiten ganz bajonettartig in die Luft stach, gleichsam wie eine Waffenbereitschaft, für den Fall ihn eines unserer Dirnlein plötzlich küssen wollte. Ob eine solche Gefahr bestand, das weiß ich nicht, wenigstens hat er sie nicht selbst heraufbeschworen. Für einen dreiunddreißigjährigen Soldatenabschieder that er spottwenig um mit den Dirnlein. Höchstens guckte er manchmal der einen so ein bißchen schiefwinkelig nach, der Stallmagd Christina. Und siehe, diese Christina hatte einen großen Abscheu vor dem hübschen Bettelmann. Sie war sonst ein rundes, gutmütiges „Leutel“, aber wenn ihr der Bremer in die Nähe kam, da wurde sie ganz eckig, spitzte die Ellbogen und war aufgeregt wie eine Henne, wenn der Geier nicht weit ist. Sie ließ ihm auch ihre Verachtung merken. Der Bremer aber schmunzelte ihr nach und drehte an seinen Bartspitzen.

Und als der Mann so eine Woche bei uns im Waldhause gewesen war, da kam das heilige Weihnachtsfest. In der Christnacht verließ alles, was gehen konnte, das Waldhaus und ging über die weiten Höhen hin zur Kirche von Fischbach, wo ununterbrochen die Glocken läuteten, bis, wie man sagte, der letzte herauskam vom hintersten Graben. Aus fernem Thal her kam hin und wieder ein leiser, halbverlorener Glockenklang auch zu uns herauf. Es war eine helle Mondnacht, nur bisweilen flogen Wolkenfetzen vorüber und verdeckten das stillheitere Rundgesicht am Himmel. Unser waren ein ganzes Rudel, die Burschen, die Dirnen; Vater und Mutter nur waren daheim geblieben, um das alte Haus zu hüten. Der „Statthalter“ war auch bei uns und brachte wieder Schnurren vor. So wußte er vom Teufel zu erzählen, der in der Christnacht mit dem Fünfguldenbeutel umgeht, den er solchem, der ihm die Seele verschreibt, zum Angebinde verehrt; von den Tieren, die in dieser Nacht in menschlicher Sprache sich ihre Leiden klagen, die sie das Jahr hindurch von den argen Menschen auszustehen gehabt, und auch von den Wolken, die jedem, der so was zu lesen versteht, alle Bevorstehungen des kommenden Jahres an den Himmel schreiben.

Die Stallmagd Christina entrüstete sich stumm über derlei Frevel, die Weidmagd hingegen war auf ihre „Bevorstehungen“ besonders neugierig, sie fragte daher, wie das wäre.

„Ja, mein Schatzerl, das ist so!“ belehrte der Bremer und drückte sich eng unter die Leute. „Da müssen wir aufpassen, wenn ein Kreuzweg kommt. Am Kreuzweg müssen wir uns alle aufstellen im Kreis und gegen Himmel schauen, was die Wolken für Figuren machen, und auf die Baumäste horchen, ob sie kraxen. Da werden wir schon etwas erfahren. Seid Ihr dabei?“

Wir waren alle dabei. Auf der flachen Höhe des Waldes angelangt, sahen wir im Mondenlicht den Pfeiler, welcher mit drei Armen hinauswies gen Stanz, gen Sankt Kathrein und gen Fischbach. Der Bremer kommandierte uns in Reih’ und Glied eines Kreises. Ein alter Kohlenbrenner aber war mit, der lief seitab, hielt sich Augen und Ohren zu: er wolle nichts wissen. Das Unglück, wenn eins bevorstehe, erfahre der Mensch immer noch früh genug.

Wir andern standen im Kreise, immer ein Bub’ und ein Mädel aneinander, und hielten uns an den Händen, und schauten in den Mond, an welchem die Wolken zogen. Für jeden und jede besonders wurde wahrgesagt und der Bremer wählte die Leute und deutete die Dinge. Mit dem Altknecht hub es an, da stand der lachende Mond rein und die Wolken wichen ihm aus. „Der Altknecht hat siebzig Gulden Jahrlohn, da wird freilich der Himmel nicht trüb werden,“ sagte der Bremer. Als es die alte zahnlückige Liesel galt, die gern keifte, da verhüllte sich der Mond rasch hinter einer dichten Wolke. „Ist ohne weitere Auslegung verständlich,“ sagte der Bremer. Beim Feldbuben Hans bildete die Wolke über dem Mond eine Art Sack, der aber sachte zusammenschrumpfte „Wird auch aufs Jahr Karten spielen, der Hansel,“ sprach der Bremer. Beim Ochsenknecht kam ein großes Ungeheuer heran, that den Rachen auf und fraß den Mond. Dieses Zeichen wußte der Bremer nicht zu erklären. „Wenn man sich heutzutage noch dem Teufel verschreiben könnte, so möchte ich an so etwas denken,“ sagte er. Wir mußten es der Zeit überlassen, was sie über den Ochsenknecht verhängen würde. Bei der Stallmagd Christina, die sich widerwillig in den Kreis gestellt hatte, hub ein helles Hallo an! Gerade unter dem Monde spielten die Wolkenzipfel so, als ob ein Männlein und ein Weiblein nebeneinander ständen und sich die Hände reichten. „Heiraten wird sie,“ sagte der Bremer in dumpfem Tone. Da schrie die Christina auf: „Ich mag nit heiraten!“ riß aus und lief wegshin. Aber sie wendete sich um; denn noch hörten wir ihre helle Stimme: „Keinen Faulenzer mag ich nit! Keinen Menschen, der kerngesund ist und seine geraden Glieder hat und nit arbeiten will, den mag ich nit! Die starken Händ’ zum Betteln aufhalten, pfui Teufel! Und wenn’s das einzige Mannsbild wär auf der Welt, und wenn er in Guld und Edelgestein gefaßt wär, und wenn er so schön wär wie der Adam alßer neuer, wie ihn Gott derschaffen gehabt hat; wenn er nit arbeiten thät, wenn er nur schmarotzen wollt’, so möcht’ ich ihn nimmer und nimmer zu meinem Mann. Gute Nacht allmiteinand!“ Und dann war sie in den Waldweg verschwunden.

Etliche von uns lachten, andere schauten auf den Bremer. Der Mond macht zwar alle roten Gesichter blaß, aber dem Bremer-Sepp seines war jetzt ausnehmend fahl; wie der hölzerne Wegweiser daneben, so starr stand er da und endlich sagte er leise und langsam: „Das ist ein verflucktes Weibmensch, diese Christina, aber – recht hat sie!“

Und dann ist er ihr nachgegangen. Denn dumm war er nicht, wußte auch, was er wollte. – Wer hat ihr denn gesagt, daß sie just den „Faulenzer“ nehmen sollte? Das hatte der Mond nicht gesagt, und sonst auch niemand. Ei, doch! Einer hatte es gesagt, aber ganz heimlich, in stiller Nacht, nur zu sich allein gesagt, und das war er selber, der Sepp. – Und die Christina hatte sich jetzt gottlos verraten. Die muß schön viel an ihn denken, wenn ihr kein anderer einfällt, den sie – nicht heiraten will!

Kurze Zeit darauf stand die Wegzeigersäule wieder allein auf der Waldhöhe und das Wolkenspiel fuhr fort, die künftigen Geschicke den Menschen an den Himmel zu zeichnen.

Ob es aber auch zutrifft?

Ein Jahr darauf, als wieder Weihnachten kam, hatte der Ochsenknecht sein arm Dirnlein verlassen und in einen großen Bauernhof geheiratet. Aber in diesem Hofe, neben dem Geldsack, saß ein Drache, die alte Bäuerin, der er sich hatte verschreiben müssen mit Leib und Seele. Er war nicht mehr Ochsenknecht, er war ein reicher Großbauer, manchmal aber schaute er trübselig in die Wolken auf und am Himmel sah er Ungeheuer.

Und der Bremer-Sepp? Der hatte ein Kleinhäusel gepachtet, im Frühjahre den Acker gepflügt, Korn gesät und Kartoffeln angebaut. Und dann war er eines Tages zu uns gekommen – wieder als Bettelmann. Nicht mehr bettelte er um einen Sitz am warmen Ofen, nicht mehr um eine warme Suppe, er bettelte um die Stallmagd Christina, die freilich auch nicht kalt war. Zuerst schmetterte sie ihm unter glühendem Augenleuchten sein bisheriges Vagabundenleben ins Gesicht, dann nahm sie ihn. Denn sein Korn stand schon im Grünen und die Kartoffeln huben an zu blühen, so brauchte er weiter nicht ein Wort zu sagen, daß er auch arbeiten könne. – Die Gefahr zeigte sich erst wieder in späteren Jahren. Als die Kindlein erschienen waren, wollte er nicht mehr draußen ackern oder Holz schneiden, wollte lieber in der Stube bei den Kleinen sitzen und ihnen allerlei Geschichten erzählen und Schnaken vormachen, weil sie gar so fröhlich dabei lachten. – Da sah er einmal bei einem Kreisstehen in der Weihnacht, das er nach altem Brauche gerne noch trieb, am Himmel ein seltsam Spiel. Die Ruine eines Hauses und eine Gruppe von gar verkümmerten Bettelleuten, die unter einer Riesenpeitsche sich in Fetzen lösten. – Da ging er hin, arbeitete mit neuem Eifer und die heiteren Schwänke hob er sich für den Sonntag auf.

Seither sind mehr als dreißig Jahre verflossen. Der alternde Bremer-Sepp kann wieder Kreisstehen, jeden Tag wenn er will. Der Kreis seiner Kinder und Enkel ist nicht klein und weist auf eine hoffnungsvolle Zukunft.


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Die falschen Weihnachtsbäume.

Weihnachtsgeschichte von Charlotte Niese. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Auf unserer kleinen, in der Ostsee gelegenen Heimatinsel gab es wenig Bäume. So wenig, daß das Brennholz von außerhalb geholt werden mußte und daß viele der Inselbewohner niemals einen Wald gesehen hatten. Auch die Tannenbäume waren ein seltener Artikel, was uns als Kinder immer sehr aufregte. Denn wenn es gegen die Weihnachtszeit ging, tauchten die Zweifel stets wieder auf, ob wir wohl einen wirklichen oder einen falschen Tannenbaum am Heiligabend bekämen. Einen wirklichen Tannenbaum, der im Wald gewachsen war und in dessen Zweigen die Vögel gesungen hatten, oder einen falschen, der in Meister Ahrens’ Werkstatt das Licht der Welt erblickt hatte.

Meister Ahrens war unser Tischler. Er sah alt aus und hatte einen sehr kahlen Kopf, aber wir mochten ihn gern leiden, besonders, wenn er nicht immer von seinem guten Herzen sprach. Das langweilte uns, weil wir es doch eigentlich für selbstverständlich hielten, daß man ein gutes Herz haben müsse.

Ahrens kam oft zu uns. In unserer Kinderstube ging alle Augenblicke etwas auseinander, was eigentlich zusammengehörte, und Meister Ahrens erschien dann mit seinem Leimtopf, sagte, er hätte ein gutes Herz, und klebte alles wieder zusammen. Wir halfen ihm natürlich und drängten uns um die Ehre, in seinem klebrigen Topf dreimal herumrühren zu dürfen; aber seine Tannenbäume mochten wir nicht leiden. Das kam wahrscheinlich daher, weil wir sie schon so lange vorher sahen. Schon im Frühjahr arbeitete Ahrens an langen weißen Stöcken, in die er Löcher bohrte; im August und September malte er diese Stöcke mit grasgrüner Oelfarbe an und trocknete sie vor seiner Hausthür. Später sahen wir sie zusammengebunden in seiner Werkstatt liegen, bis der Dezember ins Land zog. Dann verschaffte er sich Tannenzweige, steckte diese in die Löcher der grünen Stöcke und betrieb einen schwunghaften Handel mit Tannenbäumen. Auch uns bot er immer von seinem Fabrikat an, aber obgleich wir nicht leugnen konnten, daß seine Bäume schließlich sehr nett aussahen, so verhielten wir uns meistens ablehnend. „Sie sind so billig!“ bemerkte Ahrens eines Tages zu uns, als wir ihn einer Bestellung wegen in seiner Werkstatt besuchten und er gerade einen grünen Stock etwas nachmalte.

„Wir wollen sie doch nicht!“ erwiderte mein Bruder Jürgen, der in seinen Aussprüchen oft sehr bestimmt war. „Ich mag keinen falschen Tannenbaum!“

„Falsch! Du lieber Gott, was ’n Wort!“ Ahrens sah beleidigt aus. „Da is nich die geringste Falschheit bei! Meine Tannenbäumens sind feiner as die natürlichen, kann ich Dich sagen, mein Junge! An die natürlichen is oft Smutz und Erde, und bei mich is bloß die reine Oelfarbe!“

„Wo bekommst Du eigentlich die Tannenzweige her?“ fragten wir, und der alte Tischler sah sehr wichtig aus.

„Aus ’n Wald, aus ’n richtigen Tannwald, wo die Vögelns singen und wo so viel Bäumens stehen, daß man mannichmal kein Luft kriegen kann!“

„Wo liegt der Wald und wer holt Dir die Tannenzweige?“

Wir waren dem Tischler doch näher gerückt und sahen ihn gespannt an; er aber zuckte die Achseln „Ja, das möcht Ihr wohl wissen! Das sag’ ich abersten nich – ne, das sag’ ich nich!“

Auf diese Art umgab Meister Ahrens seine Bäume mit dem Nimbus des Geheimnisvollen und dadurch gewannen sie plötzlich in unseren Augen.

Es war bereits ziemlich nahe vor Weihnachten und wir sprachen eigentlich von nichts anderem als von dem bevorstehenden Feste. Endlos lange Wunschzettel waren geschrieben; hin und wieder wurde eine Thräne über eine völlig mißglückte Weihnachtsarbeit vergossen, oder wir schmiedeten Pläne, was wir noch verschenken wollten. Manchmal ging die Zeit entsetzlich langsam und manchmal unheimlich schnell dahin und unsere Lehrer beklagten sich über unsere Zerstreutheit.

Es war an einem Morgen im Dezember, daß ich zu Meister Ahrens geschickt wurde, um ihn samt seinem Leimtopf zu uns einzuladen. Unsere Kinderstubeneinrichtung hatte durch eine längere lebhafte Unterhaltung der älteren Brüder stark gelitten und Ahrens sollte gleich kommen. Vergnügt polterte ich die enge Treppe zu seiner Werkstatt hinauf, konnte aber nicht bis auf die letzte Stufe kommen, weil dort ein Kind stand, auf das der alte Tischler eifrig einsprach.

„Ich muß die Zweigens haben und Vater muß herüber und sie holen!“

„Vater is bang!“ lautete die schüchterne Erwiderung.

„I, was sollt Vater woll bang sein; er muß los – sonsten klag’ ich ihm ein, wo er mich doch Geld schuldig is! Ohne die Zweigens kann ich ja nix machen und das Geschäft mit die Bäumens muß anfangen! Nu geh Du man und laß Vater man auch gehen!“

Das Kind, es war ein ziemlich großes Mädchen, glitt an mir vorüber und ich konnte jetzt in die Werkstatt treten und meine Bestellung ausrichten. Aber Meister Ahrens hörte kaum auf mich. Er war sehr schlechter Laune und betrachtete seufzend seinen Haufen grüner Stöcke, der friedlich in einer Ecke lag.

„Kannst Du keine Zweige aus dem großen Wald kriegen?“ fragte ich neugierig. Er aber sah mich strenge an.

„Frag nich so dumm! Ich kann allens, was ich will, und meine Tannenbäumens sind besser als die natürlichen!“

Als ich wieder nach draußen kam, da saß dasselbe Mädchen, das vorhin mit Ahrens gesprochen hatte, auf der Thürschwelle. Sie weinte nicht, aber sie sah aus, als wenn sie wohl Lust dazu hätte, und ich setzte mich neben sie und betrachtete sie schweigend. Sie war sehr ärmlich, doch ziemlich sauber gekleidet, nur ihr dickes blondes Haar hing unordentlich um ihren Kopf. An diesem Haar erkannte ich sie und daher nickte ich ihr freundlich zu.

„Du hast mir neulich mein Lesebuch nachgebracht, als ich aus der Stunde kam, weißt Du noch? Ich hatte es auf dem Wege verloren!“

Sie nickte jetzt auf und ihre Augen blickten weniger trübe.

„Das war so ’n feines Buch,“ sagte sie, „mit Bildern ein, – so ’n feines Buch!“

„Hast Du kein Lesebuch?“ erkundigte ich mich, während ich mit einiger Beschämung daran dachte, daß ich dieses Buch schon zweimal hinter einen Schrank geworfen hatte; nur, um es nie wieder zu sehen. Leider war es immer wieder gefunden worden.

Sie schüttelte den Kopf. „Ne – ich hab’ nix, gar nix!“

„Was wünschest Du Dir denn zu Weihnachten?“

„Ich?“ das Mädchen sah überrascht auf. Dann lachte sie. „Was sollt’ ich mich woll wünschen; ich krieg’ doch nix!“

„Du bekommst gar nichts?“

Unwillkürlich rückte ich der Sprecherin näher. „Bist Du dann am Weihnachten nicht furchtbar traurig?“

„Ne“ – sie lachte wieder. „Was sollt’ ich woll traurig sein, wo ich den ganzen Abend rumlauf und in all die Fensters guck’ und all die Weihnachtsbäumens zu sehen krieg’! Männichmal krieg’ ich auch noch ein Stück Brot mit Rosinens geschenkt!“

„Weihnachtsabend darf man eigentlich nicht ausgehen!“ sagte ich. „Da muß man zu Hause bei seinen Eltern bleiben!“

[832]

Ein Weihnachtslied.
Nach einem Gemälde von H. Ströse.

[833] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[834]

„Ja, wenn Vater man nich sitzt, denn bleib’ ich auch bei ihm; abers er is nu ja ümmerlos im Loch – da sitz’ ich ja ganz allein, wo Mutter doch tot is –“

„Er sitzt im Gefängnis?“

Wenn es angegangen wäre, hätte ich mich noch näher an meine neue Bekanntschaft gedrückt. Wir saßen aber schon ganz nahe aneinander geschmiegt. Aber um ihr doch zu zeigen, wie interessant sie mir sei, griff ich in die Tasche, in der sich einige getrocknete Pflaumen befanden, und bot sie ihr an. Dörthe Krieger, so hieß das Mädchen, nahm sie auch und verzehrte sie mit einiger Gier, während ich ihr zusah. Ich hatte nämlich gerade aus dem vorhin erwähnten Lesebuch mir eine wunderhübsche Geschichte von einem unschuldig Gefangenen vorlesen lassen und nahm jetzt an, daß die Gefängnisse nur dazu da waren, um Unschuldige zu quälen.

„Dein Vater hat doch natürlich nichts Böses gethan?“ fragte ich und Dörthe schüttelte den Kopf.

„Ne – natürlich nich! Bloß ein büschen Stehlen. Weiter gar nix. Der Bürmeister is auch zu eigen. Awers nach die Tannenzweigen in Holstein will er doch nicht hin!“

„Stiehlt er die auch?“

„Ja, wo sollt er sonstens zu sie kommen? Sie sitzen an ein Baum und der Baum gehört ein Grafen zu, der furchtbar slecht is und nich leiden kann, wenn man in sein Wald spazieren geht. Vater sagt, der Wald is so groß und da laufen Rehe und Hasen herum – da merkt kein ein, wenn ein Baum fehlt und wenn da ein Reh weniger is. Hast mal Rehbraten gegessen? Der schmeckt abers fein! Vater soll Dich ein Stück abgeben, wenn er wieder mal ’was mitbringt! Na, abers er will diesmal nich gern hin. Die Försters haben ihn so gräslich auf’n Strich und wenn sie ihn kriegen, denn sperren sie ihn gleich ein und – denk’ Dich mal! – er muß jedesmal länger sitzen!“

„Dann darf er doch nicht in den großen Wald gehen!“ rief ich aufstehend. Mir war, ich weiß nicht weshalb, doch etwas unheimlich zu Mute geworden.

„Meister Ahrens will es aber und wir wohnen in seinem Haus!“ Dörthe war gleichfalls aufgestanden und wischte sich an den Augen herum. „Er sagt, Vater muß allens ein büschen vorsichtig machen und er braucht nicht gleich ein Reh zu nehmen. Abers, wenn es nu da herumläuft?“

Auf diese Frage wußte ich auch keine Antwort; aber ich konnte es Dörthe nachfühlen, daß sie ihren Vater nicht gerade zu Weihnachten im Gefängnis haben wollte. Ich mußte ihr plötzlich noch versprechen, keinem Menschen etwas von unserer Unterhaltung zu erzählen und dann trennten wir uns.

Jürgen wußte schon nach einer Viertelstunde die ganze Geschichte und es war nur gut, daß ich sie ihm erzählte. Denn ich hatte etwas sehr Tadelnswertes begangen, was ich keinem erwachsenen Menschen mitteilen durfte. Von niemand würde ich etwas zu Weihnachten bekommen, wenn man erführe, daß ich mit Dörthe Krieger gesprochen hatte.

„Ihr Vater ist ein Dieb und zwar ein ganz gemeiner!“ berichtete Jürgen. „Rasmussen (unseres Großvaters Schreiber) hat mir gerade neulich davon erzählt! Denke Dir, er stiehlt nicht einmal Geld, was doch das Feinste beim Stehlen ist – er nimmt meistens nur Würste und Schinken. Und er sitzt eigentlich immer im Gefängnis!“

Dörthe hatte mir diese betrübende Eigenschaft ihres Vaters ja auch berichtet.

„Sie will nur so ungern, daß er Weihnachten sitzt,“ meinte ich; „sie ist dann ganz allein und hat niemand, dem sie ihren Weihnachtsvers aufsagen kann! Sie bekommt überhaupt gar nichts zu Weihnachten!“

„Gar nichts?“ Jürgens tugendstrenges Gesicht wurde etwas milder. Aber er wußte doch keinen besseren Rat, als daß ich gar nicht mehr an Dörthe Krieger denken und noch weniger mit ihr sprechen sollte. Besonders nicht vor Weihnachten. Denn wenn die erwachsenen Familienmitglieder merkten, welchen schlechten Umgang ich hätte, dann würde es schlimm um meine Geschenkaussichten aussehen.

Jürgen konnte manchmal sehr eindringlich sprechen und da ihm wirklich in letzter Zeit verschiedentlich Standreden darüber gehalten waren, daß er in seinem Verkehr wählerischer sein sollte, so wußte er genau, was er sagen sollte, und ich hörte ihm andächtig zu. Dörthe Krieger war mir selbst doch auch etwas bedenklich vorgekommen und sie hatte meine Pflaumen wohl aufgegessen, sich aber gar nicht dafür bedankt. Das zeugte doch von einem schlechten Herzen. Als ich daher nach etlichen Tagen Dörthe wieder begegnete und sie mir mit einer gewisseu Vertraulichkeit zunickte, versuchte ich, sie gar nicht anzusehen. Als sie aber vorüber war, mußte ich indessen doch stehen bleiben und mich umsehen, und da sie dasselbe that, blickten wir uns gerade in die Augen.

Sie lachte; ich jedoch wurde sehr entrüstet.

„Du darfst Dich nicht nach mir umsehen – Dein Vater ist ein ganz gemeiner Dieb und ich will gar nicht mit Dir sprechen!“

Dörthe schüttelte ihren struppigen Kopf und lachte wieder.

„Ne, sprechen mußt auch nich mit mich! Die Kinder in die Schule wollen auch nich bei mich sitzen. Ehegestern hab’ ich ganzen allein auf ’n Bank gesessen – das war fein!“

„Magst Du gern allein sitzen?“

Ich war dem Kinde des Diebes nun doch näher getreten und sah neugierig in ihr unbekümmertes Gesicht.

„Nu natürlich mag ich es! Da sitzt kein ein bei mich und kneift mir, oder schubbst mir — das is fein!“

„Ist Dein Vater schon im Wald gewesen?“ fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Ne – er hat ein slimmes Knie gehabt und konnt’ nich fort. Ahrens war doll, kann ich Dich sagen, und er will uns aus ’n Haus schmeißen, wenn Vater nich bald Ernst macht. For meinswegen kann Vater auch hingehen; wenn er man bloß nich wieder Weihnachten sitzen muß!“

[835] Sie seufzte ein wenig und sah in den grauen Himmel über uns.

„Ich weiß, wie allens kommt!“ fuhr sie dann fort. „Vater geht in den Wald und will bloß die Zweigens abslagen und denn sieht er ein Reh und denn slachtet er das. Und denn kommt die Pollerzei und all die slechten Menschens und denn sitzt er Weihnachten in ’n Loch!“

„Hast Du einen Weihnachtsvers für ihn gelernt?“ fragte ich; sie beachtete aber meine Worte nicht.

„Wenn es Ostern wär’, oder Pfingsten, denn wär’ es mich einerlei; da is es nich mehr so dunkel und die andern Kinners snacken nich mehr so viel von Weihnachtsbäumens und von Aufsagen, abers nu –“

Dörthe wischte sich die Augen und ich sah sie ratlos an.

„Hast Du Deinem Vater nicht gesagt, er solle bei Dir bleiben?“

„Nu, ganz gewiß! Abers Ahrens wird bös, wenn er die Zweigens nich kriegt. Zwei Jahr haben wir die Miete nich bezahlt, weil daß Vater immer so in Rückstand war!“

„Dann mußt Du den lieben Gott bitten, daß Dein Vater kein Reh tot macht, wenn er in den Wald geht!“ riet ich und Dörthe wandte sich nachdenklich zu mir hin.

„Das kann angehen! Ich will ihm bitten, daß die Rehens vordem alle tot bleiben oder von den Grafen geslachtet werden. – For die Zweigens kriegt er ja bloß wenig Gefängnis!“

Sie lief weiter und mir fiel ein, daß ich nicht mit ihr hatte sprechen wollen. Gottlob hatte mich aber niemand gesehen, und da außerdem andere Gedanken mein Herz erfüllten, so vergaß ich diese Unterredung so bald, daß ich sie nicht einmal Jürgen mitteilte. Es waren nämlich nur noch acht Tage bis Weihnachten und die prickelnde, sonderbare Unruhe kam über uns, die jedes Kind kennt. Wir mochten nicht mehr sehr lange auf einem Stuhl sitzen und am liebsten liefen wir auf der Straße herum und besahen die bescheidenen Weihnachtsausstellungen unseres Städtchens.

Außerdem empfanden wir noch die Sorge über das Ausbleiben unseres Tannenbaumes. Der sollte mit dem Schiffer kommen, der um die Weihnachtszeit mit seiner Jacht nach Lübeck fuhr und die herrlichsten Sachen mitbrachte. Aber bis dahin war Schiffer Lafrenz noch nicht in unseren Hafen eingelaufen. Das kam daher, weil der Wind die ganze Zeit „konträr“ gewesen war, wie uns die Sachverständigen sagten, aber diese Erklärung beunruhigte uns, anstatt uns zu beruhigen. Wir kannten Geschichten von Leuten, die drei Wochen auf der Ostsee bei „konträrem“ Winde gekreuzt hatten ohne ihr Reiseziel zu erreichen, und die dann schließlich wieder unverrichteter Sache nach Hause gefahren waren. Erlebt hatten wir solche Sachen nicht, aber man hatte uns so oft die Abenteuer einer Seereise in alten Zeiten berichtet, daß wir das Schiff mit unserem Tannenbaum schon im Geiste bei Finnland im Eise eingefroren sahen. Die großen Leute suchten uns die Befürchtungen auszureden; wir aber fühlten uns doch verpflichtet, jeden Tag an unseren kleinen Hafen zu laufen und dort Erkundigungen nach „Anna Kathrin“ einzuziehen. So hieß die Jacht vom Schiffer Lafrenz und es war ein schönes Schiff, nur daß sie sehr schaukelte, selbst wenn es gar nicht nötig schien.

Am Sonntag vor Weihnachtabend war köstliches Wetter. Gerade so, als wenn die Sonne sich einbildete, Weihnachten überschlagen zu können. Sie schien wie im Frühjahr, und als wir am Vormittag aus der Kirche kamen, da beschlossen wir, sofort wieder nach dem Hafen zu gehen und uns nach der „Anna Kathrin“ zu erkundigen.

Als wir am Hause von Meister Ahrens vorübergingen, da stand dieser vor der Thür und hielt einen Tannenbaum in der Hand. Es war natürlich ein falscher und seine Zweige waren gar nicht mehr frisch.

„Wo hast Du die Zweige her, Meister Ahrens?“ fragten wir. „Das ist kein schöner Tannenbaum geworden!“

Der Tischler antwortete nicht viel, sondern murmelte nur einige verdrießliche Worte, worauf einer der älteren Brüder berichtete, daß das Geschäft mit den Tannenzweigen auch dieses Jahr flau sein sollte. Da wäre niemand mit guten Tannenzweigen an die Insel gekommen und auch die falschen Tannen sollten teuer sein. Wir andern seufzten ein wenig bei dieser Erzählung und dann strebten wir eilig dem Hafen zu, um uns nach der „Anna Kathrin“ die Augen auszuschauen. Aber alles Lugen half nichts – die dickbauchige Jacht schaukelte weder am Bollwerk, noch war ihr geflicktes Segel irgendwo am Horizont zu erblicken.

Nachdem diese Thatsache festgestellt war, verließen die älteren Brüder uns, um einen Freund zu besuchen, dessen Onkel im Besitz eines Fernrohres war, und das dazu dienen sollte, die „Anna Kathrin“ etwas schneller herbeizusehen. Wir Kleineren gingen etwas schwermütig an den Strand und suchten uns dadurch aufzuheitern, daß wir flache Steine ins Wasser warfen. Bei dieser Gelegenheit entdeckten wir ein Boot, das an einen etwas abseits stehenden Pfahl angekettet war. Beide Ruderpatten lagen darin und dieser Umstand schien uns so verlockend, daß wir sofort hineinkletterten und zu rudern begannen.

Das Boot war außerordentlich schlecht, die Sitze morsch und die Bretter des Fahrzeuges schienen kaum noch zusammenzuhalten. Wir schaukelten aber sehr vergnügt darin und Jürgen sagte, er könne rudern und nach Holstein fahren, dessen Küste am Horizont dunkel auftauchte. Er konnte es natürlich nicht und, während wir uns um die Ruder zankten, glitt das eine ihm aus der Hand und fiel ins Wasser.

Vergnügt schwamm es davon, während wir ihm ziemlich dumm nachblickten, und als Jürgen mit dem andern Ruder den Flüchtling wieder zu erwischen dachte, ging diese Stange ihm auch aus der Hand.

Ein kräftiger Fluch ertönte vom Lande her und ein Mann in großen Wasserstiefeln zog nicht allein unser Boot ans Land, sondern trat mitten ins Wasser, um die eine Stange wieder zu greifen. [836] Das gelang ihm; aber die andere schwamm schon zu weit fort und er sah uns drohend an.

„Ihr dummes Volk! Was habt Ihr in meinem Boot zu thun! Heraus mit Euch, sonst werfe ich Euch alle ins Wasser! Und wo ist meine Ruderstange?“

Er sprach fremder und ganz anders wie die meisten Insulauer, so daß wir schon deswegen einen großen Schreck vor ihm bekamen. Aber als Jürgen mir zuflüsterte, dieser Mann wäre Jobst Krieger, der Dieb, der so oft im Gefängnis gesessen hatte, da erwachte in mir der Trotz der Selbstgerechtigkeit.

„Zu sagen hast Du uns nämlich gar nichts!“ bemerkte ich, während ich doch ziemlich schnell aus dem Boot sprang.

„Weshalb nicht?“ Der Mann, dessen Gesicht uns übrigens keinen abschreckenden Eindruck machte, sah mich fragend an.

„Du bist ja ein Dieb, ein ganz schlechter Mensch!“ versetzte ich und Jürgen, der gleichfalls wieder auf festem Boden stand, nickte zu jedem meiner Worte.

„Du darfst gar nicht mit uns sprechen,“ bemerkte er nun. „Du sitzest ja immerlos im Loch!“

Auf Jobst Kriegers Gesicht lag der Ausdruck ungläubigen Staunens, dann aber wurde er plötzlich sehr rot.

„Was geht’s Euch an, wenn ich im Gefängnis war? Darin haben schon fixe Kerle gesessen, kann ich Euch sagen! Und überhaupt –“ er sah uns langsam nach der Reihe an – „ich kenn’ Euch gut! Wie oft lauft Ihr zu dem alten Mahlmann, der sein Leben lang im Zuchthaus war!“

„Zuchthaus ist feiner als Gefängnis,“ erklärte Jürgen; „viel feiner! Ich habe ’mal mit Mahlmann darüber gesprochen und der hat es mir auch gesagt. So oft wie Du im Gefängnis, ist Mahlmann auch nicht im Zuchthaus gewesen!“

„Nein, er nahm gleich ein gutes Ende auf einmal!“ sagte Jobst Krieger und dabei lachte er.

Er sah wirklich gar nicht so übel aus und sein Zorn über das verlorene Ruder schien auch verraucht.

Mit schwerem Schritt stieg er nun ins Boot und begann die Kette zu lösen.

„Wohin fährst Du?“ fragte Bruder Milo, der sich bis jetzt nicht an der Unterhaltung beteiligt und den Dieb nur unverwandt angesehen hatte.

Jobst gab keine Antwort; mir aber fiel Dörthe wieder ein, während mir natürlich nicht in den Sinn kam, daß ich ihr Schweigen gelobt hatte.

„Er fährt in den großen Wald,“ rief ich laut, „wo die Rehe und die Hasen frei herumlaufen. Da schlägt er die Tannenbäume entzwei und fängt die Rehe, und dann kommt der böse Graf und nimmt ihn gefangen! Und Dörthe muß wieder Weihnachtsabend auf der Straße herumlaufen, weil ihr Vater im Gefängnis sitzt!“

„Dummes Zeug!“ sagte Jobst. Er hatte mit einer Kelle Wasser aus dem Boot geschöpft, nun hielt er doch inne mit seiner Arbeit.

„Dummes Zeug ist es gar nicht!“ rief ich empört. „Dörthe sagt, wenn Du nur Ostern oder Pfingsten stehlen wolltest, dann wäre es ihr einerlei; aber gerade Weihnachten! Da darf man doch eigentlich nicht stehlen!“

„Nein, eigentlich nicht!“ meinte Jürgen, und Milo nickte gleichfalls.

„Da kommt ja das Christkind auf die Erde, und wenn es Dich nun im Gefängnis findet, dann bekommst Du nichts geschenkt. Nur artige Menschen bekommen etwas!“

„Ich kriege doch nichts geschenkt!“ murmelte Jobst. Er hatte uns bis dahin zugehört, nun griff er wieder zu seiner Schöpfkelle.

„Doch –“ sagte Jürgen. „Wenn Du Weihnachten nicht im Gefängnis sitzest, dann schenke ich Dir etwas. Ich habe einen Kasten geklebt; er ist sehr hübsch und ich wollte ihn eigentlich selbst behalten. Wenn Du aber gut sein willst, dann bekommst Du ihn!“

„Und ich mache Dir einen Fingerring aus schwarzen Glasperlen!“ rief Milo, der in Perlenvergeudung Unglaubliches leistete. „Oder willst Du lieber einen blauen Ring mit einer Goldperle in der Mitte? Goldperlen sind furchtbar teuer, aber ich will es doch thun!“

„Dann gebe ich auch Dörthe mein altes Lesebuch!“ setzte ich hinzu und trat dabei Jobst Krieger etwas näher. Er hatte sich nämlich ins Boot gesetzt und sah uns ganz sonderbar an. Wahrscheinlich fand er die ihm gemachten Anerbietungen zu überwältigend, um gleich darauf eingehen zu können.

„Sieh ’mal,“ setzte ich vertraulich hinzu. „Laß Dörthe doch das Lesebuch bekommen! Da sind hübsche Bilder darin, und wenn die andern Kinder die sehen, dann wollen sie auch wieder bei Dörthe sitzen. Nun wollen sie es nicht, weil Du so viel im Gefängnis sitzen mußt! – Sie sitzt immer ganz allein und Weihnachten ist sie auch allein. Ich sagte ihr, sie sollte den lieben Gott bitten, daß Du Weihnachten bei ihr wärest; aber sie hat es wohl vergessen. Der liebe Gott thut sonst alles, um was man ihn ordentlich bittet!“

Jobst Krieger legte plötzlich wieder die Bootkette um den Pfahl und trat ans Land. Er sah beunruhigt und etwas mürrisch aus, und als Jürgen ihm noch einmal seinen schönen Kasten pries, antwortete er nur durch ein unverständliches Knurren.

Auch trat jetzt ein anderer Mann auf ihn zu, der eben erst von der Stadt hergekommen war. Der sah nicht so gut aus wie Jobst, und seine Augen fuhren scheu über uns hin, während er leise mit Jobst sprach. Jürgen und ich gingen voran, während Milo noch eine Weile in der Nähe der Männer blieb und erst später uns nachgelaufen kam.

„Ich habe gehört, was sie sprachen,“ erzählte er. „Ich sammelte Steine und war ganz nahe bei ihnen. Der andere Mann heißt Lorenz und wollte mit Jobst Krieger und dem Boot nach dem großen Walde fahren. Jobst aber sagte, er hätte keine Lust, sie wollten bis morgen warten. Er müßte sich noch besinnen. Da wurde der andere Mann böse und sagte, er führe nicht am Montag, das sei ein Unglückstag; er führe am Sonntag und er wolle nicht auf Jobst warten! Da haben sie sich gescholten und nun ist Jobst Krieger zurück gegangen und der andere ist im Boote!“

Jetzt kamen die andern Brüder. Aber sie waren, weil sie

[837]

Italienische Kinderweihnacht.
Nach einer Originalzeichnung von P. Scoppetta.

[838] selbst durch das Fernglas nichts von der „Anna Kathrin“ gesehen hatten, so niedergeschlagen, daß wir ganz vergaßen, ihnen unsere Unterhaltung zu berichten.

Aber am Abend sprachen wir doch noch von Jobst Krieger und meinten, es sei ganz überflüssig, uns auf Geschenke für ihn einzurichten. Milo aber fing dennoch einen Ring aus blauen Glasperlen an, der wirklich sehr schön wurde.

In der Nacht kam plötzlich ein furchtbares Wetter. Die Dezembersonne war trügerisch gewesen. Der Wind sprang um, Regen schlug an die Scheiben und die Dachpfannen prasselten auf die Straße. Am andern Morgen wurde es wieder ziemlich still, und die Brüder liefen gleich an den Hafen, um nach der „Anna Kathrin“ zu sehen, die dann auch wirklich einlief. Etwas beschädigt zwar, denn es war auf See ein Heidenwetter gewesen; aber die „Anna Kathrin“ konnte schon einen Puff vertragen.

Obgleich der Tannenbaum nun wirklich in Sicht war, so konnten wir uns nicht so recht über ihn freuen. Denn Schiffer Lafrenz von der „Anna Kathrin“ war einem umgeschlagenen Boote unweit vom Hafen begegnet, das er mit seinen scharfen Schifferaugen sofort erkannte. Es gehörte einem Mann, der Lorenz hieß und der gerade so übel berüchtigt war wie Jobst Krieger.

Am Hafen hatten die Leute gewußt, daß Jobst und Lorenz in diesem Boot am Sonntag eine Fahrt hatten machen wollen – einige Leute wollten sie auch zusammen gesehen haben. Nun hatte das Wetter sie auf offener See überrascht und sie waren ertrunken.

Es war eine traurige Geschichte, die gar nicht für die Weihnachtszeit paßte; aber wir mußten lange darüber sprechen. Es that uns so leid, daß Jobst doch gefahren war, und besonders Milo konnte es gar nicht begreifen. Lorenz mußte ihn doch schließlich überredet haben.

Großvaters Schreiber, Rasmus Rasmussen, war nicht so traurig wie wir. Er sagte, Jobst würde doch im Zuchthause geendet haben, weil er das Stehlen nicht hätte lassen können. Tannenzweige aus dem Walde zu holen, sei ja schließlich kein Verbrechen, aber Jobst hätte die schönsten Tannen auseinander geschlagen, ohne auch nur einen Menschen zu fragen. Meister Ahrens habe einen guten Lieferanten an ihm gehabt, und deshalb seien seine Tannenbäume immer so schön gewesen. Dann hätte Jobst auch noch Hasen und Rehe in Schlingen gefangen, und wenn er bei einer fremden, wohlgefüllten Speisekammer vorübergekommen wäre, dann hätte er tief hineingelangt.

Es war gewiß ein Glück, daß Jobst tot war, wie Rasmus meinte, aber wir waren doch so betrübt, daß wir eine Weile unser Weihnachtsfest ganz vergaßen. Dann schämten wir uns auch noch, daß wir um einen ganz gewöhnlichen Dieb weinten.

Das thaten wir nämlich. Trotz seiner entsetzlichen Schlechtigkeit hatten wir Jobst sehr gern leiden mögen, obgleich wir es keinem Menschen verraten wollten.

Plötzlich fiel mir Dörthe ein. Was würde sie wohl dazu sagen, daß ihr Vater ertrunken wäre? Den ganzen Tag mußte ich an sie denken, und Jürgen und Milo sprachen auch von ihr. Nun war sie immer allein; nicht nur Weihnachten – nein, auch Ostern und Pfingsten – das ganze Leben hindurch.

In unserem Hause wurden gerade Kuchen gebacken; das war eine angenehme Zerstreuung; aber als es dämmerig wurde, lief ich doch zu Dörthe Krieger, deren Wohnung ich jetzt ganz gut kannte, obgleich ich sie nie betreten hatte. Jürgen lief mit und wir hatten Mama ein Paket Kuchen für die arme Dörthe abgebettelt.

In dem kleinen, sehr verfallenen Hause am äußersten Ende der Stadt brannte schon Licht, und als wir ohne weiteres in die Hausthür und dann in die kleine ärmlich eingerichtete Stube stürzten, prallten wir erschrocken zurück. Denn auf einem Holzschemel, von einem Talglicht beleuchtet, saß Jobst Krieger. Er hatte Besuch. Vor ihm stand Meister Ahrens, der heftig auf ihn einsprach, aber wir beachteten den alten Tischler nicht. Wir liefen auf Jobst zu und betrachteten ihn aufgeregt.

„Wie?“ rief Jürgen; „Du bist nicht tot?“

Seine Stimme klang vorwurfsvoll und auch ich konnte mich einer leichten Verstimmung nicht enthalten. Wenn man einmal jemand als tot beweint hat, dann muß er auch nicht gleich wieder auferstehen! Jobst Krieger sah uns ebenfalls etwas verlegen an. „Lorenz ist allein gefahren,“ sagte er nun. „Ich wollte ja nicht, ich –“ er stockte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Du hast Glück gehabt, Jobst Krieger,“ bemerkte Meister Ahrens. „Wenn Du mit Lorenz gefahren wärst, dann lägst Du nu tot in die See! Er war auch ein slechten Kerl, der Dir zu allens verführt hat! Morgen fährst nu for mir nach’n Festland und holst mich die Zweigens, sonsten sollst mich kennenlernen!“

Aber Jobst schüttelte den Kopf.

„Nein, Meister Ahrens – ich fahr’ nicht mehr nach den Tannenzweigen. Wenn ich in den Wald komme –“ er atmete kurz auf – „dann laß ich’s doch nicht – dann greif’ ich nach andern Dingen, die mir nicht gehören, und dann sitzt die Dörthe Weihnachten allein! Und jetzt – wo Gott mich vorm Tode bewahrt hat –“ er stockte und sah uns an. Wir nickten ihm zu. Allmählich hatten wir die Enttäuschung, daß er noch lebte, überwunden. Meister Ahrens aber rang die Hände.

„Du liebe Zeit! Nu krieg ich kein ordentlichen Tannenbäumens, wo das Geschäft gerade flott gehen soll. Und Du wohnst in meinem Haus und thust nich, was ich will? Nu mußt zu Neujahr ausziehen!“

Wir hatten Meister Ahrens niemals so böse gesehen und unser Interesse wandte sich ihm ungeteilt zu.

„Fahre doch selbst in den Wald und hole die Zweige!“ rief Jürgen; aber der Alte sah ihn böse an.

„Da konnt ich doch bei zu Schaden kommen!“ murrte er und mein Bruder trat ganz nahe auf ihn zu.

„Meister Ahrens, Du hast mir neulich noch gesagt, die Hauptsache im Leben wäre ein gutes Herz. Du hast doch auch ein gutes Herz?“

„Ganzen gewißlich!“ versicherte der Alte mit etwas unsicherer Stimme. „Abers die Tannenbäumens müssen doch Zweigens haben, sonsten sind es keine Tannenbäumens, und wenn Jobst Krieger mich nich Zweigens holen will –“

„Er will doch kein Dieb mehr sein!“ rief Jürgen. „Laß ihn in Ruhe und gehe zu Schiffer Lafrenz auf der ‚Anna Kathrin‘. Der hat auch eine ganze Menge von Tannenzweigen mitgebracht, die Brüder haben’s gesehen!“

„Is wahr?“ Ahrens’ ärgerliches Gesicht wurde etwas milder, dann lief er plötzlich davon, ohne Lebewohl zu sagen. Wir entbehrten ihn auch nicht. Wir hatten unsere Kuchen ausgepackt und da wir Jobst Krieger verziehen [839] hatten, daß er noch nicht tot war, so durfte er sie probieren. Jürgen und ich sagten ihm auch unsere Weihnachtslieder auf. Der Uebung halber und auch deswegen, weil sie uns immer im Kopf herumspukten, und wir waren eigentlich etwas beleidigt, daß Jobst uns gar nicht lobte. Er saß ganz still und hatte beide Hände vor sein Gesicht gelegt. So still war er, daß, als wir nacheinander das „Amen“ von unsern Verslein gesprochen hatten, es uns etwas unheimlich zu werden anfing. Aber da kam Dörthe ins Stübchen gestürzt und ihre Ueberraschung, uns zu sehen, war so groß und das Vergnügen über die Kuchen noch so viel größer, daß wir ungemein heiter wurden und ganz vergaßen, daß wir mit Jobst Krieger eigentlich gar nicht sprechen durften.

Er selbst erinnerte uns daran. Er stand plötzlich auf und sagte, daß er uns nach Hause bringen wolle – unsere Eltern würden gewiß nicht wollen, daß wir so lange bei ihm blieben. Wir sahen die Richtigkeit dieser Worte ein, und als wir neben ihm auf der dunklen Straße gingen, stieß Jürgen plötzlich einen schweren Seufzer aus.

„Jobst, wie furchtbar schade ist es doch, daß Du ein so schlechter Mensch bist! Ich mag Dich gern leiden – viel lieber als einige Leute, die niemals im Gefängnis waren!“

„Ich auch!“ versicherte ich und Jobst stand still und legte ganz leise seine Hände auf unsere Haare.

„Mir ist’s auch leid genug,“ murmelte er; aber was er noch hinzusetzte, konnten wir nicht verstehen – seine Stimme war ganz heiser geworden. Dann war er plötzlich in der Dunkelheit verschwunden und wir mußten den Rest des Heimweges allein zurücklegen.

Das war nun nicht so schlimm; wir waren nicht ängstlich und hatten außerdem eine Fülle von Unterhaltungsstoff, der auch nicht ausging, als wir den Andern von Jobst Krieger und von dem Umstande, daß er noch lebe, berichteten. Wir wollten ihm alles mögliche zu Weihnacht schenken, alte Anzüge von Papa, die uns nicht gehörten, Eßwaren, über die wir gleichfalls keine Verfügung hatten, und vor allem einen Katechismus, damit er die zehn Gebote noch einmal durchlerne.

Aber es kam anders. Als wir am Tage vor Weihnachten Jobst Krieger und seine Tochter feierlich zu uns einladen wollten, erfuhren wir, daß beide in der Nacht vorher verschwunden waren. Sie hatten ihre armselige Habe zurückgelassen und die Insel verlassen. Sie kamen auch nicht wieder, obgleich wir das ganze Weihnachtsfest auf sie warteten, und niemand konnte uns sagen, wohin sie gegangen waren.

Dieses plötzliche Verschwinden betrübte uns außerordentlich, und wir trösteten uns nur allmählich mit dem Gedanken, daß uns jetzt kein Mensch verbieten konnte, an Jobst und Dörthe zu denken und von ihnen zu sprechen. Unser Weihnachtsabend war trotz alledem sehr schön und wir schenkten die für Jobst bestimmten Sachen anderen Leuten, die es auch nötig hatten.

Nur Meister Ahrens feierte kein fröhliches Weihnachtsfest. Erstens waren seine falschen Tannenbäume lange nicht so hübsch wie sonst, obgleich er Zweige bekommen hatte, und dann fiel es den Leuten ein, daß er doch vielleicht den Jobst oft zu hart bedrängt und ihn schon mehrere Jahre hindurch veranlaßt hatte, in den Wald zu gehen und zu stehlen. Ob er nun wirklich Schuld daran hatte, war schwer zu sagen; jedenfalls ging er kümmerlich gebeugt einher und klagte über die schlechten Zeiten und die schlechten Menschen.

Mehrere Weihnachtsfeste waren vergangen. Meister Ahrens machte immer noch falsche, recht häßliche Tannenbäume und wir selbst sprachen noch manchmal von Jobst. Zuerst hatten wir uns ausgedacht, daß er wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei und als reicher Mann zurückkehren würde. Dann trüge Dörthe seidene Kleider und er würde uns allen etwas Wundervolles zu Weihnachten schenken. Wir stritten uns auch darüber, ob wir lieber eine goldene Mundtasse oder einen goldenen Teller haben wollten; allmählich aber vergaßen wir doch, über Jobst zu sprechen, bis wir an einem Weihnachtsabend ein sonderbares Paket mit der Post bekamen.

Es trug Jürgens, Milos und meinen Namen und kam aus einem Orte, von dem die großen Leute sagten, daß er in Ost- oder Westpreußen läge. Dieses Paket enthielt ein sauber geschnitztes kleines Boot, das mit frischen Christrosen angefüllt und in köstliche Tannenzweige verpackt war. Dabei lag ein Zettel, auf dem mit ungeübter Hand die Worte geschrieben waren: „Und hat ein Blümlein bracht, mitten im kalten Winter.“ Da wußten wir, daß diese Sendung von Jobst Krieger kam, und wir freuten uns außerordentlich über sie. Besonders darüber, daß er von den Weihnachtsliedern, die wir ihm aufgesagt, etwas behalten hatte. Denn, wer auch nur ein wenig von seinen Weihnachtsliedern im Gedächtnis behält, der kann doch ganz gewiß kein ganz schlechter Mensch sein.

Meister Ahrens sagte dasselbe. Er hatte mit derselben Post eine Geldsumme bekommen, die, wie er fest glaubte, von Jobst Krieger kam, weil er ihm gerade so viel Geld schuldig gewesen war.

„Eigentlich hast Du das Geld nicht verdient!“ sagte Jürgen, der dem alten Tischler die Behandlung von Jobst nicht recht vergessen konnte.

Dieser fuhr sich über den kahlen Kopf und seufzte.

„Nee, eigentlich nich! Abersten, wenn ich nu die Hälfte an die Armens gebe und wenn es mich sowieso all die Jahrens leid gethan hat, daß ich nich nett gegen den Jobst war? Ich habe sonsten warraftigen Gott ein furchtbar gutes Herz – bloß bei die Tannenbäumens, da bin ich eigen mit gewesen, weil es so’n gutes Geschäft war!“

Ahrens richtete wirklich eine Weihnachtsbescherung für eine arme Familie aus, und seit der Zeit sprach er noch mehr als sonst von seinem guten Herzen. Sonderbarerweise waren es die Kinder dieser Familie, die nicht bei Dörthe Krieger in der Schule hatten sitzen wollen. Das war aber lange vergessen, und der von Ahrens verfertigte falsche Tannenbaum warf auch über sie seinen weihnachtlichen Schein und ihre Freude war echt.

Denn das Christkind in seiner Milde fragt nicht nach den Verdiensten und Schwachheiten der armen Erdenkinder. Sonst müßte es aufhören, alle Jahre wieder zu kommen.


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Blätter und Blüten.



Italienische Kinderweihnacht. (Zu dem Bilde S. 837.) Anders als bei uns im Norden verläuft Weihnachten im italienischen Süden, wo Kälte und Schnee seltene Gäste sind und der liebe Tannenbaum nicht grünt.

Wie die Schwalben den Lenz, künden die Hirten von den Bergen, die Pifferari oder Zampognari, mit ihren überlustigen Dudelsackweisen am 29. November schon das Nahen des schönsten Festes an. Vom 29. November bis 7. Dezember dauert die Andacht zur heiligen Jungfrau, deren Töne die Kinderwelt immer und immer wieder und immer noch wie vor hundert Jahren elektrisieren. Wie Orgelton erklingt der Dudelsack, ernst und tief, mahnend und tröstend, wie Rede der Alten; wie übermütiger Kinderjubel im Rhythmus des Pastorale hüpfen jauchzend und schmetternd die Töne der Schalmei darüber hinweg.

Eine übermütige Kinderschar, schwarzköpfig alle, mit dunkeln strahlenden Augen, umdrängt die beiden Spieler, und die tüchtigen Jungen suchen ihnen die Kunst abzulernen.

Das Ganze ist ja nur die Ouverture, aber eine Ouverture ohne Ende, eine von neun Tagen. Nach diesen giebt es eine große Pause bis zum 16. Dezember, an diesem Tage beginnt das eigentliche Stück, die „Novena del Gesù Bambino“, die neuntägige Andacht zum Jesuskind, und die dauert nun bis 24. Dezember. Aber das ist eine fieberhafte Zeit, denn das größte Schmausfest, der größte Festschmaus muß in magenwürdiger Weise vorbereitet werden: Hühner, Kapaunen, Truthähne, Lämmer, Kälber, Fische, Meerfrüchte, Krebse, dann Aepfel, Birnen, Feigen, Mandeln, Nüsse, Trauben, Melonen und Orangen, Kraut und Kohl füllen bereits alle Räume und häufen sich auf den Marktplätzen zu Hügeln und Bergen.

Aber die Kinder in der Stadt und auf dem Dorfe haben inmitten dieses materiellen Treibens noch etwas Besseres zu thun: der Präsepe (die Krippe) muß in seiner traditionellen Herrlichkeit aufgebaut werden, Bethlehem soll erstehen mit dem Stern und mit dem kleinen rosenroten Menschenkind in der Krippe, und unschuldige Kinderhände bringen das wächserne auf einem Schüsselchen getragen und alle, Kerzen, Blumen und Zweige in den Händen, goldene Früchte in den Schürzen, begleiten es singend in Prozession zur Kirche, dort werden die Lichter angezündet und aus Kindermund ertönt Christkindleins Wiegenlied:

 „Schlaf, o schlaf, schön Kindelein,
 König fein.
 Schlafe, schlaf, du Söhnchen mein.
 Träume, Engelsangesicht,
 Himmelskönig,
 Holde Lilie, zart und licht.‟

Und Don Biagio, der vielbeschäftigte Parroco (Pfarrer), der das Kind ins Moos gebettet, reibt sich weihnachtsfroh die Hände, schnuppt die Kerzen und setzt den großen goldpapierenen Bethlehem-Stern in schwingende Bewegung.

Das ist die Weihnachtswonne der süditalienischen Jugend, der Weihnachtsbaum ist ihr fremd. Das Bild P. Scoppettas zeigt den Aufbruch einer fröhlichen Kinderschar zur Kirche, das kleine Mädchen inmitten der Treppe trägt das wächserne Christkindchen vorsichtig auf den Armen. Woldemar Kaden.     

Ein Weihnachslied. (Zu dem Bilde S. 832 und 833.) Wo unter dem kerzenhellen Christbaum hervor inniger Gesang gen Himmel steigt, dort ist Weihnachtsstimmung, mag auch dieser Abend als schwer erreichtes Friedenseiland inmitten stürmischer Lebenswogen sich erheben. Die junge Witwe dort, die nach dem frühen Tode des Gatten mit den Kindern ins elterliche Haus zurückkehrte, sie sieht ernst und leidvoll aus großen Augen ins Weite, aber ihre Lippen singen leise mit – sie fühlt es tief und dankbar, daß ihre Waisen hier eine Heimat haben, wenn auch der Vater draußen in der winterlichen Erde, für immer ihnen entrissen, ruht. Und die gute, thätige Großmama, deren Teil statt Ausruhen nur neue Arbeit und Sorge geworden ist, auch sie empfindet den Frieden dieses Abends und das in den aufblühenden Kindern ihnen geschenkte Glück heute gar lebhaft! Auch sie mischt ihre zitternde Stimme in das Danklied, das ihr alter treuer Lebensgenosse fest und freudig an seinem ausgespielten Instrument intoniert. Es ist ihnen viel geblieben und sie besitzen den besten Schatz: die Liebe, welche das Schwere tragen hilft und unter dem bescheidensten Dache ein Paradies des Friedens erschafft, das feste Gottvertrauen und die Hoffnung auf die Zukunft der Kinder. Diese selbst, wie sie in frischer Jugend blühen, sind der beste Trost im Leid, an ihrem Wachsen und Streben kann sich das Mutterherz wieder aufrichten und künftig wird „fröhliche Weihnacht" dort neu einziehen, wo heute nur eine stillbewegte voll sehnsüchtiger und schwerer Erinnerung gefeiert wird. Br.     

Christkindleins Boten. (Zu unserer Kunstbeilage)

Christkindleins Boten
Sie nahen sacht
Aus Himmelshöhen,
In Glanz und Pracht.
Ein lieblich Klingen
Tönt um sie her –
Da hält’s die Kleinen
Im Bett nicht mehr!

Sie stehen lauschend . . .
Schon raschelt’s draus –
Es packt der Engel
Die Gaben aus.
O wie so langsam
Der Sack sich leert! . . .
Nur noch ein Weilchen –
Dann wird beschert!
 – t –


„Unser Bismarck‟ von Allers. Ein Prachtwerk ganz einziger Art, monumental und volkstümlich zugleich, ist der bilderreiche, kostbare Band, den C. W. Allers nunmehr seinem „Fürst Bismarck in Friedrichsruh‟ hat folgen lassen (Stuttgart, Union). Weit umfassender als die dort gelöste Aufgabe, den greisen Staatsmann als unseren Zeitgenossen im Kreise seiner Familie und im Genuß der idyllischen Umgebung seines waldumragten Tuskulums zu schildern, ist die hier in Angriff genommene und bewunderungswürdig ausgeführte. „Unser Bismarck‟ – wie der Titel es ausdrückt – der ganze Bismarck, von seinen Anfängen bis zu den großen Erntetagen des Ruhms, die seine Einsamkeit in den letzten Jahren erhellten, das Werden und Wachsen seiner Erscheinung von Kindesbeinen an zu der volkstümlichen Heldengestalt, in welcher sein Bild für ewige Dauer der Geschichte unsres Volks eingeprägt ist, wird hier in Bild und Wort in der oft gerühmten Allersschen Weise veranschaulicht, die den warmen frischen Hauch des unmittelbaren Lebens trägt. Ganz besonders aber tritt uns Bismarck auch hier in seinen Beziehungen zum Volke, im frischen, fröhlichen Wechselverkehr mit Vertretern aller Stände entgegen, und Allers, schon immer als Schilderer des deutschen Bürgertums ein gefeierter Meister, hat mit unerschöpflicher Lust den vielen Gelegenheiten dieser Art, bei denen er direkt „nach der Natur‟ zeichnen konnte, eine bunte Fülle von Motiven entnommen, die für seine geniale Charakterisierungskunst wie für seinen Humor sich gleich dankbar erwiesen. Der Text von Hans Krämer ist warmen Tons und mit echter Begeisterung geschrieben. Die heliographische Wiedergabe der 258 großen und kleinen Bilder, wie überhaupt die Ausstattung des Bandes verdienen das höchste Lob, wie dies schon bei den anderen Allerswerken des gleichen Verlags der Fall war. Auch sie – wir bringen nur kurz „Die Hochzeitsreise in die Schweiz“, „La bella Napoli“, „Fürst Bismarck in Friedrichsruh“ und „Freund Allers“ in Erinnerung – seien für die nahende Weihnachtszeit zu Festgeschenken bestens empfohlen.


Inhalt: Weihnachten. Gedicht von Carl Busse. Mit Umrahmung. S. 821. – Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed (9. Fortsetzung). S. 822. – Die Vorfahren unserer Weihnachts-Schauspiele. Von Alexander Tille. S. 826. Mit Abbildungen S. 825, 826 und 828. – Das Kreisstehen in der Christnacht. Eins aus dem steirischen Volksleben von Peter Rosegger. Mit Abbildung. S. 829. – Die falschen Weihnachtsbäume. Weihnachtsgeschichte von Charlotte Niese. S. 831. Mit Bildern S. 831, 834, 835, 836, 838 und 839. – Ein Weihnachtslied. Bild. S. 832 und 833. – Italienische Kinderweihnacht. Bild. S. 837. – Blätter und Blüten: Italienische Kinderweihnacht. Von Woldemar Kaden. S. 840. (Zu dem Bilde S. 837.) – Ein Weihnachtslied. S. 840. (Zu dem Bilde S. 832 und 833.) – Christkindleins Boten. S. 840. (Zu unserer Kunstbeilage.) – „Unser Bismarck“ von Allers. S. 840.


manicula 0Hierzu Kunstbeilage XIV: „Christkindleins Boten.“ Von H. Fechner jr.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.