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Die Gartenlaube (1892)/Heft 5

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Halbheft 5.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Weltflüchtig.

Roman von Rudolf Elcho.
(4. Fortsetzung.)

Der Bau des Hauses begann in den ersten Tagen des Mai, und Bettinas Schaffensdrang fand während des Sommers einen willkommenen Wirkungskreis. Mit Sonnenaufgang schon war sie bei den Bauleuten draußen und freute sich des gedeihlichen Fortgangs der Arbeit. Sie besprach mit dem Werkmeister jede Einzelheit der Ausführung und wußte mit klugem Sinne die Hindernisse zu beseitigen, jede Stockung zu überwinden. Zu Anfang Juli war der Rohbau vollendet, und sie gab den Maurern und Zimmerleuten ein Richtfest, bei dem es lustig herging und der Lehrer einen artigen Trinkspruch auf die schöne Bauherrin ausbrachte.

Ewald konnte dem Feste nicht beiwohnen, denn er mußte zu seinem Verdruß den Dampfer eines reiselustigen Prinzen als Lotse begleiten. Bettina bekam ihren Verlobten während des Sommers überhaupt nur wenig zu sehen, denn wenn er nicht dienstlich beschäftigt war, so bedurften die Eltern seiner beim Einbringen der kleinen Ernte, beim Fischen oder bei der Aufführung des neuen Häuschens. Die Monate Juli und August waren heiß und regenlos, das kam dem Neubau Bettinas sehr zu statten; auf der luftigen Höhe trocknete er bald gründlich aus, so daß schon im September mit der inneren Ausstattung begonnen werden konnte. Die Gartenanlage erforderte bei diesem Wetter fortgesetzte Bewässerung, und Bettina war rastlos thätig, um dem jungen Rasen, den eingepflanzten Bäumen und Sträuchern die nöthige Erfrischung zu geben. Sie freute sich des fröhlichen Gedeihens, und wenn Ewald abends zu ihr kam, zeigte sie ihm stolz und glücklich die Fortschritte im Garten und entwarf mit ihm heitere Zukunftspläne.

Die Hochzeit sollte Mitte Oktober stattfinden, und Bettina begab sich vier Wochen vorher nach Berlin, um die für die innere Einrichtung des Hauses nöthigen Möbel, Gardinen und Geräthe einzukaufen.

Sie hatte sich anfangs vorgenommen, das Haus nett, doch mit größter Einfachheit auszustatten, als sie aber in den Kaufläden und Magazinen den farbenreichen Teppichen, den schöngeformten Schränken, den reichgemusterten Möbelstoffen gegenüberstand, konnte sie dem Verlangen nicht widerstehen, ihr Erkerzimmer wenigstens schön und geschmackvoll auszuschmücken. Hier mußte ihr Flügel stehen, ein Kaminofen mit farbigen Kacheln sollte während der langen Winterabende trauliche Plauderstunden beim offenen Feuer ermöglichen, weiche Portieren sollten den Raum vom Eßzimmer scheiden und schöne Bilder und Büsten die Wände beleben – die Naturschwärmerin konnte den Salon nicht entbehren. Alle übrigen Räume jedoch sollten mit einfachen hellen Möbeln und Gardinen ausgestattet werden. Als sie mit ihren Einkäufen zu Ende war und im Gasthof die Ausgaben überschlug, erkannte sie mit leisem Schrecken, daß sie weit über den Anschlag hinausgegangen war. Sie hatte für den Bau und die Einrichtung ihres Heims nun dreißigtausend Mark aufgewendet. „Aber was habe ich für diese Summe auch alles erworben!“ sagte sie sich zur Beruhigung ihrer eigenen Bedenken, „wir besitzen das schmuckste Landhaus mit herrlichem Ausblick aufs Meer, mit einem Garten, der uns Gemüse und später auch Obst in Fülle liefern wird.“ Sie überschlug ihr Einkommen aus den Zinsen des übrigen Kapitals und Ewalds Verdienst als Lotse und fand, daß beides zusammen für

Vor den Thoren Wiens: Das „Jungfernbründl“ bei Sievering.
Nach einer Zeichnung von W. Gause.

[134] zwei Personen mehr als ausreiche. Und sollte einmal das Geld wirklich knapp werden, nun so konnte man ja die hübsche Mansarde und das kleine Zimmer, welches jetzt zur Aufstellung der Schränke bestimmt war, während der Sommermonate an Badegäste vermiethen.

Beruhigt wandte sie sich am letzten Tage ihres Aufenthaltes der Wohnung ihrer Stiefmutter zu, erfuhr jedoch beim Portier, daß Frau Rosita drei Tage zuvor ihre Hochzeit mit dem Grafen Trachberg gefeiert und mit ihrem Gatten nach Italien gereist sei.

Bei dieser überraschenden Neuigkeit empfand Bettina bloß Befriedigung darüber, daß sie erst jetzt zu dem Besuch sich entschlossen hatte und so einer unter solchen Umständen doppelt widrigen Begegnung entgangen war. Nun galt es nur noch, sich von den Horsts zu verabschieden.

Dort sollte ihr aber eine zweite Ueberraschung zu theil werden.

Lisa befand sich in Berlin und war wenige Tage zuvor eines Knäbleins genesen. Dieses freudige Ereigniß schien jedoch nicht nach Gebühr gewürdigt zu werden. Der Sanitätsrath sah bleich und verstört aus und gab auf Bettinas Erkundigungen zerstreute Antworten. Lotte schien vor lauter Geschäftigkeit nicht zu wissen, wo ihr der Kopf stand, und als Bettina fragte, ob sie Lisa sprechen könne, deutete das Mädchen kurzweg auf Lisas früheres Schlafzimmer und sagte, indem sie der Küche zuhastete. „Er ist bei ihr.“

Bettina klopfte schüchtern an die Thür, und da niemand „Herein“ rief, öffnete sie vorsichtig. Ein seltsamer Anblick bot sich ihr – vor dem Bette ihrer Freundin, welche verhärmt und bleich aussah, kniete Diaz; über seine Wangen rollten dicke Thränen, er hatte die Rechte erhoben und rief mit bebender Stimme: „Lisa, Lisa, ich gelobe Dir, ein ganz neues Leben anzufangen. O, glaube mir – und sei wieder gut!“

Die Besucherin zog erschreckt den Kopf zurück, ging zur Küche, plauderte mit Lotte und bat diese, sie bei der Schwester anzumelden. Als sie dann zum zweiten Male bei Lisa eintrat, schien das junge Paar versöhnt zu sein, und Diaz zeigte ihr mit großem Vaterstolz seinen Jungen, dann lief er fort und ließ die Freundinnen allein. Lisa war seltsam ernst geworden, und wie Bettina ihr anvertraute, daß sie sich mit Ewald Monk verheirathen wolle, blickte sie erschrocken auf und sagte leise:

„Wenn Dir der Rath einer Frenndin etwas gilt, so thu’ es nicht, mein Herz.^

„Warum?“ fragte Bettina und eine heimliche Angst sprach aus ihren Augen.

„Weil man die Charaktereigenschaften des Mannes genau prüfen soll, mit dem man sich fürs ganze Leben verbindet.“

„So bist Du nicht glücklich, Lisa?“

Diese schwieg einige Minuten still, in schmerzliches Sinnen verloren; noch stand sie unter dem Einfluß jener Scene, welche die Freundin unabsichtlich belauscht hatte. „O, es wird mir schwer, Dir meine Lage zu bekennen. Aber es gilt, Dich zu warnen – Dich, Betty, die ich liebe; darum muß ich Dir gestehen, daß meine Träume von Glück zerronnen sind, daß die heißeste Liebe die Kluft nicht zu überbrücken vermochte, welche innere und äußere Unterschiede zwischen mir und meinem Gatten aufgethan haben. Vielleicht, daß die gemeinsame Sorge um das kleine Wesen hier an meiner Seite dies dereinst zuwege bringt – der Himmel gebe es!“

„Aber Garcia ist doch so gut und liebenswürdig –“

„Gewiß, das ist er, und würden wir ein unerschöpfliches Vermögen besitzen, so wäre wohl manches anders, wenn auch nicht alles. Allein leider müssen wir um unser Auskommen ringen, und Garcia ist nicht für den Kampf ums Dasein erzogen. Ihm fehlt die Ausdauer, er ist leichtlebig und naiv wie ein Kind. Nichts haßt er so sehr als die Pflicht, und das Drohnendasein, welches wir im Schlosse des reichen spanischen Herzogs führten, war nur dazu angethan, ihn noch mehr zu verweichlichen. Hätten wir den Anfang unserer Ehe in Deutschland zugebracht, so würde sich Garcia vielleicht zur Arbeit bequemt haben, in Spanien machten sich die übelsten Einflüsse auf ihn geltend. In Madrid, wo wir bei jenen Tanten zu Gast waren, die ihn erzogen und verzärtelt haben, litt ich Folterqualen. Diese Damen haben Zeit ihres Lebens keine andere Beschäftigung gekannt, als den Fächer zu schwingen und die Kirche zu besuchen und fanden es ganz natürlich, daß ihr Neffe sich lieber auf irgend einen günstigen Zufall verließ, statt seine Zukunft auf ernste Arbeit zu gründen. Garcia vernachlässigte denn auch immer mehr die Musik und, da er meine Ermahnungen und Vorwürfe fürchtete, auch mich. Er trieb sich des Tags bei den Stiergefechten, bis spät in die Nacht hinein in den Theatern und Cafés herum, und seine einzige Beschäftigung bestand darin, Cigaretten zu rauchen und die Chancen des Lottospiels zu verfolgen. um diesem unheilvollen Zustande ein Ende zu machen, floh ich hierher. Garcias Liebe zu mir war, dem Himmel sei Dank, wenigstens so stark, daß er mir folgte und reuevoll gelobte, sich aufzuraffen. Leider fand ich den Vater in großen Sorgen – er hat um einer Schwester willen, die er zärtlich liebte, Bürgschaft für seinen Schwager geleistet und dadurch sein erspartes Vermögen verloren. Dieser Schlag wirft ihn völlig nieder, denn seine Gesundheit ist zu sehr geschwächt, als daß er hoffen dürfte, den Verlust auch nur theilweise wieder zu ersetzen. und jetzt quält er sich mit Vorwürfen und schweren Sorgen um seiner Kinder willen. Kurz, wir gehen trüben Tagen entgegen.“

„O, blicke nicht so trostlos drein, Lisa!“ Bettina schlang die Arme um die blasse Freundin und schaute sie mit feuchtschimmernden Augen an. „Ich habe mir in Massow ein freundliches Heim geschaffen, betrachte Du es als eine Zuflucht. So oft Du der Erholung oder des Trostes bedarfst, komm’ zu mir!“

„Du bist gut, Bettina, allein wenn Du Ewald Monk heirathest, hörst Du auf, Herrin Deiner Entschließungen zu sein. Unter Leuten seines Standes gilt der Wille des Mannes alles. Bedenke reiflich den Schritt, den Du vorhast! Vor einem Jahre, da ich noch gleich Dir in romantischen Träumen befangen war, hätte ich Dir freudig zugestimmt, heute weiß ich, daß Du ein gewagtes Spiel spielst – hüte Dich!“

„Deine Warnung ist wohlgemeint,“ antwortete Bettina, „allein sie kommt zu spät, ich halte mich für gebunden. Ich muß auf dem betretenen Wege vorwärtsschreiten und will es furchtlos thun, denn Ewald liebt mich. Mein Entschluß ist das Ergebniß reiflicher Erwägungen, und was ich beschlossen habe, führe ich aus. Aber davon kannst Du Dich im voraus überzeugt halten, wenn Du einer Zufluchtsstätte bedarfst, so wird Ewald Dir freudig unser Haus öffnen. Und nun leb’ wohl!“

Bettina küßte die Freundin zärtlieh auf die Stirn. Als sie sich eben entfernen wollte, kam Garcia mit einem Korb voll Blumen herein.

„Du sollst heiter sein, liebste Lisa,“ sagte er, indem er eine Fülle gelber und dunkelrother Rosen über ihr Bett streute, „und sollst wieder an Glück und frohe Hoffnung glauben; Du sollst überzeugt sein, das ich Dich liebe – seit Du mir einen Sohn geschenkt hast, noch viel, viel mehr.“

Dabei küßte er ihre weißen Hände und beugte sich über das Bettchen mit dem strahlenden Lächeln des beglückten Vaters.

Noch einmal trat Bettina zu der Freundin und flüsterte ihr ins Ohr:

„Und Du glaubst noch, daS eine Kluft bestehe? Dein Kind füllt sie aus, Du Zweiflerin. Laß uns leichten Herzens unsere Pflicht thun, aus den Wolken wird die Sonne des Glücks hervorbrechen. Gehab’ Dich wohl – auf fröhliches Wiedersehen!“




10.

Im jungen Garten Bettittas waren die Rosen und Astern verblüht, die wilden Reben an der Mauer ließen im Herbststurm ihre Blätter zur Erde fallen und die hellen goldigen Lichter der Spätsommertage wichen auf dem Meere dunklen Farben. Tiefe Wolkenschatten traten an Stelle der Sommerherrlichkeit, das Meer rauschte stärker gegen den Fuß des Höwts. Bettina war mit der Ausstattung ihres Hauses fertig geworden und rüstete die Hochzeit. Doch niemand, selbst Ewald nicht, durfte das Landhaus, welches sie die „Klause“ nannte, betreten; die Hochzeitsgäste sollten durch die Einrichtung überrascht werden.

[135] Ein Gefühl des Schmerzes überkam sie doch bei dem Gedanken, daß kein Verwandter, keine Freundin aus der Jugendzeit bei dem Feste gegenwärtig sein werde. Keines ihrer Angehörigen billigte ihre Wahl.

Von Mathilde, der sie ihren Entschluß während des Sommers brieflich mitgetheilt hatte, war die schroffe Antwort eingetroffen: „Wenn Du diesen wahnsinnigen Streich begehst, wenn Du um eines Schiffers willen diese Schmach über Deine Familie bringst, so habe ich keine Schwester mehr.“ Rosita hatte von Italien aus die Stieftochter beschworen, von der romantischen Schrulle abzustehen, und endlich ihre Einwilligung zu dem „unseligen Bündniß“ nur unter der Bedingung gegeben, daß Bettina sie niemals in die Verlegenheit bringe, den Lotsen sehen und „Schwiegersohn“ nennen zu müssen. Lisa war durch ihre Mutterpflichten verhindert, der Trauung beizuwohnen, und der Sanitätsrath hatte ebenfalls sein Erscheinen, freilich in schonender Form, abgelehnt.

Alle diese Zuschriften peinigten Bettina, ohne ihren Entschluß zu erschüttern. Im Gegentheil, sie steigerten nur jene Schwärmerei, mit welcher sie in der Natur die Alltrösterin sah für jeden Schmerz.

Sobald sie sich bedrückt fühlte, segelte sie ganz allein im kleinen Boote hinaus aufs Meer. Und flog sie nun dahin über die Wogen, im rauschenden Winde, so wich das unbestimmte Sehnen ihrer Brust einem Zustand der Selbstvergessenheit, der träumerischen Ruhe. Ihr war es dann, als sei das Meer lebendig, als müsse vor seiner gewaltigen Sprache ihr kleines Leid wie ein Nichts verstummen. Hier fand sie auch immer wieder den festen Entschluß, durchzuführen was sie begonnen hatte. Als die Mißbilligung ihrer Angehörigen und Freunde von allen Seiten an sie herantrat, hatte sie sich nochmals geprüft, ob sie Ewald liebe, und sonderbar schwer war ihr der Zweifel aufs Herz gefallen, ob sie mit freudigem Ja antworten könne. Aber war Ewald nicht der Sohn wahrer Natur, die sie suchte, liebte er nicht seine Braut innig und aufrichtig um ihrer selbst willen? War er nicht fern davon auf ihr Vermögen zu rechnen?

Gerade an diesem Punkte wollte stets eine räthselhafte Beklemmung das Mädchen beschleichen. Wohl hatte Ewald selbst keine Berechnung verrathen, aber seine Eltern. Diese belästigten Bettina mit Andeutungen, deren Absicht leicht zu durchschauen war. Sie sprachen vom guten alten Brauch der Brautleute, einen Ehevertrag aufzusetzen. Der Mann, welcher dafür zu sorgen habe, daß der Schornstein rauche, müsse wissen, wie er stehe für den Fall, daß ihm der liebe Gott den Engel von Frau, den er ihm gegeben, wieder nehme. Leichten Herzens trete man in das Haus des Reichthums, doch schwer sei das Verlassen ...

Bettina hatte diese versteckten Forderungen mit der Bemerkung abgewiesen, daß sie durch ihren letzten Willen Ewald vor dem Schmerze bewahren werde, die Klause jemals wieder verlassen zu müssen. Was ihr gehöre, sei auch sein Eigenthum und solle es bleiben. –

Es war ursprünglich ihre Absicht gewesen, die Hochzeit im engsten Kreise zu feiern, allein Ewald und seine Eltern hatten mit aller Bestimmtheit versichert, daß das unmöglich sei. Man erklärte ihr, daß die Größe und der Glanz eines Hochzeitsfestes dem Reichthum der Braut entsprechen müsse, und jeder Anverwandte, jeder Freund und Nachbar werde sich tief beleidigt fühlen, wenn man ihn bei der Einladung übergehe. Ewald besaß verheirathete Schwestern, von denen die beiden ältesten mit Kindern reich gesegnet waren. Der Mann der ältesten war Viehhändler in der nächsten Kreisstadt, derjenige der andern Kutscher bei der Gräfin Lindström; diese Familien mußten selbstverständlich sammt den Kindern eingeladen werden.

Bettina schlug Ewald nun vor, das Fest im Gasthaus zu veranstalten, allein wieder stand die Sitte dem im Wege. Bei der Hochzeit solle das junge Paar zeigen, was Küche und Keller in der neuen Wirthschaft zu leisten vermöchten. Bettina wäre gern still mit dem Manne ihrer Wahl in ihr neues Heim eingezogen, aber da sie sah, wie stolz es Ewald machte, seine Braut und seinen künftigen Wohnsitz allen zeigen zu können, so wollte sie ihm die Freude nicht verderben und gab nach.

Der Himmel war dem Festtag nicht günstig. Es hatte viel geregnet und der Weg nach dem Pfarrdorf war derart durchweicht, daß die Gesellschaft die Boote benutzen und mit großen Regenschirmen bewaffnet über die Bucht fahren mußte. Bettina hatte ein perlgraues schmuckloses Kleid angelegt, allein im Myrthenkranz und im zarten duftigen Schleier nahm sie sich unter den groben braunen Fischergestalten, die in ihren Sonntagskleidern noch steifer und eckiger als gewöhnlich aussahen, wie das Mädchen aus der Fremde aus. Ewald saß mit glückstrahlendem Gesicht neben ihr und hielt ihre Hand so fest in der seinen, als fürchte er, sie könne in Duft und Nebel zerfließen. Im Pfarrdorf war jung und alt herbeigelaufen um der Trauung des seltsamen Paares beizuwohnen. Ewald schritt stolz durch die gaffende Menge, Bettina mit brennender Röthe auf den Wangen. Die Trauung war bald vorüber, und still fuhr man nach Massow zurück. Bettina war noch ganz erfüllt von der Größe dessen, was sie zu vollführen unternommen hatte, Ewald genoß behaglich die allgemeine Bewunderung seines Glücks, die Gäste waren gespannt, die Klause zu betreten.

An der Küste waren übertriebene Gerüchte umgelaufen von der Pracht und Herrlichkeit, mit welcher Bettina ihr Landhaus ausgestattet habe. So erwarteten die Schwäger und Schwägerinnen, einen Feenpalast zu sehen. Als Bettina nun die lärmende Gesellschaft auf dem Flure willkommen hieß und sie bat, die nassen Mäntel und Schirme abzulegen, trat eine Pause feierlicher Erwartung ein. Die junge Hausfrau schmiegte sich an den Arm des Gatten und flüsterte ihm ins Ohr. „Nun bin ich neugierig, wie Dir unser Heim gefallen wird, Ewald.“

Arm in Arm schritten sie, den Gästen voraus, durch das helle freundliche Speisezimmer, dessen weit ausgezogene Tafel mit schneeweißem Linnen überdeckt und mit Delfter Geschirr besetzt war. Hier sollten die Erwachsenen, im Nebenzimmer aber die Kinder speisen.

Die schön geschmückte Tafel, das Büffet mit seinen Krystallschalen und Silbergeschirren, das alles wirkte so reich und einladend, daß Ewald in aufwallender Dankbarkeit seiner Frau einen derben Kuß auf die Wange drückte. Der Salon enttäuschte die Gesellschaft. Bettina hatte erzählt, daß sie manches schöne Stück aus ihres Vaters Besitz hier aufstellen und den Raum mit mehr Eleganz ausstatten werde, als sich für ländliche Lebensgewohnheiten gezieme. Infolgedessen erwartete man, ein buntschillerndes, von Sammet und Seide starrendes Gemach zu finden. Bettinas Salon aber hatte einen ernsten, gediegenen, fast feierlichen Charakter. Von den dunkelrothen Wänden hoben sich auf Ebenholz-Konsolen einige Marmorbüsten und Bronzestatuen ab. Die schweren Plüschportieren und Polstermöbel sahen durchaus nicht prunkvoll aus, und für die Harmonie der Farben, die Schönheit der Formen und die lauschige Anordnung der Möbel hatten die rauhen Küstenbewohner keinen Sinn.

„Je,“ sagte der gräfliche Kutscher und schob ein Priemchen Tabak in den Mund, „dat is ja allens recht schön und gaud, Frau Swägerin, äwer was unsre Madame, die Frau Gräfin is, gegen die kommen Sie doch nich an.“

„Ja,“ bestätigte der Viehhäudler mit einem verächtlichen Blick auf Bettinas Einrichtung, „wenn einer wat hellsch Steilisches sehn will, möt er aufs gräfliche Schloß gahn. In den groten Saal, Ewald, steckt mehr Werth in als in Din ganzen Krempel.“

Bettina blickte die beiden Schwäger überrascht an, dann brach sie in ein helles Lachen aus und sagte: „Es ist mir auch nie in den Sinn gekommen, mit der Gräfin Lindström wetteifern zu wollen, denn der Gatte dieser Dame war mehrfacher Millionär, der meinige aber ist Lotse.“

„Ja,“ versetzte der Lehrer, „wenn jeder Lotse sich in einem solchen Neste niederlassen könnte, brauchte keiner auf die Gräfin neidisch zu sein.“

Ewald, dessen Gesicht sich bei den kritischen Auslassungen seiner Schwäger verdüstert hatte, schlug jetzt dem wohlmeinenden Nachbar auf die Schulter und rief fröhlich: „Hast recht, Schulmeister, und wer gar eine solche Frau gefunden hat wie meine Betty, der mag mit keinem König tauschen. Und nun zu Tisch!“

Diese Aufforderung brachte die ganze Gesellschaft in Bewegung. Man war während der Fahrt nach Groß-Küstrow redlich hungrig geworden und sehnte sich nach den erwarteten Herrlichkeiten. [136] Der Gastwirth des Ortes hatte den Wein geliefert und mit seiner Frau und Tochter die Herstellung des Hochzeitsschmauses und die Aufwartung übernommen. Die Frau des Lehrers überwachte aus Freundschaft für Bettina den Kindertisch. So wurde denn das Festmahl in vergnüglicher Stimmung begonnen. Und doch – als Bettina ihre Blicke über die groben Züge der Tischgenossen gleiten ließ, zu denen sie nunmehr in ein verwandtschaftliches Verhältniß getreten war, schlich sich die Bangigkeit in ihr Herz und die Brust ward ihr so eng, daß sie nach Athem rang.

Die glänzende Hochzeitsfeier Lisas drängte sich ihrer Erinnerung auf. Wie war dies junge Paar, mit Liebe überschüttet, von Freunden umdrängt, wie feinsinnig war es gefeiert worden!

Hier aber – nur öde stumpfe Gesichter, Neugierde, doch keine Theilnahme, keine Menschenseele, der sie ihr Inneres hätte aufschließen mögen – außer Ewald. Außer Ewald? Sie erschrak fast, daß sie sich diese Frage stellte, daß das Gefühl sich nicht abweisen lassen wollte, als könne sie auch ihm nicht ihr geheimstes Leben enthüllen, weil er sie doch nicht verstehen würde. Mit schmerzlichem Bangen ruhte ihr Blick auf ihrem Gatten, der sich mit demselben Eifer wie seine Gäste den Genüssen der Tafel widmete. Lauter und lauter wurde die Unterhaltung, in welche Ewald hie und da einen plumpen Scherz hineinwarf, während Bettina mehr und mehr verstummte. Tiefstes Unbehagen prägte sich auf ihren Zügen aus, denn ihr gegenüber saß der Schwager Viehhändler und erzählte, behaglich in seinen Stuhl zurückgelegt, mit siegessicherer Miene allerlei Geschichten, die er auf seinen Geschäftsreisen zusammengelesen haben mochte. Endlich war ihre Kraft erschöpft, mit einer hastigen unwilligen Gebärde stand sie auf und rief: „Wir Frauen wollen einmal nach den Kindern sehen!“

Sie begriff es nicht, daß Ewald über die rohen Scherze seines Schwagers lachen konnte; der Viehhändler aber ärgerte sich, daß die junge Hausfrau die Tafel verließ. „Din Fru is ja hellsch hoffärtig,“ sagte er zu Ewald. „Die Nücken möt Du ihr all zeitig afgewöhnen.“

Eine Stunde später kehrte Bettina aus dem Nebenzimmer, wo sie mit den Kindern ein Spiel in Gang gebracht hatte, zu ihren Gästen zurück. Sie fand hier die Stimmung noch bewegter als vorhin, nahm sich aber vor, unbefangen zu scheinen und zu bleiben, um kein Aufsehen zu erregen. Als daher die Männer bei ihrem Wiedererscheinen die Gläser erhoben und ihr in übermüthigem Tone „Prost ooch, junge Fru!“ zuriefen, that sie ihnen ruhig Bescheid.

Hundriesers preisgekrönter Entwurf zum Reiterstandbild Kaiser Wilhelms auf dem Kyffhäuser.

Bald darauf rückten die Dorfmusikanten von Groß-Küstrow an, um zum Tanze aufzuspielen. Nun wurde das Speisezimmer in Eile ausgeräumt, die Spielleute ließen sich im Salon nieder, und sobald die Musik ertönte, kam aus dem Dorfe eine Anzahl von Burschen und Mädchen herbei, die, obgleich zum Feste nicht geladen, von dem jungen Ehepaar herzlich willkommen geheißen und freigebig bewirthet wurden.

Bald hallte das neue Haus von den kreischenden Tönen schlechter Musik, vom Stampfen und Johlen der Tanzenden wieder. Bei der jungen Frau, die nur einmal mit Ewald tanzte und sich dann als Zuschauerin bei Seite stellte, weckte der wachsende Tumult ernste Besorgniß. Der starke Wein ließ die Gesichter der Männer immer heißer und röther werden, ihre Sprache immer lauter, ihr Benehmen immer freier und ungebärdiger. Auch Ewald hatte mehr getrunken, als ihm zuträglich war. Als ihn Bettina zaghaft auf das wüste Treiben aufmerksam machte, gab er ihr einen Kuß und schnitt alle Einwendungen mit den Worten ab: „Wir machen nur einmal im Leben Hochzeit, mein Schatz!“

Unter den Tänzerinnen befand sich auch Kathrein Bräuning, und mit dieser tanzte Ewald so oft, als wollte er sie für das Fehlschlagen ihrer Hoffnungen entschädigen. Die Dirne aber warf der jungen Frau während des Tanzes freche herausfordernde Blicke zu und mit ihrem kecken Lachen schien sie sagen zu wollen: Dich hat er um Deines Geldes willen geheirathet, mich aber liebt er.

Allmählich schwand vor dem lärmenden Gewühl jeder Schimmer von Festfreude aus Bettinas Seele, Scham und tiefe Niedergeschlagenheit traten an die Stelle. In jeder Tanzpause fast wurde gestritten und die Auslassungen der Lustigkeit selbst nahmen für Bettina einen unheimlichen und erschreckenden Charakter an. Und als nun Ewald, dem vom wilden Tanzen der Schweiß auf der Stirne stand, mit unsicheren Schritten auf sie zukam und die Hände ausstreckte, um sie zärtlich in seine Arme zu schließen, da ergriff sie Abscheu und Verzweiflung.

Mit einer raschen Bewegung bog sie aus und lief in ihr Zimmer, das sie hastig hinter sich abschloß. Kaum lag die Thür zwischen ihr und der lärmenden Gesellschaft, so faßte sie den Entschluß, dem häßlichen Feste ganz zu entfliehen. In zitternder Bewegung riß sie den Brautkranz und Schleier ab, dann warf sie einen Mantel über, öffnete das Fenster und sprang in den Garten. Noch war im Schulhaus ihre Stube frei, dort wollte sie für die Nacht eine Zuflucht suchen.

Unterdessen hatte Ewald wiederholt gegen die Thür geklopft und Bettina ersucht, herauszukommen; johlend umringte ihn die trunkene Schar, nachdem sie sich von ihrem Erstaunen über Bettinas Gebahren erholt hatte. Als Ewald wieder und wieder keine Antwort erhielt, stieß er einen grimmigen Fluch aus und warf sich mit solcher Gewalt gegen die Thür, daß diese krachend einbrach.

Mit zornigen Worten auf den Lippen trat er in das matt erleuchtete Zimmer, die neugierige Menge drängte nach – allein in der nächsten Minute standen alle sprachlos vor Ueberraschung, denn das Zimmer war leer.

Langsam ließ Ewald die Blicke durch den Raum gleiten, und als er das offene Fenster bemerkte, wurde es ihm klar, daß Bettina geflohen sei. Diese Erkenntniß machte ihn auf einmal nüchtern und ein Gefühl des Zornes stieg in ihm auf gegen [137] seine Verwandten, die ihn die ganze Zeit über gereizt und in seinem tollen Treiben bestärkt hatten.

„Ah,“ bemerkte jetzt der Viehhändler, dessen Blick gleichfalls auf das offene Fenster gefallen war, „die rothe Tine is durchbrennt. Ja, min Sähn, rothes Hoor un Ellernholt wachsen up keinen gauden Boden.“

Bei dieser höhnischen Bemerkung flammte Ewalds Zorn vollends auf. Mit festem Griffe packte er den Schwager an der Brust und schrie ihm zu: „Von wem sprichst Du, Halunke? Von meiner Frau? Da hast Du die Antwort!“

Von seinem kräftigen Arme geschleudert, flog der Viehhändler gegen die Thüreinfassung. Der Beleidigte stieß einen Wuthschrei aus und stürzte sich mit der geballten Faust auf seinen Gegner. In der nächsten Minute bewirkte dieser persönliche Zusammenstoß der beiden Schwäger einen allgemeinen Kampf unter den bis zum Uebermaß erhitzten Männern, die gar nicht recht wußten, um was es sich handle, und aus dem wilden Knäuel tönte das Krachen der Stühle, das Klirren niederfallender Tafelgeschirre, das Geheul der Kinder und Frauen, das Stampfen und Fluchen der Streitenden.

Zehn Minuten etwa wogte der Streit unentschieden durch die Klause, dann flogen beide Schwäger Ewalds durch die Thür und ihnen folgte mit blutigen Köpfen die kleine Schar derer, die für sie Partei genommen hatten.

Ewald war Herr geblieben in seinem Hause, aber um welchen Preis! Sein bleiches Gesicht war blutüberströmt, sein Anzug zerrissen und der Kampfplatz übersät mit Trümmern und Scherben. Nun trat bei dem jungen Ehemann die völlige Ernüchterung ein. Seine Mutter rang die Hände, keifte, jammerte und schob die Schuld an dem ganzen Streite „der rothen Tine“ in die Schuhe. Unwirsch unterbrach Ewald ihr Geschwätz mit der schroffen Bemerkung, er gestatte niemand, über seine Frau zu schimpfen, auch der Mutter nicht. Die Gäste, auch seine Eltern sollten heimgehen und ihn allein lassen.

Hundriesers zweiter Entwurf zum Reiterstandbild Kaiser Wilhelms
auf dem Kyffhäuser.


Nun führte der alte Monk sein Weib mit einem kurzen „Gut’ Nacht ooch, min Jung’!“ hinaus. Als auf dem Heimweg Frau Monk sich nicht beruhigen wollte, schnitt der hinkende Gatte ihr Schelten durch einen Kernfluch ab und knüpfte an diesen die philosophische Bemerkung: „Is et up Din Hochtied anners west? Ohne Slägerei geiht so ’n Vergneugen nich af.“




11.

Bettina hatte im Schulhaus nur kurze Zeit und sehr unruhig geschlafen. Sie erhob sich, sobald der Morgen anbrach, und kleidete sich an. Ihre Wirthsleute lagen noch im tiefen Schlafe, als sie leise das Haus verließ. Draußen blies ihr der eiskalte Morgenwind entgegen, die Erde war stark bereift. Von der Küste drüben ertönte die Morgenglocke. Bei den langgezogenen Tönen erinnerte sich Bettina, daß ein Sonntag begonnen habe; andächtig faltete sie die Hände und sagte leise: „Der erste Tag meiner Ehe! O möge mir Kraft gegeben werden, klug zu sein und ihn zum Guten zu leiten! Er hat gehandelt, wie er es wußte, an mir ist es, ihm ein Höheres zu zeigen.“

Mit den besten Entschlüssen betrat sie die Klause; aber als sie die verwüsteten Zimmer erblickte, die Glas- und Porzellanscherben, die zerbrochenen Stühle und umgeworfenen Tische, den Trümmerhaufen, in den fast die ganze kostbare Einrichtung verwandelt war, als sie ihren Gatten angekleidet auf dem Bette liegen sah, mit blutigem Gesicht, entstellt und häßlich, da rang sie verzweifelt die Hände und schrie auf: „Alle, die dich warnten, hatten recht, du bist einem schrecklichen Irrthum zum Opfer gefallen!“

Allein in der nächsten Minute schon überwand ihre Willenskraft die Verzagtheit. Jedes Glück im Leben will erkämpft sein, sagte sie sich. Willst du beim ersten Hinderniß schon die Waffen strecken? Arbeite, diene ihm, sei ihm eine Führerin wie Parthenia, und die Liebe wird seine rohe Natur läutern …

Sie weckte die Bauerndirne, welche sie zur Hilfeleistung für die Zeit der Einrichtung gemiethet hatte, und begann eifrig aufzuräumen und die Spuren der Verwüstung so gut es ging zu verwischen.

Als Ewald zwei Stunden später erwachte, hörte er in der Stube nebenan Tassen und Kaffeelöffel klirren, das Feuer im Ofen knistern. Rasch erhob er sich; ein Blick in den Spiegel ließ ihn vor sich selber erschrecken, so konnte er sich vor seiner jungen Frau nicht sehen lassen!

Leise fluchend kleidete er sich um, wusch sich Hände und Gesicht und trat endlich mit der gestrengen Miene eines Gatten, der von seinem Weibe Rechenschaft fordern kann, in das behaglich durchwärmte Stübchen. Er sah Bettina, welche eben den dampfenden Kaffeetopf auf den Frühstückstisch stellte, finster an und sagte in grollendem Tone: „Wo hast Du die Nacht zugebracht?“

„Im Schulhaus, Ewald.“

„Dann geh wieder dahin zurück, wo Du hergekommen bist, verstanden?“

„Nein,“ entgegnete sie lächelnd, „das hab’ ich nicht verstanden. Du wirst mich nicht in derselben Stunde fortschicken, wo unser häusliches Leben beginnen soll.“

„Warum bist Du dann gestern davongelaufen? Warum hast Du mich dem Gespött der Leute ausgesetzt? Wärst Du hier geblieben, so hätt’ ich mich nicht mit meinen Schwägern geprügelt und hier im Hause wäre nicht das unterste zu oberst gekehrt worden –“ Aechzend griff er nach der Stirne.

Sie trat zu ihm hin, legte die Hand auf seinen Arm und sagte in weichem eindringlichen Tone: „Begreifst Du nicht, daß ich nicht bleiben konnte? Ihr waret fast alle von Sinnen, und wie mich die Ausgelassenheit unserer Gäste ängstigte, so flößte mir Dein Benehmen Scheu ein.“ Sie schlug die Augen nieder und ihre Wangen glühten, als sie nach kurzer Pause stockend und zagend fortfuhr: „ Sieh, in jeder Mädchenseele bilden sich rosige Träume vom Glück der Ehe, mit banger Erwartung und heiligem Schauer betreten wir die Schwelle dieses Glücks – in solcher Stimmung [138] dürfen wir nicht der Rohheit begegnen, Ewald, sonst bricht etwas in uns nieder, das sich in der Frauenseele nie wieder aufrichten läßt.“

Er schaute sie verständnißlos an, und da er bemerkte, daß ihre Augen sich mit Thränen füllten, machte er eine ungeschickte Bewegung, in der sich seine ganze Hilflosigkeit verrieth. „Geh, geh,“ versetzte er, „was das nun für Alfanzereien sind! Du thust gerade, als ob so ein tüchtiger Trunk ein Verbrechen wäre. Wann soll man lustig sein, wenn nicht an seinem Hochzeitstag? Bei solchen Gelegenheiten darf man kein Spielverderber sein!“

Ein leiser Seufzer drängte sich uber ihre Lippen – er verstand sie nicht. „Ich kann Dir nicht recht geben, Ewald – aber wir werden uns schon verstehen lernen; ich muß mich erst an Eure Lebensart gewöhnen. Im übrigen wäre es doch besser gewesen, wir hätten die Hochzeit im Gasthof gefeiert, noch ein solches Fest – und wir müssen eine neue Einrichtung kaufen.“

„Und Du kannst Dich dann nach einem neuen Manne umsehen, denn es ist ein wahres Wunder, daß ich mit dem Leben davongekommen bin. Einmat stand ich gegen vier –“

Während Bettina ihm einen Stuhl zum Tische hinrückte und seine Tasse füllte, verbreitete sich Ewald mit der stolzen Genugthuung des Siegers über den Verlauf des Streites, und dabei schwand sein Unmuth. Er empfand mit Behagen die Nähe der jungen Frau, die ihn mit Aufmerksamkeit bediente, die Traulichkeit des warmen Zimmers, aus dem die Spuren der Zerstörung entfernt waren, und nur sein Kopfschmerz erinnerte ihn noch an das unangenehme der verflossenen Nacht.

Als Bettina sich dann erhob, um den Frühstückstisch abzuräumen, kam ein Bewußtsein stolzen Glückes über ihn. Er durfte die Tochter eines Konsuls sein Weib und das schönste Haus in Massow sein eigen nennen. „Betty,“ sagte er in weichem Tone und preßte einen Kuß auf ihren Mund, „jetzt gehörst Du mir.“

Sie schaute ihm tief in die Augen; aber bei dem Gedanken, daß sie alle Verbindungen mit der Welt, in der sie bisher gelebt, abgebrochen habe und daß ihr Geschick unauflöslich mit diesem Manne verbunden sei, kam mit erneuter Gewalt ein Gefühl der Bangigkeit über sie, und sie antwortete zitternd: „Du bist jetzt meine Zuflucht, mein Halt, meine Stütze im Leben. Sei gut gegen mich, Ewald, damit ich heimisch werde hier in Massow! Willst Du?“

„Ja, mein Herz, das will ich.“

„Und laß uns, soweit es irgend thunlich, allein leben, Du wirst sehen, daß wir der Verwandten und Freunde nicht bedürfen, um glücklich zu sein.“

„Wie Du willst, mein Schatz. Aber“ – hier kraute er sich lächelnd den Kopf, „wenn Du Dich nur nicht langweilst. Die Winterabende sind höllisch lang, ich hab’ oft Dienst –“

„O, fürchte nichts! Die Abende sollen angenehm und traulich werden, recht traulich. Im Salon setzen wir uns zum flackernden Kaminfeuer, Du rauchst Deine Pfeife, ich lese Dir ein gutes Buch vor oder singe Dir ein Lied, und dann plaudern wir über Deine Erlebnisse oder machen Zukunftspläne – ach, das soll herrlich werden!“

„Und was thun wir jetzt?“ fragte Ewald.

„LaS uns eine Stunde segeln,“ schlug Bettina vor. „Der Wind bläst Dir Deine Kopfschmerzen fort und erfrischt uns beide.“

Gesagt, gethan! In der nächsten Viertelstunde flogen sie bei steifem Westwind im Boote der Küste zu. Dort landeten sie und wanderten durch den herbstlichen Wald bis zum Schloß der Gräfin Lindström. sie gedachten der Tage, da sie neben Lisa und Diaz denselben Weg gegangen waren, mit der Liebessehnsucht im Herzen. Nun war ihr Wunsch erfüllt, und wie Bettina am Abend mit dem Gatten nach der Klause zurückfuhr, schien es ihr, als habe das Meer ihrem Bunde erst die Weihe gegeben.

*      *      *

Der Winter setzte in diesem Jahre mit starken Schneefällen ein, und um die Mitte des November schon lag Massow in einer dicken weißen Hülle, welche nicht nur das Dorf von den Nachbarorten schied, sondern auch den Verkehr der Dorfbewohner von Gehöft zu Gehöft erschwerte. Da die Klause am weitesten ablag von der großen Häusergruppe und Bettina mit den Bräunings keinen Umgang hatte, so wurde das Landhaus für das junge Ehepaar in der That zur Klause. Bettina freute sich der aufgezwungenen Abschließung, denn nun wollte sie mit der Erziehung ihres Gatten beginnen. Da der Schiffsverkehr mit dem Eintritt der rauhen Jahreszeit an der Küste bedeutend nachgelassen hatte, so rief der Dienst Ewald selten aufs Wasser, allein der Kommandant nahm die Kraft der Lotsen für die Verkehrswege in Anspruch. Pfade zum Höwt und nach Groß-Küstrow mußten durch den Schnee gebahnt werden, und so war Ewald unter Tags häufig zu anstrengender Arbeit gezwungen. Aber dann gehörten die langen Abendstunden dem jungen Paare. Wenn Ewald in der Dämmerung mit geröthetem Gesicht heimkehrte, fand er Bettina auf der Schwelle; freundlich lächelnd bot sie ihm den Mund zum Kusse. Im Salon flackerte ein lustiges Feuer im Kamin; auf dem Tische brannte die Lampe, deren Licht durch einen rothen Schleier gedämpft wurde. Hatte sich Ewald dann im weichen Sessel niedergelassen, so trug seine junge Frau das einfache kräftige Mahl auf; während des Essens gab sie über ihre Beschäftigung Auskunft und fragte, wie er den Tag verbracht habe oder was im Dorfe Neues geschehen sei. Aber er wußte nur wenig zu berichten; immer einförmiger verlief das Leben. So waren die Bücher Bettinas einzige Zuflucht. Wenn der Tisch abgeräumt war und ihr Mann sich seine kurze Pfeife angesteckt hatte, holte sie einen ihrer Lieblinge aus der Bibliothek und fragte mit allen Zeichen freudiger Erwartung: „Darf ich Dir etwas vorlesen, Ewald?“ Und er antwortete, die breiten Schultern behaglich in die Polster vergrabend: „Ja, Schatz, aber was Schönes!“

Nun galt es, den Prometheusfunken in der Seele des Wilden zu wecken; die junge Frau hatte lange gegrübelt, mit welchem Buche sie ihn am leichtesten auf das geistige Gebiet locke. Sie sagte sich, daß sie mit Unterhaltungslektüre beginnen müsse, und wählte den „David Copperfield“ von Dickens. Sie las mit Eifer und las gut. Von Kapitel zu Kapitel hielt sie inne, um den Gatten auf die Vorzüge der Darstellung aufmerksam zu machen, um ihm eigenartige englische Verhältnisse zu erläutern und sie mit den deutschen zu vergleichen. Diese Randglossen spann sie geschickt zum Gelegenheitsunterricht aus, allein sie mußte zu ihrer tiefen Betrübniß erfahren, daß die Geistessaat auf unfruchtbaren Boden fiel. Ewald sah es gern, wenn Bettina las, er konnte dabei so verloren hinhorchen und zugleich doch seinen eigenen Gedanken nachhängen. Wus sie vortrug, kümmerte ihn wenig; für das, was außerhalb seines Berufes lag, hatte er kein Interesse, und so entlockte ihm denn seine Frau mit allen Darlegungen nur ein müdes: „Ganz recht, Betty“ oder durch die oft wiederkehrende Fragen „Ist Dir das klar?“ ein schläfriges Nicken. Beim zweiten, spätestens beim dritten Kapitel wurde die Vorlesung seitens des Hörers durch ein gelindes Schnarchen unterbrochen.

„Du hast die Zeit schlecht gewählt,“ sagte sich Bettina nach wiederholten vergeblichen Bemühungen, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. „Der Aermste kommt müde und erschöpft heim, da ist es kein Wunder, wenn ihn der Schlaf überwältigt. Versuch’s am Sonntag Morgen – aber mit was?“ Sie zerbrach sich den Kopf, um die Zauberworte zu finden, durch welche sie den dumpfen Bann von seinem Geiste nehmen könnte; endlich verfiel sie auf Edgar Poes „Raben“. Sie las das von erhabener Melancholie durchzogene Werk des amerikanischen Dichters mit einem seltenen Aufschwung der Seele und berauschte sich völlig am düstern Klange der Verse, an der geheimnißvollen schwermüthigen Stimmung, die sie beseelte. Sie vergaß es ganz, daß sie für Ewald las, der sie lautlos anstarrte und eine Rauchwolke nach der andern au der Pfeife blies.

Als Bettina geendet hatte, blickte sie mit feuchtschimmernden Augen ihren vom Rauch halb verhüllten Gatten an und sagte leise. „Ist das nicht groß und wundervoll?“

Ewald paffte noch eine starke Wolke in die Luft und entgegnete nach einigem Grübeln. „Der Vogel war wohl abgerichtet?“

Das Buch entsank Bettinas Hand, und sie murmelte bitter: „Es ist vergebens!“ Aber sie gab ihre Bemühungen noch nicht auf. Noch blieb ihr die Musik und mit dieser versuchte sie es, als der Abend kam. Ewald erklärte freudig, daß er sie lieber singen als vorlesen höre. Sie sang ihm ihre besten Lieder und erfuhr, daß die einschläfernde Wirkung der Musik für ihn noch ungleich stärker war als jene der Vorlesung. Sie hatte Chamissos „Frauenliebe und Leben“ in der Komposition von Schumann begonnen, aber noch bevor der Brautstand der besungenen Jungfrau zu Ende war, belehrten Ewalds tiefe Athemzüge seine Frau, daß sie den Rest vor tauben Ohren singen werde; aufseufzend brach sie ab und faltete verzweifelnd die Hände im Schoß.

[139] Das plötzliche Verstummen der Musik weckte Ewald aus dem Schlummer. Als er Bettinas Blicke auf sich gerichtet sah, sprang er auf und sagte lächelnd. „Bei Gott, da wäre ich beinahe eingenickt! Du singst wunderschön, Betty. Aber da fällt mir ein –“ hier blickte er auf die Uhr – „daß ich um acht Uhr mit dem Oberlotsen wegen des Wachtdienstes sprechen wollte, das darf ich nicht versäumen. Gute Nacht, Betty; falls ich ein wenig länger wegbleibe und Du müde wirst, so warte nicht auf mich, geh’ ruhig zu Bett!“

Er küßte sie, ließ sie allein in dem einsamen verschneiten Hause und wandte sich dem Gasthaus zu. Hier traf er einige Kameraden, die ihn zum Kartenspiel einluden, das für Ewald stets einen starken Reiz besessen hatte; denn das Spiel hielt wach und munter, man erfrischte sich dabei von Zeit zu Zeit durch einen Trunk Bier und rauchte behaglich seinen Tabak. Um Mitternacht erst verließ er die Gesellschaft mit dem angenehmen Gefühl, im ewigen Einerlei des Ehelebens eine recht hübsche Abwechslung genossen zu haben. So nahm er allmählich seine Junggesellengewohnheiten wieder auf, und Bettina sah, daß er ihr entschlüpfe. Ewald blieb offenbar ein Sohn der Wildniß, er war zu spät in die Schule der Parthenia gekommen.

Aber nicht genug damit, daß an seiner Gleichgültigkeit ihre edleren Bestrebungen scheiterten, allmählich mußte sie erfahren, daß Ewald und seine Mutter sie zu meistern anfingen. Als Ewald Abend für Abend im Wirthshaus Zerstreuung und Erheiterung suchte und von seiner Frau in zartester Weise darauf hingewiesen wurde, wie einsam sie sich während der langen Winterabende fühle, bemerkte er lachend. „Ja, mein Kind, wer einen Lotsen heirathet, muß auch wie eine Lotsenfrau leben. Schaff’ Dir ein Spinnrad an und geh’ am Abend zu den Nachbarfrauen, spinn’ und plaudere, dann vergeht die Zeit rasch und angenehm.“ Die Schwiegermutter aber fügte hinzu, daß Betty sich auch in anderen Dingen dem Landesbrauch anbequemen müsse. Sie trage noch immer nicht die enganschließende, dickwattierte Frauenhaube und die kurzen Röcke, wie es die Sitte erfordere. Eine ehrbare Lotsenfrau gehe in der üblichen Tracht und im selbstgesponnenen und selbstgewobenen Zeuge einher. Wer das Herkommen verachte, überhebe sich und werde zuletzt für eitel oder für etwas schlimmeres gehalten.

Bettina fühlte eine unbesiegbare Abneigung gegen die bäuerische Tracht, welche sie für ungesund und unkleidsam hielt. Sie entgegnete daher, daß ihr die enge dicke Haube Kopfschmerzen verursache und daß sie nicht einsehe, weshalb die Frauen ihren schönsten und natürlichsten Schmuck, das Haar, zerstören sollten. Die Schwiegermutter antwortete mit einer Grobheit; wer rothes Haar habe, meinte sie, der solle sich freuen, wenn er es verstecken könne.

Das Vorurtheil gegen die rothen Haare Bettinas wurde von allen Bewohnern Massows getheilt, man schloß von der Haarfarbe auf einen leichtfertigen und boshaften Charakter. Als Bettina sich endlich dazu bequemte, die Spinnstube der Lehrerin zu besuchen, begegneten ihr, die Hausfrau ausgenommen, alle Nachbarinnen mit Mißtrauen. Da Bettina nun außerdem bemerkte, daß ihre Gegenwart den Frauen Zwang auferlegte, und da sie weder am Spinnen noch am Stricken Gefallen fand und beides für höchst überflüssige Hantierungen hielt, so ließ sie es bei drei Abendbesuchen der Spinnstube bewenden und zog es vor, in der einsamen Klause zu musizieren und zu lesen.

Die Winterstürme, welche im Dezember schaurig ums Haus heulten, flößten ihr Furcht ein und weckten in ihr den Wunsch, ein lebendes Wesen um sich zu haben. Eines Tages sah sie im Hause eines lahmen Korbflechters, dem sie von Zeit zu Zeit eine Wohlthat erwies, junge Hunde und kaufte sich einen derselben. Es war ein weißer Pudel, den sie Pitt nannte. Das Thierchen machte ihr durch seine Munterkeit und treue Anhänglichkeit viel Freude, und wenn es sie abends knurrend und kläffend umspielte oder ruhig an ihrer Seite kauerte, so fühlte sie sich nicht mehr ganz verlassen, es war doch ein Lebenshauch in den einsamen Räumen. Ihre Freude sollte jedoch bald getrübt werden.

Die beiden Brüder Kathreins hielten zwei bissige Kettenhunde auf dem Hofe, welche auf Pitt Jagd machten, sobald sie seiner ansichtig wurden. Bettina wies daher dem kleinen Pudel den Garten zum Tummelplatz an. Eines Tages aber, als sie nach dem Schulhaus gehen wollte, schlüpfte Pitt aus der Thür und folgte ihr, ohne daß sie es merkte. Plötzlich vernahm sie ein klägliches Geheul und dumpfes Gebell. Erschrocken drehte sie sich um und sah, wie die großen Hunde des Nachbars unter den Augen ihrer Herren über Pitt hergefallen waren. Einen am Wege liegenden Feldstein aufraffend, stürzte sich Bettina auf die Gruppe, und es gelang ihr, mit einem Wurfe den größten der beiden Angreifer so zu treffen, daß er heulend entfloh. Darauf ließ der andre knurrend von Pitt ab, der kläglich wimmernd aufsprang und eine seiner Vorderpfoten beleckte. Bettina hob das Thierchen, dem ein Bein gebrochen war, auf den Arm, warf den höhnisch lachenden Burschen einen verächtlichen Blick zu und ging in die Klause zurück, wo sie dem verwundeten Thiere einen festen Verband um das gebrochene Bein legte und ein bequemes Lager zurecht machte. Als Ewald heimkam und das Attentat erfuhr, geriet er in heftigen Zorn gegen die Bräunings und drohte den beiden Burschen, er werde ihre Hunde niederschießen, wo sich dazu Gelegenheit finde. Als der verwundete Pitt aber in der Nacht durch einige Klagelaute seinen Schlaf störte, ängstigte er Bettina mit der Ankündigung: „Sobald es Tag geworden ist, fliegt das Biest ins Wasser.“

Nach dem Frühstück wollte er tatsächlich den unbequemen Gast aus dem Wege räumen, Bettina jedoch stellte sich mit zornsprühenden Augen vor ihren Schützling und rief: „Das wirst Du nicht thun, es wäre eine Rohheit, die ich Dir nie vergeben könnte. Einen Mann, der sich der gleichen Brutalität schuldig machte wie die Bräunings, müßte ich verachten.“

Ewald erschrak vor der Heftigkeit und wilden Energie Bettinas und ließ kopfschüttelnd von seinem Vorsatz ab. Er murmelte etwas von weiblicher Ueberspanntheit in den Bart, aber er hatte eine überlegene Kraft verspürt. Er merkte, daß der Ausübung seiner Gewalt eine Grenze gezogen sei, durch deren Ueberschreitung er seine Frau zu einer That der Verzweiflung bringen würde. In der Seele dieses Weibes lag offenbar eine Macht, die über allen Zwang emporschwebte. Von diesem Zwiste an spottete Ewald wohl über Bettinas Samariterthum, allein er duldete den vierfüßigen Patienten in seinem Hause.

Dieser erholte sich bald wieder, behielt jedoch als Erinnerung an den Vorfall ein steifes Bein. Fortan hinkte er hinter seiner Herrin her, die nun zu seinem Schutze einen Stock mit eiserner Zwinge trug, so oft sie die Klause verließ.

Schon durch dieses Vertheidigungsmittel rief sie die Spottlust der Dorfbewohner wach. Als sie sich aber gar durch eine spiegelglatte Eisdecke zum Eislauf verlocken ließ und sich an mondhellen Abenden der gesundeu Leibesübung mit Eifer hingab, da fand man ihre Aufführung unerhört, und Ewald mußte bald in der Schenke von seinen Kameraden spöttische Bemerkungen darüber hören. Er selber hatte Bettinas Uebungen mit Stolz beobachtet, welcher nur durch das Bedauern beeinträchtigt wurde, daß er selbst nicht Gewandtheit genug besaß, um das Schlittschuhlaufen noch zu erlernen. Er wies daher den Spott mit der barschen Bemerkung zurück: „Macht’s ihr doch nach, Ihr Tölpel!“ Besonders schmeichelte es seiner Eitelkeit, daß der Kommandant und dessen Gattin, die sich gleichfalls dem Vergnügen des Eislaufs hingaben, mit Bettinas Kuustfertigkeit sich auch nicht entfernt messen durften. Diese flog mit spielender Leichtigkeit über die weite Fläche, zeichnete mit den Eisenschuhen Spiralen in den Spiegel und jagte mit dem Wind um die Wette bis zum silbernen Eiskranz hitt, der die Wassergrenze bezeichnete.

Frau Monk urtheilte strenger als ihr Sohn und glaubte, der Aufführung ihrer Schwiegertochter ein Ziel setzen zu müssen; sie machte sich zum Sprachrohr all der Entrüstung, die in den Spinnstuben zusammengeflossen war. Als Bettina eines Abends spät vom Eise heimkehrte, fand sie die Schwiegereltern und Ewald vor dem Kaminfeuer. Ihr freundlicher Gruß wurde von Frau Monk mürrisch erwidert, und es dauerte nicht lange, so platzte die Alte mit der Bemerkung heraus: „Lewe Tina, dat Eislopen möt uphören, so wat schickt sich hier tau Lande nich for'ne respektable Fru.“

Bettina traute ihren Ohren nicht – wie, hatte sie sich darum aus dem Gewühl der Städte geflüchtet, damit man ihr hier einen harmlosen Naturgenuß verschließe? „Also die Gattin des Lotsenkommandanten ist keine respektable Frau?“ entgegnete sie gereizt.

Die Monks antworteten auf diesen Einwurf mit einer Fluth von unklaren Redensarten, aus denen Bettina zuletzt entnahm, daß einer Dame alles erlaubt sei, die Gattin eines Lotsen aber müsse das Ungewöhnliche meiden.

[140] „Ja, warum ist das Naturgemäße für Euch das Ungewöhnliche?“

Als die Monks, deren Verstand dieser Frage nicht gewachsen war, verstummten, fuhr Bettina eifrig fort: „Ihr habt dicht vor der Thür das herrlichste Waschbecken der Welt – das Meer. Es würde Euch an lauen Sommerabenden nach allen Mühen des Tages die beste Erquickung bieten, aber keiner von Euch denkt daran, davon Gebrauch zu machen. So kommt es auch, daß Eure jungen Männer, die ihr Beruf auf das Meer führt, sammt und sonders nicht schwimmen können. Ihr seht im Winter vor Euch eine weite Eisfläche, die jeden gesunden Menschen zur freien stärkenden Leibesübung herausfordert, und Ihr hockt in dumpfer Unthätigkeit um den rauchigen Küchenherd und verzichtet auf ein köstliches Vergnügen. Ihr seht, daß Fremde weit herkommen, um in Eurer Bucht zu baden, Ihr könntet im Winter in einer halben Stunde mühelos über die Eisdecke nach der Küste jagen, so lange Eure Wege verschneit sind, aber Ihr scheut sowohl vor dem Bad als vor dem Eislauf zurück. Heißt das verständig handeln?“

Die Monks schüttelten eine Weile bedächtig die Köpfe, dann meinten sie, Bettinas „neumodische Ideen“ paßten für Massow nicht. Wäre sie in ihrem Stande geblieben, so dürfte sie jetzt nach ihrem Gefallen leben, als Lotsenfrau jedoch müsse sie den Nachbarn zu gefallen suchen, denn in kleinen Gemeinden sei jeder auf den Nächsten angewiesen. Dem Brauche dürfe niemand widerstreben, sonst werde er für unsinnig und vogelfrei erklärt.

„Aber Euer Brauch gründet sich auf leidige Vorurtheile und diese sind unsinnig,“ rief Bettina empört.

Der alte Monk klopfte bedächtig am Feuerbecken des Kamins seine Pfeife aus und schloß die Erörterung mit der tiefsinnigen Bemerkung ab: „Min sötet Engelken, wat möt, dat möt! Stell dat Islopen in, süst fallen wi all tausammen.“

Nachdem die Schwiegereltern die Klause verlassen hatten, ließ sich Bettina vor dem verglimmenden Feuer nieder; ihr war so weh und bang ums Herz, daß sie Mühe hatte, der aufsteigenden Thränen Herr zu werden. Während Ewald gähnend dem Schlafzimmer zuschritt, faltete sie die Hände im Schoß und starrte mit trüben Gedanken in die Gluth. Vorurtheil überall, auch hier nicht die Freiheit, von der sie geträumt! Wohin war es mit ihr gekommen?

Bettina fühlte sich durch die Nachbarschaft der Bräunings beängstigt und durch die Bevormundung der Schwiegereltern bedrückt. In einer großen Stadt hätte sie sich diesen Leuten leicht entziehen können, hier war’s unmöglich. Sie hatte die Freiheit gesucht und fand Schranken auf all ihren Wegen. Um des lieben Friedens willen verzichtete sie auf den Eislauf und wandte sich mit erhöhtem Eifer der Musik zu – diese wenigstens verstieß nicht gegen den Gebrauch des Landes.

Es kam die fröhliche Weihnachtszeit und mit ihr für Bettina neue Freudigkeit. Sie hatte die Familie des Lehrers und einige verwaiste Kinder zur Bescherung am Weihnachtsabend eingeladen. Als die Dämmerung anbrach, führte sie die kleine Schar ins Musikzimmer, wo eine Tanne mit strahlenden Kerzen bis zur Decke reichte. Sie setzte sich an den Flügel und sang mit den Kindern ein Weihnachtslied. Das brachte eine seltsam feierliche und doch frohe Stimmung in die kleine Versammlung, zu der auch die Schwiegereltern gehörten: dann vertheilte Bettina ihre Gaben. Die Monks freilich meinten, sie treibe eine sündhafte Verschwendung mit den Bettelkindern, sie aber verlachte die Bedenken, umhalste Ewald und flüsterte ihm ins Ohr: „Sei gut und herzlich gegen die Kleinen, denn heute übers Jahr wird unser eigenes Kind zu den flimmernden Kerzen aufschauen.“

Ueber Ewalds Gesicht war bei diesen Worten ein heller Schein geglitten und er hatte Bettina auf beide Wangen geküßt. An diesem Abend verlieh das Glücksgefühl seinem Wesen eine größere Milde und verklärte selbst seine äußere Erscheinung. Er scherzte mit den Kindern, ermunterte sie bei Tisch zum Essen und Trinken, plauderte lebhaft mit dem Schulmeister und erwies Bettina eine wahrhaft zärtliche Aufmerksamkeit. So blieb die kleine Gesellschaft bis gegen elf Uhr in der Klause, und dieses schöne Fest erschien Bettina wie ein leuchtendes Gestirn, das eine bessere Zukunft verkünde.

(Fortsetzung folgt.)




Das Kaiser Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäufer.
(Zu den Bildern S. 136, 137 und 141.)

Im Herzen Deutschlands gelegen, in einem der gesegnetsten Theile des Vaterlandes, erhebt sich der Kyffhäufer am Südrand der „Goldenen Aue“, wo sich Thüringer- und Sachsenland scheiden.

Hier, wo die Volkssage Kaiser Barbarossa seinen Schlummer halten ließ, von einem Jahrhundert zum anderen, bis die Raben der Zwietracht nicht mehr um den Berg flattern würden, hier soll ein Denk- und Dankmal dem erstehen, welcher den Hader aus den Herzen der deutschen Stämme tilgte und siegend ein neues einiges Deutsches Reich schuf, den alten Traum von „Kaiser und Reich“ zu ruhmvoller Erfüllung führend. Mag für ein Nationaldenkmal, das dem ersten deutschen Kaiser die ganze Nation zu errichten unternimmt, die deutsche Reichshauptstadt immerhin der einzig berechtigte Platz sein; für ein Erinnerungsmal, welches die deutschen Krieger ihrem siegreichen Kaiser widmen wollen, hätte, außer vielleicht am Rheine, nicht wohl ein bedeutungsvollerer Standort gefunden werden können als der sagenumwobene Berg.

Auf seiner Kuppe wird es sich erheben. Von einem breiten Unterbau, der in einer Mittelnische die Barbarossafigur von Nikolas Geiger trägt, führen rechts und links Stufen hinauf zu einem thurmartigen Oberbau, dem eigentlichen Denkmalsträger. In einer Nische dieses Oberbaus auf vorspringendem Pfeiler soll das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms stehen. Dieser geniale architektonische Entwurf rührt vom Baumeister Bruno Schmitz in Berlin her; ihm sollte sich der Bildhauer, der die Reiterfigur des Kaisers zu gestalten hatte, anschmiegen. Es ist dem Bildhauer E. Hundrieser in Charlottenburg, dem der erste Preis für seinen Denkmalsentwurf mit dem Motto „Kaiser und Reich“ zuerkannt wurde, gelungen, ein Standbild zu schaffen, das sich bei aller Selbständigkeit der bildhauerischen Auffassung und Ausführung doch mit dem architektonischen Bau in einer so selbstverständlichen, zwanglosen Art vereinigt wie kaum einer der übrigen vierzig Entwürfe, die mit ihm um den Preis rangen.

Der Kaiser, wie in langsamem Schritte dahinreitend, in Generalsuniform, mit wallendem Reitermantel, den Feldherrnstab in der Rechten, ist in jener schlichten Haltung dargestellt, in der er in unserer Erinnerung nun einmal lebt. Mit leicht verständlicher Symbolik sind die beiden Nebenfiguren entworfen. Eine weibliche Figur zur Rechten des Kaisers mag etwa die Geschichte darstellen; soeben hat sie in eine Steintafel die Worte „Sedan–Paris“ gegraben und schaut nun in stiller Verzückung zum Kaiser empor. Die männliche Figur, die links vom Kaiser (rechts für den Beschauer) zu dessen Füßen sitzt, ist ein mit germanischem Flügelhelm, Rundschild und breitem Schwerte gewappneter bärtiger Krieger mit finster entschlossenem Gesichtsausdruck, die verkörperte Kraft und zugleich der verkörperte Wille, die Feinde abzuwehren vom neugegründeten Reiche.

Noch einen zweiten Entwurf hat Hundrieser gefertigt, den er zugleich mit seinem ersten einsandte; aber da er dasselbe Motto trug wie jener – was eine Verletzung der Konkurrenzbedingungen war – so durfte er bei der Preisertheilung überhaupt nicht in Frage kommen. In mancher Hinsicht scheint diese zweite Auffassung noch bedeutender, jedenfalls malerischer und prächtiger zu sein als die erste. In vollem Herrscherornat, die Krone auf dem Haupte, reitet der Kaiser. Eine wundervolle weibliche Figur, die Reichsinsignien, Scepter und Reichsapfel, tragend, führt am Zügel das Roß, das tief gesenkten Hauptes, wie trauernd, daher schreitet. Die weibliche Nebenfigur zur Rechten ist über ihre Tafel gebeugt, sie ist halb verhüllt. Eine wehmüthige Stimmung lagert über der ganzen Gruppe, in der nur das Auge des Kaisers leuchtet, das kaum noch der Erde angehört. Es ist, als hätte der Künstler jene Stimmung darstellen wollen, die in Justinus Kerners bekanntem Gedicht von Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe uns mächtig ergreift:

„Glocken dürfen’s nicht verkünden,
Boten nicht zur Leiche bieten,
Alle Herzen längs des Rheins
Fühlen, daß der Held verschieden.“ –

Emil Hundrieser ist 1846 zu Königsberg i. Pr. geboren. Er ist ein Schüler Siemerings. Seit kurzem ist er Mitglied der Akademie der Künste. Mit vielem Glücke hat er sich bereits des öftern bei Wettbewerben betheiligt, und die meisten der größeren öffentlichen Bauten in Preußen haben einen Theil ihres bildnerischen Schmuckes von seiner Hand erhalten. So besitzt, um nur einige seiner größeren Arbeiten zu nennen, das Charlottenburger Polytechnikum von ihm die Standbilder Kaiser Wilhelms I. und Schlüters, das Borsigsche Palais in Berlin die Statuen von James Watt und Robert Stephenson, der Anhalter Bahnhof die von George Stephenson und von dem Minister Maaßen, dem Begründer des Zollvereins; in Straßburg stehen von ihm die vier Statuen von Bopp, Wolff, Jakob Grimm und Boeckh; Magdeburg hat sein Lutherdenkmal von ihm erhalten. Auch am neuen Reichstagsbau ist Hundrieser in hervorragender Weise beschäftigt. Eine sehr geschätzte Arbeit von ihm ist eine Königin Luise von ganz eigenartiger Auffassung, in sitzender Stellung; sie hat ihm die zweite goldene Medaille eingetragen und wird für die Berliner Nationalgalerie in Marmor ausgeführt.

Auf der vorjährigen internationalen Kunstausstellung in München wurde eine Grabgruppe von ihm viel bewundert und erhielt die erste goldene Medaille. Es sei noch erwähnt, daß Hundrieser zu denjenigen Künstlern gehört, die für das in Berlin zu errichtende Drei-Komponisten-Denkmal – Beethoven, Mozart, Haydn – zur engeren Konkurrenz aufgefordert worden sind.
Otto Neumann-Hofer.     
[141]


Der architektonische Entwurf zum Kaiser Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser. Von Bruno Schmitz.
Nach einer Photographie aus dem Verlage von Dr. E. Mertens u. Co. in Berlin.

[142]

Ortszeit und Einheitszeit.

In seiner letzten Reichstagsrede am 16. März v. J. hat der verstorbene Generalfeldmarschall Graf Moltke noch eine Lanze für eine deutsche Einheitszeit gebrochen. Der greise Stratege, der zwar einer der fleißigsten Besucher der Reichstagssitzungen war, aber seine gewichtige Stimme fast nur zu erheben pflegte, wenn es sich um militärische Fragen handelte, ist mit diesem Eingreifen bei einem seinem Wirkungskreis anscheinend ferner liegenden Gegenstand dennoch seiner Gepflogenheit nicht untreu geworden, denn es waren militärische Gründe, welche ihn dazu bewogen.

Er ging von den Schwierigkeiten aus, welche dem Personenverkehr auf den deutschen Eisenbahnen aus dem Fortbestand der verschiedenen Ortszeiten erwachsen, und wies darauf hin, wie leicht es sei, daß bei den nothwendigen Umrechnungen dieser Ortszeiten ein Fehler sich einschleiche, der verhängnißvoll werden könnte, wenn es sich bei einer Mobilmachung darum handle, die vornehmsten Reisenden, d. h. die zur Vertheidigung des Vaterlands bestimmten Truppen, an die bedrohten Grenzen zu befördern.

Graf Moltke ist nun nicht der erste gewesen, welcher die Einführung einer deutschen Einheitszeit verlangte. Vor ihm haben schon verschiedene Leute, besonders Eisenbahnfachmänner, sich mit der Frage befaßt, ob es nicht für den täglich sich mehrenden Eisenbahnverkehr besser wäre, wenn die bis jetzt noch üblichen verschiedenen deutschen Ortszeiten, „eine Ruine, die aus der Zeit der Zersplitterung stehen geblieben ist“, abgeschafft und durch eine deutsche Einheitszeit ersetzt würden. Neuerdings hat sich auch der Deutsche Handelstag in diesem Sinne ausgesprochen. Freilich sind dagegen von zwei Seiten Bedenken aufgetaucht. Einmal sind es die Herren von den Sternwarten, welche mit einer deutschen Einheitszeit sich nicht begnügen wollen, sondern verlangen, daß, wenn überhaupt mit dem herrschenden System der Ortszeiten gebrochen werde, sogleich die Weltzeit zur Einführung gelange. Doch scheint dieser fromme Wunsch noch weit bis zu seiner Erfüllung zu haben, denn die Gelehrten streiten sich noch darüber, welchem Meridian die Ehre zu theil werden solle, der neuen Weltzeit zu Grunde gelegt zu werden, und – „wenn die Gelehrten streiten, ist eine Lösung in fernen Weiten“!

Von nicht gelehrter Seite dagegen ward die Befürchtung geäußert, daß die Einführung einer deutschen Einheitszeit Störungen im bürgerlichen Leben veranlassen könnte, sofern die Eisenbahn Uhren derjenigen Punkte, welche am weitesten von dem der Einheitszeit zu Grunde zu legenden Meridian entfernt wären, bis um eine halbe Stunde und darüber von den entsprechenden Ortszeiten abweichen würden. Doch darf man wohl annehmen, daß diese Störungen nicht so häufig oder überhaupt nur im Anfang eintreten werden. Empfindet ja doch auch heutzutage niemand mehr die Differenz zwischen der wahren Sonnenzeit und der mittleren Zeit eines Ortes, welche viermal im Jahre allerdings gleich Null ist, aber im Februar über 14 und im November über 16 Minuten beträgt!

Würde nun, wie Moltke vorgeschlagen, z. B. der Meridian von Stargard 15° östlich von Greenwich, 32,7° östlich von Ferro), welcher Deutschland ebenso wie Schweden, Oesterreich und Italien durchschneidet und welchen der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen zunächst für den inneren Dienst seiner „mitteleuropäischen Eisenbahnzeit“ zu Grunde gelegt hat, als Richtschnur für die zu schaffende deutsche Einheitszeit genommen, so ergäbe das eine Zeitverschiedenheit im Osten von 31, im Westen von 36 Minuten gegen die Sonnenzeit. Solche, ja noch größere Abweichungen sind aber in Amerika kein Hinderniß für den Verkehr und das Publikum geworden.

Ein Ausweg ist nicht wohl zu finden. Es kann sich nur darum handeln, zwischen zwei Uebeln zu entscheiden und das kleinere zu wählen. Denn so lange die Erde um die Sonne sich dreht, wird es verschiedene Ortszeiten geben, d. h. im Osten wird man früher Mittag haben und zählen als im Westen. Der dadurch entstehende Unterschied zwischen der Ortszeit zweier Punkte wächst mit der Entfernung ihrer Meridiane. Die Erde dreht sich in 24 Stunden um ihre Achse, was auf uns, die wir die Drehung der Erde sinnlich nicht wahrnehmen, den Eindrnck macht, als ob die Sonne den Weg rund um die Erdkugel in jener Zeit zurücklegte. Da nun die Erde in 360 Grade (Meridiane) eingetheilt ist, so wird die Sonne, um scheinbar von der Höhe eines Meridians bis zu der des nächsten vorzurücken, 24/360 Stunden, d. h. 4 Minuten brauchen. Es wird also ein Ort, der unter dem 31,1. Grade liegt, wie Berlin, Mittag haben, wenn der um einen Grad westlicher gelegene Ort, also ungefähr Leipzig, erst 11 Uhr 56 hat.

Diese Differenz der Ortszeiten ist natürlich unbedeutend und fällt im bürgerlichen Leben nicht ins Gewicht in solchen Ländern, welche keine besonders große Ausdehnung von Ost nach West haben. Deutschland erstreckt sich über etwa 17 Längengrade, was zur Folge hat, daß der Unterschied zwischen der Ortszeit im äußersten Osten und derjenigen im äußersten Westen 17x4 Minuten, d. h. etwas über eine Stunde, beträgt.

Wenn nun auch, wie Moltke richtig bemerkte, ein derartiger Zeitunterschied im bürgerlichen Leben keinerlei Störungen hervorruft, so giebt er doch zu unangenehmen Rechnungen Anlaß in allen den Einrichtungen, welche die Verbindung der fernsten Punkte unter einander zum Zwecke haben, wie Eisenbahnen und Telegraphen, oder welche mit Minuten und Sekunden, ja sogar mit Tausendstelsekunden rechnen müssen, wie die Sternwarten. Handelt es sich aber erst einmal um den internationalen Verkehr, wo Entfernungen von 17 Längengraden eine Kleinigkeit sind, dann wächst der Zeitunterschied ins große und mit ihm wachsen die Schwierigkeiten der Umrechnung und die Möglichkeiten von Irrthümern. Zur Veranschaulichung dieses zunehmenden Abstandes der Ortszeiten auf der Erde dient folgende Tabelle, welche die Zeit angiebt, welche die Ortsuhren der verschiedenen Punkte östlich und westlich von Berlin zeigen in dem Augenblicke, wann es in Berlin 12 Uhr mittags ist.

Wenn es in Berlin 12 Uhr mittags ist, ist es

in erst die Berliner Uhr
geht also vor um
in schon die Berliner Uhr
geht also nach um
Uhr Min. Sek. Std. Min. Sek. Uhr Min. Sek. Std. Min. Sek.
Rom 11 56 21 3 39 Stockholm 12 18 39 18 39
Kamerun 11 43 25 16 35 Kapstadt 12 20 20 20 20
Paris 11 15 46 44 14 Konstantinopel 1 2 21 1 2 21
London 11 6 2 53 58 St. Petersburg 1 7 39 1 7 39
Lissabon 10 30 2 1 29 58 Moskau 1 36 42 1 36 42
Madeira 9 58 43 2 1 17 Sansibar 1 43 12 1 43 12
Reykjawik (Island) 9 38 43 2 21 17 Teheran 2 32 15 2 32 15
Rio de Janeiro 8 13 51 3 46 9 Bombay 3 57 42 3 57 42
Boston 7 22 10 4 37 50 Tomsk 4 56 16 4 56 16
Montevideo 7 21 41 4 38 19 Kalkutta 4 59 46 4 59 46
Valparaiso 6 19 56 5 40 4 Padang (Sumatra) 5 47 46 5 47 46
New York 6 10 28 5 49 32 Peking 6 52 20 6 52 20
Havana 5 36 55 6 23 5 Jakutsk 7 45 23 7 45 23
Mexiko 40 30 4 7 29 56 Jeddo 8 25 24 8 25 24
San Francisko 2 56 45 9 3 15 Sydney 9 11 25 9 11 25
Tahiti 1 8 28 10 51 32 Auckland 10 45 33 10 45 33
Honolulu 12 35 4 11 24 56 Samoa 11 47 25 11 47 25

Dank diesen verschiedenen Ortszeiten ist es möglich, daß eine in der Richtung von Ost nach West verlaufende Bewegung in ihrem Endpunkt im Westen scheinbar früher wahrgenommen wird, als sie an ihrem Ausgangspunkt im Osten überhaupt angefangen hat, vorausgesetzt, daß die Schnelligkeit der Bewegung größer ist als die scheinbare der Sonne, d. h. der Erde.

Nun legt aber in einer Minute zurück:

ein Mensch (im höchsten Laufen) etwa ¼ Kilometer
ein Schnelldampfer ½      „
ein Rennpferd (im Mittel) 1         „
eine Brieftaube      „
ein Sturmwind      „
ein Blitzzug      „
der Schall in der Luft bei 0° Temperatur 26½      „
die Erde am Aequator 26¾      „
ein Geschoß der d. Küstenartillerie 30½      „
ein Geschoß des Infanteriegewehrs 88   36         „
der elektrische Strom 10¾ Mill. „
das Licht 18    Mill. „

[143] Es ist also klar, daß nur die mit größerer Schnelligkeit als die Erde sich bewegenden Kräfte, d. h. die Geschosse, die Elektricität und das Licht, für unsere Betrachtung herangezogen werden können. Da aber die Intensität des Lichtes mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt und die Tragweite der Geschosse eine verhältnißmäßig beschränkte ist, so kann ihre Bewegung trotz ihrer hohen Geschwindigkeit auf größere Entfernungen für menschliche Zwecke nicht verwendet werden, und es bleibt uns nur die Elektricität als diejenige Kraft übrig, welche sich andauernd schneller fortbewegt als die Erde. Eine mittels der Elektricität von Ost nach West gesandte Nachricht kann sich also scheinbar selbst überholen, d. h. im Westen anlangen, bevor sie im Osten aufgegeben wurde, weil derselbe Augenblick auf jedem Punkte der Erde einen andern Namen hat, oder mit anderen Worten, weil wir keine allgemeine Weltzeit, sondern ebenso viele verschiedene Ortszeiten haben als es Punkte giebt, die unter verschiedenen Längegraden, Meridianen, liegen.

Welch drastische Verwicklungen aus dem Gebrauche der verschiedenen Ortszeiten entspringen können, dafür will ich in folgendem einige besonders bezeichnende Beispiele anführen. Wir haben uns dabei nicht auf die Grenzen des Reiches beschränkt, weil die Wirkung der Zeitunterschiede bei großen Entfernungen am besten ins Auge fällt.

Am frühen Morgen des 22. November besetzte eine englische Division unter General Samuel Browne die afghanische Festung Ali Musdschid. Der Korrespondent der „Daily News“, Archibald Forbes, ritt sofort nach der Besetzung der Festung nach dem zehn englische Meilen entfernten Dschumrud, wo sich der Feldtelegraph befand, und sandte die freudige Nachricht in einer kurzen Depesche an seine Zeitung. Das Telegramm war datiert von 10 Uhr morgens. Der Zeitunterschied zwischen Indien und England beträgt ungefähr fünf Stunden. Das um 10 Uhr indischer Zeit aufgegebene Telegramm langte deshalb noch so zeitig in der Frühe in London an, daß es in die Morgenausgabe der Zeitung aufgenommen werden konnte und um 9 Uhr morgens zur Kenntniß der Londoner gelangte, während doch das Telegramm erst um 10 Uhr (aber eben indischer Zeit!) aufgegeben war. Dieses scheinbare Ueberholen der Zeit ging noch weiter. Zwischen London und New-York beträgt der Zeitunterschied ebenfalls rund fünf Stunden, so daß dieselbe Depesche, von den Londoner Korrespondenten der New-Yorcker Blätter den „Daily News“ entnommen und über den Ocean telegraphiert, auch in der gewöhnlichen Morgenausgabe der New-Yorker Zeitungen am selben Tage erscheinen konnte. Hier beeilten sich wiederum die Korrespondenteu der amerikanischen Provinzialzeitungen, sie über den amerikanischen Kontinent zu telegraphieren, und so waren die frühen Zeitungsleser in San Francisko, das ein Zeitunterschied von ungefähr dreieinviertel Stunden von New-York trennt, in der Lage, von einem Ereigniß zu lesen, das sich nach ihrer örtlichen Zeitrechnung erst zwei Stunden später in einer Entfernung von 13000 englischen Meilen auf der andern Seite des Erdballs zugetragen hatte.

Ein zweites Beispiel, welches nicht weniger drastisch ist, möge hier folgen:

Als anfangs der achtziger Jahre der Nil in Aegypten infolge andauernden Regens im Hochlande unerwartet rasch stieg, so daß eine vorzeitige Ueberschwemmung eintrat und in den ersten Morgenstunden des Juli ein Damm oberhalb Kairo unerwartet eingerissen wurde, da ward dieses Ereigniß, das eine üble Vorbedeutung für die Ernte war, sofort in die Welt telegraphiert, um auf die Getreidebörsen zu wirken. Die Depesche nach London ging um 6 Uhr morgens in Kairo ab, gelangte nach London und von hier nach New-York, wo sie nach ägyptischer Zeit um 8 Uhr vormittags, nach New-Yorker Zeit jedoch kurz nach Mitternacht in den Händen der neuigkeitslüsternen Zeitungsberichterstatter war. Sei es nun, daß die Hitze der Hundstage oder der bereits sich geltend machende Schlaf ihren unheilvollen Einfluß ausübten – genug, der New-Yorker Korrespondent einer Zeitung von Memphis, einer aufblühenden Handelsstadt im Staate Tennessee am Mississippi, beeilte sich, mit amerikanischer Kürze seiner Zeitung die wichtige Nachricht sofort mitzutheilen, so daß in der frischgebackenen Morgenausgabe der Zeitung die Memphiser Bürger mit großem Erstaunen lasen: „Kairo, den 25. Juli, morgens 6 Uhr. Der Fluß hat in der Nacht einen Damm eingerissen. Wasser steigt rasch; Schaden und Gefahr groß.“

Was war nun natürlicher, als daß die Memphiser glaubten, es handle sich um ihren Fluß, den Mississippi, sintemalen außerdem etwa 30 geographische Meilen stromaufwärts im Staate Illinois an der Mündung des Ohio in den Mississippi eine Stadt liegt, welche mit ihrem verhängnißvollen Namen „Kairo“ das fatale Mißverständniß heraufbeschwor und in den Köpfen eine ägyptische Finsterniß verursachte! Denn hätten die Memphiser bedacht, daß ein um 6 Uhr morgens im amerikanischen Kairo abgegebenes Telegramm bei aller erdenklichen Hochachtung vor der amerikanischeu Fixigkeit unmöglich um dieselbe Stunde auch schon in ihrem Lokalblatt schwarz auf weiß zu lesen sein konnte, so wären sie nicht kopflos mit Uebergehung des dampfenden Frühstücks an das Ufer ihres Flusses gerannt, der ruhig seine gelben Wogen daherwälzte und trotz allen Wartens eben nicht gefahrdrohend steigen, auch keine Trümmer des Kairoer Dammbruches ihnen zutragen wollte. Wer denkt aber auch soweit, wenn das Gute, in diesem Falle das amerikanische Kairo, so nahe liegt!

Bei dem dritten Beispiel handelt es sich nicht um so große Entfernungen, und doch spielt dabei die Ortszeit eine hochwichtige Rolle.

Ein Engländer, Mister Fox, hatte seine Frau böslich verlassen. Er reiste einige Zeit in Italien herum und verliebte sich schließlich in Messina in eine schöne Tochter des Aetna. Um sie heirathen zu können, gab er sich kurzweg für ledig aus. Das zweifelhafte Ehebündniß ward eines Tages auf einem im Hafen von Messina ankernden englischen Kriegsschiffe geschlossen und der Trauungsakt als um 11 Uhr vollzogen protokolliert. Und Mister Fox hatte mehr Glück, als er verdiente. Denn kurze Zeit danach erhielt er von London die Nachricht, daß seine verlassene Frau daselbst an einem gewissen Tage um 10 Uhr morgens verstorben sei. Das geheime Bangen, das Mister Fox wegen seiner Vielweiberei immer empfunden, löste sich in die seligste Ruhe auf, als der saubere Ehemann bei näherer Betrachtung des Datums gewahrte, daß der Todestag seiner ersten Frau der Tag der Hochzeit mit der zweiten gewesen, und daß ihm, da er somit ja eine Stunde nach dem Tode der ersten Frau die zweite geheirathet, die Ehegesetze seines Landes nichts mehr anhaben könnten.

Er sandte daher das Protokoll des Trauungsaktes nach London, um sich daselbst als neuvermählt in das Standesamts-Register eintragen zu lassen. Aber die englischen Behörden dachten nicht wie Mister Fox. Die Sache kam ihnen etwas verdächtig vor, und sie verfielen endlich darauf, die Ortszeit von Messina mit derjenigen von London zu vergleichen. Der Vergleich ergab, daß in dem Augenblick, als die erste Frau in London starb, d. h. um 10 Uhr morgens, die Uhr in Messina bereits 11 Uhr 2 Minuten 42 Sekunden zeigte. Mister Fox hatte also seine zweite Frau 2 Minuten 42 Sekunden zu früh geheirathet und war demgemäß des Vergehens der Vielweiberei schuldig, weil das Protokoll des Marinepfarrers die Trauung als um 11 Uhr in Messina vollzogen angab. So groß wie anfangs die Genugthuung über das unerhörte Glück wäre jetzt Mister Foxens Niedergeschlagenheit über diesen unerwarteten Ausgang gewesen, hätte nicht ein guter Freund ihn darauf aufmerksam gemacht, daß die Uhr in Messina nicht die Messinaer, sondern die mittlere Römer Zeit zeigt, und daß nach dieser seine erste Frau um 10 Uhr 50 Minuten 19 Sekunden, d. h. vor seiner Trauung mit der zweiten, gestorben war.

Die beiden großen Prinzipien, Ortszeit und Einheitszeit, werden im Deutschen Reiche am 1. April d. J. zum ersten Male äußerlich aufeinander stoßen. Einige süddeutsche Bahnverwaltungen haben beschlossen, von diesem Zeitpunkt ab die sogenannte M. E. Z., d. h. die mitteleuropäische Eisenbahnzeit, auch in die für das Publikum bestimmten Fahrpläne einzuführen, nachdem Oesterreich damit bereits vorangegangen ist. Es wird sich bald zeigen, ob das bürgerliche Leben sich anschließt, oder ob es an seiner althergebrachten Ortszeit festhält. Nach den Nachrichten, welche bis jetzt z. B. aus Württemberg vorliegen, scheint das erstere der Fall zu sein.

H. Gauß.     




[144]

Vor den Thoren Wiens.

Von V. Chiavacci.0 Mit Zeichnungen von W. Gause.

Die reizgeschmückten Berg- und Hügelketten, die der Wiener Wald bis an die Donau vorgeschoben hat, bilden für die alte Kaiserstadt eine Umgebung voll entzückender Naturschonheiten. Von den waldigen Kuppen des letzten Ausläufers der Alpen senken sich die Berge in sanften Linien in die Ebene des Wiener Beckens. Ein liebliches Hügelland, dessen Abhänge mit köstlichen Reben bepflanzt sind und aus dessen üppigem Grün hellschimmernde Dörfer, prunkvolle Schlösser und zierliche Sommerhäuser hervorlugen, bildet den unvergleichlichen Rahmen Wiens gegen Südwesten. In die zahlreichen Seitenthäler zwängen sich die Vororte und Landgemeinden Wiens mit malerischen Villen und schattigen Gärten. Sie klimmen hinan mit ihren Häuserzeilen, Gehöften und Landsitzen bis dorthin, wo der Wald beginnt. In den Falten und Einsenkungen dieses Hügellandes entwickeln sich Landschaftsbilder voll anmuthigen Reizes und malerischer Schönheit.

Der Fremde, der von Norden her die Stadt und ihre Umgebung zum ersten Male erblickt, hat die schön geschwungenen Linien der Bergrücken zu seiner Rechten, den Kahlenberg und Leopoldsberg mit ihren charakteristischen Dörfern, das mächtige Strombild zu seinen Füßen. Das Gewoge von Bergen gegen Süden, das bis zu dem 2075 Meter hohen Schneeberge ansteigt, die weiten fruchtbaren Ebenen des Marchfeldes und des Wiener Beckens, die sich bis an die Kleinen Karpathen und das Leithagebirge erstrecken, gewähren einen Anblick voll Schönheit und Lieblichkeit.

In der „Güldenen Waldschnepfe“.

Den vollsten Genuß dieses Gesammtbildes erhält der Fremde durch eine Fahrt auf den Kahlenberg, zu dem eine Zahnradbahn von Nußdorf emporführt. „Zähneknirschend“ setzt sich der Zug in Bewegung und keucht mühselig die steilen Hänge hinan. Anfangs geht der Weg durch üppige Weingärten; die Bodengestaltung hindert noch den Blick ins Weite; aber nach wenigen Minuten entwickelt sich das Bild immer schöner und mannigfaltiger. Links unten das Häusermeer mit den zahlreichen hervorragenden Prunkbauten. Ganz deutlich hebt sich die Ringstraße mit ihren gewaltigen Häuserfronten heraus. Die Votivkirche, die schönen Kuppeln der Hofmuseen, der Rathhausthurm geben die Anhaltspunkte, nach denen man sich zurechtfinden kann. Da liegt der gewaltige, durch die Regulierung in eine gerade Linie gezwungene Strom, wie mit eisernen Spangen von den Eisenbahnen umklammert, welche Wien mit der reichen Kornkammer des Kronlandes, dem Marchfelde, verbinden. Zu Füßen sanftes Hügelland, das sich allmählich erhebt bis zu den hochragenden Bergen des Wechsel- und Semmeringgebietes. Aus dem Grün der Reben- und Fruchtgärten schimmern hellblinkende Villen hervor, freundliche Dörfer schmiegen sich an das Hügelgelände. Es ist, als ob ein launenhafter Gott sein ganzes Schatzkästlein voll Anmuth und Fruchtbarkeit über diesen begnadeten Erdenfleck ausgestreut hätte. Das ist der Süden, der warme licht- und farbenprangende Süden! Er hat sich hier eingenistet, vom Reize der Oertlichkeit verführt, und behauptet seinen Besitz, obwohl er von Winterstürmen und Wassersnoth zuweilen gar übel zugerichtet wird.

Die schloßartige Anlage auf einer sanften Erhebung ist die hohe Warte. Heiligenstadt liegt in der Einsenkung. Dort brütete Beethoven, der Titan unter den Tondichtern, über seinen gewaltigen Werken; eine von Fernkorn gegossene Bronzebüste des Meisters erinnert daran. Rasch erweitert sich der Horizont. Von Station Krapfenwaldel hat man schon einen schonen Ausblick über Wien und das angrenzende Hügelland. Schloß Kobenzl, Bellevue und der beliebte Ausflugsort „der Himmel“ rücken näher heran. Der Zug tritt in den kühlen Schatten des Buchenwaldes, aber zeitweilig verstattet eine Lichtung einen kurzen Blick ins Freie: herrliche Bilder in üppig grünendem Rahmen! Das Sonnenlicht webt aus den Schatten der Bnchenblätter ewig wechselnde Muster auf den Moosgrund. Auf seinem weichen Teppich haben sich hier und dort lustige Gesellschaften niedergelassen. Sie verzehren unter Scherzen und Lachen, beim Klange der Harmonika und der neuesten Wiener Weisen ihr Mahl, bei dem die „Backhändln“, die „Würsteln“ und der „Gugelhupf“ eine große Rolle spielen. Der Grinzinger Wein, der an diesen Hängen wächst, wurde in Nußdorf eingekauft. Auf die reichliche Mahlzeit folgt eine wohlige Siesta; die Kinder aber laufen ab und zu, klettern auf die Bäume, fangen Käfer und Schmetterlinge und wähnen sich im Paradiese.

Man mag wochenlang unter dem grünen Dache des Wiener Waldes wandeln, immer kann man in diesem herrlichen Naturpark, der viele Quadratmeilen bedeckt, in seinen hundert Thälern, seinen idyllischen Ortschaften, seinem dämmerigen Waldesschatten dasselbe muntere Treiben, denselben Ausdruck des harmlosen Lebensgenusses beobachten.

Station Kahlenberg! Wenige Schritte noch, und wir sind in Josefsdorf, jenem romantischen Bergzierat, dem sich der Zug auf Schlangenwegen genähert. Im Hotel mit einer herrlichen Aussichtswarte findet man geputzte Menschen, die bei den Klängen einer Militärmusik ihren Kaffee schlürfen. Vom ersten Stockwerk des geräumigen Hotels, dessen elektrische Lichter

[145]

Picknick im Wiener Walde.

[146] man des Abends von der Stadt aus wie einen Sternenhaufen durch das Dunkel glänzen sieht, genießt man einen unvergleichlichen Blick auf Wien und die Gebirgswelt gegen Süden. Hier ruht die stolze Schöne, das Haupt an den Berg, ihren natürlichen Beschützer, geschmiegt. Dies Amt hat er schon einmal mit echter Vasallentreue ausgeübt – damals, als der freche Türke gierig ihren edlen Leib umklammerte. Gleich einer Wetterwolke stürmten die lothringischen Panzerreiter, die wackeren Schwaben, Sachsen und Bayern, sowie das polnische Hilfsheer in die Barbarenhorden und retteten die bedrängte Stadt und mit ihr die Christenheit vor Schmach und Verderben. Ein Kranz von Wäldern schmückt dieses Haupt; wie ein Gürtel von Edelsteinen schimmern die Paläste und Prunkgebäude der Ringstraße hervor, und der Stadtpark ruht wie ein duftendes Sträußlein an ihrem Busen.

 Blick auf den Leopoldsberg
  und das Kahlenbergerdörfl.
Der Kahlenberg. 
Leopoldsberg.

Eine halbe Stunde Wegs durch Wald und über Wiesengründe führt uns in einer muldenförmigen Einsenkung zum Leopoldsberg, dem äußersten Ausläufer der Alpen. An der Stelle, wo einst das Schloß der Babenberger Herzöge stand, erhebt sich ein ehrwürdiges Kirchlein, das Leopold I. erbauen ließ zum Andenken an die Befreiung Wiens von den Türken. Unter uns breitet sich der mächtige Strom aus, gegen Westen in zahlreiche Arme mit buschigen Auen verzweigt, gegen Osten in einem einzigen breiten Bette majestätisch dahinfließend. Wie ein einsamer Wachtposten steht der rebengeschmückte Bisamberg, einstmals wohl mit der Hauptkette verbunden, jenseit des Stromes im weit ausgedehnten Marchfelde, dessen zahlreiche Dörfer und Gehöfte von den goldenen Aehrenfeldern sich abheben; Aspern und Eßlingen befinden sich darunter, Namen, welche das Herz jedes Deutschen höher schlagen machen. Unweit davon bemerkt man die bewaldete Insel Lobau, die bei dem mehrtägigen Ringen mit der Macht des Korsen den Schauplatz der erbittertsten Kämpfe bildete.

Zu Füßen des Leopoldsberges gegen Westen breitet sich das stattliche Klosterneuburg aus mit dem altehrwürdigen Chorherrnstifte, dessen imposante, kuppelgeschmückte Bauformen weithin durch das Donauthal sichtbar sind. Mehr noch als das uralte Stift und das Grabmal des Stifters, Leopolds des Heiligen, lockt den Wiener der „gute Tropfen“, welchen die umfangreichen Keller dort enthalten. Lustige Wallfahrer ziehen an jedem Sonntag in hellen Scharen herbei. Am 15. November jedoch, dem Namenstag des Heiligen, der auch der Schutzpatron von Niederösterreich ist, giebt es eine Völkerwanderung, die Eisenbahn und Dampfschiffe nicht mehr zu bewältigen imstande sind. Der Respektsbesuch bei dem Heiligen ist bald abgethan; dann überläßt sich das Völkchen bei Wein und Gesang seiner ungebundenen Fröhlichkeit. Den Höhepunkt des Gaudiums bildet das beliebte Fäßlrutschen, eine uralte Sitte, zu der sich der Wiener drängt, weil ihre Ausübung für ein echtes Kind der „enteren Gründe“ ebenso verdienstlich ist wie die Mekkafahrt für einen rechtgläubigen Muselmann. In einem der Keller befindet sich nämlich ein Riesenfaß, das 999 Eimer hält. Durch eine Treppe gelangt man auf den Rücken desselben, während man auf der andern Seite hinuntergleitet. Jung und alt, Männlein und Weiblein wetteifern um die Ehre, von diesem Fasse herabrutschen zu dürfen.

Von Klosterneuburg führen bequeme Straßen in das reizgeschmückte Weidlingthal und in das schöne, um seiner windgeschützten Lage willen gern von Brustkranken aufgesuchte Kierlingthal. Einen romantischen Abschluß gegen Westen bildet die Berghöhe mit der malerischen Burg Greifenstein. Die alte Beschließerin, welche die sehenswerten Zimmer zeigt, versichert zwar jeden Besucher, daß Richard Löwenherz hier in einem finsteren Loche gefangen gesessen habe, dies ist jedoch eine fromme Lüge, erdacht, um den Nimbus des Ortes zu erhöhen. Richard Löwenherz saß in der weiter oberhalb am linken Ufer der Donau gelegenen Feste Dürrenstein in ritterlicher Haft. Hätte der edle BrittenkÖnig geahnt, daß es dorthin den Wienern zu weit sein würde, so hätte er vielleicht Greifenstein vorgezogen. Aber wer kann auch an alles denken!

Beethovens Denkmal bei Heiligenstadt.

Ein Gewoge von bewaldeten Kuppen schließt sich gegen Südwesten an die beiden Berge an. Viele dieser Höhen sind den Wienern wohlbekannt und ein häufiges Ziel ihrer Fußwanderungen. Schattige Wege, anheimelnde Wirthschaften, prächtige Aussichtswarten erhöhen den Genuß solcher Ausflüge. Der Hermannskogel, der Tulbingerkogel, der Troppberg, die Sophienalpe, der Anninger bei Mödling, das Eiserne Thor bei Baden gehören zu den beliebtesten Aussichtspunkten. Zwischen diesen Höhen sind anmuthige Thäler mit freundlichen Ortschaften eingebettet, die den Wienern die reizvollsten und abwechslungsreichsten Sommerfrischen bieten.

Unmittelbar an die ausgedehnten Vororte schließen sich diese Sommerfrischen an. Ein starker Eisenbahn-, Tramway- und Stellwagenverkehr vermittelt die Verbindung der kühlen, schattigen Landsitze mit der Residenz. Viele derselben sind mit dem Riesenkörper so innig verwachsen, daß sie in das nun zur Thatsache gewordene Groß-Wien einbezogen worden sind. In kaum einer halben [147] Stunde erreicht man vom Mittelpunkte der Stadt die malerischen Cottageanlagen von Währing, von dem die Straße weiterführt nach dem lieblichen Pötzleinsdorf; über der Berglehne rechts gelangt man nach Neustift am Walde. Salmannsdorf, Sievering und Grinzing.

Ein herrlicher Waldweg führt von Plötzleinsdorf nach Neuwaldegg und Dornbach mit eleganten Sommersitzen und dem großartigen Parke des Fürsten Schwarzenberg. Hierhin geht Sonntags eine ununterbrochene Karawane von Equipagen, Tramway- und Stellwagen, denen sich Tausende von Fußgängern anschließen, deren Ziel die zahlreichen schön gelegenen Punkte von Neuwaldegg und den angrenzenden Höhen bilden. Das Hameau (Holländerdörfl), die Bieglerhütte, die Rohrerhütte sind überfüllt von Ausflüglern. Die Tramwaywagen gewähren an schönen Sommernachmittagen einen unglaublichen Anblick. Ein wirrer Knäuel von menschlichen Leibern erfüllt das Gefährt. Geduldig lassen sich diese „gepreßten Konserven“ an ihren Bestimmungsort verfrachten und bleiben dabei so frisch, daß ihnen nicht einmal die Luft zum Scherzen vergeht. Wer dieses Ragout menschlicher Gliedmaßen von der Straße aus beobachtet, der kann sich unmöglich vorstellen, daß es sich jemals wieder in lustige Männlein und Weiblein auflösen könnte.

Das Faßlrutschen in Klosterneuburg am Leopolditag.

Ein merkwürdiger Wallfahrtsort ist auch das „Jungfernbründl“ bei Sievering. Zu Anfang unseres Jahrhunderts hat die unscheinbare Quelle plötzlich den Ruf der Wunderthätigkeit erhalten. Aber seltsamerweise soll die heilige Agnes auf den Gedanken gerathen sein, ihren frommen Anrufern spielreife Losnummern zu verrathen, die in der nächsten Ziehung herauskämen. Der „anmuthige Damenflor“ von alten Lotterieschwestern, Kerzelweibern und Fratschlerinnen (Hökerinnen), den man da oft beisammen trifft, darf zwar unser Urtheil über die Wiener Frauenschönheit nicht beeinflussen; aber es ist doch interessant, die von der Spielwuth halb verrückten Sibyllen zu beobachten, wie sie stundenlang in das „Wasserl“ starren, um zu sehen, ob ihnen die heilige Agnes nicht ein paar Nummern schickt. Mitunter macht sich ein Spaßvogel den Jux, auf Kieselsteine drei Nummern zu kritzeln und sie in die Quelle zu werfen. Die werden dann von den Weibern unter großem Gezeter herausgefischt und wie ein kostbarer Schatz nach Hause getragen.

Wenn der Heurige in den Köpfen rumort, dann geht’s hoch her in den beliebten Lokalen in Nußdorf, Heiligenstadt, Sievering. Da wird gejuchzt und gejodelt, gesungen und getanzt, und manchmal steigt einer auf den Tisch und stimmt ein Volkslied an, bei dem die übrigen mit dem Kehrreim einfallen. Die „Güldene Waldschnepfe“ in Dornbach ist die Hochschule „derer vom Brettl.“ Da haben die beliebten „Schrammeln“ ihr Hauptquartier aufgeschlagen, ein lustiges Quartett, das neben den geläufigsten Walzern auch eigene urwienerische Weisen fiedelt. Für die Abwechslung sorgen die Natursänger, Kunstpfeifer und sonstige lokale Tagesgrößen. Die Fiaker Bratfisch und Hungerl singen ihre „harbsten Gstanzln“, der Baron Jean „pfeift seine Bravourarien“, die Anzinger Toni und „Mistviecherl“ lassen ihre kunstvollen Jodler hören und alles schwimmt in eitel Seligkeit. Diesen „Radau“, wie’s der Berliner nennen würde, macht aber nicht das Volk allein mit. Kavaliere vom reinsten Wasser, Künstler und Künstlerinnen, die jeunesse dorée bis in die vornehmsten Kreise hinein haben ihren Spaß daran. Equipagen kommen angefahren, die „Unnummerierten“, wie die eleganteren Fiakerfahrzeuge heißen, kommen mit ihren „Gawliers“ angetrabt – und nicht selten sitzt der Rosselenker mit seinem „Grafen“ an einem Tische. Was man da singt und treibt, ist zwar nicht immer für delikate Ohren bestimmt, hält sich aber doch noch in den Grenzen eines erträglichen Anstands.

Im Süden von Wien ist ein breiter Bergrücken hingelagert, der „Große Anninger“. Um ihn sind die schönsten Sommerfrischen an der Südbahn: Mödling, Baden, Vöslau ausgebreitet. Vorher der grüne Waldfleck mit dem schimmernden Königspalast ist das kaiserliche Lustschloß Schönbrunn, dessen Garten, meist im französischen Zopfstil gehalten, das ganze Jahr dem Publikum geöffnet ist. Die Menagerie bildet einen gewaltigen Anziehungspunkt für die liebe Jugend, und gar mancher Hausvater findet sich mit seinem Jungen durch das Versprechen ab, ihm am Sonntag, wenn er eine gute Note nach Hause bringt, die „Affen in Schönbrunn“ oder den „Schönbrunner Pepi“, den großen Elefanten, zu zeigen.

Hietzing, das schönste Dorf Oesterreichs, mit seinen fürstlichen Villen und freundlichen Gärten, lehnt sich unmittelbar an. Hier ist das altberühmte Dommayer-Kasino, das heute allerdings nur noch einen Schatten seiner einstmaligen Bedeutung sich erhalten hat. In seinen Räumen versammelte sich vordem alles, was auf Stellung, Namen und prunkvolle Lebensführung Anspruch machte. Die Hochzeiten und Bälle bei Dommayer, die Straußkonzerte daselbst waren von einem raffinierten Luxus, und alte Wiener gerathen noch heute in Verzückung, wenn sie von den rauschenden Festen bei Dommayer sprechen.

Gegen Westen liegt das liebliche Ober-St. Veit mit seiner malerischen Kirche und dem Sommersitze des Erzbischofs von Wien anmuthig auf einem Hügel ausgebreitet, und weiterhin schließt Hacking sich an. Hier beginnt das an malerischen Gegenden überaus reiche Wienthal, das von der Westbahn durchquert wird, hier folgen sich Hütteldorf mit seiner Brauerei, Weidlingau mit den reizenden Querthälern, Heinbach, Baunzen, dann Purkersdorf mit seinen schattigen Waldpartien nach Gablitz und Mauerbach, auf die Hochramalpe und in den Deutschen Wald. Wer könnte sie alle aufzählen, die Lieblingsplätze in diesem grünen Paradies! Bis hierher kann man mit dem neuen Zonentarif der Staatsbahnen für zehn Kreuzer fahren. Seit seiner Einführung werden die idyllischen Sommersitze an Sonntagen von einer beängstigenden Fluth von Ausflüglern überfallen, die wie ein Heuschreckenschwarm über die Wirthshäuser und Gärten herfallen und alles „kahl essen“ und den letzten Tropfen aus den Fässern schlürfen. Der Heimweg gestaltet sich nicht [148] immer gemüthlich, besonders wenn die „schwerbeladenen“ Passagiere der Kellerwiese und des Hütteldorfer Bräuhauses dazu kommen.

Noch wäre von der romantischen Brühl, dem herrlichen Helenenthal bei Baden mit seinen Ruinen und Schlössern zu erzählen, von dem Kurleben in Baden und Vöslau, den Wasserheilanstalten von Kaltenleutgeben, Gainfarn und Kienthal, den sonnigen Geländen von Heiligenkreuz mit seinem reichen Chorherrnstifte, dem lieblichen Maierling, dessen lachende Hänge durch das furchtbare Drama in seinem heute zur Kapelle umgewandelten Jagdschlosse eine traurige Berühmtheit erlangt haben. Von Breitenfurt wäre zu erzählen, das der Wiener gern aufsucht, da der Weg durch das schöne Liesingthal viel Erquickendes bietet und seinen Mühen ein süßer Lohn winkt. Der „Millirahmstrudel“ von Breitenfurt ist eine lokale Berühmtheit, um deren Anfänge der romantische Zauber des Geheimnisses schwebt. Wie Minerva aus dem Haupte Jupiters sprang dieses kulinarische Erzeugniß aus dem erfindungsreichen Kopfe der Wirthin von Breitenfurt und bildete den Grundstein zur Wohlhabenheit des Gasthofbesitzers. Das Rezept zu diesem Meisterwerk der Kochkunst wird ängstlicher gehütet als das des rauchlosen Pulvers. Weiter und weiter dehnt sich das grüne Gewoge von Bergen, allmählich ansteigend bis zu dem breiten Kamme des Schöpfel, zuletzt übergehend in die großartige Alpenscenerie des Schneeberggebietes, der Rax und des Oetscher.

Solange der zauberhafte Reiz einer herrlichen Natur das schöne Wien umhegt, wird auch der liebenswürdige Humor und der leichtlebige Frohsinn seiner Bewohner, den Stimmen der Mißgunst und Aengstlichkeit zum Trotze, nicht enden. Ernste Zeiten haben der alten Kaiserstadt viel von ihrem behäbig sorglosen Wesen genommen. Harter Arbeit und ernstem Streben muß auch hier die sorglose Lebenslust weichen. Das Dorado, welches der wackere Schulmeister Wolfgang Schmelzl im 16. Jahrhundert in seinem „Lobspruch der Stadt Wien“ schildert, ist freilich nicht mehr zu finden. Mögen die freudigen Hoffnungen, welche jeder Wiener an das neue „Groß-Wien“ knüpft, in Erfüllung gehen und mit dem wirthschaftlichen Aufschwung auch Wohlstand und Zufriedenheit einkehren, auf daß das Wort Schmelzls wieder zu Ehren komme:

„Der Schmelzl khain pesser Schmalzgrub fand,
Ich lob diß ort für alle Land!“


Die Opfer des Eisenbahndienstes.

Der Eisenbahnbetrieb ist einem Kampfe vergleichbar, den das Eisenbahnpersonal täglich mit elementaren Widerständen, mit offenen und mit im Hinterhalt lauernden Feinden zu bestehen hat. Und wenn in diesem Kampfe täglich der Sieg von Menschengeist und Menschenkraft in rastloser Arbeit errungen wird, so fordert er doch zahlreiche Opfer, die tot oder zum Krüppel geworden auf der Wahlstatt bleiben.

Die Statistik, welche das Deutsche Reichseisenbahnamt seit einer Reihe von Jahren veranlaßt, giebt die genaue Ziffer dieser Verluste und zugleich in ihrer Gesammtheit ein deutliches Bild, wie in den Monaten des Winters jener Kampf am heißesten entbrennt und die meisten Verluste bringt.

Wer würde es wohl glauben, wenn diese Statistik es nicht als unumstößliche Thatsache bewiese, daß allein in den fünf Jahren von 1886 bis 1890 im Betriebe[1] der deutschen Eisenbahnen 1529 Männer des Personals getötet und über 6600 mehr oder minder schwer verletzt worden sind!

Mehr als 300 Männer büßen im Laufe eines Jahres in der „friedlichen Arbeit“ des Verkehres ihr Leben ein und ihrer mehr als 1300 nehmen Schaden an ihrem Leibe, von denen jedenfalls noch ein ganz wesentlicher Theil baldigem Tode oder langem Siechthum verfallen ist.

Man darf dabei freilich nicht außer Acht lassen, daß im Betriebe der deutschen Eisenbahnen auch eine ganze Armee thätig ist. Im Jahre 1890 waren es 317000 Bedienstete, die von den Eisenbahnverwaltungen in den großen Kampf geschickt wurden. Es läßt sich aus dieser Zahl der Streiter feststellen, daß im Durchschnitte jährlich von tausend derselben je einer sein Leben im Eisenbahndienst durch Verunglücknng einbüßt, während daneben noch vier von tausend verwundet werden. Man erlangt einen Maßstab für die Höhe der Verlustziffer, wenn man erfährt, daß in Sachsen, dem engbevölkerten und industriereichen Lande, auf etwa 4000 Einwohner jährlich ein auf irgend eine Weise tödlich Verunglückter entfällt.

Verhältnißmäßig am verderblichsten erweist sich das unzeitige Gehen in den Geleisen oder ihre unvorsichtige Ueberschreitung. Was dem Kundigen oft genug vor Augen tritt, hier wird es durch zuverlässige Ziffern bestätigt. Von den in jenen 5 Jahren tödlich Verunglückten sind allein 585, also weit mehr als der dritte Theil aller, auf solche Weise ums Leben gekommen. Darauf folgt als häufigste Unfallsursache die Gefahr, die mit dem Wagenschieben und dem Wagenrangieren eng verbunden ist. Bei dieser Arbeit fanden im gleichen Zeitraum 444 den Tod.

Mit der Ausdehnung des Eisenbahnnetzes und mit dem Wachsen des Verkehrs halten diese Verlustziffern gleichen Schritt, und es läßt sich weder von einem Rückgang noch von einer Zunahme reden. Das wunderbare Gesetz der großen Zahlen waltet auch hier mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß aus der Größe des Verkehrs mit Sicherheit auf die Höhe des Menschenverlustes geschlossen werden kann. Nimmt man zu einem Vergleich den besten vorhandenen Maßstab, die „Achskilometer“, d. h. die Entfernungen, welche im Laufe eines Jahres von sämmtlichen Achsen der Personen- und Güterwagen auf allen deutschen Bahnen zusammen zurückgelegt worden sind, so ergiebt sich, daß auf je 31/3 Millionen dieser Achskilometer ein tödlich Verunglückter kommt, und daß diese Ziffer ein unerbittliches Gesetz bildet, das heute noch, wie vor fünf Jahren, in voller Gültigkeit steht. Nur im Jahre 1887 war – jedenfalls infolge besonders günstiger Witterungsverhältnisse – ein Sinken der Unfallsziffer insoweit zu bemerken, daß erst auf je 4 Millionen Achskilometer ein tödlich Verunglückter entfiel; in den folgenden drei Jahren dagegen wurde genau die alte Höhe wieder erreicht.

Auffallend ist besonders, wie sich die verschiedenen Jahreszeiten von einander unterscheiden.

Die Beobachtungen aus einer ganzen Reihe von Jahren lassen den Einfluß der Licht- und Witterungsverhältnisse hierbei deutlich genug erkennen. Nur durch die elementaren Ereignisse im Monat Februar 1889 wird das Bild ein wenig gestört. In diesem Monat stieg nämlich die Zahl der tödlich Verunglückten auf das Doppelte der normalen Ziffer infolge der Schneefälle, welche im größten Theile Deutschlands den Verkehr in fast beispielloser Weise hemmten und erschwerten. Eine weitere Ungleichheit, die verschiedene Länge der Monate, läßt sich dadurch beseitigen, daß man die Unglücksfälle auf je 30 Tage eines jeden Monats berechnet.

Danach erhält man nun aus einem neunjährigen Durchschnitt für den Jannar 22, für den Februar 23, für den März 22, für den April 16, für den Mai 18, für den Juni 18, für den Juli 20, für den August 20, für den September 24, für den Oktober 26, für den November 32 und für den Dezember ebenfalls 32 tödlich Verunglückte.

Diese Zahlen reden eine deutliche Sprache.

Vom Monat Januar an zeigt sich mit der Zunahme der Tagesdauer eine Abnahme der Unglücksfälle bis zum Mai, eine geringe Schwankung im Februar abgerechnet, die ihren Grund in den meist sehr ungünstigen Witterungsverhältnissen dieses Monats hat. Vom Mai an beginnt dann im Zusammenhang mit dem Steigen des Verkehrs eine geringe Zunahme der Unglücksfälle, bis ihre Ziffer, in den Herbstmonaten anwachsend, in den beiden letzten Monaten des Jahres den höchsten Stand erreicht.

Noch schärfer gestaltet sich das Bild, wenn man die einzelnen Monate zu Jahreszeiten gruppiert. Dann ergeben sich im ersten Viertel des Jahres 22, im zweiten Viertel 17, im dritten 21 und im vierten 29 tödlich Verunglückte auf je 30 Tage. Bezeichnet man die Monate Oktober bis März als Winter- und die Monate April bis September als Sommerhalbjahr, so ergeben sich für das erstere 26, für das letztere 19 solcher Unglücksfälle auf je 30 Tage, also im Winterhalbjahr beinahe um die Hälfte mehr als im Sommerhalbjahr. Die Licht- und Witterungsverhältnisse auf der einen, die Stärke des Verkehrs auf der andern Seite, das sind die Hauptfaktoren, die jedem Monat seine Unglücksziffer gestalten.

Die langen Tage der Monate Mai, Juni und Juli und ihre kurzen Nächte erleichtern den Dienst. Sturm und Unwetter sind seltene Störenfriede, und selten auch vermag die lauernde Gefahr sich im Nebel zu verbergen.

Wie ganz anders im Winter! Trübe Wolken und dichte Nebel verdüstern das Licht des kurzen Tages, dunkel und sternlos sind die langen Nächte – wochenlang reihen sich im November und Dezember solche Tage und Nächte aneinander, nur unterbrochen von Sturm und Wettern. Die Laufbretter der Wagen, der Erdboden zwischen und neben den Geleisen, auf welchen dort das Zugpersonal, hier die Leute des Stationsdienstes nothgedrungen die gefahrvollen Wege zurücklegen müssen, sind schlüpfrig von Schnee und Eis; der rauhe Nordwest peitscht dem Eisenbahnmann den Schnee ins Gesicht und benimmt ihm Halt und Ausblick; andere Gefahren lauern ihm auf, wenn die Bahn verweht ist und Entgleisungen und andere das Leben bedrohende Unfälle sich häufiger ereignen, wenn der Sturm den Schnee in die Weichen jagt und harter Frost die Radreifen und Schienen zersprengt. Dazu gesellt sich noch eine Diensterschwerung in Gestalt der ungelenken und schweren Winterkleidung, die namentlich im Beginn des Winterhalbjahres manches Opfer fordert.

Der geringe Verkehr in den Monaten Januar bis April mildert die ungünstigen Verhältnisse der Jahreszeit. Im Gegensatz dazu hebt der stärkere Verkehr der Sommermonate die günstige Wirkung der Jahreszeit zum Theil wieder auf. Wenn aber der stärkste Verkehr mit der ungünstigsten Jahreszeit zusammenfällt, dann hält das Unglück seine reichste Ernte, und so erklärt es sich wohl, warum die Monate Oktober, November und Dezember, in denen der stärkste Güterverkehr des Jahres unter den schlimmsten Licht- und Witterungsverhältnissen zu bewältigen ist, die höchsten Verluste an Betriebspersonal aufweisen. – Nicht Zufall, sondern die Summe der täglich sich wiederholenden Ereignisse, der vermeidbaren und doch unvermeidlich alle Tage wiederkehrenden Mißgriffe, fahrlässigen Handlungen, Fehltritte und Irrungen über die Wirksamkeit von Naturkräften und menschlichen Einrichtungen schaffen das Gesetz, nach welchem alljährlich fast in gleicher Zahl die Männer des Eisenbahndienstes Leben und Gesundheit lassen müssen. Und nur lange, rastlose Arbeit, ernstes Streben, Forschen und Vergleichen werden an jenem Gesetze zu rütteln imstande sein! Dann wird vielleicht eines Tages ein milderes an seine Stelle treten. Vielleicht! Aber der geringste Erfolg ist hier der heißesten Mühe werth! Chr. Klötzer.     


[149]

Der große Schatz der Sultane von Marokko.[2]

Von Gerhard Rohlfs.

Es ist gewiß ein schweres Unternehmen, über etwas zu schreiben, worüber so wenige sichere und zuverlässige Angaben vorliegen, aber wo Rauch ist, muß auch Feuer sein, und da fast alle neueren Reisenden darüber berichten, so werde ich versuchen, zusammenzustellen, was sie und ich von dem sagenhaften, manchen Schilderungen nach an „Elf u lila“, an „Tausend und eine Nacht“ erinnernden Schatz der Sultane von Marokko uns erzählen.

Hervorzuheben wäre zuerst, daß keiner der älteren Schriftsteller über Marokko irgend etwas davon weiß. Weder Leo Africanus, noch Dapper, noch Marmol bieten irgend eine Angabe über diesen Schatz, ja auch manche der neueren und neuesten, z. B. Ali Bei el Abassi (der spanische General Badia), lassen die Sache ganz unerwähnt, während andere sehr präcis in ihren Angaben sind. Man kann übrigens ganz genau verfolgen, wie sich die Sage von dem Schatze nach und nach verdichtete, und wir ersehen dann, wie die Regierungszeit Muley Ismaëls, jenes Bluthundes, die erste Veranlassung war zur Mythe von einem Schatze der Sultane von Marokko. Muley Ismaël regierte von 1672 bis 1727. Er war einer der blutgierigsten Herrscher, der je auf einem Throne gesessen hat.

Egmonts letzte Wohnstätte.
Das Schloß des Herzogs von Arenberg in Brüssel vor dem Brande.

In einem Gesandtschaftsbericht, den Herr Olon im Jahre 1685 an Ludwig XIV. von Frankreich schickte, heißt es nach verschiedenen Betrachtungen über des Sultans unsichtbaren und unnützen Schatz: „Man schätzt, daß er auf diese Weise bis auf 50 Millionen Piaster (ungefähr 150 Millionen Franken) angehäuft haben mag: das wäre ein reicher Schatz, um ihn zu nehmen und auf hübsche Art darin zu wühlen, wenn er so leicht zu entdecken und zu demselben Zugang zu erhalten wäre.“

Herr Olon verlegt die Stätte des Schatzes nach Marokko, obschon alle späteren Berichterstatter ihn in Mekineß wissen wollen. Jedenfalls finden wir aber hier die erste Angabe über einen marokkanischen Staatsschatz.

In einem „Die Einkünfte des Königs voll Marokko“ überschriebenen Kapitel seines Werkes „Geschichte und Staatsverfassung der Königreiche Marokko und Fes“ aus dem Jahre 1788 erzählt der französische Geschäftsträger am marokkanischen Hofe, Herr von Chenier, daß Muley Ismaël nach einer 54jährigen Regierung einen Schatz von 100 Millionen hinterlassen habe, daß aber die miserablen Regierungen nach ihm derart gewirthschaftet hätten, „daß der Schatz dieser Fürsten, der sonst so reich war, nun durch einen Zusammenfluß von Umständen erschöpft war und 1782 kaum 2 Millionen Dukaten oder 12 bis 13 Millionen Franken ausmachte.“

[150] Im Buche von Gräberg di Hemsö, der 1834 einen „Specchio di Marokko“ (Spiegel von Marokko) herausgab, finden wir endlich den Schatz, wo er heute noch sein soll, in Mekineß. Gräberg sagt darüber:

„Das, was in anderen Ländern die Staatskasse ist, ist hier absolutestes Personaleigenthum des Regenten. Der Schatz, genannt „bit el mell“, d. h. Schatzkammer, ist kein öffentliches Eigenthum, sondern ein tief vergrabenes Kapital, weil es bewahrt wird in einem eigens zu diesem Zwecke hergestellten Gebäude in Mekineß, das bewacht wird von 2000 Negern. Man glaubt, daß mindestens 50 Millionen Thaler eingeschlossen sind, an Edelsteinen, Goldbarren, Silberbarren und klingender Münze, meistens in spanischen und mexikanischen Thalern. Der Ort, wo der Schatz sich befindet, ist von einer sehr starken, massiven Mauer umgeben und mit einem ähnlichen Dache gedeckt, und hierin ist wieder ein innerer, ähnlich starker Bau. Um hinein zu gehen, passiert man fünf eiserne Thüren, von denen eine jede fünf Vorlegeschlösser besitzt, deren Schlüssel immer in der Hand des Sultans oder der Lieblingssultanin sind. In vergangenen Zeiten pflegte man immer die Träger, welche Summen hinein legten, zu töten, damit das Geheimniß der Oertlichkeit nicht offenbar würde.“

Stark wurde nun noch die Geschichte vom großen Schatze der Sultane von Marokko beeinflußt, als die Franzosen nach der Eroberung von Algier in den eisenverwahrten Gewölben des gefangenen Deys von Algier viele Kisten geprägten Geldes fanden, einen Schatz, den einige auf 10 Millionen, andere auf 100 Millionen Franken angegeben haben.

Aehnlich sind die Schilderungen der neueren Reisenden wie Edmondo de Amicis’ und anderer gehalten. Von diesen führen wir, ehe wir das wiedergeben, was wir selbst in Erfahrung brachten, besonders Lenz an. Der Timbuktureisende war auf dem Wege nach dem Innern von Afrika auch nach Mekineß gekommen und schreibt über den berühmten Schatz folgendes:

„Vielfach bekannt ist die Sage von dem ungeheuren Geldschatz, der in Mekineß hinter festen Thüren und Thoren vergraben liege. Es dürfte kaum einem Reisenden gelingen, darüber vollständig die Wahrheit zu erfahren. Zunächst ist eins wohl gewiß, daß im Laufe der Zeit die Sultane ungeheure Mengen von Bargeld aufgehäuft haben müssen, da sie doch stets jährlich Geld eingenommen und ganz unbedeutende Summen ausgegeben haben. Das ist heute noch so in Marokko. Der Sultan allein (denn einen Staatsschatz giebt es nicht) nimmt jährlich gewiß mehrere Millionen ein, wovon nur die Ausgaben für seinen Hofhalt und eine Anzahl Pensionen für Günstlinge, Verwandte und theologische Schulen und Stiftungen bestritten werden. Die Ausgaben für Beamtengehalte sind fast gleich Null, da die Beamten auf die Aussaugung ihrer Provinzen angewiesen sind, und die kleine reguläre Macht kostet sehr wenig. Für das Land aber, für Straßen, Brücken, Spitäler, Gefängnisse etc. wird einfach gar nichts ausgegeben. Die infolge des Krieges mit Spanien kontrahierte Staatsschuld ist fast ganz abgetragen durch die Zölle, von denen seit jener Zeit Spanien die Hälfte für sich behält. Es muß also jedes Jahr eine gewisse Summe baren Geldes zu den seit langer Zeit vorhandenen Schätzen hinzukommen. Diese letzteren nun sollen seit den ältesten Zeiten in Mekineß in Verwahrung liegen, und es hat sich um dieselben ein ganzer Mythus gebildet. Hinter dreifachen eisernen Thüren gelangt man, nachdem das von hohen und dicken Mauern umgebene Schatzhaus erreicht ist, in einen dunklen Gang, an dessen Ende ein Saal sich befinde, von wo aus man durch eine Fallthür in die unterirdische Schatzkammer trete. Das Haus selbst werde von 300 Negersklaven bewacht, die nie lebend dasselbe verlassen dürfen – ein lebendiges Grab – und nur einmal im Jahre komme der Sultan oder einer seiner Getreuen, um neues Geld zu dem alten Haufen zu werfen. Dem Sultan und seinen Günstlingen liegt natürlich daran, den Schatz mit möglichstem Zauber zu umgeben, und die Bevölkerung ist sehr empfänglich für etwas derartiges. Späterhin soll nun der Schatz an mehreren Orten aufbewahrt worden sein, so daß jetzt ein Theil in Mekineß, ein anderer in Fes, der größte Theil aber in der südlich des Atlasgebirges gelegenen Oase Tafilet, dem Stammlande der Filali[3], verborgen sei. Es scheint mir das Wahrscheinlichste, daß das wenn auch nicht ganz so enorme, aber doch immerhin bedeutende Vermögen des Sultans in Tafilet in Sicherheit gebracht ist. Kommen doch immer mehr Europäer nach Marokko, und im Falle einer kriegerischen Verwicklung ist ja eine Besetzung von Fes und Mekineß nicht absolut ausgeschlossen. Jeder aber, der Mekineß besucht, wird zweifellos mit all den Fabeln traktiert, die sich an den Schatz des Sultans und die 300 eingemauerten Schwarzen im Laufe der Zeit geknüpft haben.“

Meine eigenen Beobachtungen begünstigte ein mehrwöchiger Aufenthalt in Mekineß und der tägliche Zutritt zum Palast des Sultans, der mir als seinem Arzte freistand.

Jeden Morgen mußte ich in den Palast des Sultans kommen, um seine Frauen, die sich krank meldeten, zu behandeln, und wurde zu dem Ende am Eingang von einem bejahrten dicken Eunuchen empfangen, der den bezeichnenden Namen „Abu Kamphor“[4] führte und der mir als der Oberste der Eunuchen bezeichnet wurde. Im Anfang wollten sich die Frauen vor mir nicht entschleiern, und als ich darauf bestand, ging Herr Kampher zum Sultan und kam mit dem Bescheid zurück: „Unser Herr (Sidner) sagt, da Du ja doch nur ein Rumi [5] und eben erst übergetretener Christenhund bist, brauchen sich die Frauen Deinetwegen nicht zu genieren.“ Somit fielen die Umschlagetüchcr (eigentliche Schleier werden in Marokko nicht zum Verschleiern der Frauen gebraucht), und ich hatte nun alle Tage Gelegenheit, die Gesichter der Frauen des Sultans bewundern zu können.

Meine Besuche waren für mich eigentlich nur angenehme (?) Plauderstunden, denn ich hütete mich wohl, den Damen irgendwie innerlich Medizin zu verordnen. Einmal hatte ich nicht Lust, stets die Arzenei mit ihnen zu theilen – in Marokko ist man bei Hofe so mißtrauisch, daß der behandelnde Arzt stets die Hälfte der verordneten Medizin schlucken muß – dann aber würden die Damen, von denen keine ernstlich krank war, auch von selbst jede Medizin zurückgewiesen haben. Eines Tages nun brachte eine niedliche Frau von etwa 14 Jahren Konfekt, und ich ließ mich verführen, davon zu essen: es war Madjun[6]. Nun weiß ich nicht, wie es kam, mit einem Male sah ich eine eiserne Thür und Herr Kampher lud mich ein, ihm zu folgen. Ich kam mit ihm durch einen mit mehreren dicken eisernen Thüren versehenen dunklen Gang – die Thüren wurden von Herrn Kampher mit großen Schlüsseln geöffnet – in ein großes, rundes Gewölbe, das nur schwach von oben durch ein zweifach vergittertes Fenster Licht bekam. Was ich da sah, spottet aber jeder Beschreibung. An einer Seite lagen Säcke, angefüllt mit spanischen Bu Medfa[7] und anderen harten Thalern; ein jeder Sack enthielt mindestens 10 000 Thaler, dann kamen große Gold- und Silberbarren, deren Werth zu schätzen mir unmöglich war, endlich wundervolles Geschmeide, aus Diamanten, Perlen und Rubinen und anderen Edelsteinen zusammengesetzt, wie ich sie nie schöner gesehen; auch Kästchen mit nicht gefaßten Brillanten und großen Perlen waren vorhanden. Ich fragte Herrn Kampher gerade, warum der Sultan seine Frauen nicht besser kleide und mit diesen Schmucksachen schmücke, als ich einen Fußtritt von ihm zu erhalten glaubte, und – erwachte: ich war vom Diwan gefallen und lag am Boden.

Vor mir stand der Sultan selbst, und ich wußte nun, ich hatte nur geträumt, ich war berauscht worden von dem Genuß des Haschisch. Man wird sich meine Verlegenheit und Angst denken können, als ich erwachte in Gegenwart des Sultans, und noch dazu in einem Vorzimmer seines Harems! Wäre der Sultan ein zweiter Muley Ismaël gewesen, so hätte er mir sicher eigenhändig den Kopf abgeschlagen; so hörte er aber meine Entschuldigungen, und ob er sie nun glaubte oder nicht, er befahl Kampher, mich in Verwahrsam zu nehmen.

Aber zum größten Glück pochte es draußen an der Thür, [151] und dem heraustretenden Sultan wurde vom Uisir el Kebir[8] Si Thaib Bu Aschrin gemeldet, daß Sir Drummond Hay, der britische Gesandte, angekommen sei. Ich blieb nur einen Tag in Haft. Si Thaib Bu Aschrin vermittelte ein Schreiben von mir an Sir Drummond Hay, und ihm verdankte ich in kurzem nicht nur meine Befreiung, sondern die Erlauhniß, in ganz Marokko reisen zu können, wohin es mir beliebte. Ich aber war froh, von den gefährlichen Haremsbesuchen entbunden zu sein.

Nun zur Wirklichkeit übergehend, berichte ich:

Es giebt keinen eigentlichen Schatzmeister in Marokko, noch gar einen Finanzminister, denn den Schlüssel zur Hauptkasse, welche in Mekineß sein soll, hat der Sultan selbst. Daß eine Hauptabtheilung des dortigen Palastes, welche von außen einen vollkommen fensterlosen, viereckigen, steinernen Würfel darstellt, „el dar el chasna“ oder „bit el mell“ (Schatzhaus) heißt, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen; anscheinend hat dieses massive Gebäude von außen gar keinen Zugang, indeß liegt eine Seite nach dem Harem zu, und von dort aus wird wohl auch der Eingang genommen werden. Die Marokkaner behaupten, der Zugang zum Schatze führe unterirdisch durch einen Tunnel. Das Innere wird beschrieben als eine ausgemauerte Höhlung, in der wieder ein gemauertes Gemach enthalten sei. Aber dies ist wohl Fabel, denn niemand dürfte je einen Blick ins Innere gethan haben. Ebenso sind die Summen, welche im Schatzhaus angehäuft liegen sollen, wohl lange nicht so bedeutend, als manche herausgerechnet haben. Französische Schriftsteller haben die Ersparnisse der marokkanischen Regenten auf 300 Millionen Franken, ja auf eine Milliarde veranschlagt, ohne zu bedenken, daß das, was der eine Sultan zurückgelegt hatte, oft vom folgenden, der durch Usurpation und Gewaltmittel auf den Thron kam, an einem Tage der Plünderung preisgegeben wurde. Als z. B. an Spanien jene 22 Millionen spanischer Thaler Kriegsentschädigung gezahlt werden mußten, fand es sich, daß der Staatsschatz leer war. Oder durfte und wollte der Sultan ihn nicht angreifen? Am wahrscheinlichsten ist doch, daß das Geld gar nicht vorhanden war.

Dies hatte ich im Jahre 1861 geschrieben, und ich lebe auch heute noch der Ueberzeugung, daß in Marokko kein Staatsschatz, oder sagen wir lieber: Schatz der Sultane vorhanden ist. Wenn er irgendwo wäre, könnte er aber nur in Mekineß sein, erstens weil Mekineß eine verhältnißmäßig sichere, gewissermaßen militärische Stadt ist, zweitens weil dort das Haus, das den Schatz beherbergen soll, von mir mit eigenen Augen gesehen wurde, was alles auf Fes nicht zutrifft. Aber gar, wie Lenz es thut, von Tafilet sprechen zu wollen als dem Ort, der den Schatz bergen könnte, ist ganz unannehmbar, weil er dort der größten Unsicherheit ausgesetzt wäre. Abuam sowohl als Rissani, Hauptplätze von Tafilet, haben gar keine Steinbauten, sondern nur Wohnungen aus an der Sonne getrockneten Backsteinen. Außerdem ist die Autorität der Sultane von Marokko in Tafilet gleich Null. Die einzelnen „Ksors“ (Dörfer, meist mit einer aus Lehmsteinen hergestellten Mauer umgeben) leben in beständiger Feindschaft und immer auf dem Kriegsfuß. Der Sultan, dessen Regierung in Rissani sitzt, hat hier einen Kaid und etwa 100 „Maghaseni“ (bewaffnete Reiter) zu seiner Verfügung. Diese Maghaseni jedoch, die eigentlich beritten sein sollen, haben alle der theuren Verhältnisse wegen keine Pferde, nur der Kaid ist beritten, und seine Autorität beschränkt sich eben bloß auf den Ksor Rissani, wo er residiert. An den Thoren eines jeden Ortes in Tafilet findet man Tag und Nacht eine beständige Wache, jeder Ort ist unabhängig. Dazu kommt, daß in Tafilet zahlreiche Prätendenten sich befinden, Nachkommen Muley Ismaëls und Muley Seimans, die alle nur zu begierig wären, sich zu bereichern, und die gewiß nicht versäumen würden, einem etwa vorhandenen Schatze nachzuspüren und sich desselben zu bemächtigen. Tafilet ist deshalb der ungeeignetste Ort, um einen Schatz zu beherbergen.

Marokko ist ein Land, in welchem heute noch wie vor 100 Jahren von einer Finanzwirthschaft keine Rede sein kann. Die einzigen einigermaßen sicheren Einkünfte bezieht der Sultan aus den Eingangs- und Ausgangszöllen. Im Inneren des Landes herrscht die heilloseste Raubwirthschaft. Kein Beamter ist besoldet, sondern jeder muß sich seine Stelle kaufen und sieht deshalb zu, wie er das Geld systematisch von seinen Untergebenen wieder erpressen kann. Nun hat Marokko seit einigen Jahren in die Bahnen der Civilisation eingelenkt, d. h. der Sultan hat ein von Europäern befehligtes stehendes Heer, er läßt sich Schiffe, allerdings nur für seinen persönlichen Gebrauch, bauen, es werden Leuchtthürme errichtet, so am Cap Spartel, und Jünglinge ins Ausland geschickt, damit sie von dort als ausgebildete Offiziere oder als gelernte Bergleute nach der Heimath zurückkehren. Alles dies kostet Geld. Aber der Sultan bestreitet diese Ausgaben aus den Einkünften der Zölle, nicht aus einem angeblichen Schatze, den die Sultane angehäuft hätten wie das Deutsche Reich seinen Reichskriegsschatz im Juliusthurme zu Spandau. Die Macht, welche sich einst des marokkanischen Landes bemächtigen sollte, wird daher gut thun, die Hoffnung nicht zu hoch zu spannen, unserer Ueberzeugung nach giebt es keinen Schatz, weder in Mekineß noch anderswo in Marokko.


  1. Die bei Nebenbeschäftigung Verunglückten sind hierbei außer Betracht geblieben.
  2. Es scheint immer mehr, als ob das Sultanat Marokko ein neues Aegypten für die europäische Politik werden sollte. Die Unsicherheit der allgemeinen Zustände in dem Lande hat sich kürzlich wieder an den Unruhen zu Tanger gezeigt und verschiedenen europäischen Mächten Veranlassung zur Absendung von Kriegsschiffen gegeben, die im Nothfall die Rechte ihrer Nation zu vertreten hatten. Auch Deutschland hat in den letzten Jahren wiederholt und erst in letzter Zeit noch sein Interesse an dem Lande durch Gesandtschaften an den Sultan bewiesen. Für das Urtheil über die Bedeutung Marokkos als Freund oder Feind ist die Frage nach dem „großen Schatze der Sultane von Marokko“ nicht unwesentlich, und es dürfte daher von Werth sein, die Ansicht eines so erfahrenen und gewiegten Afrikakenners wie Gerhard Rohlfs über den vielbesprochenen Schatz zu vernehmen.
  3. „Filali“, d. h. der aus Tafilet Stammende, ist der Geschlechtsname der herrschenden Dynastie.
  4. „Abu Kamphor“ heißt der Vater des Kamphers, denn die Herrscher von Marokko lieben es, ihren Eunuchen stark riechende Namen zu geben. So hieß ein anderer „Abu Müsk“ – „Vater des Moschus“, noch ein andrer „Abu atr urdi“ = „Vater der Rosenessenz“ u. s. w.
  5. Rumi wörtlich übersetzt: Römer, d. h. Europäer.
  6. Madjun ist ein Konsekt, das in der Hauptsache aus Zucker, Haschisch (canabis indica) und etwas Cantharidentinktur besteht.
  7. „Bu Medfa“, „Vater der Kanone“, nennen die Marokkaner die spanischen Thaler, da das Wappen der Spanier bekanntlich von zwei Herkulessäulen flankiert wird.
  8. Uisir el Kebir, d. h. der große Vizier, also der erste Minister, war zu meiner Zeit Si Thaib Bu Aschrin, dessen Name übersetzt soviel heißt als „Herr der Güte, Vater der zwanzig (Kinder)“ – ein ausgezeichneter Mann, bei dem ich in Mekineß Gastfreundschaft genoß.




Wiegenlied.

(Zu dem Bilde S. 152 und 153.)

Hier in der alten verfallenen Pracht
Schlummere, Knabe, schlummere sacht!
Wohl hat die Sonne noch goldenen Stand,
Wohl zieht rauschend die Welle durchs Land,
Wohl zieht rau Aber du
Wohl zieht rau Träume nur zu –
Sonne und Strom auch, die wandernden, nah’n,
Träumend zu ruhen, dem Ocean.

Hörst du im tiefen Walde, mein Kind,
Dunkle Märchen flüstern den Wind?
Dort bei der Eichen düsterem Platz
Hütet der Riese den funkelnden Schatz;
Wohl zieht rau Aber in Ruh’
Wohl zieht rau Schlummere du!
Horch, wie die Spindel geht – hörst es so gern,
Mutter wacht und der Riese ist fern.

Selig, wen rein das Leben ließ –
Du darfst noch schauen das Paradies,
Darfst mit den Engeln spielen im Traum –
Stille! sie kommen, noch hörst du sie kaum,
Wohl zieht rau Aber schon klingt’s,
Wohl zieht rau Schwingt sich und singt’s,
Leise schließe die Augen, schlaf’ ein,
Und der Himmel, der ganze, ist dein!

Weit ist die Welt und enge dein Reich,
Kannst es umfah’n mit den Aermchen weich –
Nicht in der Ferne einst suche das Glück,
Kehrest nur müde zur Heimath zurück;
Wohl zieht rau Mutterhut
Wohl zieht rau Meint es so gut,
Geh’ nicht, so lang sie dich schirmen mag,
Ach, es endet der schönste Tag!

Müde schon schicken die Blumen den Hauch,
Neigen das Köpfchen und schlafen auch,
Bald glüh’n Sterne in dunkelndem Feld,
Heim zieh’n die Herden, es schweigt die Welt,
Heim zieh’n Hält nun wie du
Heim zieh’n Selige Ruh’ –
Darum hinein in die heilige Nacht
Schlummere, Knabe, schlummere sacht!

 Adolf Marquardt.




[152]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Wiegenlied.
Nach einem Gemälde von H. Lauenstein.

[153] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[154]
Der Zeitgeist im Hausstande.
Bilder aus dem Familienleben.
Von R. Artaria.
(4. Fortsetzung.)


„Ich will Ihnen den Beruf nennen, der eine sehr schlagende Illustration zu unserm Streite liefert,“ rief der Medizinalrath. „Warum giebt es beim Theater keine ‚Frauenfrage‘? Einfach deshalb, weil hier allein die Fähigkeiten und Leistungen ganz gleich sind. Die Primadonnen bekommen dieselben riesigen Gagen, feiern dieselben Triumphe, und keine Kritik der Welt könnte dem Publikum einreden, daß sie ihren männlichen Kollegen nachstehen,“

„Und doch haben sie sich auch dieses Feld erst vor zwei Jahrhunderten erobert.“

„Um sofort ihre Gleichbefähigung siegreich darzuthun. Das sollen die heutigen Damen nur nachmachen, dann kann man ihnen die geistigen Berufsarten dauernd nicht verschließen.“

„Ich denke besser von ihrer Befähigung als Sie stachliger Frauenfeind,“ brach nun Doktor Seiler sein bisheriges Schweigen, „ich glaube, daß sie in der That eine Anzahl von Berufen erobern werden, aber,“ dämpfte er sofort die aufleuchtende Augensprache seiner Freundin, „ich möchte eines dazu bemerken, was die Streiterinnen für Emanzipation stets außer Augen lassen: wir erfüllen allein die Wehrpflicht und haben ein Recht, für diese größere Last größere Begünstigung zu verlangen. Wenn die Frau auf jedem Felde mit uns wetteifern will, dann muß sie nothwendig ebenfalls Waffendienst oder eine gleichwerthige anstrengende Leistung zum Nutzen der Allgemeinheit übernehmen.“

„Wir lassen Ihnen ja dafür die Wahlfreiheit,“ sagte Emma lächelnd.

„Im Gegentheil, Ihr bestreitet sie uns, wo Ihr könnt,“ fiel ihr Gatte ein.

„Nein,“ erwiderte Fräulein Neube mit unendlicher Herablassung, „nein, ich bestreite sie nicht, weil es ja doch nichts hilft. Aber ich fühle mich nie mehr von der Ueberlegenheit des männlichen Geistes durchdrungen, als wenn ich am Wahltag meinen betrunkenen glotzäugigen Hausmeister, der für gewöhnlich in unverständlichen Lauten grunzt, zur Wahlurne ausrücken sehe. Ich sage mir dann: siehe da den geborenen Vertreter der Intelligenz! Du aber und deinesgleichen geht hin und kocht bis an euer Ende!“

Dies war dem Medizinalrath, der ohnedies einen bedeutenden Abscheu vor dem „geistreichen Frauenzimmer“ im allgemeinen hatte, zu viel. „Erlauben Sie, mein Fräulein,“ sprach er nachdrücklich, „das Kochen, ich meine das gute Kochen, ist eine der edelsten menschlichen Beschäftigungen; ich kann deren Herabsetzung durchaus nicht dulden. Freilich glänzen darin auch bloß die Männer, keine weibliche Leistung reicht an die der berühmten Köche hinan, Aber alle Ehre, tiefe Hochachtung den Frauen, die sich ernsthaft eines guten Kochens befleißigen! Sie thun größeres, als wenn sie Bände voll mittelmäßiger Novellen schrieben, Säle voll schlechter Bilder malten – von der Klavierqual ganz zu schweigen.“

Fräulein Neube war sonst um Erwiderungen nicht verlegen, allein ein so unmittelbarer Angriff auf die Reihe ihrer eigenen Novellenbände, welche dieser unverschämte Mensch zu den mittelmäßigen zu rechnen schien, machte sie sprachlos. Sie suchte noch nach einem möglichst vernichtenden Brandgeschoß, als Emmy, die bis dahin mit lebhaftem Antheil zugehört hatte, ihr zuvorkam.

„Lieber Freund,“ sägte sie mit dem ihr eigenen warmen Tone, „die meisten Mädchen würden glücklich sein, an ihrem eigenen Herde zu kochen. Ich habe noch nie eine gekannt, die das nicht selbstverständlich fand. Aber Sie hören es ja, viele Tausende müssen nothgedrungen andere Beschäftigungen suchen, sie genießen nicht den Schutz des Mannes, sollen als Mündige selbst für sich sorgen und werden fortwährend als unmündig und unfähig zurückgestoßen. Darin liegt ein so großer, trauriger Widerspruch, daß es kein Wunder ist, wenn die Begabten unter ihnen laut nach Gerechtigkeit, nach freier Bahn für ihre Kraft und Begabung verlangen. Es ist einfach grausam, sie alle, die keinen häuslichen Herd finden können, immer wieder auf denselben zu verweisen!“

„Also Sie sind auch für weibliche Aerzte, Richter, Prediger und Advokaten? Da machen wir ja ganz neue Entdeckungen, Walter!“

Aber dieser betrachtete vergnügt seine schöne, vor Erregung erröthende Frau und nickte ihr beifällig zu: „Nur los, Emmy, zeige einmal, was Du als Advokat leisten kannst!“

„Ich werde mich hüten,“ entgegnete sie lächelnd, „diesem schlimmen Feinde in die Fußangeln zu gehen. Ich vertrete nichts, was mir für unweiblich gilt, weder die Richterin noch die Parlamentsrednerin noch sonstige öffentliche Aemter der Frauen. Aber aus voller Ueberzeugung stimme ich denen bei, welche für unser Geschlecht die unserer Anlage entsprechenden Berufsarten verlangen, also neben den bisher üblichen den ärztlichen und den Lehrberuf in vollem Umfang. Ich habe eine Eingabe an den Reichstag mit unterschrieben, worin die Forderung ernsten Studiums, strenger Prüfungen, dann aber Ueberweisung des gesammten niederen und höheren weiblichen Unterrichts, an akademisch gebildete Lehrerinnen begründet wird. Kein Mensch kann begabten Mädchen die Fähigkeit bestreiten, nach mehreren Jahren ernster Arbeit zu ganz tüchtigen Geschichts-, Geographie- und Litteraturlehrerinnen zu werden, ganz abgesehen von ihren erzieherischen Eigenschaften. Also soll man auch den Frauen den Unterricht ihres eigenen Geschlechtes voll übertragen und damit zugleich das größere Gehalt, das bisher nur die Männer bekamen.“

„Sehr ungerechtfertigter Weise,“ schaltete Fräulein Neube ein.

„Gut, das will ich Ihnen zugestehen,“ sagte Hoffmann zu Emmy. „Für Töchterschulen mag’s reichen. Außerdem fiele dann auch die Anbetung der Oberklasse für den Litteraturlehrer weg, das wäre immerhin etwas. Aber gehen Sie mir mit dem ärztlichen Beruf! Wir brauchen nicht noch mehr unbedeutende Praktiker, als wir heute schon haben, und däs wäre alles, was man im besten Falle von den Frauen zu erwarten hätte!“

„Auf diesen Einwand giebt ein Buch Antwort, das mir neulich in die Hände fiel, und dem ich, ehrlich gestanden, meine neue Begeisterung für die Sache verdanke. Es heißt ‚Frauenbildung‘ von Helene Lange. Lesen Sie es einmal, Herr Medizinalrath, Sie werden über die sehr guten Gründe der Verfasserin erstaunen. Dort heißt es, wenn man die Grenze für den gelehrten Beruf da ziehen wolle, wo die selbständige Schöpferkraft aufhört, so wären mindestens neunzig Prozent aller Männer zugleich mit den Frauen ausgeschlossen – –“

„Neunundneunzig!“ warf Doktor Seiler dazwischen.

„Während die Frauen gerade durch ihre besonderen Fähigkeiten des Verständnisses, der Geduld und Hingabe vorzügliche Praktiker werden könnten, ja es heute in anderen Ländern schon vielfach seien. Ihnen dies bei uns hartnäckig verweigern, heißt doch den Verdacht erwecken, daß der Beweggrund viel weniger die Sorge für das Wohl der Frau als die Furcht vor ihrem Wettbewerb ist.“

„Nun natürlich!“ rief Fräulein Neube. „Die dummen faulen Jungen, die mit Nachhilfslehrern durch alle Gymnasialklassen gedrückt werden müssen, sie dürfen nicht durch fähige, leicht lernende Mädchen benachtheiligt werden. Denn wenn diese im Schlußexamen siegen würden, so müßte man ihnen ja das Studium erlauben und dadurch die Dummköpfe unter den Jungen zur Handarbeit verweisen. Also nur immer Einsprache erhoben im Namen der Weiblichkeit! Das klingt gut und hat außerdem noch die sämmtlichen beschränkten Frauen hinter sich!“

Emmy ärgerte sich im stillen über die unerwünschte Bundesgenossin, sie sagte daher kühl:

„Schon deshalb sollte das Frauenstudium durchgehen, damit endlich einmal die Ausnahmsansprüche der damit Beschäftigten aufhörten. Was ist’s denn so Großes? Wer Neigung und Talent hat, lernt ebenso selbstverständlich weiter, als eine andere ihren Haushalt führt. Das Verdienst ist in beiden Fällen sicherlich gleich, die [155] Weiblichkeit aber kann im einen sowohl als im andern gewahrt bleiben.“

„Das bestreite ich,“ rief Hoffmann lebhaft, „das medizinische Studium mit Männern zusammen schließt die Weiblichkeit unbedingt aus.“

„Es kann und soll auf eigenen Frauenuniversitäten betrieben werden,“ entgegnete Emmy. „Die großen englischen Anstalten, von welchen man hier so wenig weiß, beruhen alle auf diesem Grundsatz. Und im übrigen: was für eine Zumuthung für die Weiblichkeit von unzähligen Frauen ist es doch, sich mit einem männlichen Arzte über Dinge besprechen zu müssen, die zu hören für die Studentinnen als unweiblich gilt! Viele von uns können sich in der That nicht dazu entschließen und verfallen so dem Siechthum und frühen Tode. Aus diesem Grunde schon müßte hier das weibliche Ohr, die weibliche Hand gefordert werden – können Sie das leugnen? Ein berühmter Frauenarzt, Geheimrath Winckel in München, hat dasselbe einmal öffentlich ausgesprochen.“

Bedeutende Kollegennamen thun stets ihre Wirkung. Emmy benutzte das augenblickliche Schweigen ihres Widersachers, um hinzuzufügen: „Weiblichkeit! Wie wechselnd und vieldeutig ist dieses Wortes Sinn! Was heute für Mädchen als unverfänglich gilt: schlittschuhlaufen, schwimmen, allein reisen, tanzend in den Armen eines Mannes sich drehen, das hätte vor hundert Jahren die größte Empörung erregt. Und beachten Sie nur das Widerspruchsvolle in unserem eigenen Verhalten: dort im Saale legt jeder den Arm um die Taille Ihres Töchterleins und Sie sehen ruhig zu; wagt einer dasselbe morgen in Ihrem Hause, so werfen Sie ihn sofort hinaus. Das ist nur ein Beispiel für unser konventionelles Denken in Betreff der Weiblichkeit. Was aber entspricht echter, wahrer Weiblichkeit mehr: mit freier Seele ruhig den schweren Kampf des Lebens auf sich nehmen oder auf dem großen Markte da drinnen mit Heucheln einen ungeliebten Mann erobern, wie es in hundert Fällen täglich geschieht? Ich würde für meine Tochter das erstere wählen, und tausend andere Mütter denken ebenso!“

„Das bezweifle ich noch,“ sagte der Medizinalrath, „aber gut, ich will Ihnen zugeben, daß man die Frauen in allerhand geschäftliche Berufe soll eintreten lassen, ich will sogar annehmen, daß einzelne besonders Begabte zu Frauenärzten tauglich wären, allein es graut mir, wenn ich an den Schwarm von leichtsinnigen sensationslüsternen Damen denke, die sich auf die geöffneten Universitätspforten stürzen werden, wenn das Studium einmal Mode wird.“

„Nun, da ließe sich wohl vorbeugen,“ sagte Doktor Seiler. „Eine strenge Maturitätsprüfung zur Annahme, strenge Examina hinterher würden die Leichtsinnigen schon abschrecken, und der Umstand, daß die ganze Fachbildung in völligen Frauenanstalten zu erwerben wäre, müßte von vorn herein die Möglichkeit eines unziemlichen Treibens mit männlichen Studenten ausschließen. Frau Walter bemerkte vorhin ganz richtig, daß wir in Deutschland zu wenig beachten, was auswärts schon geschehen ist. In England geben die mit weiblichen Lehrkräften besetzten ‚High schools‘, tüchtige gründliche Lehranstalten, den Mädchen gute Kenntnisse fürs Leben und zugleich die Vorbildung für das höhere Studium. Einsichtige Männer haben an der Gründung mitgeholfen, Frauen aber leiten das Ganze und genießen das größte Ansehen, weil sie dasselbe leisten wie gute männliche Lehrer. Die Zulassung zur Universität kostete einen harten Kampf, allein eine entschlossene Dame, Miß Emily Davies, führte ihn mit solcher Ausdauer, daß sie schon im Jahre 1869 das erste College eröffnen konnte; die kleine Schülerinnenzahl hat sich rasch gesteigert, gegenwärtig blühen zwei große Frauenanstalten bei Cambridge, deren Schülerinnen mit den Studenten zusammen unter gleichen Bedingungen geprüft werden und oft genug die erste Note davontragen. Die Universität London verleiht ihnen den Doktortitel ebenfalls, und thatsächlich praktiziert in England eine große Anzahl weiblicher Aerzte, selbst als Vorsteherinnen an Hospitälern. Es ist also nicht einzusehen, warum das, was dort vollständig eingeführt ist, nicht auch bei uns versucht werden könnte. Wir haben uns lange genug besonnen – von den großen europäischen Völkern sind im Rückstand nur noch Türken, Ungarn und – Deutsche. Alle anderen haben das Frauenstudinm erlaubt.“

„Und die Anstrengnngen dabei, den Ruin der Nerven und Organe für die, welche es nicht aushalten, die rechnen Sie nicht? Der weibliche Körper ist doch nicht dazu gemacht, zwischen dem sechzehnten und vierundzwanzigsten Jahre von morgens bis abends zu lernen!“

„Und die vielen nervösen leidenden Frauen,“ fuhr Fräulein Neube dazwischen, „die von der Vergnügungsjagd abgematteten Seelen, die gar keiner Arbeit mehr fähig sind, die haben ja das ‚naturgemäße‘ Leben geführt und sind doch kaput! Wie kommt das? Lassen Sie die anderen nur ihres Weges gehen – je mehr durch das Studium geschädigt werden, desto angenehmer kann es den Gegnern sein. Aber ich fürchte, diese erleben das Vergnügen nicht.“

„Nein,“ versetzte Emmy, „in dem Langeschen Buche wird genau geschildert, wie man es im Girton College macht, um den jungen Mädchen neben den geistigen Anstrengungen Gesundheit, frohe Laune und körperliche Frische zu erhalten. Das wollte ich Ihnen vorhin alles erzählen, allein mit Euch deutschen Männern muß man ja immer erst über die Grundlagen der Berechtigung streiten und kommt zu keiner sachlichen Ausführung. Morgen schicke ich Ihnen das Buch und ein anderes dazu: ‚Aerztinnen‘, von Mathilde Weber, das lesen Sie einmal durch, Sie werden überraschende Thatsachen finden, und dann sagen Sie mir, ob Sie noch das Herz haben, den Worten dieser klugen gemäßigten und durchaus weiblichen Frauen ein starres ‚Niemals!‘ entgegenzustellen.“

„Der Stein ist im Rollen,“ seufzte Hoffmann. „Worte helfen da nichts mehr. Aber wenn ich künftig mit weiblichen Kollegen zu einer Berathung zusammentreten muß, dann werde ich mich sehnsuchtsvoll erinnern an die guten hilfreichen Bäschen und Tanten, die man früher holen konnte, wenn es Kranke in der Familie gab –“

„Und die man wieder als verspottete alte Jungfern in den Winkel stellte, wenn man sie nicht mehr brauchte,“ rief Fräulein Neube. „Nein, Herr Geheimrath, immer wird sich das weibliche Geschlecht nicht auf dem Altar der männlichen Selbstsucht opfern lassen!“

„Wir werden pflegen und helfen und uns stets erinnern, daß dies der erste Frauenberuf ist,“ klang Emmys freundliche Stimme dazwischen. „Jedoch die Armen unter uns müssen bessern Lohn finden und die vielen unthätigen, in ihrer Familie entbehrlichen Mädchen, die mit dem größten Wunsche nach Thätigkeit im täglichen Kleinleben verkümmern und verbittern, sie sollen zur Arbeit und dadurch zum befriedigenden Menschendasein emanzipiert werden.“

Während dieser letzten Reden begann es von draußen her lebhaft hereinzuströmen – die Musik war verstummt, Mütter eilten durchs Zimmer, die verlorengegangenen Familienhäupter aufzusuchen, Töchter erschienen unter den Thüren, die Hände voller Bukette. Man hatte vom Kotillon verständnißvoll nur die einzige Sträußchen- und Ordentour getanzt, nun war für viele kein Grund mehr, weiter zu bleiben. Alles erhob sich. Doktor Seiler lief schleunigst, um noch ein paar Blumen für Fräulein Neube aufzutreiben, es fiel ihm zu spät ein, daß er den Tischwalzer völlig vergessen hatte. Der Medizinalrath ging seinen Damen entgegen; Frau Malchen sah erzürnt drein und das Töchterlein hielt trübselig ein einziges Sträußchen zwischen den Fingern.

„Komm,“ sagte die erstere halblaut zu ihrem Manne, „ich habe jetzt völlig genug. Wir hätten nicht hergehen sollen, das Kind hat sich gelangweilt. Freilich, wo solche Geschöpfe den Ton angeben –“ sie warf einen giftigen Blick auf Vilma, die drinnen unweit der Thür stand, vom Lichtglanz umflossen, und lachend und scherzend die Last der Blumen, die sie nicht alle selbst tragen konnte, ihren Verehrern zum Aufheben übergab.

Der Medizinalrath fühlte ein ganz neues Unbehagen in sich aufsteigen. Er sah auf sein blasses Töchterchen und bemerkte zum ersten Male, wie ausdruckslos ihre Augen über der kurzen Stumpfnase und den aufgeworfenen Lippen standen. Auch die Gestalt machte sich nicht besonders. „Hm!“ dachte er, „hübsch müßte ein Mädchen freilich sein, was soll man sonst mit ihm anfangen!“ Und laut sagte er zu der gleichfalls im Aufbruch begriffenen Emmy: „Sie haben ganz recht, es ist doch ein zweifelhaftes Vergnügen, so ein Ball; über unserem Gespräch habe ich [156] freilich nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht, aber meine Frau – sie ist das lange Ausbleiben nicht mehr gewohnt – ich denke, wir gehen, liebes Kind.“

„Haben Sie sich gut unterhalten, Helenchen?“ fragte Emmy.

„O ja,“ versicherte diese lebhaft. „Es war wirklich ganz reizend.“

Und die Mutter nickte zufrieden ihrem Töchterlein zu, welches die Hauptkunst im Frauenleben so schnell und richtig begriffen hatte.




9.

Die Märzsonne schien hell in das gemüthlich warme Eßzimmer herein und gerade auf die lange Weißbrotschnitte, welche Francis Weston langsam und ausgiebig mit Butter bestrich. Er war ein grundsätzlicher Feind des Frühaufstehens und erschien erst im Frühstückszimmer, wenn die Walterschen Kinder längst in der Schule saßen und deren Mutter auch schon den anstrengendsten Theil ihrer Morgenpflichten hinter sich hatte. Dann war ihr eine kleine Ruhepause ganz willkommen, sie setzte sich als Zuschauerin zu seinem umständlichen Theetrinken; Klein-Maja kam auch herbei, freilich nicht zum bloßen Zugucken. Francis hatte sie bereits tüchtig verzogen, wie Emmy regelmäßig bemerkte, aber sie hatte doch ihr Vergnügen an der lustigen Fütterung, hörte und antwortete zwischendurch auf alles, was der ehrliche Junge in seiner überseeischen Offenheit an Gedanken und Erlebnissen vor ihr auskramte, und hatte dadurch bald sein ganzes Herz gewonnen. Er selbst war weit entfernt, zu ahnen, in welchem Maß seine Gegenwart das Leben im Walterschen Hause erleichtert und verbessert hatte. Emmy jedoch vergaß das niemals, sie hatte sich gelobt, ihm dafür zu geben, was durch Geld nicht bezahlt werden kann: Geduld, Liebe und mütterliche Sorge. So fühlte sich denn der junge Mann bald gründlich wohl; wie gleichgültig er dem Hausherrn war, merkte er in seiner Unbefangenheit nicht, er hielt sich hauptsächlich an Emmy und die Kinder, die ihn zärtlich liebten und als unermüdlichen Spender außerordentlicher Freuden in Gestalt von Theatern und Cirkusbilleten verehrten. Besonders Fritz sah in ihm ein unbedingtes Vorbild – er hatte schon mehrmals versucht, seinem umgeschlagenen Hemdkragen eine stramme Richtung nach aufwärts zu geben, sowie einen Mittelscheitel durch sein struppiges Haar zu erzwingen. Da er aber in beiden Fällen als einzige Wirkung ein Hohngelächter von Moritz erzielte, in welches sogar die gutmüthige Elisabeth mit einstimmte, so lief er wüthend hinaus und ergab sich ferner mit stummer Entrüstung in die auch schon von Francis mehrfach hervorgehobene Thatsache, daß man in Deutschland die jungen Leute allzu lange als Kinder behandle. Rauchen aber hatte er im stillen bei dem Freunde gelernt, das war wenigstens ein Trost!

Francis Weston also war eben damit beschäftigt, sein Weißbrot mit Butter schmackhafter zu machen. Jetzt hatte er die sorgsame Beschäftigung beendet und goß sich die große Tasse voll Thee, schlug das Ei auf, reichte der kleinen Maja das erste eingetunkte Schnittchen, warf dem Schinkenteller einen liebevollen Blick zu und sagte dann zu Emmy gewandt, in Fortsetzung des begonnenen Gespräches:

„Es ist wohl wahr, ich mache Fortschritten in Deutsch, aber es ist doch eine sehr schwere Sache. Sie haben so viele Hauptworte, die man nicht kann finden in Dictionary.“

„Warum nicht gar, lieber Francis! Jedes Hauptwort muß im Wörterbuch stehen.“

„O ja, aber man kann nichts machen damit. Ich lese neulich irgendwo ‚Siebenkäs‘. Ich suche ‚sieben‘, ich suche ‚Käs‘ und weiß doch nicht, was heißt beides zusammen.“

„Das war eben ein Eigenname,“ lachte Emmy, „der hat ja auch keinen Artikel.“

„O, bitte, es giebt auch solche mit Artikel, die nicht Sinn haben. Was ist zum Beispiel ein ‚Klopstock‘?“

„Das ist der Name eines deutschen Dichters.“

„Nein, es kann nicht sein, es steht dort mit dem Artikel.“

„Dann bedeutet es einen Stock zum Ausklopfen.“

„Nein, auch nicht, es ist ein Vers und heißt:

‚Wer wird nicht einen Klopstock loben,
Doch wird ihn jeder lesen? Nein –‘

Was ist also ein Klopstock?“

Ein Amerikaner kann mehr fragen, als zehn deutsche Frauen zu beantworten wissen, das merkte Emmy jetzt auf einmal. Sie hätte ihrer schnell herausgesprochenen Antwort: „Das ist nur poetische Ausdrucksweise!“ eine gute grammatikalische Begründung gewünscht, war indessen außer stande, eine solche aufzufinden, und mußte es dulden, daß jetzt Francis mit betrübtem Kopfschütteln sagte:

„O, es ist sehr schwer, sehr schwer – das Deutsche. Und es fehlt Logik darin. Warum sagt man: der Muth, die Wehmuth, der Hochmuth?“

Die schmerzliche Antworte „Ich weiß es nicht!“ blieb Emmy erspart, denn in demselben Augenblick erschien das Mädchen, um sie abzurufen, es sei Besuch im Salon. Drüben fand sie die kleine Frau Hoffmann, die sich tausendmal entschuldigte, so früh lästig zu fallen, aber sie habe in einer sehr wichtigen Angelegenheit Frau Walter durchaus zu Hause treffen wollen. Nämlich ihre neueste Köchin – hier that Emmy einen tiefen Athemzug und lehnte sich ergebungsvoll ins Sofa zurück, denn nun war alles weitere für die nächste halbe Stunde selbstverständlich.

Wer Frau Malchen ein beschränktes Haushuhn nannte – und es gab leider viele, welche diese Auffassung hatten – that ihr doch großes Unrecht. Auch sie strebte nach dem Höheren – sie suchte zeitlebens nach dem Ideal einer Köchin und hatte dabei, wie es den Idealisten zu gehen pflegt, die grausamsten Enttäuschungen zu überwinden.

„Du hast gehofft, Dein Lohn ist abgetragen“ ... schien ihr ein unerbittliches Schicksal jedesmal zuzurufen, wenn sie nach den besten Anfangsaussichten eben doch wieder „Symptome“ merkte, welche ihr Gemahl mehr fürchtete als die seiner schwersten Patienten, besonders wenn die betreffende gut kochte. Aber – er war zwanzig Jahre verheirathet und kannte Malchens Eigenthümlichkeiten. Sie war ja sonst eine vorzügliche Frau, die es fertig brachte, mit drei Dienstboten und vielem Gelde das Hauswesen so zu führen, daß das Essen jeden Tag rechtzeitig auf den Tisch kam und alle zur entsprechenden Jahreszeit ihre gehörigen Kleider hatten. Mehr von einem weiblichen Gehirn zu verlangen, etwa den Einfluß auf Charakter und Bildung ihrer Kinder, das wäre nach Hoffmanns Ueberzeugungen unbillig gewesen, und er war nicht der Mann, sich eine Unbilligkeit zu schulden kommen zu lassen. So hätte es Frau Malchen sehr gut haben können, wäre eben nur das besagte Streben nach dem Ideal nicht gewesen.

Heute stellte sich der Fall in ungewöhnlich düsterem Lichte dar. Frau Walter selbst hatte ihr damals das Mädchen als treu und zuverlässig empfohlen und nun waren nach anfänglicher großer Zufriedenheit wieder sehr verdächtige „Symptome“ an Zucker und Butter zum Vorschein gekommen, „gerade wie bei jener hübschen Marie, Sie erinnern sich doch?“

Emmy erinnerte sich nicht; sie hörte ergeben dem Redestrom zu, sah zwischendurch nach dem vorrückendem Zeiger der Uhr, suchte zu begütigen, machte dadurch das Uebel ärger und konnte schließlich nichts thun, als Verwahrung gegen mögliche künftige Veränderungen der von ihr Empfohlenen einlegen.

Frau Hoffmann sah sie enttäuscht an, sie schien auf bessere Trostgründe gehofft zu haben. Außerdem ärgerte sie Emmys kaum verhüllte Gleichgültigkeit, sie ging also mit dem Ahnungsvermögen, das auch weniger begabte Frauen besitzen, auf einen andern Gegenstand über und fragte mit theilnehmendem Ausdruck:

„Wie sind Sie denn jetzt mit Fritz zufrieden?“

„Ganz gut,“ erwiderte Emmy etwas erstaunt. „Warum fragen Sie?“

„O, ich dachte nur, er halte sich vielleicht jetzt doppelt daran, um doch noch mitzukommen. Freilich, nach seinem letzten Zeugniß sollte man an der Möglichkeit zweifeln.“

Emmy war es gewohnt, Frau Hoffmann stets erstaunlich genau uber ihre häuslichen Verhältnisse unterrichtet zu finden, hier stutzte sie aber doch:

„Welches Zeugniß meinen Sie?“

„Nun, das von Weihnachten. Da hatte er ja nur ein paar ‚Mittelmäßig‘ und sonst lauter ‚Schlecht‘, sollten Sie das wirklich nicht wissen, liebste Frau?“ Die runden Käferaugen bohrten sich funkelnd vor Neugier in Emmys Gesicht fest. „Unser Hermann brachte es gleich mit heim. Ja wir bedauerten damals beide Ihre gestörte Festfreude, aber mein Mann sagte doch auch: ‚Das [157] kommt davon, daß Walter hartnäckig keinen Nachhilfslehrer nehmen will. Die Jungen sind zu überbürdet, sie können es allein nicht leisten.‘ Also hat Ihnen der Herr Gemahl gar nichts gesagt? Nun vielleicht hat er Fritz gehörig vorgenommen und es wird auf Ostern anders, wir wollen das Beste hoffen!“

Und die kleine runde Frau trippelte hinaus mit einem schönen Gefühl von Befriedigung im Herzen.

Emmy stand sprachlos. Eine ahnungsvolle Beklemmung preßte ihr das Herz zusammen, sie suchte und suchte nach einer Erinnerung, allein es wollte keine kommen. Nein – sie hatte zu Weihnachten kein Zeugniß gesehen – und sollte Hugo ihr eine Unannehmlichkeit verschwiegen haben? Es wäre das erste Mal! Viel näher lag, daß der unglückliche Junge das Zeugniß unterschlagen hatte.

Ja, nun erinnerte sie sich ... er hatte am Heiligen Abend gesagt, die Zeugnisse würden diesmal erst nach Neujahr ausgegeben, und später, unter den verschiedenen Vergnügungen und Zerstreuungen des Winters, war die erneute Nachfrage vergessen worden! Aber – ununterschrieben durfte er es ja gar nicht ins Gymnasium zurückbringen! ...

Der Gedanke fiel ihr plötzlich wie ein Hammer aufs Herz und schlug sie völlig nieder. Ach – nur das nicht, nur nicht ihr Kind ein Lügner und Betrüger! Er war doch immer ein so guter kleiner Junge gewesen ... nein, es konnte nicht so sein, es mußte sich anderweitig aufklären!

Allein die Bangigkeit wollte trotzdem nicht weichen, und die Zeit bis zu seiner Heimkehr am Mittag schien der armen Mutter endlos lang. Endlich ertönte die Klingel, aber nicht Fritz, sondern ihr Gatte erschien diesmal zuerst. Er war sichtlich guter Dinge, ging mit seinem hübschen elastischen Gang auf sie zu und sagte sehr lebhaft:

„Wie wäre es, Schatz, wenn wir während der Ostertage einmal ausspannten, um uns Nürnberg anzusehen? Es war ja schon lange unser Wunsch, nun könnten wir’s einmal ausführen.“

„Wie kommst Du eigentlich darauf?“ fragte sie erstaunt.

„Es trifft allerhand zusammen,“ versetzte er vergnügt. „Ein paar von meinen Bekannten gehen hin, auch Linchen Wiesner hätte Lust dazu; es giebt zudem einen billigen Sonderzug zu den Feiertagen – den Francis könnten wir ja auch mitnehmen – nun, und der Gedanke, wieder einmal herauszukommen aus dem täglichen Einerlei, ist ebenfalls so übel nicht. Und der Finanzminister erlaubt es, das ist die Hauptsache! Also ich denke, wir entschließen uns.“

„Ach Hugo –“ sie wußte nicht, wie sie es am besten angreifen sollte, und zögerte – „ich meine, wir dürfen nicht so viel an uns denken. Die Kinder –“

„Nun, die sind wahrhaftig groß genug, um einmal drei Tage allein zu bleiben. Die kleinen hütet Gustel, und Fritz kann einen Ausflug mit Kameraden machen!“

„Ach, Hugo, gerade für Fritz wäre eine größere Ueberwachung nothwendig –“

Sein Gesicht verfinsterte sich. „So, und was giebt es denn wieder mit ihm?“ fragte er scharf.

Erschwerte Arbeit.
Nach einem Gemälde von H. Oehmichen.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.


Stockend und zögernd brachte Emmy, was sie von Frau Hoffmann gehört, in möglichst milder Form heraus, aber ein fürchterlicher Ausbruch erfolgte doch unmittelbar. Hugo wüthete über den ungerathenen heuchlerischen Jungen, von dem man nur Aerger und Schade erleben werde. Natürlich mußte er die Unterschrift gefälscht haben – „her mit ihm, auf der Stelle her, zur Verantwortung!“

„Laß noch das Mittagessen vorübergehen,“ flehte Emmy, „Francis braucht davon nichts zu wissen; hernach wollen wir mit Fritz reden.“

Da es schon nahe an ein Uhr war, fügte sich der Gatte. Aber heiter war dieses Mittagessen nicht. Fritz sah furchtsam auf die wolkenumzogene väterliche Stirn, Emmy blieb schweigsam, sie lachte nicht einmal mit, als Francis seinen Vorsatz aussprach, sich zu dem bevorstehenden Ausflug einen kleinen „männlichen“ Koffer anzuschaffen und bemerkte kaum Majas warme Schmeichelhände, die ihr das Gesicht streichelten: „Nit bös sein, Mamale, dleich freundliches D’sichterl machen!“

Endlich, endlich war das Essen vorbei, ein scharfer Ruf des Vaters wies Fritz hinüber in den Salon, und dort stand er nun vor seinem Richter.

Das böse Gewissen sprach aus seinen unruhig hin und her fahrenden Blicken, doch versuchte er den Unbefangenen zu spielen, konnte sich erst gar nicht erinnern, das Zeugniß nicht gebracht zu haben, versuchte dann mit weltmännischer Leichtigkeit zu sagen: „Ach, das habe ich dann eben ganz vergessen!“ verstrickte sich, während des Vaters Stimme immer drohender klang, in einfältiges Leugnen, und erst, als ihm dieser seine Begleitung für heute ankündigte, um bei dem Direktor jene Unterschrift nachzusehen, da brach seine Keckheit zusammen. Heftig weinend gestand er, aus Furcht vor dem Papa die Unterschrift selbst gemacht zu haben, „denn es hilft ja doch nichts,“ fuhr er heulend fort, „ich kann nicht mit den anderen vorwärts kommen, die haben alle Nachhilfslehrer und ich nicht!“

Außer sich vor Wuth hob Walter den Arm, Emmy aber, die in bitterem Mutterschmerz seither still dabei gestanden hatte, griff nach seiner Hand und zog sie nieder. „Hugo, ich bitte Dich!“

Die flehende Stimme blieb nicht ohne Wirkung.

„Gut denn,“ sagte er mit gerunzelten Brauen und einem verachtungsvollen Blicke auf den vernichtet Dastehenden, „er soll nicht geschlagen werden, der ehrlose Fälscher. Allein strafen will ich ihn, daß er es spüren soll! Kein Vergnügen mehr das ganze Vierteljahr bis zum Schulschluß – hörst Du? – nur noch Arbeit von morgens bis abends. Wenn die anderen spazieren gehen, machst Du Dich hinter die Bücher, um das Versäumte nachzuholen, und am Sonntag bleibst Du daheim, und wehe Dir, wenn Du die Schlußprüfung nicht bestehst!“

Wieder fühlte er den sanften Druck auf seinem Arme, er hielt also mit weiteren Androhungen vorerst inne, betrachtete voll verbissenen Grimms die energielos hängenden Mundwinkel und rothgeschwollenen Augen des armen Sünders und setzte endlich hinzu: „Mein Sohn wirst Du erst wieder sein, wenn ich Reue [158] und Besserung bemerke. Nimm Dich zusammen, ich rathe Dir’s! Bei dem ersten Anstoß setzt es fürchterliche Hiebe. Nachhilfestunden bekommst Du nicht; wenn Du zu dumm zum Studium bist, dann kannst Du Steine klopfen!“

Ein neues Verzweiflungsgeheul war die Antwort. Emmy, selbst in Thränen, flüsterte Fritz zu: „Bitte den Papa um Verzeihung!“

Er bog den Arm vor das Gesicht und schluchzte weiter.

„Schick’ ihn hinaus,“ sagte Walter rauh, „ich mag ihn heute nicht mehr vor Augen haben!“

„Du trägst die Hauptschuld,“ fuhr er auf, als sich die Thür kaum hinter Fritz geschlossen hatte, „mit Deiner ewigen Nachsicht und Schwachheit gegen den Buben! Da hast Du’s nun! Ein elender Lapps ist er geworden, ein Dämel, der nicht einmal den Muth seiner Schlechtigkeit hat. Aber ich will ihm kommen, ich will ihn –“

Emmy sah den wüthend Auf– und Abrennenden mit entgeisterten Augen an. „Ich, Hugo? Aber um Gotteswillen, ich kann doch seine Ausgaben nicht mehr überwachen! Viel eher“ – ihr Muth wuchs über dem ungerechten Angriff – „viel eher solltest Du Dir selbst Vorwürfe machen, denn Du kümmerst Dich nicht darum, ob er seine Arbeiten richtig macht oder nicht. Die anderen haben ihre Nachhilfe –“

„Nenne mir das Wort nicht!“ rief er, zornig mit dem Fuße stampfend. „Ein tüchtiger Junge braucht keine Nachhilfe, die Klassenaufgaben sind nicht zu groß; die unserigen waren ganz ebenso, und wir haben sie gemacht. Wer überhaupt denken kann, der kann auch Regeln lernen und sie anwenden. Aber, der Bursche ist ja so zerstreut, daß er nicht hört und sieht –“

„Und das stört Dich erst, wenn wie heute eine schlimme Folge daraus entsteht! Ein Vater müßte sich mehr um seinen Sohn kümmern, als Du es thust, Hugo! Was weißt Du denn von seinem innern Leben, von seinen Neigungen und Interessen? Nichts! Du läßt ihn so neben Dir hergehen, bis ein Anlaß zum Strafen kommt, dann merkt er, daß er einen Vater hat. Und das ist dasselbe Kind,“ fuhr sie nach einer Pause ergriffen fort, „dessen erste Schrittchen wir mit Entzücken überwachten, für dessen geistiges Wohl in den ersten Jahren aufs ängstlichste gesorgt wurde! Sollen wir nun, wo er eine moralische Stütze braucht, nicht die Sorge und Liebe verdoppeln, hätten wir nicht nach jenem Zeugniß noch einmal fragen müssen? Ich kann mir nicht helfen, Hugo – der Fehler muß an uns ebenso liegen wie an dem Jungen. Pflichtgefühl ist eine Frucht der Erziehung, wir sind offenbar noch keine hinlänglich guten Erzieher.“

„Warum nicht gar!“ fuhr er auf. „Glaubst Du, daß meine Eltern, die ganz vorzügliche Erzieher waren, uns den ganzen Tag beobachtet und beaufsichtigt hätten? Fiel ihnen gar nicht ein! Aber wir waren tüchtige Burschen und brachten unsere Sachen allein fertig.“

Emmy ergriff seine Hand und sah ihn bittend an. „Bedenke doch einen Augenblick, Hugo, wie verschieden Euer Leben in der kleinen Landstadt war von dem heutigen hier. Ein Schultag verlief Euch wie der andere, Eure Aufgabenzeit blieb ungestört, Vergnügen hieß Euch Baden im Sommer, Schneeballenwerfen im Winter, Euer Lebenskreis, wie der Eurer Eltern, war ein eng umgrenzter, auch für sie war, ob sie es Euch zeigten oder nicht, das vornehmste Interesse der Gang Eurer Entwicklung. Und nun vergleiche unser Heute! Mit Deiner Bewilligung hat Fritz diesen Winter verschiedene Theater, eine Anzahl von Kindergesellschaften besucht, er läuft an den freien Nachmittagen den weiten Weg aufs Eis, liest leidenschaftlich Bücher, die ihn zerstreuen, durch Francis’ Gegenwart im Hause wird ihm eine Menge von Dingen zugänglich, an die ein Junge in seinem Alter nicht denken sollte – heißt es da nicht Charakter und Pflichtgefühl eines Erwachsenen voraussetzen, wenn man bei alledem ohne besondere Mahnung und Beaufsichtigung tadellose Arbeit von ihm verlangt? Warum sind denn jetzt die Klagen über das schlechte Lernen so allgemein? Sicher deshalb, weil eine allgemeine Ursache zu Grunde liegt!“

Hugo dachte ein Weilchen nach. „Es ist etwas dran,“ sagte er dann gemäßigter. „Aber wir stehen nun einmal in diesen Verhältnissen. Was thun, um da abzuhelfen?“

„Ich habe schon oft darüber nachgedacht: es giebt nur zwei Wege, entweder mit Gesellschaft, Vergnügen und Zerstreuung brechen und um der Kinder willen ein ganz zurückgezogenes Familienleben führen -“

„Oder? –“

„Oder thun wie die anderen und den Nachhilfslehrer nehmen, der den zerstreuten Kopf zu bestimmten Stunden wieder zusammenfaßt und die Leistungen erzielt, die nun einmal zum Vorwärtskommen gefordert werden.“

„Nein und abermals nein – dazu entschließe ich mich nicht. Und es ist auch nicht nöthig. Mindestens zwei Drittel der Klasse haben keinen Hilfslehrer und kommen doch vorwärts.“

„Die sind dann gescheiter oder fleißiger als Fritz! Erinnere Dich, was der alte Rektor Müller sagte: ‚Wer nicht besonders begabt, aber tüchtig fleißig ist, kommt durch. Wer begabt und faul ist, kommt ebenfalls durch. Nur wer sowohl unbegabt als faul ist, bleibt sitzen, und dem geschieht sein Recht!‘“

Hugo dachte nach. „Gut!“ sagte er endlich, „man muß den Burschen offenbar besser unter Aufsicht halten. Ich werde mich von jetzt an um seine Aufgaben kümmern.“

„Aber nicht gleich so heftig werden, Hugo, wenn er etwas versehen hat!“

„Dafür laß mich sorgen! Und die Vergnügungen – na, die werden wir ihm kurz beschneiden, dafür will ich gut stehen!“

Gerade wollte ihm Emmy zu bedenken geben, daß ein reines Arbeitsleben ohne Abwechslung und Erholung doch für ein Kind von zwölf Jahren eine strenge Sache sei, da ertönten draußen rasche Schritte und einen Augenblick später streckte Karoline Wiesner den Kopf zur Thür herein.

„Seid Ihr noch sichtbar vor dem Mittagschläfchen? Schön! Ich wollte nur sagen, daß ich mitgehe, will einmal wieder leichtsinnig sein. Und der Thormann ist auch dabei.“

„Wobei?“ fragte Emmy erstaunt.

„Nun, bei dem Nürnberger Ausflug – redet Ihr denn nicht gerade auch davon? Dein Mann ist ja der Urheber der Geschichte.“

„Freilich, ich sagte es Emmy vorhin,“ versetzte Walter etwas verlegen, „aber sie will die Kinder nicht so lange allein lassen.“

„Na, höre einmal!“ rief die Malerin eifrig, „das geht über das Maß! Solche Püppchen sind sie nicht mehr! Das würde ja den ganzen Spaß verderben. Allein kann ich doch nicht mit dem Thormann in die Welt fahren – hahaha!“ lachte sie belustigt, „da müßt Ihr schon als Ehrenwache mit!“

„Mein Mann begleitet Euch,“ erwiderte Emmy schnell. „Ich kann wirklich in der nächsten Woche nicht fort, Linchen, aber er hat in letzter Zeit soviel Arbeit und Aerger gehabt, ihm wird es recht gut thun. Nicht wahr, Hugo?“

„Immer Opferlamm!“ dachte Linchen mit stillem Aerger. „Und mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Hausgötze seinen Kultus annimmt. Ich sage es ja immer, die Ehe wirkt verderblich auf den Charakter!“

Der Götze hatte inzwischen doch ein paar kleine Gewissensbisse und hob an: „Nein, wenn Du nicht mitgehst, Emmy“ – allein sie ließ ihn nicht ausreden, bewies ihm mit den besten Gründen, daß es Pflicht der Selbsterhaltung für ihn sei, manchmal auch an sein Vergnügen zu denken, und bewog ihn denn nach kurzer Zeit schon, dies Opfer für seine Familie zu bringen.

„Ja – und Thormann?“ fragte sie zuletzt, indem sie der Freundin bedeutungsvoll in die Augen sah. „Ich wartete die ganze Zeit her auf eine ganz andere Neuigkeit. Und jetzt reist er so ohne weiteres?“

„Er reist – ich denke jedoch, er kommt wieder. Das ist ein unbegreiflicher Mensch; rein unmöglich, etwas von seinen Vorsätzen aus ihm herauszubringen.“

„Linchen, Linchen,“ drohte der Gerichtsrath, „mir scheint, Sie haben sich mit strafbarem Eifer der Leidenschaft des Heirathstiftens ergeben.“

„Hat sich was! Das wären die rechten Leute dazu! Vilma ist ja auch ein ganz undurchdringliches Geschöpf, heute voll Antheil und morgen wieder hundert Stunden davon entfernt. Vor ein paar Wochen, ja, da glaubte ich auch, die Geschichte sei im Gange, da kam er viel in mein Atelier, ersichtlich um ihretwillen, ließ sogar die Cigarre draußen, was für ihn sehr viel ist, und sah, wenn er mit ihr sprach, ordentlich hübsch und jung aus.“

„Und sie?“ fragte Emmy.

„Na, weißt Du, sie kann ja rein bezaubernd sein, wenn sie lebhaft wird, sie hat eine Anmuth in Blick und Lächeln, daß man [159] darüber verrückt werden möchte. Ich würde es ganz gut begreifen, wenn ihretwegen fortwährend Mord und Totschlag unter den jungen Leuten wäre.“

„Davon hört man bis jetzt nichts,“ lachte Emmy, „nicht einmal von Verlobung, was immerhin mit weniger Lebensgefahr verknüpft wäre!“

„Ja, ’s ist unbegreiflich. Manchmal ist sie plötzlich ganz verwandelt, und ich habe nur eine Erklärung dafür. Vilma kann sich offenbar nicht wirklich für einen erwärmen, sie ist eine so seltsame Natur, ihrer ungeheuren Anziehungskraft gar nicht bewußt; wenn sie dann ernsthafte Absichten merkt, schreckt sie zurück.“

Emmy lachte laut. „O Linchen, Linchen! Die schöne Vilma erwärmt sich für zu viele, da steckt der Haken, glaube mir! Diese räthselhafte Natur ist eine ganz gewöhnliche Kokette, die nach einer möglichst guten Partie fischt. Unser Francis zappelt auch bereits an der Angel, ich kann aus genauer Beobachtung reden.“

„Der grüne Bursche!“ fuhr Linchen entrüstet auf. „Was kann Vilma dafür, wenn er sich in sie vernarrt! Der kann ja doch wahrhaftig als Partie nicht in Betracht kommen! Da siehst Du, wie ungerecht Du bist!“

„Nun,“ meinte Walter, „als Reserve ist er doch nicht zu verachten! Es haben Jüngere geheirathet, und seine Eltern sind sehr reich.“

„Jetzt fangen Sie auch noch an!“ rief die Malerin bitterböse. „Schämen Sie sich, so Ihrer Frau nachzureden! Früher sahen Sie doch Vilma mit günstigen Augen an!“

„O, das thut er noch!“ versetzte Emmy. „Sogar sehr!“

„Versteht sich,“ ergänzte er. „Sie ist ein reizendes Geschöpf. Wissen Sie was, Linchen? Bereden Sie Vilma, mit uns zu gehen, dann bringen wir in Nürnberg die Partie zustande und kehren triumphierend mit dem Brautpaar heim.“

„Sie sind mir ein schöner Diplomat! Thormann und beeinflussen – der würde uns auf dem Bahnhof umkehren, wenn er so was merkte! Nein, da ist nichts zu machen, das muß man rein gehen lassen und abwarten was daraus wird.“

„Trösten Sie sich, Verehrteste, das machen Größere als wir ebenso, und das nennt man dann die feinste Kunst der Diplomatie,“ sagte Walter gutgelaunt. Emmy war glücklich, ihn wieder so heiter zu sehen, sie hatte ja immer das Bestreben, ihm Aerger zu ersparen. So wandte sie denn jetzt auch nichts ein, als er darauf bestand, sie müsse als kleine Entschädigung für Nürnberg heute mit ihm ins Theater, die neue Schauspielerin sehen, welche die ganze Stadt entzückte.

Von Fritz war an diesem Nachmittag nicht weiter die Rede.




10.

Ostern war vorüber, auch die am längsten hinausgeschobenen Bälle waren abgetanzt. Die stille Saison, wo fleißige Hausmütter aufräumen, Töchter verdrießlich über die Leere des Lebens nachdenken und die Hausväter schweigend damit beschäftigt sind, die Karnevalsbilanz zu verwinden, diese für Stadtmenschen so uninteressante Zeit war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Draußen indessen blaute der Himmel mit jedem Tage lachender, die milde Luft wehte über junges Saatengrün und allmählich brach ein Frühling herein so golden und herzerfreuend, als wolle er den Menschen zurufen: „Kommt heraus, werft euren Kram und Sorgenpack hinter euch und athmet einmal wieder meine Luft!“

Emmy glaubte eines Morgens, als das Himmelsblau so verlockend über den Dächern stand, den Ruf deutlich zu hören, und eine große Sehnsucht nach jungem Grün und selbstgepflückten Blumen erfaßte sie. Sie sprach also mit ihrem Manne, lief zu Linchen Wiesner und schickte dann in der Bekanntschaft herum, einen großen Ausflug nach Eschenlohe auf den folgenden Morgen anzusagen. Großes Entzücken der jungen Damen belohnte diese That, freilich etwas getrübt durch die Ueberlegung, daß die neuen Frühlingstoiletten allerseits noch nicht fertig waren. Aber das Vergnügen überwog, trotz der vorjährigen Kleider, und so stand denn am Sonntag Morgen ein stattliches Häuflein von Müttern, Töchtern und begleitenden Jünglingen erwartungsvoll am Endpunkt der Pferdebahn. Väter waren nicht zu sehen, das Frühlingsgrün schien für sie wenig Verlockendes zu bieten, selbst der Medizinalrath hatte die Theilnahme mit einer schnöden Bemerkung über das Eschenloher Bier abgelehnt.

Um so größer stand Walter da, der zweifellose Damenfreund, er erntete auch soviel Lobeserhebungen von älteren und jüngeren Lippen, daß er sich bald mit dem Gedanken aussöhnte, als Anführer dieser versammelten Weiblichkeit voranschreiten zu müssen. Und als nun vollends dem eben heranrollenden Wagen der Pferdebahn noch Thormann entstieg, da hatte Walter augenblicklich sein ganzes Gleichgewicht wieder und gab vergnügt das Zeichen zum Abmarsch. Auf jenem hübschen Nürnberger Ausflug vor einigen Wochen hatten sich die beiden ungleichartigen Männer merkwürdig gefunden: auf den stets etwas anerkennungsbedürftigen Walter machte Thormanns gelassenes In-sich-beruhen großen Eindruck, dieser dagegen sah voll Wohlgefallen die lebhafte noch jugendliche Art des andern und sein hübsches Gesicht. Daß Walter ein paar Jahre mehr zählte als er selbst, machte die Empfindung nur angenehmer. Man war also mit Vierzig doch noch nicht so alt, wie er sich selbst manchmal vorkam!

Nachdem die Vorstellung und ein allseitiges Händeschütteln vorüber war, wanderte die Gesellschaft, in kleine Trupps getheilt, an dem Flußufer einen Wiesenpfad entlang, der bald in den Wald einmündete. Emmy ging mit Elisabeth und Moritz voran, ihr hatte sich Paula von Düring angeschlossen, dann kam die Hauptgruppe. Vilma in einem allerliebsten röthlich gefütterten Sommerhut, der ihr Gesichtchen wie mit einem Glorienschein umrahmte, in reizender heller Toilette, umgeben von dem Schwarme ihrer Getreuen und ein paar jungen Mädchen, welche es rathsam fanden, sich stets der Gefeierten nahe zu halten. Hinter ihnen, auf Hörweite, gingen Walter und Thormann.

Vilma fühlte eine lebhafte Erregung. Also doch noch, trotz der Kühle der letzten Wochen zog es ihn wieder in ihre Nähe! Nun, der heutige Tag sollte nicht verloren gehen ... Es war wohl ein Fehler gewesen, auf jenem Ball zu bestehen sie sah das hinterher ein, vermuthlich hielt er sie für allzu vergnügungssüchtig, der schwerfällige Pedant! Er war ja seitdem wie verwandelt, fremd und wortkarg, und ließ sich wochenlang nicht mehr blicken; sie hatte ihre Ungnade nicht einmal anbringen können. Allein jetzt, da er doch wieder kam, fühlte sie neue Zuversicht. Heute, hier in der Waldstimmung, im Zusammensein für einen ganzen Tag, heute mußte es glücken. Er sollte nur anfangs sehen, daß andere sich um sie bemühten: ein wenig Eifersucht ist solch einem schwierigen Herrn sehr gesund. Dann aber – – Vilma öffnete die großen Augen weit und spann den Gedankenfaden im stillen fort. Sie hörte nur mit halbem Ohr auf das Geplauder ihrer Umgebung und den enthusiastischen Ruf von Francis: „O sehen Sie doch, wie wundervoll diese grüne Färberei auf den Wald und die Wiesen!“

Weiter rückwärts wandelte eine Gruppe der Unzufriedenen: Frida Gersdorff, Helene Hoffmann nebst ein paar anderen, unter fühlbarem Mangel an Kavalieren. Die erstere ärgerte sich wieder einmal namenlos über Vilma, aber sie hielt sich einstweilen in gesetztem Gespräch zu Karoline Wiesner; im stillen hoffte sie, der wechselnde Weg werde bald eine andere Vertheilung und den Künstler, für den sie schwärmte, an ihre Seite bringen.

Als Nachhut kamen dann noch verschiedene Mütter, unter ihnen Frau von Düring und Frau Hoffmann, deren hoffnungsvolle Söhne sich um Hedy und einige andere Backfischchen scharten. Auch Fritz bewegte sich hier in großer Unbefangenheit. Der Zorn seines Papas war freilich angesichts des elenden Osterzeugnisses noch einmal hoch aufgeflammt und hatte eine Aera großer Strenge erzeugt, in welcher die abendliche Nachhilfe meistens mit Ohrfeigen und Geheul zu endigen pflegte. Dann kamen ein paar Gelegenheiten, wo der Vater, ohne sich lächerlich zu machen, nicht am Stammtisch fehlen konnte, und siehe da! gerade an diesen stillen Abenden arbeitete Fritz sehr gut. Nun war es klar: er konnte, wenn er wollte, der leichtsinnige Bengel! Man mußte ihn also nur in der Furcht des Herrn erhalten und das besorgte die väterliche Gewissenhaftigkeit mit reichlichen Drohungen bei jedem Anlaß. Im übrigen kehrte allmählich alles ins frühere Geleise zurück. Gegen die beschämenden Freiheitsstrafen hatte das besorgte Mutterherz, als gegen eine Schädigung von Fritzens [160] Ehrgefühl, Verwahrung eingelegt; sie waren zwar nicht ausdrücklich zurückgenommen, aber stillschweigend beiseite gesetzt worden. Infolgedessen spazierte der junge Herr heute sehr vergnügt im junggrünen Buchenwald an der Seite seines Freundes Oskar und erwiderte dessen Aufschneidereien mit wahrheitsgetreuen Berichten über die Großartigkeit amerikanischen Lebens. Denn darin war er diesem blasierten, absprechenden Oskar doch endlich einmal gründlich über: er hatte einen Amerikaner und jener hatte keinen!

Bei dem Vortrab war mittlerweile die von Frida ersehnte Auflösung der Gruppen eingetreten. Eine Waldwiese, bunt von tausend Blumen, that sich auf, und im Nu eilten die Mädchen zum Pflücken, die jungen Herren, eifrig zur Unterstützung hinterher. Vilma bemühte sich nicht viel selbst, sie bezeichnete ihren Verehrern das Wünschenswerthe und entsandte den hartnäckigsten, Francis, an den entfernten Waldrand nach goldgelben Ranunkeln. Dann beugte sie sich über einige Federnelken am Wege und richtete sich eben wieder vom Pflücken auf, als Walter und Thormann herankamen.

„Nun, Fräulein Vilma,“ sagte der Landgerichtsrath scherzend, „warum widmen Sie sich heute so ausschließlich jenen grünen Jünglingen? Dürfen andere Leute nicht auch einmal das Glück Ihrer Gegenwart genießen?“

„Andere Leute scheinen wenig Bedürfniß danach zu haben,“ erwiderte sie leichthin im Weitergehen, „da sie sich durch politische Gespräche von der übrigen Menschheit absondern. Guten Morgen, Herr Thormann!“ Sie bog sich vor und sandte ihm unter dem Hute hervor einen schalkhaft lächelnden Blick zu. „Ich dachte, Sie seien mit der Studienmappe längst über alle Berge!“

Dieser Ton völliger Unbefangenheit nach der Spannung,, die in der letzten Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte, war ihm sehr erfreulich. So hatte sie also verstanden und – überstanden, wenn je etwas zu überstehen war!

„Nein, ich bin immer noch da,“ entgegnete er heiter. „Uebrigens suchte ich vor einer halben Stunde bereits meinen Gruß anzubringen, gnädiges Fräulein; Sie waren aber so in Anspruch genommen, daß sie es nicht bemerkten.“

Ausgezeichnet - er war eifersüchtig! Vilma fühlte eine Anwandlung, sich vor Vergnügen auf dem Absatz herumzudrehen. „Ach,“ sagte sie unschuldig mit einem verhaltenen Lächeln, „Sie meinen Mister Weston –“

„Ihren glühenden Verehrer!“ schaltete Walter ein.

„Er ist ein so drolliger Junge,“ lachte sie jetzt unbefangen, „und er spricht ein so wundervolles Deutsch. Ich bemühe mich stets, ihm ein besseres beizubringen. Da haben Sie das ganze Geheimniß unserer Beziehungen, Herr Rath! Uebrigens – wandte sie sich nun an Thormann, „wo ist denn Sigrid? Warum haben Sie das Kind nicht mitgebracht?“

„Sie ist weite Wege noch nicht gewohnt, ich fürchtete, sie könnte lästig fallen.“

„O – die süße Kleine! Wie mögen Sie nur so etwas sagen? Schicken Sie sie mir morgen, ich will sie ein wenig über ihren grausamen Papa trösten. O – danke!“ Das galt Francis, der mit langen Sätzen, einen Busch Ranunkeln in der Hand, über die Wiese kam. „Nun auch noch von jenen rothen dort, bitte!“

„Er apportiert wirklich ausgezeichnet,“ sagte Thormann sarkastisch, dem aufs neue Enteilenden nachblickend, „Sie verstehen Ihre Leute zu ziehen, Fräulein Vilma.“

„Warum lassen sie sich’s gefallen! Man behandelt jeden so, wie er selbst es haben will.“

„Aber man übt doch nicht ungern das angeborene Herrschtalent an fügsamen Unterthanen!“

„Da sind Sie stark im Irrthum,“ sagte sie mit einem eigenthümlich leuchtenden Blicke. „Ich möchte sehr gern einmal jemand finden, der es verstände, mich zu beherrschen, aber das ist mir allerdings bis jetzt nicht gelungen …“

Bei dieser Wendung des Gesprächs hielt es Walter für angezeigt, etwas zurückzubleiben, um den rückkehrenden Francis rechtzeitig abzufassen. Die beiden vor ihm gingen schweigend ein Stückchen weiter; Thormann überlegte noch eine harmlose Antwort auf das eben Gehörte, als sie plötzlich, um eine Waldecke biegend, die ganze vorangegangene Gesellschaft vor einem Hinderniß versammelt fanden. Man war an der verhängnißvollen Stelle angekommen, wo die Quellenwasser der Schutthalde, zum Bächlein vereinigt, mit ländlicher Unbefangenheit über den Weg strömten. Ein Bauernstiefel kam leicht hindurch, deswegen war bisher niemand in der Umgegend darauf verfallen, ein Brett zu legen. Deuteten ja doch ein paar hineingeworfene große Steine zu allem Ueberfluß klärlich die Richtung des Durchganges an!

Der leichtfüßigste Theil der Gesellschaft, die Jungen und Backfische, setzten bereits, mit großen Sprüngen über; die anderen standen da und betrachteten, je nach der Verfassung ihres Temperaments und Schuhwerks, mit Lachen oder Entrüstung das ansehnliche Wasserband. Nun kamen auch die Mütter heran, und es folgte eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung und nervösen Aufschreiens, bis die Damen, von rettenden Männerhänden unterstützt, die gefährliche Untiefe passiert hatten. Am schlimmsten stellte sich Frau von Düring an, sie hatte schon vorher durchaus umkehren wollen, nun stand sie, hinaufgehißt, hilflos auf dem ersten Steine und erklärte, „positiv“ nicht weiter zu können. Auch Vilmas scharfer Zuruf: „Mach’ Dich doch nicht lächerlich, Mama!“ erhöhte ihre Zuversicht nicht, sie schwankte, griff in die Luft und trat mit einem lauten Schrei mitten ins Wasser. Thormann eilte herbei, doch schon war Paula, die sich rasch über die Steine hinühergeschwungen hatte, bei ihr, half ihr heraus und zog sie hinüber aufs Trockene.

„Es ist empörend,“ rief die erhitzte, dicke Frau, „uns solch einen Weg zu führen. Das ist gar kein Weg, das ist ein Skandal! Ich habe mir den Tod geholt, positiv den Tod!“

Paula nahm sie tröstend abseits, rieb den nassen Stiefel mit Laub und Gras und versicherte ihr, daß der Fuß im Gehen bald genug trocknen werde.

Derweil stand Vilma immer noch am jenseitigem Ufer und wies jede dargebotene Hand mit einem unmuthigen: „Erst alle anderen!“ ab. Endlich bat sie Thormann, vorauszugehen und ihr nur drüben zum Emporschwingen die Hand zu reichen. Dann faßte sie geschickt ihr Kleid zusammen und balancierte mit Leichtigkeit von einem Steine zum andern. Aber fast drüben angelangt, schien sie einen Fehltritt zu thun, sie schwankte, streckte beide Hände gegen Thormann aus und er, rasch zugreifend, hob sie mit einem starken Ruck den kleinen Abhang herauf; für einen Augenblick ruhte sie an seiner Brust, bis sie wieder Fuß fassen konnte. Wie in rathloser Verlegenheit wandte sich Vilma rasch ab, den anderen Mädchen zu, während er, langsam folgend, noch den blitzschnell vorübergegangenen Eindruck der weichen jungen Glieder in seltsamer Verwirrung nachempfand …

„Es ist das Blut –“ murmelte er durch die Zähne leise vor sich hin, „das Blut! Hüte dich!“

Und er schritt, der jungen Gesellschaft ausweichend, längere Zeit einsam dahin, bis endlich der Kirchthurm von Eschenlohe in Sicht kam. Ein Stück weiter rückwärts folgte Paula, geduldig ihre ächzende, des Gehens ungewohnte Mutter führend. Sie war, mit dieser aus dem Gebüsch tretend, Zeugin der kleinen Scene am Wasser geworden, und das Herz schwoll ihr vor Scham und Entrüstung, denn sie wußte, wie unfehlbar sicher Vilma ihrer Sprunggelenke war, wenn sie wollte. O, nur fort, nur bald fort, um alles dies nicht mehr sehen zu müssen! –

Umblickend gewahrte Thormann die beiden Nachzüglerinnen und blieb stehen, sie zu erwarten. Er wäre längst gerne einmal mit dieser seltsamen Paula ins Gespräch gekommen, die im Salon ihrer Mutter niemals zu finden war, aber er merkte bald, daß die Gegenwart der Frau von Düring das unmöglich machte. Die Dame nahm ihn ganz in Beschlag, strömte über von Liebenswürdigkeiten, pries ihn und sein Kind, das ja auch Vilma so zärtlich liebte, ihre einzige Vilma, dieses Kleinod mit der engelsguten Seele … Dsnn fragte sie umständlich nach seinem neuen Haus und spielte recht deutlich auf eine künftige Hausfrau an, kurz, sie that alles, um das Mädchen an ihrer Seite in bittere Qualen zu stürzen und dem wortkargen Manne einen sehr übeln Eindruck zu machen. Paula wagte nicht, ihn anzusehen. „Er verachtet uns,“ dachte sie, „und mit Recht!“

(Fortsetzung folgt.)




[161]

Brünhilde erblickt Siegfried an der Seite Gutrunes.
Nach dem Gemälde von Th. Pixis.

[162] ----

Blätter und Blüthen.


Zum Gedächtnis Rossinis. Als Sohn eines fahrenden Musikers und einer Sängerin wurde Rossini vor hundert Jahren, am 29. Februar 1792, zu Pesaro im Kirchenstaate geboren. Glücklicher als so mancher reiche Geist, verstand er es, der Begabung den Erfolg, den Blüthen seiner Kunst goldene Früchte zu sichern – in London ließ er sich von seinen aristokratischen Gönnern und Gönnerinnen jede Einladung zum Thee mit 50 Guineen und die Leitung dreier Aufführungen im Theater mit 2500 Pfund bezahlen; von größerer Selbsterkenntniß als viele von denen, die den Ruhm gekostet haben, wußte er sein Schaffen abzubrechen in dem Augenblick, wo für ihn die Höhe erreicht war. Wohl bei keinem anderen hervorragenden Künstler werden sich die produktiven Jahre in einer langen Lebenszeit so auffallend vertheilen wie bei Rossini. Kaum hat er die nothdürftigste theoretische Schulung fürs Komponieren hinter sich, da wagt er sich schon an eine Oper, die 1810 in Venedig über die Bretter geht und wirklich durch eine nicht ungünstige Aufnahme das Wagniß des Achtzehnjährigen rechtfertigt. 1813 wird er durch seinen „Tankred“ berühmt und schreibt nun in den nächsten neun Jahren dreißig Opern, von denen ihn „Othello“ und vor allem der „Barbier von Sevilla“ auf den italienischen, damit aber auf allen europäischen Bühnen zum Herrscher machen. Mit dreißig Jahren scheint er seine Kraft erschöpft zu haben, seine Muse schweigt, bis er plötzlich, 1829, im „Wilhelm Tell“ sein Bestes giebt, um dann, von einigen Kleinigkeiten abgesehen, vierzig lange Jahre - bis zu seinem Tode - zu verstummen.

Zweierlei hat diesem außerordentlichen Komponistenleben den Stempel aufgedrückt: Talent und Klugheit. Die Begabung Rossinis war reich, war vielleicht von Natur dazu angethan, das wahrhaft Große auszuströmen, allein höher als der langsam reifende Lorbeer idealer Bemühung stand ihm der rasch gewonnene goldene Kranz des klug verwendeten Talents. Jeder nennt seine Zeit seine Mutter und erbt von ihr, nimmt Rücksicht auf sie – sei es aus Pietät oder aus kühler Berechnung; Rossini war der Mann der Klugheit und ließ sich durch diese bestimmen, dem Verlangen der Zeit entgegenzukommen. Man war in den blutigen napoleonischen Kriegen des Blutes und des Kriegs, des Ringens um die Existenz müde geworden, man wollte diese Existenz, nachdem man sie gerettet hatte, froh genießen, und so schuf Rossini denn jene sinnlich berauschenden Melodien, die ihm das Entzücken Europas einbrachten, die in Wien Beethoven und Weber verdunkelten. Der junge Komponist schrieb ferner für Italien und besonders für jene Truppe von Virtuosen, welche der Unternehmer Barbaja gesammelt hatte; Italien wollte italienische Musik, und er gab sie, freilich nicht ohne von Haydn und Mozart gelernt zu haben; die Virtuosen verlangten für ihre Rollen Bravourstücke und verwickelte Schnörkel, um ihre Fertigkeit spielen zu lassen – er bot ihnen, was sie suchten. Auf diese Weise fesselte er den Erfolg an seine Werke und doch wäre es gründlich falsch, in ihm nur den zu sehen, der den Effekt geschickt zu berechnen und seine Berechnung in Musik zu bringen verstand; in diesem Falle wäre er nichts geworden als ein Komponist von Namen, aber ohne Originalität, ohne Gehalt. Sein eigenartiges Talent bewahrte ihn vor einem solchen Schicksal, und wieder sein scharfer Verstand, der ihm die Gefahren bloßer Nachahmung deutlich genug zeigte und ihn das Wort sprechen ließ: „Die deutschen Tonsetzer verlangen, ich soll schreiben wie Haydn und Mozart. Wenn ich mir aber auch alle Mühe geben würde, so wäre ich doch ein schlechter Haydn und Mozart. Da bleibe ich lieber ein Rossini. Was der auch sei, etwas ist er doch, und ein schlechter Rossini bin ich wenigstens nicht.“ –

Rossini ist Weltmann auch in der Kunst, mit allem Licht und Schatten, die damit verknüpft sind: im Leben wie in seiner Musik reißt er hin durch geistreiche flüssige Art, durch sinnlich blendende Momente; der gesuchte Plauderer mit den kecken glänzenden Einfällen ist zugleich der Meister anmuthiger Modulation, sangreicher Erfindung; und wie ein viel in Anspruch genommener Plauderer sich nicht scheut, wenn er nur erneuter Wirkung sicher ist, Anleihen bei sich selbst zu machen, seine Pointen noch einmal zu bieten, so wiederholt sich Rossini in seinen Opern. Aber das hebt die Thatsache nicht auf, daß er bei all dem fortzuschreiten verstand. Obgleich er in erster Linie für die lyrische Empfindung, weniger für die erschütternde That, die dramatische Entwicklung den Ausdruck fand, so bedeutet sein Schaffen doch gegenüber den glatten Arbeiten seiner Vorgänger die Anbahnung größeren dramatischen Lebens, größerer Eigenart in der Oper, und sein „Tell“, der allerdings einen starken französischen Einfluß zeigt, erhebt sich zu überwiegender Freiheit von der Schablone, zu kraftvoller Gestaltung. Auf diese Weise hat Rossini der italienischen Oper, die bei seinem Auftreten in Gefahr war, ihre alte Führerrolle zu verlieren, zu neuem Aufschwung und neuen weitreichenden Siegen verholfen. Doch war es Frankreich, wo er den „Tell“ komponierte – er war 1824 als Direktor der Italienischen Oper nach Paris berufen worden und erhielt dort bald darauf die Stelle eines Generalintendanten der königlichen Musik – und auf französischer Erde, in Passy, starb er am 13. November 1868, nachdem er 1836 sein Vaterland wieder aufgesucht hatte, 1855 aber in die französische Atmosphäre zurückgekehrt war.


Das Ende einer Egmonterinnerung. (Zu dem Bilde S. 149.) In der Nacht vom 22. zum 23. Januar ist zu Brüssel ein Theil des Palastes des Herzogs von Arenberg ein Raub der Flammen geworden. Viele Kostbarkeiten und Kunstschätze sind mit verbrannt, vor allem aber ist auch das berühmte Egmontzimmer in den Gluthen untergegangen. In dem abgebrannten Theile des Palastes nämlich – auf unserer Abbildung rechts, zwischen den Säulen des Thores sichtbar – befand sich auch das Zimmer, in welchem Graf Egmont, der kühne Verfechter der niederländischen Freiheit, die letzten Tage vor seiner Hinrichtung am 5. Juni 1568 verbrachte, von dem aus er seinen Gang aufs Schaffot antrat. Es war von der Familie Arenberg, in deren Besitz das Schloß im Jahre 1753 durch Heirath der letzten Erbin aus Egmonts Hause mit einem Arenberg übergegangen ist, ganz in seinem ursprünglichen Zustande gelassen worden.

Um so mehr ist es zu bedauern, daß es jetzt der Vernichtung anheimgefallen ist. Von der Wendeltreppe, die der stolze Gegner des Herzogs Alba herabschritt, um seinen letzten Gang zu gehen, sah man in den Tagen nach dem Brande nur noch ein Stück der Rampe verkohlt im Schloßhof liegen.

Auf dem Platze vor dem Schlosse steht das Denkmal der beiden Märtyrer des niederländischen Freiheitskampfes, der Grafen Egmont und Hoorn. So ist dafür gesorgt, daß das Gedächtniß des edlen Helden an jener Stätte nicht verloren gehe, auch wenn die historischen Räume, die Zeugen seiner letzten Stunden, aus der Welt verschwunden sind. Und dann – Goethe hat ihm in seinem Drama ein Denkmal gesetzt, das dem Namen Egmont allein schon die Unsterblichkeit sichern würde, auch wenn die Geschichte nicht seinen Ruhm verkündigte.


Ein litterarisches Jahrbuch aus Oesterreich. Der Erste allgemeine Beamtenverein der österreichisch-ungarischen Monarchie läßt ein Jahrbuch, „Die Dioskuren“ (Wien, Karl Gerolds Sohn), erscheinen, dessen Reinertrag für den Fonds zur Errichtung einer höheren Töchterschule bestimmt ist. Es liegt uns der einundzwanzigste Jahrgang dieses Jahrbuchs (1892) vor. Ueber die Entwicklung und Thätigkeit des Vereins im Jahre 1890 bringt der Schluß des Jahrbuchs eine eingehende, an statistischen Angaben reiche Abhandlung. Den eigentlichen Inhalt bilden Gedichte, kleine Erzählungen, litterarische und einige naturwissenschaftliche Aufsätze. Besonders reichhaltig ist die Auswahl der Gedichte; der Senior der österreichischen Lyriker, Ludwig August Frankl, hat „allerlei Verse“ beigesteuert, darunter einige Sinnsprüche, so den über Verleumder:

„Verleumder sind wie die gereizten Bienen,
Du bleibe ruhig stehen unter ihnen;
Sie kreisen Honig sammelnd um dich her
und stechen dich nicht mehr.“

Auch Betty Paoli giebt ein lyrisches Lebenszeichen, ein Gedicht „Aufgegeben“, und ein paar Sprüche in Versen, unter denen der folgende bemerkenswerth ist:

„Es scheint wahrhaftig auf der Welt
Aufs beste Jegliches bestellt;
Die Kinder sind alle engelgleich,
Brautpaare alle gnadenreich,
Und scheidet einer aus dem Leben,
Hat’s keinen bessern je gegeben.
Bewundernd möchte man verstummen,
Nur eines wird mir hier nicht klar;
Wenn dem so ist, woher die Schar
Der Schlechten, Häßlichen und Dummen?“

Spruchweisheit ist das eigenste Gebiet der geistreichen Marie Ebner von Eschenbach. Diesmal hat sie einige Parabeln beigesteuert, denen es nicht an überzeugender Beweiskraft fehlt. Sehr treffend ist z. B. „Die Verfehmte“: „Wenn die Freuden Versammlung halten, findet so mancher verlotterte Gesell sich ein. Die hohen, die reinen gehen an ihm vorbei, zürnend gleichgültig, wohl auch mit einem mitleidigen Lächeln. Eine Freude nur wird immer hinausgeworfen, weil sie gar so gemein ist, die Schadenfreude.“ Cajetan Cerri hat Lyrisches und Didaktisches gegeben „Aus dem Wintergarten des Lebens“. Außerdem finden sich Gedichte von Stephan Milow, von W. Constant, August Silberstein, J. Tandler, Wilhelm von Wartenegg und mehreren bisher unbekannten Poeten; Eugenie delle Grazie hat lyrische Bruchstücke einer Herzenstragödie dargebracht und findet dabei Wendungen von schlagender Kürze wie die letzte Strophe des ersten Gedichtes:

„Fahr’ wohl – trifft dieses Wortes Strahl
Dich auch mit herber Pein –
Du wolltest es – mein war die Qual,
Sei nun die Reue dein.“

Von Martin Greif finden sich einige kleine Lieder, von Bertha von Suttner eine keck hingeworfene Salonnovelle, „Zwei Schwestern“. Ernst Gnad hat einen Aufsatz über Grillparzers „Des Meeres und der Liebe Wellen“ geschrieben. Dramatisches hat nur die kroatische Schriftstellerin Mara Cop-Marlet beigesteuert und zwar Scenen aus einem Trauerspiele „Der Bogumile“, das im 15. Jahrhundert in Bosnien spielt. Das Jahrbuch ist ein Zeugniß dafür, daß die Poesie in Oesterreich noch eine Fahne findet, um welche sich ihre Jünger gern versammeln. †     


Brünhilde erblickt Siegfried und Gutrune. (Zu dem Bilde S. 161.) Die Gestalten der Dichtungen Richard Wagners haben schon vielfach auch die bildenden Künstler zu Nachschöpfungen angeregt, und Theodor Pixis hat eine ganze Wagnergalerie geschaffen, von der unsere Leser schon früher, im Jahrgang 1891, S. 557, eine Probe erhalten haben. Auch unser heutiges Bild gehört dieser Reihe an; es ist der „Götterdämmerung“ entnommen und stellt den Augenblick dar, wo Brünhilde an Gunthers Seite der Halle der Gibichungen am Rheine sich naht, wo sie sich von Siegfried verrathen und verlassen sieht, wo sie den „stärksten Helden, den Wälsungensproß“ an der Seite Gutrunes erblicken muß. Aus Wotans Feuerzauber hat Siegfried Brünhilde erlöst und ihre Liebe gewonnen – aber ein Zaubertrank hat ihn ihrer vergessen und von Liebe zu Gutrune, König Gunthers Schwester, entbrennen lassen. Um diese sich

[163] zum Weibe zu erobern, hat er unter dem täuschenden Tarnhelm Brünhilde gezwungen, Gunthers Gattin zu werden. Aber der Ring, der verhängnißvolle Ring aus dem Nibelungenschatz, verräth ihn – und der Held verfällt der Rache der schwergereizten Wotanstochter.


Japanischer Firnißbaum in Deutschland. Der japanische Lack wird in gewerblichen Kreisen hoch geschätzt; er wird aus dem Safte eines in Japan wild wachsenden Baumes gewonnen, der Rhus vernicifera, der bald japanischer Firnißbaum oder Lackbaum, bald Giftesche genannt wird. Den letzteren Namen hat er darum erhalten, weil seine Ausdünstungen zur Zeit der stärksten Vegetation im Frühling bei empfindlichen Personen Hautentzündungen und Ausschläge hervorrufen sollen. Obwohl der Baum schon seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts in Europa eingeführt und von Liebhabern hier und dort angepflanzt wurde, schenkte man ihm doch keine besondere Aufmerksamkeit, so daß er schließlich nur in wenigen botanischen Gärten zu sehen war. Im Jahre 1875 nun unternahm Professor Rein im Auftrage der deutschen Regierung eine Studienreise nach dem Orient und hielt sich zwei Jahre in Japan auf. Von dort brachte er Samen der besten Sorten des japanischen Firnißbaumes mit, der in dem botanischen Garten zu Frankfurt a. M. ausgesät wurde. Aus diesem Samen wurden 40 Stück Lackbäume im Freien gezogen, die auch Samen ansetzten und vollständig zur Reife brachten. Im Herbst letzten Jahres ging nun Prof. Rein daran, aus diesen Bäumen die erste „Lackernte“ zu gewinnen. Obwohl die Ausbeute vorläufig nur eine bescheidene war, so scheint doch der Saft ebenso gut zu sein wie der in Japan gewonnene. Es wurde aus demselben der erste japanische Lack in Deutschland bereitet und man hat auch frischen Samen aus Japan bestellt, welcher der deutschen Gartenbaugesellschaft überwiesen werden soll, damit Liebhaber in die Lage versetzt werden, diesen nützlichen Baum zu ziehen. *     


Herders Geburtshaus in Mohrungen

Das Herderhaus in Mohrungen. (Mit Abbildung.) Ein niedriges bescheidenes Häuschen ist es, aus dem einer der ersten Bahnbrecher unserer klassischen Litteraturperiode hervorging. Denn der Mohrunger Kantor, Glöckner und Mädchenschullehrer Gottfried Herder, dem am 25. August 1744 ein Sohn geboren wurde, welcher die gesammte deutsche Welt durch die Macht seines Geistes und seines Wortes in Bewegung setzen sollte, war kein Krösus; seine Mittel reichten gerade hin, dem jungen Johann Gottfried eine tüchtige Bildung zu theil werden zu lassen und so den festen Grund für seine spätere Laufbahn zu legen.

Jenes Haus in dem ostpreußischen Städtchen aber ist heute noch fast genau in dem Zustand erhalten, in dem es sich zu der Zeit befand, als Herder darin das Licht der Welt erblickte; nur daß seine Vorderseite heute eine Gedenktafel schmückt, welche den Vorüberwandernden auf die Bedeutung des schlichten Bauwerks aufmerksam macht. Die Inschrift lautet: „Johann Gottfried von Herder wurde in diesem Hause geboren am 25. August 1744 und starb als Präsident des Oberconsistorii zu Weimar am 18. Dezember 1803. Ihm – dem gediegenen Schriftsteller, Dichter, Philosophen und Orientalisten – zum Andenken und der Jugend in Mohrungen zur Nacheiferung gewidmet vom Regierungsrath Lange in Breslau.“

In jüngster Zeit drohte dem Häuschen ein schlimmes Geschick. Es sollte verkauft werden und wäre wohl dem Abbruch verfallen, wenn sich nicht glücklicherweise die Stadt Königsberg ins Mittel gelegt und es angekauft hätte. So wird es denn auch künftig erhalten bleiben zum dauernden Gedächtniß des großen Mannes, der einst als Knabe hier gewandelt.


Alte und neue Fächer. Wie unsere Leser aus Halbheft 18 des vorigen Jahrgangs wissen, hat im Sommer 1891 in Karlsruhe eine Fächerausstellung stattgefunden mit dem ausgesprochenen Zweck, durch Vorführung alter und ausländischer Muster sowie neuer Preisentwürfe von deutschen Künstlern dem deutschen Kunstgewerbe allseitige und nachhaltige Anregung zu geben und es soweit als möglich von dem Hauptort der Fächerindustrie, von Paris, unabhängig zu machen. Es galt nun, die Ergebnisse jener Ausstellung, die hervorragendsten Leistungen der Neueren wie die besten alten und fremden Vorlagen, in möglichst weite Kreise zu verbreiten, damit sie auch von solchen nutzbar gemacht werden könnten, welche die Ausstellung selbst nicht hatten studieren können, und damit überhaupt dem flüchtigen Eindruck der Ausstellung eine gewisse Dauer verliehen werde. In Verfolgung dieses Zieles läßt der „Badische Kunstgewerbeverein“, der Veranstalter jener Ausstellung, im Verlage von Gerlach und Schenk in Wien ein Werk unter dem Titel „Alte und neue Fächer“ erscheinen, in welchem ein Theil der preisgekrönten Arbeiten sowie das Beste der alten und neuen Abtheilung zur Veröffentlichung gelangt. Es ist kein Zweifel, daß das Werk, das im ganzen etwa 60 bis 70 Tafeln umfassen wird, eine werthvolle Anregung zu geben imstande ist. Denn diese Fächer und Fächerbilder sind mit solchem Verständniß ausgewählt und mit solcher Vollendung wiedergegeben, daß sie nicht nur dem nachschaffenden Kunsthandwerker eine sichere Anleitung zum Schönen, sondern auch jedem Kunstfreunde einen hohen Genuß gewähren müssen.


Unsere Soldaten. Die starke Bewegung für eine Verbesserung des deutschen Militärstrafrechts, welche sich seit einiger Zeit im deutschen Volke kundgiebt, ist wesentlich mit von dem Gedanken geleitet, in der Oeffentlichkeit und in der unabhängigen Stellung der militärischen Gerichte eine Schutzmauer aufzurichten gegen jene häßlichen Auswüchse der Disziplin, jene Mißhandlungen, welche gewissenlose Vorgesetzte unter dem Deckmantel der strengen Zucht an ihren Untergebenen verübten. Diese Bestrebungen erhielten eine unerwartete Unterstützung durch den neuerdings bekannt gewordenen Erlaß des Prinzen Georg von Sachsen, des Kommandeurs des XII. (königlich sächsischen) Armeecorps. Was durch diesen Erlaß zur Kenntniß der Oeffentlichkeit gelangte, ist so furchtbar, daß allerorten im deutschen Vaterlande mit elementarer Macht das Gefühl sich Bahn brach: so darf es nicht fortgehen; hier ist eine energische Abhilfe dringend geboten; mit Vertröstungen und halben Maßregeln ist es nicht mehr gethan, es gilt vielmehr, mit unbarmherziger Strenge gegen einen Feind vorzugehen, der nicht bloß die innere Güte unseres Heeres, sondern auch die Gesundheit unseres ganzen Volkslebens aufs äußerste gefährdet.

Volk und Heer sind heute eins, jeder unbescholtene gesunde männliche Bürger ist berufen, im Heere zu dienen und sich hier vorzubilden für die erhabene Aufgabe, des Reiches Marken gegen jeden Feind zu vertheidigen. Der Soldat von heute unterscheidet sich durch nichts als durch seinen Rock von dem Bürger von gestern; der Fahneneid entkleidet ihn keines seiner natürlichen Rechte, er legt ihm nur neue Pflichten auf.

Und doch sollen wir es immer wieder erleben müssen, daß auf den Exerzierplätzen, hinter den verschlossenen Thüren der Mannschaftsstuben wahre Orgien der Roheit sich abspielen! Doch soll es möglich sein, daß einzelne Unmenschen, pochend auf das Recht ihrer goldenen Tressen, ihre Untergebenen mit Schlägen mißhandeln, daß da ein Unteroffizier seine Korporalschaft mitten in der Nacht aufstehen und im Hemd mit Helm und Seitengewehr Laufschritt machen läßt, ein andermal seinen Leuten die brennenden Zigarren in den Mund steckt und sie so zu laufen zwingt, bis die Zigarre ausgeraucht ist – daß ein anderer dieser „Erzieher“ seinen „Schutzbefohlenen“ solange einen Schemel mit einem darauf stehenden Topf heißen Kaffees heben und strecken läßt, bis der Topf herabfällt und das unglückliche Opfer jämmerlich verbrüht – daß dort ein Sergeant seinen Rekruten die zu fett geschmierten Stiefel im Gesicht herumreibt, ihnen schmutzige Socken zu kauen giebt oder die Kniee zwischen zwei Stühlen durchsitzt, als wollte er den Beweis liefern, daß ein mittelalterlicher Folterknecht an ihm verloren gegangen!

Das ist empörend, das muß anders werden um jeden Preis! – so werden unsere Leser mit uns ausrufen. Und es kann auch geholfen werden. Der Weg zur Besserung des Uebels – wir sagen nicht zur vollständigen Heilung – führt in der angedeuteten Richtung. Eine Anpassung der Militärstrafprozeßordnung an die Formen des bürgerlichen Rechts wird durch Gewährung der Oeffentlichkeit die Zahl der Uebelthäter vermindern. Dann aber wird darauf Bedacht zu nehmen sein, durch Erleichterung des Beschwerdeführens, durch Entlastung desselben von unnützem und zweckwidrigem Formelkram die Entdeckung strafwürdiger Fälle zu befördern. Gegen diejenigen aber, welche sich an ihren Untergebenen vergangen haben, die ganze Strenge des Gesetzes! Auf Ehr- und Pflichtgefühl, nicht auf Furcht vor Faust und Klopfpeitsche soll sich der Gehorsam des deutschen Soldaten gründen. Wer gegen diesen Geist der deutschen Disziplin verstößt, der fehlt so schwer oder noch schwerer als der Ungehorsame. So unnachsichtlich diesen – und mit vollem Recht – die ganze Wucht der Strafe trifft, so unnachsichtlich treffe sie auch jenen! Fort aus der Armee mit den werthlosen, nein, gefährlichen Elementen, die den Machtkitzel nicht vertragen können, die unter seiner Wirkung nur zu raffinierten Tyrannen werden – fort aber auch mit einer Rechtsordnung und Rechtsanschauung, welche den Soldaten immer noch zu einem Menschen zweiter Klasse stempeln möchte!


Rafael’s „Bildniß eines jungen Mannes“. (Zu unserer Kunstbeilage.) Rafaels Name ist durch seine Madonnenbilder und seine Freskogemälde groß geworden. Man vergißt darüber, daß er auch einer der hervorragendsten Porträtmaler gewesen ist. Päpste, Kardinäle und weltliche Würdenträger waren stolz auf die Gunst, von seinem Pinsel verewigt zu werden. Zu Rafaels reizendsten Schöpfungen auf dem Gebiete des Porträts gehört unser „Bildniß eines jungen Mannes“, heute eine Zierde des Louvremuseums zu Paris. Welchen Namen der blonde hübsche Jüngling trug, weiß man leider nicht mehr, jedenfalls aber ist es nicht Rafael selbst, wie man lange irrthümlich angenommen hatte. Das Werk stammt aus der besten Periode des Meisters, aus derselben, in welcher die Krone seiner Schöpfungen entstand, die Sixtinische Madonna.



KLEINER BRIEFKASTEN.

B. Sig. in Bochum. Ueber den am 2. Februar d. J. verstorbenen badischen Humoristen Ludwig Eichrodt finden Sie Ausführliches im Jahrgang 1888 der „Gartenlaube“, S. 96. Eichrodt ist genau 65 Jahre alt geworden, er starb an seinem Geburtstag. Seine Dichtungen sind vor etwa 11/2 Jahren in zwei Bänden gesammelt erschienen (Stuttgart, A. Bonz u. Co.).

L. G. aus Freiburg i. B. Die Adresse des in Ihrem Schreiben angegebenen medizinischen Schriftstellers ist Leba (Pommern).

Döbeln 1869. Die Lösung des Schillerschen Räthsels, welches beginnt „Es führt Dich meilenweit von dannen“, lautet: Das Fernrohr. Die „sechs Geschwister“ sind die Farben

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Allerlei Kurzweil.


Schachaufgabe Nr. 2.
Von A. Stabenow.

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.

Bilderräthsel: „Deutsche Kaiserkrone“.

Zeichenerklärung: o = B, oo = A, ooo = R, oooo = O, ooooo = S, oooooo = K, ooooooo = J, oooooooo = E. Für die Auflösung sind bloß die Perlen in der Randfassung der 3 Kronenfelder maßgebend. Die viereckigen Steine dazwischen sind Trennungszeichen.       Al. Weixelbaum.


Quadraträthsel.

Die Buchstaben dieses Quadrats lassen sich so umstellen, daß die wagerechten Reihen bezeichnen: 1. eine Stadt im Norden Europas, 2. ein Raubthier und eine Stadt in Graubünden, 3. einen englischen Dichter und eine Person aus Wielands „Oberon“, 4. eine europäische Residenzstadt und eine griechische Göttin, 5. eine Dichtung Goethes und einen berühmten Musiker aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, 6. eine der neun Musen und einen deutschen Dichter, 7. ein bekanntes Sternbild und eine ausländische Münze, 8. einen deutschen Fluß und eine Blume, 9. einen Berg in den Pyrenäen. In der zweiten bis siebenten Reihe ist das erste Wort stets fünflautig und das zweite immer vierlautig. Nach richtiger Lösung ergeben die Felder, in denen sich fettgedruckte Buchstaben befinden, den Namen eines deutschen Dichters.


Homonym.

Du kannst mich, Leser, nie erschauen,
Verborgen trägst zu mich in dir,
Wenn dich Musik und Red’ erbauen,
Verdankst du lediglich es mir.

Du siehst mich dennoch im Orchester,
Dem Heere trägt man mich voran,
Und schlägt man mich zu sehr, mein Bester,
Greif’ ich das dir Verborg’ne an.
  Oscar Leede.


Logogriph.

Worin man Zahlung leisten kann mit b,
Drin sieht im Wald mit d man Hirsch und Reh.


Scherzräthsel.

Er wird nur in Obst gebracht –
Und der Kriegsmann ist gemacht.


Räthsel. (Zweisilbig.)

Eine alte berühmte Heldenstadt,
Die alle Welt noch bewundert hat;
Doch wenn man versetzt die Zeichen sieht,
Ein berühmter Kurort im Inngebiet.


Silbenräthsel.

In 1, 2, 3 wird 1 verborgen,
Um 1 hat 2, 3 keine Sorgen.
  Eduard Schulte.


Skataufgabe Nr. 2.
Von K. Buhle.

Die Vorhand sagt, nachdem Hinterhand bis Grünsolo gereizt hatte, auf diese Karten:

(tr.B.) 0 (car.B.)0 (tr.K.) 0 (tr.D.) 0(tr.7.) 0(c.As.) 0(c.Z.) 0(c.D.) 0(c.7.) 0(car.Z.)

Eichel-(tr.)Solo an und gewinnt bei fehlerlosem Gegenspiel mit Schwarz. – Wie sitzen die Karten und wie ist der Gang des Spiels?


Citatenräthsel.

Aus jedem der folgenden Citate, die alle „Wallensteins Tod“ entnommen sind, ist ein Wort zu wählen. Die gesuchten Wörter bilden wiederum ein Citat aus einem Schillerschen Drama.

1. In dem Heute wandelt schon das Morgen. V. 3.
2.   Reue soll
      Nicht deiner Seele schönen Frieden stören. III, 21.
3. In meiner Brust war meine That noch mein. I, 4.
4. Eifersüchtig sind des Schicksals Mächte. I, 7.
5.       Die Ruhe deines Freundes gilt’s, das Glück
      Von einem Tausend tapfrer Heldenherzen. III, 21.
6. Nichts ist gemein in meines Schicksals Wegen. V, 4.
7. Nacht muß es sein, wo Friedlands Sterne strahlen. III, 10.



manicula Hierzu Kunstbeilage III:0 „Bildniß eines jungen Mannes“.0 Von Rafael.


In dem unterzeichneten Verlage beginnt soeben zu erscheinen und ist durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Das Buch vom gesunden und kranken Menschen.

Von Professor Dr. Carl Ernst Bock, neu bearbeitet von Dr. Max von Zimmermann.
Fünfzehnte, stark vermehrte Auflage. 0 Mit zahlreichen Abbildungen in Holzschnitt und mehreren Farbtafeln.
Vollständig in 20 Lieferungen à 50 Pfennig, alle 14 Tage eine Lieferung.

In Bock’s Buch vom gesunden und kranken Menschen ist dem größeren Publikum ein Werk geboten, worin es eingehend über den Bau des menschlichen Körpers, die Verrichtungen seiner einzelnen Organe, sowie über den Gesundheits- und Krankheitszustand derselben unterrichtet und über eine vernünftige naturgemäße Pflege des Körpers im gesunden und kranken Zustande belehrt wird.

Die neue Auflage ist von einem praktischen Arzt, Dr. v. Zimmermann, neu bearbeitet und den Fortschritten der stetig und rastlos sich entwickelnden Wissenschaft entsprechend mit zahlreichen Zusätzen, Berichtigungen und Ergänzungen versehen worden.

Durch die Erscheinungsweise in 20 Lieferungen à 50 Pfennig, alle 14 Tage eine Lieferung, ist Jedermann die günstige Gelegenheit geboten, das bewährte Werk auf bequeme und billige Weise nach und nach zu erwerben.

Die meisten Buchhandlungen nehmen Bestellungen auf Bock’s Buch vom gesunden und kranken Menschen entgegen und senden auf Verlangen die soeben erschienene erste Lieferung zur Ansicht. Zur Subskription ladet ein

Die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.     



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.