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Die Gartenlaube (1892)/Heft 20

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[613]

Halbheft 20.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



 Originalzeichnung von R. Püttner.

Am Abend.

Die Nebel steigen
Im Dämmerschein,
Die Vögel schweigen
Und nicken ein.

Die Quellen gehen
Wie halb im Traum –
Ein zärtlich Wehen
Neigt Baum zu Baum.

Die Blumen schwanken
Und grüßen sich –
Und die Gedanken,
Sie suchen dich.

Weit in der Ferne,
Im Dämmerschein,
Beim Glanz der Sterne,
Mein Lieb, schlaf ein!
 A. Nicolai.




Mamsell Unnütz.

Roman von W. Heimburg.

Das Fest war just vorüber. Einer der stillen finsteren Tage zwischen Weihnacht und Neujahr neigte sich seinem Ende zu; es schneite in feinen Flocken, war bitterkalt, und ein scharfer Ostwind hielt die Leute in den Stuben. Nur der alte Briefträger schritt mit seinen großen Lederstiefeln auf dem schmalen Bürgersteig dahin; hier und dort trat er in ein Haus, Botschaft bringend aus der Ferne, gute und schlechte, Glück und Unglück übermittelnd, ohne eine Miene zu verziehen im Gefühl seiner Unverantwortlichkeit.

„Da soll man heut abend noch da ’naus laufen,“ murmelte er, unter einer Laterne stehenbleibend und einen eingeschriebenen Brief betrachtend, der die Aufschrift trug:

 „Fräulein Friederike Trautmann
 Andersheim a. Rhein
 Germania.“

Der alte Mann schüttelte den Kopf und bog mit verdrießlichem Aufseufzen in eine Gasse ein, die dunkler und einsamer dalag als die anderen. Er beschleunigte den Schritt und fand sein Ziel mit Hilfe des vorschriftsmäßigen Laternchens nach ungefähr zehn Minuten, Er klingelte an der Thür einer Gartenmauer, worauf sich Hundegebell hören ließ, gleich danach rasselte eine Thürschelle, und ein schwacher Lichtschein machte die Umrisse eines ansehnlichen Hauses sichtbar.

„He!“ rief der Mann draußen, „der Briefträger ist es! Kann ich das Fräulein sprechen?“

Die Thür in der Mauer ward aufgethan, und ein braunlockiger Junge von ungefähr zwölf Jahren sah mit neugierigen, höchst verwunderten Augen bald den Brief bald den Ueberbringer an. „Für die Tante?“ fragte er athemlos.

„Für Fräulein Trautmann!“

„Mutter,“ schrie er, über einen schmalen gepflasterten Weg ins Haus laufend, „die Tante kriegt einen Brief!“

Die Thür mit dem kleinen Guckfenster rechter Hand in dem großen, kaum erhellten Hausflur öffnete sich, und eine Frau [614] erschien auf der Schwelle, die Lampe in der Hand. sie trug auf kaum ergrauendem Haar eine schwarze Spitzenhaube, und ihr längliches farbloses Gesicht zeigte die offenbarste Verwunderung.

„Meine Schwester? Einen Brief?“

Aus der Küche war jetzt auch das Dienstmädchen herzu gelaufen, ein frisches treuherziges Ding, das ebenfalls vor Erstaunen sprachlos geworden schien.

„Geben Sie her,“ sagte die Dame, die Stufen herunterkommend, „wo ist der Brief?“

„Thut mir leid, Frau Rath, muß eigenhändig in Empfang genommen werden. Ist das Fräulein nicht zu Hause?“

„Ei – ei – eigenhändig?“ stammette Frau Roettger.

„Jawohl, kann’s nicht anders machen.“

„Das Fräulein ist droben – Luischen, nimm die Lampe und führe den Mann hinauf!“

Der Bub’ mußte abermals dabei sein. Er sprang voran, immer gleich drei Stufen auf einmal nehmend, und polterte den Flur entlang, daß man glauben konnte, es wolle sich jemand vor Feuer retten. „Tante,“ hallte seine Stimme in dem Gange, „Tante Riekchen, es kommt ein Brief!“ Er riß die Thür auf zu ihrem Zimmer und rief noch einmal: „Ein Brief, Tante Riekchen! Du bekommst einen Brief!“

„Ich? Einen Brief?“ klang es zurück.

Es lag ebenfalls die höchste Verwunderung in der Stimme, aber diese Stimme war so sanft, so wohlklingend, daß der alte Briefträger unwillkürlich seinen bärbeißigen Ton milderte und höflich sagte: „Guten Abend, Fräulein, ’s ist etwas zum Unterschreiben.“

Darauf erhob sich eine Gestalt, die bis jetzt am Fenster gesessen hatte, und ging leisen Schrittes durch das Gemach; nun sprühte ein Streichholz auf, nun brannte ein Wachsstock in spiegelblanker Messingkapsel, und nun griff eine bleiche Frauenhand nach dem Schreiben.

„Bitte, wollen Sie hier Ihren Namen hersetzen.“

Die Schrift ward krakelfüßig, denn die Hand, die schrieb, bebte. „Kostet es etwas?“ fragte die Empfängerin des Briefes.

„Nein, Fräulein!“

„Nicht? Ach, warten Sie!“ Und die zitternde Hand legte ein Geldstück in die Rechte des Postboten.

„Guten Abend – danke gehorsamst!“

Draußen auf dem Vorsaal verklangen harte Schritte; hier innen stand Fräulein Friederike Trautmann, den Brief in der Hand, und wagte nicht, ihn zu öffnen. Der Junge ihr gegenüber hatte purpurrothe Wangen vor Ungeduld und Erregung.

„Tante, warum liest Du denn nicht?“ platzte er heraus.

Sie schrak zusammen. „Geh’ hinunter, Fritz!“ sprach sie und strich ihm über den lockigen Scheitel.

„Aber von wem ist er denn, Tante?“

„Ich weiß es nicht.“

„Er ist aus Italien, sieh doch die Marke!“

„Ja – – aber den Absender kenne ich nicht n geh’, mein Bub’! – Geh’!“ wiederholte sie noch einmal, als er zögerte.

Der hübsche Bursche in grauer Joppe verließ unmuthig das Zimmer. Sie folgte ihm bis zur Thüre, verriegelte diese und ließ sich dann am Tische nieder vor dem Wachsstock.

Sie war nicht mehr jung, die Mitte der Vierzig mochte sie wohl überschritten haben; aber das Gesicht zeigte noch immer die Spuren einstiger Schönheit. Der Gram hatte das blonde Haar gebleicht und die einst so glänzenden Augen matt gemacht; er hatte um den kleinen Mund tiefe Falten und um die Augen dunkle Ringe gezogen und dennoch flog in diesem Augenblick ein Schimmer von Jugend über das erregte Gesicht. „Aus Italien!“ flüsterte sie. „Nachricht von ihm! Von wem denn sonst?“

Sie öfffnete den Umschlag und las. Sie sah nicht mehr gut und mußte sich tief hinunterbeugen auf das Papier, und plötzlich senkte sich ihr Antlitz noch tiefer, und ein dumpfes Stöhnen klang durch das Zimmer. Jetzt sprang sie auf, so hastig, daß sie den Wachsstock zur Erde warf; er erlosch, und nun ward es ganz finster und ganz still. Nach einer langen Weile erst erklang ein Schluchzen aus dem Lehnstnhl am Fenster, das matt von dem Schneelicht erhellt war, ein heißes bitterliches Schluchzen, welches erst verstummte, als draußen ein harter Finger an die Thür pochte und die Stimme der Frau Rath erscholl. „Kommst Du noch nicht zu Tische, Friederike? Die Kartoffeln werden kalt!“

„Bitte, entschuldige mich,“ antwortete Riekchen Trautmann.

„Na, was hat’s denn gegeben? So sprich Dich doch aus! Man kommt ja um vor Angst!“ klang es draußen gereizt.

„Ja, später – ich komme noch hinunter, Minna.“

„Du bist eben ein Dickkopf! – Meinetwegen –“

Die Schritte der Frau Rath entfernten sich. Friederike Trautmann hatte aufgehÖrt zu weinen; sie saß, das Haupt in die Hand gestützt, und starrte durch das Fenster. Im gespenstischen Dämmerlicht lag der Garten, die beiden kahlen Nußbäume drunten am Zaune hoben sich schwarz von dem grauen Hintergrund ab; Fräulein Trautmann konnte jetzt sogar ganz deutlich die Eisschollen sehen, die auf dem Rheine dahintrieben. Wie furchtbar öde, wie tot war das alles! Hatte es wirklich einmal einen Frühling gegeben, einen Lenz, in dem die Welt duftete, grünte und blühte, in dem das Mondlicht auf dem Strome zitterte und die Nachtigallen schlugen? Einen Abend, an dem sie dort unter dem Nußbaum stand in weißem Kleide und mit klopfendem Herzen dem Nachen entgegenschaute, der ihn zu ihr trug – –? Ein kurzer Traum war es gewesen; der Reif war auch in diese Frühlingsnacht gefallen, so unbarmherzig und vernichtend, daß keine Blüthe je wieder aufsproßte.

Sie hatten es nicht gewollt, daß sie dem unbekannten Maler folgen sollte, der da gekommen war – Gott weiß, woher – um überall, wo er eine schöne Stelle fand, seinen Malschirm aufzuspannen. Der Vater hatte von brotlosen Künsten geredet, die Mutter von dem Leichtsinn solcher jungen hübschen Burschen, die zwar der Sammetrock wohl kleide, die jedoch ganz und gar, und so gewiß sie lebe, alle miteinander nichts taugten und nur da seien, die Mädchen und später ihre armen Frauen unglücklich zu machen. Die Schwester aber, die weit weniger schöne Schwester, die konnte es dem jungen Manne nicht verzeihen, daß er nur Augen für das „Riekchen“ hatte, daß er an dem Abend, wo sie im Mondschein von der Aue heimruderten, sein Riekchen aus dem Nachen, in dem sie, die Minna Trautmann, saß, herauslotste in ein kleines Boot, und daß sie trotz der Entfernung, in der dieses Boot von dem andern sich hielt, doch deutlich mit ihren scharfen Falkenaugen erkennen konnte, wie eng umschlungen die beiden auf der Bank saßen.

Sie war es gewesen, die es der Mutter verrieth, und ein böser Morgen war über dem Trautmannschen Hause emporgestiegen der für Riekchens Augen viele Thränen brachte. Am Abend war sie dann noch einmal hinausgegangen, um ihm Lebewohl zu sagen. Die Schwester hatte es bemerkt und ihr vom Lager aus zugerufen. „Bleib hier, das paßt sich nicht – verstehst?“

Riekchen war dennoch gegangen mit einem trotzigen: „So sag’s! – Das Abschiednehmen wenigstens darf mir keiner verwehren!“

Aber Minna hatte nichts verrathen. Der aufschluchzende Ton, welcher der Schwester Worte schloß, mochte sie eigen berührt haben, und Riekchen konnte unter dem alten Nußbaum ungestört die schmerzvollste, bitterste Stunde ihres Lebens auskosten.

Jetzt, in diesem Augenblicke, sah sie so deutlich sein bleiches Gesicht. „Hast recht gethan, Mädchen, daß Du nachgabst! Was willst Du auch mit dem armen Schlucker!“ Das waren die Worte gewesen, mit denen er sie empfing. Erst als sie in verzweifeltem Schluchzen an seinem Halse hing und immer, immer wieder stammelte. „Ich bleibe Dir treu, ich vergeß Dich nimmer, ich kann von Dir nicht lassen!“ – da war auch er weich geworden, und ihre Thränen flossen zusammen.

„Schreibst mir?“ fragte sie endlich.

„Wenn Du es willst, lieb Riekchen!“

„Es ist mein einzig Glück!“

Und nach einer ganzen Weile: „Heinrich, bleibst Du mir treu?“

„Ich – ich wohl – – aber Du?“

„O immer, immer!“ hatte sie geschluchzt.

„Weißt was, Riekchen – ich glaub’s nicht, Du bist zu fein und lieb dazu.“

„Heinrich, so wahr mir Gott helfe, ich seh’ keinen anderen an, ich wart’ auf Dich und würd’ ich alt und grau! Und wenn Du mal in Noth bist, gelt, Du sagst’s mir, und wenn Du die Sterne vom Himmel verlangst, ich hol’ sie Dir; und wenn ich wüßt’, es wär’ Dein Glück, so lief ich mit Dir heut abend, ohne Gram und Scham – aber –“

„Aber?“

[615] „Sie sagen, es sei Dein Unglück wie meines!“

„Meines? Das wär’ gleich!“

„Aber Du sollst glücklich sein! Ich will mich nicht an Dich hängen wie eine Klette – Deine Kunst will Freiheit ... geh’ – aber denk an mich, vergiß mich nicht!“.

„Hör’ auf zu weinen,“ hatte er nach einer Weile getröstet, „Italien ist nicht aus der Welt –“

„Ach, Heinrich, viel zu weit für die Lieb’! Und die Mädchen dort – sie sind arg schön, hab’ ich gelesen.“

Und dann hatten sie beide unter Thränen gelacht und sich wieder geküßt. „Laß die Mädchen – so schön wie Du ist keine!“

Und noch einmal wurde es von Mund zu Munde gesprochen: „Leb’ wohl! Ich bleib’ Dir treu!“ 0 „Komm’ wieder – ich warte Dein – Leb’ wohl! Behüt’ Dich Gott!“ –

Sie meinte noch jetzt, nach langen Jahren, das Plätschern der Ruder zu hören, den letzten Ruf vom Wasser herüber: „Leb’ wohl, mein goldenes Lieb!“

Ach, und dann! Dumpf, öde hatten die Tage sich fortgesponnen. Sie hätte es heut nicht sagen können, ob sie gewacht oder geträumt während all der Zeit. Einzelnes hob sich aus grauem Einerlei heraus, das waren seine Briefe; wie leuchtende Sterne am nächtlichen Himmel hatten sie in ihr Leben gestrahlt. Dann kam ein Freier – sie schlug ihn aus; noch einer – sie wollte ihn nicht; der Vater ward ärgerlich ob des abermaligen: „Ich heirath’ nicht!“

„Sie kann den windigen Maler nicht vergessen,“ erklärte die Schwester. Und als Riekchen einst nicht daheim war, stöberte die Mutter ihre Briefmappe durch, fand Heinrichs Adresse, und der Vater schrieb einen höchst nachdrücklichen Brief, des Inhalts, daß er sich nunmehr das läppische Geschreibsel verbitte, denn das Mädchen beginne vernünftig zu werden und an eine passende Partie zu denken.

Riekchen ahnte nichts; sie litt nur unter dem Schweigen des Geliebten unsagbar. Endlich, an einem Weihnachtsabend, ward sie krank. Drunten feierte man just die Verlobung der Schwester mit Herrn Referendar Roettger; sie phantasierte von ihm in der stillen Krankenstube, und immer klang die Frage an das Ohr der Wärterin. „Gelt, hast mich vergessen, Lieber? Da drunten sind die Mädchen schöner, ach, soviel schöner!“

Als sie wieder genesen war, wurde Minnas Hochzeit gefeiert. In der Kirche brach Riekchen ohnmächtig zusammen, sie war noch nicht kräftig genug. Aber sie meinten doch alle, sie habe wunderschön ausgesehen mit ihrem Lockenköpfchen und den weißen Blüthen im Haar. Dasselbe meinte auch der Hauptmann Erbenstein, aber sie fand, daß ihn das wenig interessieren könne – und der Hauptmann mußte sich trösten.

Und weiter zogen die Jahre. Erst starb der Vater, dann die Mutter; und die Sterbende hatte nach ihrer Hand gefaßt: „Du hast nicht glücklich sein wollen, Kind – wie mich das schmerzt!“

Und das Mädchen hatte fast heiter erwidert: „Gewollt, lieb’ Mütterchen, hab’ ich’s wohl, aber nimmer – –“

„Dürfen“ wollte sie sagen, doch mochte sie der Sterbenden keinen Vorwurf mit ins Grab geben; und so hatte sie sich denn begnügt, hinzuzusetzen: „aber ich hab’s nicht recht verstanden, hab’ kein Talent dazu.“

Nun war sie allein in dem großen Hause, das ihr vermacht worden war. Die Schwester kam zwar ab und zu, sie brachte auch ein Kind mit, einen prächtigen braunlockigen Buben, der es verstand, mit seinem hellen Kinderlachen sich der Einsamen ins Herz zu schmeicheln. Er war mehr und lieber bei der Tante denn daheim, und als der Tod eine unglückliche Ehe löste, kam der kleine Friedrich ganz ins Tantenhaus, sammt seiner Mutter, die wieder in die heimathlichen Räume flüchtete. Sie nahm das Anerbieten der Schwester, die Parterrewohnung zu beziehen, nur allzugern an, denn sie befand sich angeblich in bedrängten Verhältnissen; der Verstorbene hätte das meiste ihres recht netten Vermögens „verlumpt“ – wie sie sich verächtlich ausdrückte. In Wahrheit aber besaß sie noch alles, sogar noch mehr, denn sie war äußerst genau und sparsam gewesen.

Nun, Riekchen half ja. Sie hatte für weiter nichts zu sorgen, und der Bub’ stand ihr auf der ganzen Welt am nächsten; wozu sollte die alte Jungfer auch sonst ihr Geld gebrauchen! Tante Riekchen sah sich zu der zweifelhaften Würde einer Erbtante erhoben, und Frau Minna vertrug sich mit ihr, so gut es ihr zänkisches rechthaberisches Naturell zuließ. Verstehen konnten sie sich nicht, es war auch nicht nöthig. Mochte Frau Minna dort unten immerhin ihre Kaffeegesellschaften geben und ihre endlosen Bettdecken häkeln und stricken, hier oben, da lebte etwas Besseres, da sprachen die alten Erinnerungen in einsamen Dämmerstunden, da stand noch allezeit eine Skizze auf der Staffelei, da kehrten Bücher und Journale ein, da klangen aud dem Flügel Beethovens und Schumanns herrliche Melodien und – da saß der Bub’ und ließ sich Geschichten erzählen von alten Zeiten, oder lernte sein Latein oder spielte auf seiner kleinen Violine.

So war es allmählich still in ihr geworden. Wenn aber die Schwester einmal taktloserweise die alte Wunde berührte, kam der Schmerz heiß und bitter wie nur je. Und wissen wollte sie immer, was aus ihm geworden sei – ob er verdorben und gestorben, ob er zurückgekehrt sei nach Deutschland, glücklich und behaglich lebe, ober ob er dort geblieben sei, ein Weib genommen und der alten Liebe vergessen habe.

Nie war eine Kunde gekommen, nie – bis heute. Da kam eine – aber welche!

Sie stand plötzlich auf wie jemand, der einen rascheu Entschluß gefaßt hat, zündete Licht an, holte einen dunklen altmodischen Mantel und eine Kapuze aus der Nebenstube, und den Brief in der Hand tragend, verließ sie das Zimmer. Unten ging sie zuerst in die Küche, hieß die Magd eine Laterne anzünden und sich bereit machen, sie zu begleiten, dann klopfte sie an die Thür der Schwester.

„Herein!“ Frau Minna saß am runden Tische bei der Lampe und häkelte; der Sohn las.

„Jesus, wie siehst Du aus!“ schrie die Räthin ganz entsetzt in das blasse Antlitz der Schwester blickend. „Was ist Dir? Sag’s doch endlich!“

„Ich hab’ eine Nachricht von – –“ der Name wollte nicht über die blassen Lippen, „aus Italien –“

„Gott soll mich schützen! Er kommt doch nicht etwa zurück? Oder sollst Du gar hin? Grundgütiger, die Geschicht’ ist aber dauerhaft!“

Tante Riekchen stand hoch aufgerichtet und antwortete nicht.

„Nun, er will Dich wohl noch? Ist nun wohl endlich so weit, daß er eine Frau ernähren kann?“

„Er ist tot,“ antwortete Fräulein Riekchen.

Frau Minna schrak doch einen Augenblick zusammen vor dem verhaltenen Schmerzensruf der Schwester. Sie wollte etwas sagen aber es fiel ihr nichts ein, sie sah nur mit einem nicht sehr klugen Gesicht der Frauengestalt nach, die aus der Thür schritt. Gleich darauf rasselte unten die Schelle, und Tante Riekchen hatte das Haus verlassen.

„Wo will Tante hin?“ forschte der Sohn.

„Was weiß ich! Wird wohl einen Kranz bestellen wollen – aber den kann sie ja gar nicht schicken, so weit – Gott mag wissen, was sie vor hat. Ich bin nur froh, daß da endlich ’mal ein Ende wird.“

„War das Tante Riekchens Bräutigam?“

„Ja, so was war’s. Aber lerne nur; sie kommt schon wieder. Wenn ihr irgend etwas quer geht, läuft sie hinaus, und wenn’s Spitzbuben regnet. Hat sie sich dann ausgetobt, so fällt’s ihr schon wieder ein, wo sie wohnt.“

Fritz senkte den Kopf gehorsam über sein Buch, jedoch lernen konnte er nicht. Er hatte die Tante aufrichtig lieb; er fand bei ihr Ersatz für die Prosa, mit der die Mutter sich umgab, und daß sie ein Leid erdulden mußte, machte ihn selbst ganz traurig und unruhig.

„Wenn ich nur wüßte, wo sie hin ist,“ wagte er nach einem Weilchen zu sagen.

„Lern’ doch!“ – –

Indessen war Fräulein Riekchen Trautmann im Sturm und Schneetreiben durch ein paar finstere Straßen geschritten und in ein hochgiebliges Haus getreten, hinter dessen Läden im Unterstock ein Licht schimmerte.

„Ist der Herr zu Hause?“

„Jawohl!“ antwortete ein alter Mann, der in einer Art Livree steckte, „just raucht er seine Pfeife, und die Frau Doktor setzen das Schachbrett zurecht.“

„Fragen Sie, ob ich einen Augenblick stören darf!“

[616]

Am Vorabend der Hinrichtung.
Nach einem Gemälde von P. J. van der Ouderaa.

[617] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [618] „Na, aber allemal! Was ist da zu fragen? Sie kann ich immer anmelden, Fräulein Riekchen.“ Und ohne an die Stubenthür zu gehen, brüllte er mit wahrer Donnerstimme: „Frau Doktor, Trautmanns Riekchen ist da!“ Dann öffnete er eine Thür, und ein lachendes, noch recht schmuckes Frauenantlitz erschien in dem Rahmen.

„Immer herein, lieb Riekchen, mein Alter sieht schon wie eitel Sonnenschein aus!“ Und den Gast über die Schwelle ziehend, rief sie: „So! Und nun den Mantel herunter und die Kapuze. Das war ein gescheiter Gedanke! Nimmst doch ein Gläschen Wein? Alter, ich hole von dem Eberbacher, – und nun unterhaltet Euch gut derweil, ich seh’ es Euch ja an der Nase an, Ihr habt Heimlichkeiten! – Na, eifersüchtig bin ich nicht, obgleich sich’s schon noch verlohnte!“ rief sie zurück.

„Plappermühle!“ sagte lächelnd ein hochgewachsener ältlicher Herr, dem man den Arzt auf den ersten Blick ansah. Und er hatte die Hand seines Gastes ergriffen und nöthigte Riekchen neben sich auf das altmodische Sofa. „Nun? womit kann ich dienen? Giebt’s wieder ’mal Aerger mit Frau Minna? Oder rebelliert das Herz wieder bei Ihnen? Sie sehen recht blaß aus, Fräulein Riekchen – nicht soviel sitzen, gehen Sie doch mehr spazieren –“

„Ich komme nicht um meine Gesundheit, lieber Doktor, ich möcht’ einen anderen Rath, möcht’ Ihre Vermittlung bei Ihrem Bruder – – nicht wahr, er ist noch in Florenz?“

„Ja – wenigstens vor vier Wochen war er noch dort.“

„Ich hätt’ eine große Bitte an ihn.“

„Die er Ihnen sicher gern erfüllen wird.“

„Selbstverständlich sollen ihm keinerlei pekuniäre Verpflichtungen erwachsen, dafür sorge ich; ich würde ihn nur bitten, nach Rom zu reisen, dort eine Frau aufzusuchen, bei ihr einen Jungen abzuholen und diesen dann über die Alpen nach Basel zu geleiten, wo ich ihn in Empfang nehmen will.“

„Herrje! Das klingt ja ganz geheimnißvoll!“

„Es ist keinerlei Geheimniß dabei,“ sagte sie matt lächelnd. „Dieser Bub’ ist der Sohn eines Jugendfreundes, der vor kurzem starb. In einem Briefe, den er zwei Tage vor seinem Tode schrieb und den mir ein Kollege von ihm seinem Willen gemäß übermittelt hat, bittet er mich, ich solle mich seines Knaben annehmen und ihn nach Deutschland holen.“

„Wie heißt das Kind?“

Sie faßte sich an die Kehle, als würge sie etwas. „Friedrich Adami,“ kam es stockend heraus.

„Ach so – Verzeihung, Riekchen, ich kenne den Namen – ich – ich habe selbst einst –“

„Darunter gelitten“ wollte er sagen, verstummte aber und blickte still das edle, reine Gesicht des Mädchens an, das er einst heiß begehrt hatte und von dem er abgewiesen worden war um jenes Fremden willen.

„Sie wollen sich also des Kindes annehmen?“

„Ja, lieber Doktor!“

„Wie alt ist es denn?“

„Dreizehn Jahre, ungefähr so alt wie der Fritz Roettger.“

„Wissen Sie, was Sie sich damit aufbürden?“

„Vollkommen!“

„So will ich an Oskar schreiben. Er dürfte, so wie ich ihn kenne, mit Wonne bereit sein, eine Tour nach Rom zu machen. Ihre Börse wird er dabei nicht zurückweisen mögen oder können – weiß der liebe Himmel, Geld ist auch heute noch trotz seiner sechsunddreißig Jahre das wenigste bei ihm –“

„Und in Basel oder Zürich, oder wo er will, nehme ich ihm den Knaben ab.“

„Ich mein’, Riekchen, wenn er schon so weit ist, wird er sich auch gern ’mal wieder die alte Heimath anschauen und dazu soll ein Zuschuß von mir ihm verhelfen.“

„Das wär’ noch schöner! Sie wissen, lieber Doktor, ich bin all mein Lebtag nicht aus unserem Neste hinausgekommen. Aber hier ist nun die Adresse: Signora Adami, Piazza de’ Cappucini 16.“

„Danke!“ sagte der alte Herr und schrieb sich die Namen auf.

Die Frau Doktor trat mit Römern und Flasche herein, als Riekchen sich schon wieder zum Fortgehen anschickte. „Nichts da!“ rief sie, „erst wird getrunken! Soll ich umsonst in den Keller gestiegen sein?“ Und sie drängte der Eiligen ein Glas auf.

„Nun denn, Fräulein Riekchen, lassen Sie uns anstoßen auf alles Glück zu Ihrem menschenfreundlichen Vorhaben!“ sagte Doktor Kortum.

„Himmel, was ist denn los?“ rief die kleine niedliche Frau mit den schwarzen blitzenden Augen.

„Sie will ein Kind adoptieren.“

Die Frau Doktor schlug die Hände uber dem Kopfe zusammen. „Du mein!“ rief sie, „geh’, sei gescheit – ’s ist nicht wahr!“

„Doch, Frau! Mach’ doch nicht so thörichte Augen!“

„Aber die Verantwortlichkeit! Da nähme ich doch lieber ein Mopperl oder ein paar Kanar – – “

„Schweig’, Frau, sie thut ein gutes Werk! Aber – was wird Frau Minna sagen?“

„Eben will ich es ihr noch mittheilen,“ erwiderte Riekchen etwas verzagt.

„Was die Minna sagen wird?“ rief Frau Doktor. „Aussehen wird sie wie unser Kater, der Peter, wenn ich ihm die Milchschüssel wegnehme – – O du liebe Zeit, ich wär’ nicht so kühn, ihr das zu vermelden!“

„Es ist auch schwer,“ sagte leise das blasse Mädchen und ihre Augen blickten ganz starr. „Lebt wohl; sie wartet auf mich!“

Nach einer knappen Viertelstunde war sie wieder daheim und trat in die Wohnstube. Frau Minna aß eben einen Bratapfel, Fritz blätterte gelangweilt in seinem Briefmarkenalbum.

„Ach wie gut, daß Du kommst, Tante,“ rief er, „da können wir droben noch das Kapitel vom Lederstrumpf weiterlesen!“

Sie legte plötzlich die Hand auf seinen Kopf. „Fritz, sieh mich ’mal an – Du erhältst einen Kameraden ins Haus; ich bekomme Besuch, langen Besuch von einem Burschen in Deinem Alter – freust Du Dich?“

„Famos!“ schrie der Junge, „Du bist famos, Tante!“

„Was ist das für Unsinn?“ fragte Frau Minna.

„Adamis Sohn kommt zu mir ins Haus,“ klärte Riekchen sie auf, scheinbar ruhig, aber ihre Brust hob und senkte sich stürmisch.

„Auf Besuch?“

„Nein – vorläufig – für immer, Minna.“

Die Frau auf dem Sofa hatte sich verfärbt. „Das heißt – das heißt – daß Du –?“

„Daß ich für ihn sorgen werde!“

„Daß Du verrückt bist, heißt’s!“ rief Frau Minna. Und als die Schwester mit einem ruhigen „Gute Nacht!“ allen weiteren Erörterungen aus dem Wege ging, brach die Frau auf dem Sofa in ein nervöses Lachen aus. „So!“ rief sie und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, „so! Nun ist’s vollkommen, nun wische Dir den Mund, Du armer Schlucker, Du!“

„Aber – Mutter –“ wollte der Knabe beruhigen, doch sie stieß ihn zurück, flüchtete in ihr Schlafzimmer, und dort stöhnte sie, als sei ihr das schwerste Unglück widerfahren, indes der Junge sich die rosigsten Zukunftsbilder an der Seite seines Kameraden ausmalte.

Und Tante Riekchen saß droben und las noch einmal einen langen Brief, dessen zittrige Schriftzüge die Hand eines Schwerleidenden verriethen. – –

„Der Gedauke, daß Du meine Bitte erfüllen wirst, erleichtert mir das Sterben. Ich bitte mit keinerlei Recht, ich weiß es, aber ich weiß auch, daß Du mich nicht vergessen hast. Zu spät erfuhr ich es, daß Dein Vater mir die Unwahrheit schrieb, indem er mir mittheilte, daß Du glücklich seiest an der Seite eines anderen.

Es ist herb gesündigt worden an uns beiden, armes Kind! Doch wir sind wohl nicht die einzigen in der Welt, denen so geschehen ist, nicht die einzigen, die erfahren haben, was es heißt, entsagen zu müssen. – Ich habe einen Sohn, Friederike, ich liebe ihn unbeschreiblich; so lange ich lebe, ist er geborgen, aber – dann? – Seine Mutter – – ich darf keine Anklage schreiben – –. Nimm Dich des Kindes an, gieb ihm etwas Liebe, etwas Sonnenschein! Gott segne es Dir! Er soll Dich [619] ehren wie Dein eigen Kind – gieb ihm Güte und Geduld, gieb ihm Liebe!

Als ich vor langen Jahren den oben erwähnten Brief Deines Vaters erhielt, da ging es mir, wie es ein deutsches Lied ausdrückt: ‚Mir war’s, als sei verschwunden die Sonn’ am hellen Tag –‘ Ich könnt’ es heute nicht beschreiben, wie ich jene Zeit ertrug. Mein Schaffen, mein Wollen schien gelähmt, gänzlich gelähmt.

Die Tochter meiner Wirthin war es, die mich vor dem Aergsten bewahrte, um – mich noch Aergeres erleben zu lassen. Ich verdiente nichts mehr, ich kam aus den Schenken kaum noch heim, ich verdarb es mit den Familien, die mir zuredeten, mich aufzuraffen; ich war am Rande des Abgrundes angelangt. Die Wirthin, meine nachherige Schwiegermutter, eröffnete mir eines Tages, daß sie mich nicht länger im Hause dulden wolle, dafern ich nicht sofort die rückständige Miethe bezahlte – ich lachte und wies ihr die leeren Taschen. Sie begann darauf in der kreischenden Weise ihres Volkes zu zetern mit Polizei zu drohen – und ihre Tochter stand blaß und wortlos an der Thür. Als die Alte endlich das Zimmer verließ, riß sie das Mädchen mit sich hinaus, und draußen begann ein Streit zwischen den beiden Frauen, während ich ein paar Sächelchen zusammensuchte, die das Leihhaus noch nicht verschlungen hatte.

Die volle tiefe Stimme des Mädchens blieb endlich Siegerin; es ward still in dem kleinen Hause –

Ach, Friederike, es wird mir schwer, Dir dies zu schreiben, aber ich meine, Du hast ein Recht darauf, zu wissen, wie ich mein Weib gewann. Es war der Abend dieses Tages gekommen, ich hatte just mein letztes Werthstück in der Hand und war im Begriff, dasselbe als einzige Bezahlung der ehrenwerthen Donna Marchi zu geben und dann das Haus auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Da klopfte es leise und Julia huschte in das Zimmer.

‚Signor Federigo,‘ flüsterte sie, ‚Ihr braucht nicht auszuziehen – behaltet Euer studio, die Mutter läßt es Euch, Ihr werdet kein böses Wort mehr hören.‘

‚Wie kommt denn das?‘ fragte ich gleichgültig; mir war es wirklich einerlei, ob ich ging oder blieb.

‚Ich habe –‘ sie stockte und sah mich durch die Dämmerung an mit den dunklen Augen, die in Thränen schimmerten. – Sie war ein kleines zierliches Geschöpf, ohne Spur von Farbe in dem gelblich bleichen Antlitz. Ich hatte sie kaum beachtet, wenn sie an ihrem Webstuhl saß und seidene Fäden zu Bändern webte, wie sie es bei einer Muhme in Sorrent gelernt hatte.

‚Was haben Sie denn, Julia?‘

‚Ich bezahlte der Mutter –‘ stieß sie hervor, ‚ich habe mir heimlich gespart von dem, was ich verdiene, aber sie darf es nicht wissen, Signor, sie schlüge mich sonst tot.‘

‚Das nehme ich nicht an, Julia,‘ sagte ich kurz. ‚Du bist ein gutes Kind, doch – das ist unmöglich! Geh, rufe die Mutter!‘

Da fiel mir das Mädchen zu Füßen und begann zu weinen, bitterlich und leidenschaftlich, und dazwischen kamen einzelne Worte hervor – ich solle nicht gehen, ich solle sie nicht verlassen, ohne mich wolle sie nicht leben, denn – sie liebe mich. Sie müsse es bekennen, es sei nun einmal so, und sie werde ersticken, wenn sie es nicht hinausschreien dürfe. Und wenn ich gehe, so laufe sie mir nach, und keinen Ton wolle sie sagen, wenn ich sie auch schelten und treten würde. – – Da hob ich sie auf und zog sie an mein Herz und dachte, daß Du mich verlassen habest, und daß dieses arme Kind des Volkes hoch über der Frau stehe, die mir die vielgerühmte deutsche Treue brach. Und nach ein paar Tagen ward sie mein Weib und saß nach wie vor an ihrem Webstuhl, während meine Schwiegermutter für vornehme Herrschaften wusch und ich fleißig genöthigt wurde, ebenfalls zu schaffen, denn die Zeiten seien schlecht und man wolle doch zuweilen Sonntags und Festtags an meinem Arme sich zeigen im Theater oder in einem Café.

Das Elend, das moralische Elend blieb nicht aus. Anfangs, nach der Geburt meines Jungen, kam noch einmal ein Aufleuchten, aber dann – – Ich habe mich, das Kind im Arme, anfangs tapfer gewehrt gegen den Einfluß der Unbildung und Niedrigkeit, ich habe den Knaben vom ersten erwachenden Verständniß an in meinem Atelier, unter meinen Augen gehabt, ich habe gearbeitet, bis mir die Krankheit Pinsel und Palette aus der Hand riß und die überhandnehmende Schwäche es nicht mehr verhindern konnte, daß mein Liebling das dumpfe Krankenzimmer floh und sich auf der Gasse in Gesellschaft umhertrieb, die seiner nicht würdig war. – Meine Frau arbeitete doppelt emsig; die Wiege mit einem zweiten Kinde stand neben ihr. Sie war in dem letzten Jahre viel in meiner Stube, mir zur Qual – Gott helfe mir – denn jedes ihrer Worte war ein Stachel, eine Anklage gegen den jämmerlichen Mann, an den sie ihr Herz gehängt.

Und dann erfuhr ich, daß Du mir treu geblieben bist! Das war das Schwerste, und doch so schön. – Habe Dank, Friederike! – Noch einmal bitte ich Dich, gieb dem Kinde Deine edle Gesinnung, Dein vornehmes Denken, Deine Treue! – Leb’ wohl, und verzeihe mir! Ich habe Dich nie vergessen!“

Friederike Trautmann saß noch lange, den Brief in der Hand. Das Licht war heruntergebrannt und erloschen – sie merkte es nicht. Eine nie gekannte peinigende Bitterkeit hatte ihr Herz gepackt.

„O, Ihr!“ flüsterte sie und streckte die Hand aus gegen das Bild der Eltern, „hattet Ihr denn das Recht, uns zwei elend zu machen?“ Und je mehr sie darüber nachsann, um so größer ward ihre Sehnsucht nach dem Kinde des geliebten Mannes. Alles, alles, was er von ihr verlangte für seinen Sohn, würde sie diesem geben, mehr noch, viel mehr! Wie ein Verschmachtender trinkt, so sog sie die Vorstellung jener Minute ein, in der sie die Arme ausbreiten würde, um dieses Kind ans Herz zu nehmen.

Wollte Gott, es stünde erst neben ihr!




Und der Tag nahte sich; die Zeit war langsam, aber sie war vergangen. Die Vorbereitungen hatten der angehenden Pflegemutter viel heimliche Freuden, die Sticheleien der Schwester, das bekümmerte Aussehen des Neffen, der von der Mutter allmählich überzeugt worden war, daß ihm durch das Erscheinen des „fremden Bengels“ bitter Unrecht geschehe, viel offenbare Kränkungen gebracht. Aber sie ging doch unbeirrt ihren Weg. Zwei Tage vorher war denn alles in schönster Ordnung, wenigstens im Obergeschoß des alten Hauses, das sein spitzes Giebeldach trug wie eine verhältnißmäßig viel zu hohe Kopfbedeckung, und dessen zahllose Bodenluken verschlafenen Augen glichen. Nun ächzte die alte rostige Wetterfahne im Westwind, der über den Rhein daher brauste, und in den Straßen des winzigen Städtchens tobte die liebe Jugend in allerhand billigen Verkleidungen einher, denn es war der Rosenmontag, und wenigstens die kleinen Leute wollten ihren festlichen Umzug haben wie die großen dort unten im heiligen Köln und oben im goldenen Mainz.

Fritz Roettger stürmte auch die Treppe hinauf in Tante Riekchens Zimmer, obgleich ihn die Mutter gewarnt hatte, daß besagte Tante ja doch keine Augen mehr für ihn haben würde.

Sie hatte recht gehabt, die Mutter. Tante Riekchen saß stumm und bleich im Sofa, und vor ihr stand der Onkel Doktor mit einem Briefe in der Hand und schien so halbwegs ihre Fassungslosigkeit zu theilen, denn er kratzte sich bedenklich hinter den Ohren. Fritz hörte darch seine schwarze Pferdehaar-Perücke, mittels welcher er sich zu einem „Radidimausidifallenjungen“ umgeschaffen hatte, noch deutlich, wie er sagte. „Ja, das ist nun nicht anders, mein liebes Fräulein Riekchen; bedenken Sie, daß es so das Nächstliegende war. Hier haben Sie das Schreiben. Vorläufig ist nichts daran zu ändern, und später – kann ja dann Rath werden. Gezwungen – – Was stehst Du denn hier und gaffst, dummer Bub’,“ herrschte er den Knaben an, der mit offenem Munde lauschte. „Lauf ’nunter, ich hör’ schon die Musik.“ Und als der Verdutzte verschwunden war, fuhr der Doktor fort. „Gezwungen werden, das zweite auch noch als Pflegekind anzunehmen, können Sie nicht. Ich bitte Sie, der Adami muß doch hier in Deutschland herum noch Verwandte haben, deren Pflicht und Schuldigkeit es ist, für die Kinder zu sorgen?“

„Keine hat er, lieber Doktor!“

„Na, das wird sich alles finden. Mein Bruder war aber in ganz verwünschter Lage; stellen Sie sich nur vor – wie schreibt er denn?“ Und er begann zu lesen:

[620] „Ich kann Dir nicht sagen, wie es aussah dort in dem kleinen Hause nahe der Kapuzinerkirche. Das verstaubte öde Atelier, mitten darin die Bahre der jungen Frau, die, wie man mir sagte, sich bei der Pflege des schwindsüchtigen Gatten angesteckt hatte, um in unglaublich kurzer Zeit derselben furchtbaren Krankheit zu erliegen; dazu eine alte halb blödsinnige Person, die Mutter der Verstorbenen, die ein wahres Zetergeschrei erhob über die Last, die sie auch noch mit einem Kinde haben müsse, einem ganz abscheulich boshaften Kinde. Den Aeltesten würde sie gleich behalten, wenn ich nur die da mitnehmen wollte, und sie wies nach einer Ecke, in der ein kleines Mädchen hockte, ein armseliges mageres Ding mit großen ausdruckslosen Augen, dem Schelte und Schläge gar nicht mehr weh zu thun schienen, vermuthlich, weil es schon vom ersten Tage an daran gewöhnt worden war.

Ich machte der widerwärtigen Scene ein Ende, indem ich erklärte, beide Kinder mitnehmen zu wollen. Es ist eigenmächtig und leichtsinnig, ich gestehe es, aber das Herz drehte sich mir im Leibe um beim Anblick des kleinen jammervollen Geschöpfes, und ich denke, so völlig wird ja doch Edelsinn und Großmuth noch nicht aus der Welt geschieden sein, daß so ein armes Dingel verkommen müßte. Wäre ich ein anderer, lieber Bruder, ich behielt es selbst – aber so –“

„Behalte ich es,“ unterbrach die Stimme Riekchens den Lesenden, „es muß auch gehen. Die Freudigkeit zu diesem Schritte wird sich noch finden,“ setzte sie hinzu. „bis jetzt geschieht es nur unter dem Einfluß der Nothwendigkeit.“ Und sie drückte dem alten Freunde die Hand, klingelte ihrer Magd und begann mit neuem Rumoren im Hause, just über der Schlafstube der Frau Räthin, die sich gerade das schwarze Häubchen aus Wollspitzen auf den Scheitel setzte. Schwarze Wollspitzen schienen ihr das praktischste, sie kosteten keine Wäsche und waren haltbar.

„Luischen!“ rief sie in die Stube, wo das Mädchen den Ofen schürte, „was ist denn da oben wieder los?“

Und Luischen ging auf Kundschaft und kam mit schreckensbleichem Gesicht zurück. „Um Gotteswillen, Frau Räthin, das Fräulein richtet ein zweites Bettchen auf, ein kleines; vom obersten Boden hat sie’s herunterschaffen und neben ihrer Schlafstube aufstellen lassen, und das Käthchen sagt, es kämen nicht eines, sondern zwei Kinder.“

„Gott erbarme sich!“ rief die entsetzte Frau, „was fällt ihr ein? Unser Haus ist doch keine Kinderbewahranstalt!“ Und sie lief spornstreich’s die breite Eichentreppe hinauf und trat in die geöffnete Thür eines kleinen einfenstrigen, alkovenartigen Raumes, der dem verstorbenen Vater, dem Justizamtmann, als Aktenkammer gedient hatte. Dort stand jetzt ein schmales Gitterbettchen, darin einst beide Schwestern ihre Kinderträume verträumt hatten und in welches Fräulein Riekchen eben ein Kopfkissen als Deckbettchen legte.

„Na, ich hab’s nicht glauben wollen – jetzt seh’ ich’s,“ sagte die Frau Räthin tonlos.

„Ich kann’s selber schwer glauben,“ antwortete die Schwester und nahm eine alte Zitzgardine vom Tische, um sie prüfend gegen das Fensterlein zu halten.

„Nun, wenigstens scheinst Du Dich einfacher einrichten zu wollen bei diesem neuen Zuwachs,“ kam es von den zitternden Lippen der Frau Minna, „oder wird da auch neu tapeziert und gestrichen, und werden zu Dutzenden die theuersten Spielsachen aufgebaut wie drüben bei dem Prinzen?“ Und sie deutete mit der Hand nach der gegenüberliegenden Thüre über der ein höchst einfaches, von Tannenzweigen umrahmtes „Gott segne Deinen Eingang!“ prangte.

Riekchen antwortete nicht und begann, das rothgetüpfelte Stückchen Zeug an ein Gardinenbrett zu heften. Was sollte sie auch sagen? Jedes Wort hätte den Sturm entfesselt, der schon lange in der Luft dieses Hauses lag, und sie wollte Frieden, Frieden um der Kinder willen.

Die erregte Frau bezwang sich endlich angesichts dieser Gelassenheit, sie that nur einen tiefen Seufzer und sagte: „Wüßten’s der Vater und die Mutter, im Grabe drehten sie sich um, nicht einmal, sondern zweimal!“ Damit ging sie, um sich drunten ihr Schwarzseidenes überzuwerfen, denn sie war zu einem Kaffee gebeten bei Frau Kammerräthin Gerbach, woselbst sich auch die sämmtlichen, möglich und unmöglich aufgeputzten Kinder versammelten, um sich bei Punsch und Kuchen gütlich zu thun. Dort saß sie und erzählte mit gen Himmel gerichteten Augen, daß es doch ein wahres Kreuz um eine alte Jungfer sei. Schrullen habe das Riekchen, höher als ein Haus, aber sie, sie wasche ihre Hände in Unschuld. Drunter und drüber werde es ja gehen. „Na, Ihr werdet sehen, Kinder, denkt an mich!“




Aschermittwoch, und alles übernächtig, traurig und still; die Alten mit Kopfweh, die Kinder mit Magenbeschwerden, und dazu ein ganz abscheulicher Ostwind, der selbst durch die Fensterritzen sein Opfer sucht mit Halsschmerzen unb Schnupfen.

Frau Räthin hatte große Wäsche angesetzt; was gingen sie denn die Empfangsfeierlichkeiten da droben an? Der feuchte Dunst der Waschküche fand seinen Weg bis in den großen, mit uralten nachgedunkelten Porträts geschmückten Flur und verwischte sich mit dem Duft des frischgebackenen Kuchens, der von oben aus der neu eingerichteten Küche des Fräuleins herabdrang. Denn die Frau Räthin hatte erklärt, fortan sei es besser, jede Familie führe ihre eigene Wirthschaft.

Die Frau Räthin that sich viel darauf zugute, ihre Meinung „ehrlich“ heraus zu sagen. Daß dieser sonst recht lobenswerthe Grundsatz in einer Art Anwendung fand, die verletzend wirken mußte, fühlte sie nicht; bei ihr war Grobheit und Wahrheit gleichbedeutend. Ihr Wahlspruch lautete: „Ich kann mich nicht verstellen. Wem’s nicht paßt, wie ich bin, der soll mir vom Leibe bleiben. So ein zimperliches, rücksichtsvolles Gethue, wie es das Riekchen an sich hat, ist mir schrecklich, das ist nicht Fisch noch Vogel, nicht lau und nicht warm, basta!“

„Du gehst in die Wohnstube, dummer Bub’, und hast nicht etwa Maulaffen feil, wenn die fremden Kinder kommen!“ fuhr sie den Sohn an.

Fritz verzog sein Gesicht, denn er hatte schon die Einladung der Tante, das Mittagsbrot bei ihr zu essen, abschlagen müssen; aber gegen den Willen der Mutter gab es kein Auflehnen. Er begnügte sich, den Lauscherposten am Fenster einzunehmen und so gespannt die Mauerpforte im Auge zu behalten, als stehe er auf dem Anstand.

Droben saß auch jemand am Fenster und wartete.

Es war ein mittelgroßes behagliches Zimmer mit Wandtäfelung und dunklem Balkenwerk. In der Mitte des Raumes unter einer Hängelampe stand ein alter massiver Eichentisch; an der Wand neben dem Ofen aus Backsteinen, um den eine hölzerne Bank lief, hing ein leeres Bücherregal; es sollte sich erst noch füllen. Einige Landkarten, ein paar Bilder, Darstellungen aus der römischen Geschichte, ein Schreibpult und ein Bett vervollständigten die Einrichtung. Der Tisch aber trug eine wahre Weihnachtsbescherung an Spielen, Soldaten, Büchern, alles umkränzt mit Tannenzweigen. Das war das Zimmer, welches der kleine Friedrich Adami bewohnen sollte, und man sah auf den ersten Blick, daß Hoffnung und Liebe es eingerichtet hatten.

Fräulein Riekchens Herz hörte fast auf zu schlagen, als die Glocke drunten gezogen wurde. Die alte Dora, die just zu jener Zeit im Hause gedient hatte, als Riekchen sich von ihrem heimlich Verlobten trennen mußte, und die, nun längst Witwe, auf Bitten des Fräuleins den Posten einer Wirthschafterin in dem vergrößerten Haushalt übernommen hatte, obgleich sie Stein und Bein schwur, sie könne nicht mehr so recht schaffen, – sie lief, so rasch es ihre alten Füße gestatteten, die Treppe hinunter und an die Hausthür, während ihre Herrin dort oben stand wie gelähmt und nur eines sah, einen schlanken blonden Buben, der an der Hand des Doktors über den Hof schritt.

Die Füße zitterten ihr. Wie eine steinalte Frau schleppte sie sich bis zur Stubenthür und hinaus auf den Flur, und dort lehnte sie am Treppengeländer mit vergehendem Athem. „Mein Junge,“ flüsterte sie in heftiger Bewegung, „mein herziger armer Bub’, sei willkommen!“ Und sie zog den biegsamen Körper des schlanken Burschen an sich und starrte ihm ins Gesicht, und sie preßte ihre Lippen auf den Blondkopf, und die klaren Tropfen aus ihren Augen rannen auf das krause dicke Haar, dasselbe Haar, wie der Vater es gehabt. „Friedrich heißt Du wie Dein Vater? Und bist Du gern zu mir gekommen? Ich will Dich

[621]

Photographie von Ad. Braun u. Cie. in Dornach, Vertr. H. Grosser in Leipzig.
Kinder der Flur.
Nach einem Gemälde von A. Delobbe.

[622] lieb haben, Friedrich – Du verstehst mich doch, Du sprichst doch deutsch?“

Er hatte sich etwas verlegen aus den Armen der fremden Frau gewunden. „Ja!“ sagte er und sah an ihr vorüber, „aber Italienisch ist schöner.“

Der Doktor lachte verlegen. „Oskar,“ rief er zurück, „kommst Du noch nicht?“

Vom Absatz der Treppe her war schon während einiger Minuten die zuredende Stimme eines Mannes gedrungen. „Ja doch! Ja doch!“ rief dieselbe Stimme jetzt, „der kleine Racker sitzt hier auf der Treppenstufe und ist nicht zu bewegen, weiter zu gehen. – Na, dann komm, Du Eigensinn,“ fuhr er fort, „ich will Dich tragen!“

Nun der Schrei eines erschreckten Kindes, und gleich darauf tauchte an der Biegung der Treppe ein Mann auf mit breitkrämpigem Kalabreserhut, der ein sonderbares kleines Wesen in den Armen trug. Es lag darin, wie man etwa ein Wickelkind trägt, den Kopf hintenüber gebeugt, die Augen halb geschlossen, einen trotzigen Zug um den Mund und die Fäustchen geballt.

„Wo kann denn die Vorstellung des kleinen Fräuleins erfolgen?“ fragte scherzend der Bildhauer, Oskar Kortum, der Bruder des Doktors; „es ist wohl am besten, ich bringe sie gleich an Ort und Stelle, sonst fängt der scheue Vogel auf der Stubenschwelle noch einmal an, mit den Flügeln zu schlagen.“

Fräulein Riekchen öffnete die Thür zu des Knaben Zimmer, und dort stellte der Künstler ein kleines Geschöpf auf zwei winzige Füßchen, ganz drollig anzusehen; aus einem sonderbar buntgestreiften Tuche, das um die Taille geknüpft war, tauchte ein blasses Gesichtchen empor, von einer Fülle dunkler krauser Haare umgeben. Regungslos stand das Persönchen da, vollständig fremdländisch anzuschauen; das einzige, was sich an ihm regte, waren die großen goldenen Ringe in den zierlichen Ohren.

„Geh zu der Dame und gieb ihr die Hand,“ sagte der Bildhauer auf Italienisch. Aber die beiden braunen Hände schlangen sich fest ineinander, das Mündchen preßte sich zusammen und zwei große dunkle Augen streiften scheu unter langen Wimpern hervor die schlanke Frau, die noch immer den Bruder mit einem Arme umschlungen hielt.

„Komm doch zu mir, Kleine,“ forderte Riekchen. Aber ihre Stimme klang anders, als sie zu dem Bruder gesprochen hatte. „Komm, mein Kind, wie heißt Du denn?“

„Julia,“ antwortete der Knabe an ihrer Stelle, „Julia, wie die Mama.“

„Komm her, Julia!“ Riekchen Trautmann sprach es ungeduldig und befehlend, über ihr Gesicht war jäh eine rothe Flamme hingeschlagen. Und als das Kind stumm zurückwich, riß sie es zu sich herüber, und vor ihm niederkniend, hielt sie es an beiden Schultern und sah ihm in das schmale blasse Gesichtchen unter dem wirren Gelock.

„Keine Spur von ihm – fremd, fremd!“ sprach ihr Herz, und jede weiche Regung schwand daraus. „Das ist ihr Kind, das Kind jener, die das Glück besaß, das doch mir gehörte von Gottes- und Rechtswegen!“ Sie fand kein Wort der Liebe für das bebende Geschöpfchen; fast heftig ließ sie es los und richtete sich empor.

„Dora,“ sagte sie zu der alten Dienerin, „thue Du ihm die warmen Tücher ab und nimm es hinüber in sein Stübchen.“ Und wieder wandte sie sich zu dem Jungen, der an dem Tische stand und mit leuchtenden Augen die Schätze betrachtete, die dort für ihn lagen.

„Es ist Dein, Friedrich – beschau es Dir, nachher wollen wir essen. Ich bitte die Herren –“ und sie schritt zur Thür, „treten Sie einstweilen, bis es zu Tische geht, in mein Wohnzimmer und lassen Sie sich danken, Herr Oskar Kortum, für den großen Dienst, den Sie mir erwiesen haben.“

Die Brüder hatten rasch einen stummen Blick gewechselt. Der Jüngere seufzte. „Die Kleine dauert mich,“ murmelte er, so daß es nur der Aeltere verstand.

„Warte doch ab!“ tröstete dieser.

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Frau Minna scharwerkte indes unten in der Küche umher; da das Mädchen bei der Wäsche half, bereitete sie heute das Essen. Die Bratendüfte aus dem oberen Stock, wo der Doktor und der „windige“ Bildhauer aus Florenz, der die „unnützen Dinger“ gebracht, mitspeisten, machten ihre Laune nicht besser. Als nun gar der Fritz in die Küche schaute und fragte, ob er denn wirklich nicht oben essen dürfe – Tante Riekchen habe ihn noch einmal einladen lassen – ward sie ganz erbost. „So lauf in Kuckucks Namen!“ rief sie und schmetterte einen Deckel so heftig auf den brodelnden Fleischtopf, daß es wie Janitscharenmusik klang. Sie lief dann ins Waschhaus, und kein Stück war ihr recht gewaschen; es gab scharfen Tadel und bittere Redensarten, und endlich setzte sie sich in der Küchenschürze auf den Sorgenstuhl am Fenster der Wohnstube und nahm sich vor, ihre leibliche Schwester wegen Verschwendung und Unzurechnungsfähigkeit unter Kuratel stellen zu lassen.

„Und gleich zwei! Gleich zwei!“ murmelte sie; „das zweite ist ganz und gar überflüssig. Eine Sünd’ und eine Schand’ ist’s – ersticken möcht’ man darob!“

Und just in diesem Augenblick erscholl über ihr ein heftiges Kinderschreien, gellend und boshaft, wie die Räthin meinte; dann die Stimme Riekchens, so laut wie sie in diesem Hause noch nie vernommen worden war, und jetzt unterschied die Lauschende auch noch Doras hohes Organ. „Na, das kann ja hübsch werden!“ sprach die Räthin vor sich hin. „Herr Gott, wenn ich bedenke, was das Riekchen für ein Gesicht machte, wenn mein Bub’ einmal schrie!“ Dann wurde es plötzlich still, aber in die Stube zur Frau Räthin kam das Luischen mit aufgestreiften Aermeln und nasser Schürze. „Haben die Frau gehört?“ fragte sie eifrig.

„Jawohl, ich bin nicht taub!“

„Ach Du mein, bin ich erschrocken! Eh’ man sich da dran gewöhnt! Die Kleine, das Mädchen, soll ein so böses Ding sein, vor Eigensinn ist’s ganz weggeblieben, sagt eben das Käthchen von droben, ganz blau ist’s geworden.“

„Du sollst Dich um Deine Wäsche kümmern!“

„Ich geh’ ja schon, Frau Räthin, aber so etwas hab’ ich noch nicht gehört, daß ein Kind wild wird, wenn’s etwas Liebes gethan bekommt. Schad’ um die neue Puppe, eben hat das Käthchen die Scherben in die Müllgrube gethan.“

Frau Räthin sah zum Fenster hinaus, und Luischen zog sich zurück; sie hörte nur noch, wie die Frau die Hände faltete und sagte. „Großer Gott, was für eine Last, was für eine Last! Was für ein unnützes Ding!“ –0

Fräulein Riekchens trauliche Schlafstube floh heute der Friede. Sie ging noch um Mitternacht auf und ab, jeder Nerv bebte ihr. Sie nahm den Wachsstock und schlich nach denn Zimmer des Knaben; der schlummerte nicht, er lag mit großen offenen Augen und starrte in die neue Umgebung.

„Schlaf, mein Bub’,“ flüsterte sie und beugte sich über ihn und strich ihm die Locken zurück, die sich genau so keck auf die weiße, schön geformte Stirn legten wie einst bei dem Vater.

„Ja, Tante!“

„Gefällt es Dir bei mir?“ forschte sie zärtlich.

„O ja! – Der Fritz und ich wollen uns morgen Kaninchen kaufen. Er sagt, wenn ich’s möchte, erlaubtest Du es.“

Sie schwieg.

„Nicht wahr, Du erlaubst es?“ fragte er und umfaßte mit beiden Armen ihren Hals und zog sie zu sich herunter.

Ihr schwebte ein „Nein!“ auf der Zunge, denn sie hatte vor kurzem erst dem Neffen diesen Wunsch abgeschlagen, aber das „Nein!“ verwandelte sich in ein „Ja!“ unter der Zärtlichkeit des Knaben. Sie war sich der Schwäche bewußt und es bangte ihr vor sich selbst.

„Nun schlafe aber auch!“

„Ja, Tante!“

Und dann ging sie auch an das Lager des kleinen Mädchens. Das Kind lag in dem weißen Bettchen, fest schlummernd, den kleinen Mund herbe heruntergezogen, die Fäustchen geschlossen. Die alte Dora schlief tief in ihren aufgethürmten Kissen. Friederike stellte das Licht auf ein Tischchen und stand mit schlaff herabhängenden Armen und gesenktem Kopfe vor diesem Kinde. Welch ein unseliger Charakter steckte in dem zerbrechlichen kleinen Ding! Ihr Herz zitterte noch bei der Erinnerung an die Scene von heute [623] mittag. Jubelnd hatte der Bub’ seine Schätze der Schwester gezeigt und das Mädchen hatte sie mit großen begehrlichen Augen angesehen, ohne sich zu rühren. Und da hatte ihr Riekchen eine Puppe hingehalten, eine sehr häßliche gewöhnliche Puppe, die Käthchen in aller Eile um ein paar Groschen aus dem nächsten Laden geholt, weil man so gar nicht an Mädchenspielzeug gedacht. Die Kleine aber griff nicht zu; sie streckte wie heute früh die Hände auf den Rücken und blickte schier verächtlich von der bunten Karikatur auf das Hänneschentheater, mit dem der Junge sich zu schaffen machte. Da nahm Riekchen ungeduldig die Puppe und drückte sie dem kleinen trotzigen Dinge gewaltsam in die Arme – und nun geschah etwas Unerwartetes. Die Hände des Kindes ergriffen die bunte Bäuerin und schmetterten sie so gewaltsam zur Erde, daß der Porzellankopf in tausend Scherben zersplitterte. Ein sprühender Blick traf die erschrockene Geberin, und das winzige Persönchen wandte ihr mit einer ganz unnachahmlich stolzen Gebärde den Rücken. Riekchen aber quoll ein unbekanntes schreckliches Gefühl heiß zum Herzen; sie faßte das Kind und führte es heftig in das Stübchen, da es schlafen sollte, und dort – wie kam es nur, daß sie so zornig werden konnte? – dort schlug sie die braunen unartigen Händchen, bis ein lautes Schreien begann, ein thränenloses entsetzliches Schreien, das ihr die Ohren gellen machte. Erst Dora hatte die kleine Gestrafte zu beruhigen vermocht.

Sie war zu hart gewesen, Riekchen gestand es sich ehrlich ein und war dennoch nicht imstande, die Hand auszustrecken, um liebkosend dieses schmale Kinderantlitz zu berühren. Und plötzlich sank sie am Bette nieder und klammerte sich weinend an die Gitterstäbchen. „Herr Gott,“ schluchzte sie, „welch eine Last, welch eine schwere Last hast Du mir auferlegt! Hilf mir – mein Herz wendet sich ab von diesem Kinde, ich kenne mich selbst nicht mehr!“

Und sie weinte, bis die Alte erwachte. „Ja, ja, sie ist ’ne Last, die Kleine da, eine schwere Last, Fräulein – aber, sehen Sie, da hilft nur Güte und Geduld.“

Und in diesem Augenblick sprach diese schwere kleine Last im Traume: „Mama mia, mia carissima Mama!“ Es klang so süß, so weich, wie wenn ein Vögelchen im Schlafe zwitschert.

Riekchen starrte in das Kindergesicht – es lächelte; wie entzückeud sah es aus!

Ja, wenn sie auch so gelächelt hatte – und wieder stürzten ihr die Thränen aus den Augen, und sie ging rasch hinaus, denn jetzt konnte sie das Kind erst recht nicht sehen.




Eine schwere Last – so dünkte allen dieses federleichte, kleine, seltsame Mädchen, das so unerwünscht und unerwartet ins Haus geschneit war, keinem schwerer als der Pflegemutter, am leichtesten noch der alten Dora. Vor der großen Gestalt der Tante flüchtete das Kind blitzgeschwind in irgend einen Winkel wie jene zierlichen Eidechsen, die sich auf einem Trümmerhaufen im heimathlichen Rom sonnen. Nichts brachte es aus seiner Gleichgültigkeit, Güte nicht und nicht die Strenge. Die Frau Räthin war geradezu entsetzt über das zigeunerhafte Geschöpf, und sie malte es ihren Freundinnen in so grellen Farben, daß diese sich wunderten, eines Tages an der Hand der alten Dora ein ganz menschlich aussehendes Wesen nach der Schule trippeln zu sehen; sie hatten gemeint, es sei mohrenschwarz und habe Wollhaar.

Wunderbarerweise hielt die Kleine in der Klasse aus, ja sie war beinahe schwer zu bewegen, nach Hause zu gehen, obgleich sie in der Schule meist starr auf ihrem Platze saß, die Augen von dem Lehrer nicht verwandte und von den Mitschülerinnen keine Notiz nahm.

Dora hauste mit ihr im kleinen Stübchen, in welchem nur grad’ Raum für die zwei Lager, ein Nähtischchen und den Schmollwinkel des Kindes war. Die Alte allein im ganzen Hause verstand es, mit dem „Julchen“ umzugehen. Freilich hatte die Kleine stets harte Ohren, wenn sie „Julchen“ genannt wurde; sie pflegte bei diesem Anruf regungslos an ihrem Platze zu verharren. Entschloß sich aber die Alte, so schmelzend es ihre rauhe Stimme fertig brachte, „Julia“ zu rufen, so gehorchte das Kind sofort.

Am wohlsten schien sich Julia zu fühlen in diesem Winkel, und wenn im Nebenzimmer, Tantes Putzstube, die Töne einer Violine erklangen, dann flog sogar ein Lächeln über das ernste kleine Antlitz und die Hände preßten sich gegeneinander wie im höchsten Entzücken während sie regungslos an der Thür lauschte.

„Du hast ihn wohl gern, den Fritz?“ forschte Dora, wenn sich das Mädchen das feine Näschen an der Fensterscheibe platt drückte und mit ernsten Augen das Spiel der wilden Jungen im Garten verfolgte. Aber eine Antwort bekam sie nicht.

„Hast Du Deinen Bruder recht lieb?“ fragte die Alte weiter.

„Nicht so sehr!“ autwortete das seltsame Kind.

„Nun, aufrichtig bist Du wenigstens, beinahe so wie die Frau Räthin – daß Gott erbarm’!“ Und Dora dachte daran, daß besagte Dame von dem fremden Eindringling nie anders sprach als von „Mamsell Unnütz“.

Zuletzt gebrauchten auch die Dienstboten diesen Namen und die beiden Jungen, die sich mächtig angefreundet hatten. Frau Räthin ließ diese Freuttdschaft zu, denn Riekchen fand ja in ihrer Affenliebe für den blonden Friedrich nicht Maß noch Ziel, war aber doch so gerecht gegen ihren Neffen, daß sie ihn vollauf an allem Guten theilnehmen ließ, das sie dem Pflegesohn gewährte.

Friedrich Adami, oder wie Tante Riekchen ihn nannte, der „Frieder“, war allmählich Herr im Hause geworden, nach ihm richtete sich alles; bedurfte es doch nur eines Blickes der blauen Knabenaugen in die der Tante, und sein Wille geschah. Er verlebte eine Jugendzeit wie im Himmel. Riekchen brachte es nicht einmal fertig, ihn zu tadeln für Unarten, für schlechte Schulzeugnisse, für Klagen seitens der Lehrer, sie fand stets eine Entschuldigung für ihn, und das Aeußerste war, daß sie ihn in ihr Zimmer kommen ließ, ihn mit Thränen im Auge bat: „Frieder, versprich mir nur, daß das nie wieder geschieht!“ Was er dann auch mit feurigster Bereitwilligkeit gelobte, um es in Zeit von einer halben StUnde zu vergessen.

Im ganzen Städtchen war der Frieder bekannt als einer der ärgsten Rangen. Der Doktor schüttelte betrübt den Kopf, wenn er abends aus dem Gasthaus „Zur Traube“ heimkehrte, wo auch die Lehrer des Gymnasiums ihren Schoppen tranken; und oft sagte er zu seiner Frau: „Es ist eben Weibererziehung, was soll daraus werden!“

„Du müßtest doch als Vormund eingreifen,“ antwortete diese dann ärgerlich. Er aber meinte, das könne und dürfe er nicht, denn noch geschehe ja nichts, was ein Einschreiten seinerseits rechtfertige.

Es war nur ein Glück, daß Tante Riekchen all die einsamen langen Jahre hindurch die Zinsen ihres Vermögens nicht verbraucht hatte und sich nun in der Lage befand, den Herrengelüsten ihres Frieder nachgeben zu können. Der Bube war eitel, er mußte alles geschniegelt und gebügelt haben. Die Räthin nannte es „Afferei“, und ihr Fritz bekam trotz allen Jammerns und Bettelns doch immer nur die gestickten Sachen für Alltags; Riekchen aber entschuldigte den Hang des Frieder für Eleganz mit dem Schönheitssinn, den er von seinem Vater, der ein Künstler gewesen, geerbt habe.

Ach, sie liebte ihn ja, den hübschen Buben, liebte ihn, wie nur ein Herz lieben kann, das jahrelang gedürstet hat, so angstvoll zärtlich, so leidenschaftlich blind, daß nichts anderes Platz fand in ihr und um sie als der Sohn des heißbetrauerten, so treu von ihr geliebten Mannes. Es war ihr eine schmerzlich süße Lust, nach Aehnlichkeiten in seinem Gesicht, nach gleichen Gesinnungen, Aeußerungen, Bewegungen zu forschen, und glückselig konnte sie den Knaben in die Arme ziehen, wenn sie etwas gefunden zu haben glaubte. Sie besaß eine kleine Büste seines Vaters; ein Freund desselben, ein junger Bildhauer, hatte sie einst modelliert; sie stand in den langen Jahren der Trennung auf einer Konsole über ihrem Nähtisch als der Einsamen größtes Heiligthum. Es gab Augenblicke, wo der Frieder diesem schönen Kopfe glich, als habe er dazu Modell gestanden – und sie liebte diese Züge, welche ihr Herz so ganz erfüllten, daß sich darin kein Raum mehr fand, die kleine verschlossene und ihrem Bruder so unähnliche „Mamsell Unnütz“ zu lieben!

(Fortsetzung folgt.)




[624]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Sprechendes Wachs und lebendes Papier.

Edisons neueste Erfindungen.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer.

Als ich im vorigen Winter nach New-York berufen wurde, um die beiden ersten unserer dekorativ ausgestatteten Vorträge der „Urania“ in der dortigen sogenannten „Music-Hall“ einrichten zu helfen, erachtete ich es zunächst nur als eine Pflicht der Form gegenüber Edison, welcher eines der drei einzigen Ehrenmitglieder der „Urania“ ist, ihm meine Ankunft auf amerikanischem Boden anzuzeigen und meine Bereitwilligkeit mitzutheilen, ihm den unserer Anstalt seiner Zeit gemachten Besuch zu erwidern.

Ich glaubte kaum, daß ich in Wirklichkeit Gelegenheit haben würde, den berühmten Erfinder in seinem Laboratorium in Orange begrüßen zu können, da es bekannt ist, wie sehr derselbe geschäftlich in Anspruch genommen ist und Besuche scheut, die in den meisten Fällen nur einer Befriedigung der Neugierde dienen sollen.

In der That liefen, obgleich Edison sofort bereitwillig darauf einging, mich in seinem Laboratorium zu empfangen, nicht weniger als sechs Wochen lang fast täglich Briefe, Telegramme oder telephonische Mittheilungen zwischen Orange und New-York hin und her, ehe der rechte Augenblick zu der Zusammenkunft gefunden war.

Ich hoffe, daß es die Leser der „Gartenlaube“ wohl interessieren wird, wenn ich einiges von den Eindrücken erzähle, welche ich von dem volksthümlichsten Erfinder der Gegenwart empfing, und ganz besonders auch wird es erwünscht sein, etwas Bestimmteres über die neueste Erfindung Edisons, den sogenannten „Kinetographen“, zu hören, über welchen vor einiger Zeit sehr dürftige, meistens entstellte und deshalb mit Recht vielfach verdächtigte Mittheilungen durch die Zeitungen gingen.

Das Wort „Kinetograph“ bedeutet einen die Bewegungen darstellenden Apparat, und seine Aufgabe ist es, nachdem der „Phonograph“ die Sprache und die musikalischen Töne lebendig wiedergegeben hat, nun auch die Bewegungen des Lebens, die sprechende, singende, musizierende Person zugleich dem Auge in allen ihren Bewegungen naturgetreu vorzuführen. Man erlaube mir jedoch, ehe ich im besonderen hierauf eingehe, von dem Erfinder selbst etwas zu erzählen.

Schon als er uns im September 1889 in der „Urania“ besuchte, machte sein ungemein bescheidenes, stilles, einfaches Wesen einen durchaus anderen Eindruck, als man ihn sich wohl aus manchen ungeheuerlichen Reklamen zu bilden geneigt ist, die den Namen Edisons unaufhörlich durch alle Welt posaunen. Es ist nämlich im Publikum wenig oder gar nicht bekannt, daß Edison mit den Hunderten von industriellen Gesellschaften, welche, in der ganzen Welt verbreitet, seinen Namen tragen, persönlich, geschäftlich fast nie irgend etwas zu thun gehabt hat. Edison ist von Finanzkorporationen, in deren Leitung der bekannte Eisenbahnkönig Villard in den letzten Jahren eine hervorragende Rolle spielte, geschäftlich vertreten, das heißt, er verkauft an diese Gesellschaften seine Erfindungen mit der Verpflichtung, alle Verbesserungen und Neuerungen denselben zuerst anzubieten, welche sie eventuell geschäftlich ausbeuten; dafür zahlen sie ihm außer einem bestimmten festen Satze Prozente an Aktien und Bonds. Auf das geschäftliche Verfahren dieser Gesellschaften hat Edison durchaus keinen größeren Einfluß als irgend ein anderer Aktionär. In mehreren Gesellschaften war er ab und zu Vicepräsident oder Direktor (honoris causa). Er hat niemals zu irgend welchen ungeheuerlichen Reklamen die Hand geboten, würde sie aber auch andererseits niemals verhindern können, da die Herren Zeitungsberichterstatter in Amerika Edisons Name gern dazu benutzen, um auf dem Gebiet der Erfindungen aus einer Fliege einen Elefanten zu machen. Edison selbst erfährt es kaum, was über ihn veröffentlicht wird, und wundert sich darüber, wenn man über seine Pläne und Entdeckungen besser als er selbst Bescheid weiß. Eine ergötzliche Geschichte, die sich während seines Besuches in der „Urania“ abspielte, mag dies näher erläutern.

Der Phonograph war aus Tausenden von Zeitungsartikeln bereits weltbekannt, während sich nur wenige Exemplare davon in Europa befanden, da die Edisonkompagnie dieselben noch nicht verkaufte. Oeffentlich waren die Wunderleistungen des zauberhaften Instrumentes damals nur auf der Pariser Ausstellung zu vernehmen und erregten dort begreiflicherweise das allgemeinste Staunen.

In der That giebt es wohl kein anderes von der Hand des Menschen gefertigtes Werk, welches so unmittelbar auf Gemüth und Seele wirkt wie eben der Phonograph. In unserer Sprache, in unserem Gesang liegt ja unsere ganze Seele, und nirgends kommen unsere inneren Bewegungen reiner, unmittelbarer zum Ausdruck als in der Musik, die der neue Phonograph in allen Klangfarben so wunderbar getreu wiedergiebt. Nicht selten habe ich deshalb am Phonographen, wenn ich beispielsweise Gelegenheit hatte, die Stimme fern weilender Angehöriger mit ihrer ganzen unmittelbaren Lebendigkeit wirken zu lassen, Männer mit ihrer Rührung kämpfen sehen, und nun gar Frauenthränen benetzen den Phonographen alltäglich. Es ist etwas Entzückendes und zugleich unheimlich Menschliches in dem Phonographen. Man muß sich zurückhalten, um nicht auf Fragen, die einem von bekannter Stimme aus ihm entgegentönen, sofort zu antworten. Und als ich im letzten Winter eine von mir besprochene phonographische Walze als Brief für meine Frau und meinen fünfjährigen Knaben nach Europa herüberschickte – einen Brief für einen Knaben, der nicht lesen kann, aber ihn doch besser als der Erwachsene alles Geschriebene verstand – da suchte derselbe überall im Zimmer herum und wollte es sich durchaus nicht nehmen lassen, zu glauben, daß der Papa zurückgekehrt sei und sich im Zimmer versteckt habe.

Man entschuldige diese kleine persönliche Abschweifung; ich komme auf den Besuch Edisons in der „Urania“ zurück. In Paris hatte ich wohl die ersten Exemplare des neuen Phonographen kennengelernt, es war aber unter keinen Umständen möglich gewesen, eines davon zu erwerben. Als nun Werner von Siemens, dessen Gast Edison in Berlin war, den Besuch des letzteren uns ankündigte, ließ ich in unserer physikalischen Sammlung recht sichtbar ein damals noch bei uns befindliches Exemplar des alten Phonographen aufstellen, bei welchem bekanntlich die Schwingungen der tonempfindlichen Membran ihre Eindrücke auf Staniol zurücklassen. Dieses Instrument arbeitete noch sehr undeutlich und musikalisch höchst unschön, nur die unverwüstlichen Trompetenklänge, welche hineingeblasen wurden, kamen mit einiger Naturtreue wieder zurück. Die menschliche Sprache war näselnd und unverständlich und machte einen komischen, wenn nicht peinlichen Eindruck.

Als Edison unseren Physiksaal durchwanderte, fiel denn auch sein Auge sehr bald auf dieses veraltete Instrument. Ein halb wehmüthiges, halb verschämtes Lächeln umspielte dabei seine Lippen.

Ich erlaubte mir, ihn ganz naiv zu fragen, ob er das Instrument wohl kenne. Er erwiderte recht kleinlaut, daß er nicht leugnen könne, es selbst konstruiert zu haben.

„Aber,“ setzte er sehr erfreut hinzu, indem er meinte, etwas ganz Neues mitzutheilen, „ich habe jetzt einen besseren Phonographen gemacht,“ und begann nun ganz ausführlich dessen Vorzüge zu erklären, daß nämlich bei dem neuen Phonographen das Staniolblatt durch eine Walze aus einer besonders zubereiteten, ziemlich harten Wachsmasse ersetzt sei, und daß die Eindrücke auf diese nicht mit einem spitzen Stifte, sondern mit einem fast mikroskopisch kleinen, äußerst scharfen, runden Messer eingegraben würden, und daß endlich die Walze statt durch die stets unsichere Hand durch einen eigens dazu hergestellten, sich selbst regulierenden Elektromotor gedreht würde.

Ich unterbrach ihn in diesen Erklärungen mit der seufzend hervorgebrachten Versicherung, das neue Instrument von Paris her wohl zu kennen. Leider hätte ich aber keinen Weg finden können, ein Exemplar desselben für unsere Gesellschaft käuflich zu erwerben.

Diese Erklärung hatte einen unvermutheten Erfolg. Wir hatten ja selbstverständlich nichts anderes erwartet, als daß Edison unsere Bestellung auf einen Phonographen neuester Konstruktion begünstigen werde. Das geschah nicht; dagegen erhielten wir etwa einen Monat später zwei Exemplare als persönliches Geschenk von ihm. Diese selben Exemplare sind noch heute in unausgesetzter Thätigkeit und haben bereits Hunderttausende in unserer Anstalt erfreut.

In New-York erfuhr ich inzwischen, daß der Phonograph

[625]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag in München.
Strickunterricht.
Nach einem Gemälde von L. Blume-Siebert.

[626] demnächst zu einem verhältnißmäßig sehr billigen Preise in den Handel kommen solle, wenn ich nicht irre, für 200 Mark. Sollte sich dies bewahrheiten, so würde der Phonograph zweifellos sehr bald überall hin den Weg finden.

Neben dem bisherigen sehr hohen Preise war allerdings auch die Empfindlichkeit des Instrumentes ein Hemmniß für dessen allgemeinere Verbreitung. Es wird auch voraussichtlich späterhin für die Aufnahme von Stimmen, Deklamationen, Musikaufführungen etc. ein besonders darauf eingeübter Techniker nöthig bleiben, und es wäre besser, wenn dies von den leitenden Geschäftskreisen unumwunden zugestanden würde. Es wird sich dann ein Verhältniß herausbilden wie das des Photographen zum Photographien sammelnden Publikum. Photographien kann eben auch in unserer Zeit der Liebhaberphotographen noch nicht jedermann, aber jeder schafft sich in Photographien eine Familiengalerie, eine Sammlung der schönsten Orte, welche er besucht hat oder an welche sich angenehme Erinnerungen für ihn knüpfen. So kann es auch späterhin mit den phonographischen Aufnahmen werden. Man wird sich neben den Bildnissen seiner Angehörigen ihre Stimmen aufbewahren, und wie man die körperliche Entwicklung seines Kindes durch die Jahre in den aufbewahrten Photographien verfolgt, so kann man auch die Stufenleiter der Entwicklung seiner sprachlichen und der damit unzertrennlich verbundenen geistigen Fähigkeiten festlegen. Und ebenso treu bewahrt das phonographische Archiv die Stimmen unserer verstorbenen Lieben. Auch mag man neben den Photographien von Künstlern, die uns einmal durch ihren deklamatorischen oder musikalischen Vortrag entzückten, die schönsten Stellen dieser Vorträge zu jederzeitiger Wiederholung bereit haben. Da nämlich Edison ein Verfahren erfunden hat, phonographische Originalwalzen beliebig zu vervielfältigen, so wird man Vorträge der berühmtesten Künstler wie beispielsweise der Patti, welche sich jede Note mit Gold aufwiegen läßt, für einen sehr geringen Preis käuflich erlangen können.

Ich stellte vorhin die phonographische Walze mit der Photographie in Parallele. Aber der Vergleich hinkt wie jeder. Die Photographie ist und bleibt etwas Totes, Starres und trotz ihrer Naturwahrheit dennoch stets Befremdendes. Der Phonograph aber ist voller Lebenswahrheit, es ist etwas wie eine Seele in ihm, es kommt eben ein lebendiger Hauch aus ihm hervor, Schwingungen, die unser Herz wiederbewegen.

Wenn man auch der Photographie dieses Leben einhauchen könnte! Dieser Gedanke war es, den Edison bei seiner neuesten Erfindung verfolgte.

Sein Kinetograph stellt die handelnden, singenden, sprechenden, musizierenden Personen in allen ihren Bewegungen mit vollkommener Naturtreue dar, und auch dieser Apparat kann zu beliebiger Zeit in Thätigkeit gesetzt werden, man kann zu jeder Zeit die Gestalt einer lieben Person sich lebend, sprechend wieder vor die Seele zaubern.

Die Erfindung ist nicht unbedingt neu. Die erste Annäherung daran finden wir in einem schon seit sehr langer Zeit bekannten Kinderspielzeug, dem sogenannten „Stroboskop“. Die einzelnen Phasen der Bewegung werden darin nebeneinander gestellt und durch einen in schneller Drehung vorüberziehenden schmalen Spalt nacheinander uns vor Augen gebracht. Die Bilder legen sich dann im Auge übereinander und bringen den Eindruck eines einzigen sich bewegenden Bildes hervor.

Seit die Photographie imstande ist, Augenblicksaufnahmen zu machen, ist das immerhin überraschende Instrument wesentlich vervollkommnet worden. Man sieht darin heute Pferde über Hindernisse springen oder andere Thiere in verschiedenen Gangarten an uns vorüberziehen, auch wohl ein Paar im Tanze sich umeinander drehen, oder andere periodisch wiederkehrende Bewegungen.

Der amerikanische Momentphotograph Muybridge hat ferner eine Vorrichtung erfunden, durch welche diese Bewegungen lebensgroß auf eine weiße Wand geworfen werden können. Er ließ vor einem Jahre in der „Urania“ Pferde an der Leinwand vorüber galoppieren; aber es waren immer nur die Silhouetten derselben.

Weiter brachte es in dieser Beziehung unser vortrefflicher Momentphotograph Ottomar Anschütz in seinem „Schnellseher“. Die Bilder erscheinen in demselben sehr klar in allen ihren Einzelzügen, aber auch er konnte nicht über eine ganz einfache, periodisch wiederkehrende Bewegung hinausgehen. Alle diese Bilder werden durch eine Batterie von gewöhnlich 12–24 photographischen Apparaten hergestellt, von denen jeder einen Bruchtheil einer Sekunde später als der vorhergehende eine Augenblicksaufnahme des betreffenden bewegten Gegenstandes macht. Die Glasplatten werden nun in dem Schnellseher in derselben Schnelligkeit nacheinander vor unseren Augen vorbeigeführt und dabei jede nur einen Augenblick lang durch das Aufblitzen einer sogenannten „Geißlerschen Röhre“ beleuchtet. Leider ist das Licht der letzteren nicht sehr stark, kann aber wegen der Besonderheit des Anschützschen Apparates durch eine andere Lichtquelle nicht ersetzt werden.

Kurz und gut, es traten von allen Seiten Schwierigkeiten auf, die Bewegungen von Menschen und Thieren in ihrer Lebenswahrheit getreu wiederzugeben. Die Versuchsapparate, welche bis jetzt hergestellt wurden, können deswegen etwa mit jenem ersten unvollkommenen Phonographen verglichen werden, welcher nur eine sehr getrübte Wiedergabe der Stimme oder der musikalischen Laute gestattete.

Edison hat nun in seinem Kinetographen auch zu jenem Zwecke den vollkommeneren Apparat gefunden. Er brach zu diesem Ende zunächst mit dem Prinzip der kreisenden Scheiben oder Trommeln und erzeugte auf einem unausgesetzt in nur einem einzigen photographischen Apparat mit großer Geschwindigkeit vorüberziehenden lichtempfindlichen Streifen nacheinander in jeder Sekunde etwa 40 Bilder des sich bewegenden Körpers; und zwar vermag er dieses Verfahren solange fortzusetzen als es beliebt wird. Die Wiedervereinigung der Bilder zu einer „lebenden“ Photographie geschieht in einem kleinen Apparat, der nicht mehr Raum einnimmt als eine der verschiedenen automatischen Verkaufsstellen, die man überall antrifft, und Edison gedenkt in der That, diese Apparate als Automaten in den Handel zu bringen, wie es Anschütz mit seinem „Schnellseher“ bereits gethan hat. Der Streifen zieht in dem Edisonschen Apparat mit der ursprünglichen Geschwindigkeit, welche bei der Aufnahme erforderlich war, vor einer dauernd brennenden Glühlampe vorüber.

Edison zeigte mir in dem einzigen derartigen Apparat, welcher bis dahin bestand, folgende Handlung: drei Schmiedegesellen bearbeiteten mit schweren Hämmern eine Eisenstange auf dem Ambos, welche der eine von ihnen gelegentlich umwendete oder aufhob. Nachdem das Eisen einen gewissen Bruchtheil einer Minute lang bearbeitet war, stellten die Arbeiter ihre Hämmer zur Erde, machten einige Schritte bis zu einem nahen Tische, auf welchem drei Gläser Bier standen; sie tranken dieses Bier aus, wischten sich den Mund, nahmen ihre Hämmer wieder zur Hand und arbeiteten weiter.

Diese ganze Handlung verfolgte man mit der größten Schärfe und Naturtreue in den transparenten Photographien, welche in wunderbarer Weise eben wirklich zu leben schienen. Alle Bewegungen der Kleider oder irgend andere Einzelheiten, die man in der Wirklichkeit an dieser Gruppe aus einer Entfernung von vielleicht 5 Metern hätte beobachten können, sah man auch hier.

Edison hat bereits eine beträchtliche Anzahl ähnlicher Bilderreihen aufgenommen. Jedoch scheint die Umwechslung einige Schwierigkeiten zu bereiten, weshalb er mir nur diese eine zeigen konnte.

Als ich ihm meine Verwunderung über die Einfachheit des Apparates aussprach, lächelte er und sagte, daß der Aufnahmeapparat, welchen er mir leider nicht zeigen könne, allerdings durchaus nicht einfach sei, und daß die mit ihm bewirkte Aufnahme einer Handlung, welche eine Dauer von fünf Minuten habe, vorläufig noch so etwas wie 20000 Mark Auslagen verursache. Alles das werde aber einmal später viel billiger herzustellen sein.

An sich liegen also heute keinerlei Schwierigkeiten mehr vor, jene Zukunftsphantasien zu verwirklichen, welche beispielsweise Pleßner in seiner Schrift „Ein Blick auf die großen Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts“ wagte. Große geschichtliche Vorgänge, wie den Einzug siegreicher Truppen in die Hauptstadt, an der Spitze den Kaiser und die Feldherren mit blitzenden Waffen und über ihnen in der Luft die fliegenden Lorbeerkränze, welche ihnen die jubelnde Menge entgegenwirft, dazu diesen Jubel selbst und die schmetternden Siegesfanfaren, alles, das ganze ergreifende Bild des großen Augenblicks wird man lebendig für alle Zeiten festzuhalten imstande sein, so daß man nach Jahrzehnten, ja nach Jahrhunderten vielleicht, wenn jener Herrscher selbst mit allen [627] seinen siegreichen Truppen und seinem Volke, das ihm entgegejauchzte, vom Allbezwinger Tod überwunden ist, ihn dennoch lebendig, wie er war in jener denkwürdigen Stunde, jeder Zeit vor sich sehen und den Jubel hören kann, den das beglückte Volk den Siegern einst entgegenbrachte.

Was werden die Geschichtschreiber kommender Jahrhunderte noch zu thun haben, wenn alles lebendig, sichtbar und hörbar bleibt, was einst Wichtiges in der Welt geschah? Dies hat die Technik unseres Jahrhunderts möglich gemacht. Welche Wunder wird uns das zwanzigste bringen?


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Eine Gigerlfamilie des 16. Jahrhunderts.

Von Hans Bösch.

Man ist allgemein der Ansicht, daß in der „guten alten Zeit“ die Leute mit dem Anschaffen neuer Kleidungsstücke nicht so schnell bei der Hand gewesen seien wie heutzutage, daß sich vielmehr „Anno dazumal“ die aus schlichten aber guten Stoffen gefertigten Kleider vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter vererbt hätten. Dies mag bei den weniger Wohlhabenden allerdings der Fall gewesen sein. Aber unter den Reicheren gab es manche, die sich in dieser Beziehung keinerlei Zwang anthaten und einen solch merkwürdigen Kleiderluxus entfalteten, daß sie hinter unseren neuzeitlichen Kleiderfexen, genannt „Gigerln“, nicht im mindesten zurückstehen, vielmehr manchen derselben übertreffen dürften. Zwei Trachtenbücher im Herzogl. Museum zu Braunschweig geben Kunde von einer Familie, in welcher diese Kleidernarretei sogar erblich war.

Im Frühjahrsanzug.   Der Fünfziger.   Zum Empfang des
  Zur Schlittenpartie.   Erzherzogs Ferdinand.
Matthäus Schwarz in verschiedenen Trachten seines Lebens.

Der einem angesehenen und wohlhabenden Augsburger Geschlecht entstammende Matthäus Schwarz kam nämlich 1520, als er 23 Jahre alt war, auf den eines Gigerl würdigen Einfall, sich eine Biographie seiner werthen Persönlichkeit in der Form anzulegen, daß er sich in allen Kleidertrachten abkonterfeien ließ, die er je getragen. Und zwar ging Schwarz mit der den Deutschen eigenthümlichen Gründlichkeit zu Werke, indem er schon die Windeln, welche das Wiegenkind einhüllten, für darstellungswürdig erachtete. Recht seltsam ist die folgende Tracht: er ist als Zweijähriger in Tücher eingewickelt, da man ihn für tot hielt und ihn begraben wollte. Aus den ferneren Blättern, die ihn als Knaben darstellen, sieht man, daß er ein wilder Junge wurde, der nicht recht gut that. Er kam mit sieben Jahren zu Kunz von der Rosen, Kaiser Maximilians lustigem Rathe. „Der zog,“ schreibt er, „nichts gutz (nichts Gutes) aus mir.“ Eben deshalb schickte ihn sein Vater zu einem Geistlichen nach Heidenheim, wobei man ihn unterwegs auf dem Wagen festbinden mußte, um seinen Fluchtversuchen ein Ende zu machen. Die strenge Zucht war natürlich nicht nach seinem Geschmack, er entlief dem Pfarrherrn, nachdem er in dessen Garten alle Krautköpfe abgeschlagen hatte. Auf dem Wege nach Augsburg suchte er sich sein Brot durch Singen zu verdienen und half den Hirten die Kühe hüten. Wieder im Vaterhaus, faßte der „böse Strick“ die Absicht, ein – Mönch zu werden. In Bild und Wort sind immer die Kleidungen beschrieben, welche Matthäus Schwarz bei allen diesen verschiedenen Gelegenheiten trug.

Mit vierzehn Jahren kam er in seines Vaters Geschäft und dort scheint er gut gethan und sich brauchbar erwiesen zu haben, denn er durfte schon im nächsten Jahre in Geschäftsangelegenheiten nach Lindau reiten, 1515 sogar nach Mailand.

Diese Reisen, die fremden Trachten, die er dabei sah und sich sofort ebenfalls anfertigen ließ, erweckten in ihm den Sinn für die Kleidernarretei, denn bei dem Jahre 1514 bemerkt er, daß er anfing, seine Kleider aufzuzeichnen; was er aus früheren Jahren darstellen ließ, that er aus dem Gedächtniß.

Der Aufenthalt in Mailand bot ihm zum ersten Male so recht Gelegenheit, seiner Kleiderliebhaberei die Zügel schießen zu lassen. Im Juli 1515 ließ er sich dort einen sehr bunten Anzug machen, der ihm aber im Oktober schon nicht mehr genügte. Die Mailänder, deren Land damals von König Franz I. von Frankreich erobert worden war, liebten es, in französische Tracht sich zu kleiden. Als „guter Deutscher“ äffte unser Matthäus diese Mode natürlich sofort nach; er bestellte sich einen blau- und gelbgestreiften Anzug, der mit goldenen in das Blau gestickten französischen Lilien geschmückt war. Der Farbe der Kleidung entsprechend, trug er einen blauen Hut mit breiter gelber Feder. Auch noch einen braunen Anzug verschaffte sich Schwarz, der aber auch goldene Lilien auf blauen Aermelstreifen zeigte. Dieser Anzug ward ihm am 4. April 1516 von einem Gascogner gestohlen, weshalb er sich einen anderen Anzug in wälschem Geschmack fertigen ließ. Als er in demselben Jahre in seine Vaterstadt zurückkehrte, trat er in den Dienst des Herrn Jakob Fugger, in welchem er Zeit seines Lebens verblieb. Er ward zu einer in Modeangelegenbeiten tonangebenden Persönlichkeit in Augsburg, zu einem hervorragenden Genossen der jungen Lebewelt.

Am 28. November 1519 starb sein Vater, den er sieben Monate lang und zwar in vier verschiedenen Trauerkleidungen mit verschiedenen Abstufungen betrauerte. Es scheint, daß er sich zu Lebzeiten seines Vaters noch etwas Zwang bezüglich seiner Kleiderliebhaberei angethan hat, denn gerade nach Ablauf der Trauerzeit fröhnt er derselben in üppigster Weise. Im Jahre 1521 verschaffte er sich sieben neue Kleidungen, darunter eine besondere zum Schlittenfahren, eine für die Einholung des Erzherzogs Ferdinand, eine für die Hochzeit dieses Fürsten in Linz, der er anwohnte, und eine schwarze, weil damals die Pest in Augsburg hauste. Sie muß jedoch nicht sehr lange geherrscht haben, weil Schwarz am 20. Februar 1522 schon wieder Schlitten fuhr, natürlich wieder in einem neuen Anzug, da er sich bei jeder Schlittenpartie neu kleidete. Außer dieser Kleidung schaffte er sich in demselben Jahre noch fünf weitere an. Diese Anzüge waren aber durchaus nicht einfacher, sondern meist kostbarer und prächtiger Art, man sieht, daß ihr Träger etwas Absonderliches haben und die Augen der Leute auf sich ziehen wollte. Im März 1523 ließ er sich drei Kleidungen gleich auf einmal machen. Das Wamms der dritten hatte nicht weniger als 4800 Schlitze, aus welchen andere Stoffe hervorschauten.

Im Jahre 1524 ging Schwarz mehrmals auf Hochzeiten, allemal in einem neuen Kleide, er brachte es in diesem Jahre wieder auf sieben Anzüge – was muß dieser Herr Schwarz für einen großen Kleiderschrank und für einen großen Geldbeutel gehabt haben!

Wohl eine besondere Erfindung unseres Schwarz war ein Rock zum Umwenden, den man auf beiden Seiten tragen konnte und den er während des Bauernkrieges – 1525 – viel gebrauchte. Am 20. September 1526 ließ er sich vier Paar Hosen auf einmal machen, im Februar 1530 vier vollständige Kleidungen. Im Jahre 1538 verlobte sich Schwarz mit einer Mangoltin aus Schw. Gmünd; er hat dem lustigen Junggesellenleben nur ungern Valet gesagt, denn als Bräutigam läßt er sich von der Rückseite, sich hinter den Ohren krauend, abmalen und schreibt unter das Bild: „Als ich mich [628] unterstondt, ein Weib zu nehmen." Natürlich finden wir auch die Tracht abgebildet, in welcher er in die Kirche zur Trauung ging. Mit dem zunehmenden Alter stellten sich Gicht und andere Krankheiten ein, so daß Schwarz die Lust an den Kleidern verlor und sich z. B. in den sieben Jahren von 1554 bis 1560 nur einen einzigen Anzug anschaffte, der auf der 137. und letzten Figur seines Trachtenbuches vorgeführt wird. Matthäus Schwarz ist wahrscheinlich nicht lange nach dem letzteren Jahre gestorben.

Veit Konrad Schwarz lernt fechten.

„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme." Matthäus’ Sohn, Veit Konrad, hatte die Liebhaberei seines Vaters für Kleider geerbt und legte sich, da er sah, daß die Welt „je länger je närrischer“ in seltsamen Kleidermoden war, ebenfalls eine solche Selbstbiographie in Kleidertrachten an, in die er aber nur die „fürnembsten", hübschesten und buntesten malen ließ. Auch Veit Konrad fängt von Kindesbeinen an; wir sehen ihn im Laufstühlchen, auf dem Steckenpferd etc. Er war ebenfalls ein böser Junge, denn er berichtet selbst, daß er aller Bosheit voll war und mit Vorliebe das that, was die Leute verdroß. Natürlich fehlte es da auch nicht an entsprechender Strafe, deren Andenken malerisch zu verewigen Veit Konrad sich nicht scheute. Dann sieht man, wie er in die Schule geschleppt wird und sich mit allen möglichen Spielen, ganz ähnlich denjenigen der heutigen Jugend, ergötzt. Mit 13 Jahren nahm ihn sein Vater in die Schreibstube der Fugger und mit 14 – 1555 – kam er nach Verona, um die italienische Sprache zu lernen. Im Juni 1555 besuchte er in einem rothen Kleide seinen Bruder zu Venedig; zu Weihnachten aber ließ er sich den Damen seines Veroneser Geschäftsherrn zuliebe einen weißen Anzug machen, denn sie sagten, „weiß stüend jungen Gesellen am besten“. Der Tochter seines Herrn, Honesta, hatte er’s angethan. Sein älterer Brnder, der von Venedig aus den Besuch erwiderte, fand, daß sie „um ihn buhlte“. „Das Schaaf was aber so einfältig, daß ers nit verstund.“ Später scheint er’s aber doch verstanden zu haben, denn als es zum Abschied kam, gab es auf beiden Seiten bittere Thränen, der ganze Kerl war aber damals noch nicht 15 Jahre alt!

Veit Konrad im Maskenanzug.

Veit Konrad 18 Jahre alt.

Es ist nicht möglich, alle die Kleidungen und Beschäftigungen zu erzählen, von den Thorheiten zu berichten, die in dem Buche wörtlich und besonders bildlich beschrieben sind; dem Leser wird es genügen, zu erfahren, daß es der Sohn nach seiner Rückkehr nach Augsburg gerade so machte wie seiner Zeit der Vater, daß er das Leben in vollen Zügen genoß, aber nie vergaß, zu melden, in welcher Kleidung er das gethan und was diese gekostet habe; ja sogar den Bekleidungskünstler, der die „schönen“ Werke geschaffen, nannte er nicht selten. Wenn nun auch ein gesunder Mensch an diesen Narreteien keine Freude haben kann, so muß doch jeder, der sich für deutsche Kulturgeschichte, im besonderen für die Geschichte der Trachten und der Mode interessiert, den beiden Schwarz sehr dankbar sein, daß sie durch die Anlage ihrer beiden Werke ein so hochwichtiges Quellenmaterial zum Studium des Trachtenwesens der Nachwelt überliefert haben. Schade ist es nur, daß sie dies nicht mit den Kleidern selbst gethan haben; dieselben würden heute ein höchst lehrreiches und werthvolles Museum, das nicht seinesgleichen hätte, bilden.

So ausdauernd wie der Vater hat aber der Sohn seine Aufschreibungen nicht fortgesetzt, denn bei dem letzten Bilde, das ihn darstellt, zählte er erst 19 Jahre 41/2 Monate. Was ihn bewog, diese Aufzeichnungen abzubrechen, verschweigt er uns leider; nicht unmöglich wäre es, daß der unsinnige Aufwand, den er gemacht hatte und den sich heutzutage kaum ein junger Mann in seinem Alter gestatten wird – er trug Kleider, die nebst Schwert und Schmuck bis zu 290 Gulden, nach damaligem Geldwerth eine bedeutende Summe, kosteten – seinen Vater veranlaßt hat, ein Machtwort zu sprechen und den übergroßen Ausgaben einen Riegel vorzuschieben. Schwarzseher, welche in der heutigen Welt nur Verderbniß, Genußsucht und Verschwendung sehen, mögen diesen Mittheilungen entnehmen, daß es vor 300 bis 400 Jahren nicht um ein Haar anders gewesen ist, und die Bemerkung, „daß die Welt je länger je närrischer wird, und noch kein Aufhören mit den neuen seltsamen Gebräuchen der Kleidungen bis dato ist", gehört nicht, wie man vielleicht annehmen möchte, der Neuzeit an, sondern ist von Veit Konrad Schwarz bereits im Jahre 1561 geschrieben worden.


Die Toten von Hawara.

Von Professor Dr. Heinrich Brugsch.

Als im ersten Jahrhundert unserer christlichen Zeitrechnung der römische Schriftsteller Plinius Secundus der Aeltere sein bekanntes enzyklopädisches Werk unter dem Titel „Naturgeschichte‟ niederschrieb, beklagte er bitter den zu seiner Zeit eingetretenen Verfall der Porträtmalerei.

Früher hätten Könige und Völker danach getrachtet, ihre berühmten Männer durch gemalte Bildnisse zu verherrlichen, um ihre Züge der Nachwelt zu überliefern, jetzt, d. h. zu seiner Zeit, habe der herrschende Luxus die alte gute Sitte verdrängt. Niemand denke mehr daran, ausgezeichnete Männer oder Mitglieder der eigenen Familie von einem lebenden Künstler porträtieren zu lassen, um das Andenken an dieselben auch nach ihrem Tode im Bilde zu erhalten. Man lege zwar Privatsammlungen alter Gemälde bekannter und unbekannter Personen an, doch lediglich nur zu dem Zwecke, um mit dem Kunstwerth und den dafür gezahlten Preisen zu prahlen. Wie ganz anders sei es doch vordem gewesen! Man habe dafür Sorge getragen, im eigenen Hause die Porträtbilder der Familienmitglieder malen zu lassen, dieselben von Geschlecht zu Geschlecht den Nachkommen zu überliefern und die herkömmliche Sitte zu beobachten, bei Begräbnissen nicht nur die Ueberlebenden, sondern auch die Bilder der Vorfahren einer Familienleiche folgen zu [629] lassen. Davon sei, wie gesagt, zu seiner Zeit keine Rede mehr, denn man ziehe es vor, das Haus mit Bildwerken ausländischer Größen in Gold, Silber und Erz zu schmücken, die Wände aus Marmor oder Granit herzustellen und das Gestein mit eingelegter musivischer Arbeit zu verzieren.

Zu Plinius’ Zeiten war also das Porträtieren, wenigstens in Rom und Italien, aus der Mode gekommen, und nur wenigen lag es am Herzen, die alte Sitte zu wahren und die feiernden Künstler zu beschäftigen, und wo dies noch geschah, spielte gewöhnlich der Hochmuth seine Rolle, wie es beispielsweise dem berüchtigten Kaiser Nero einmal beliebte, sich in ganzer Gestalt und in einer Höhe von 120 Fuß auf Leinwand malen zu lassen, etwas bis dahin vollständig Unbekanntes, da man die Bilder sonst nur auf Holz zu malen pflegte.

Demselben Plinius verdanken wir sehr ausführliche, wenn auch bisweilen ziemlich unkritische Nachrichten über die Geschichte der ältesten Malerei, deren Anfänge er bis in das 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hinaufrückt. Nach seinen Ausführungen bediente man sich damals nur einer Farbe bei den Malereien, und erst später sah man sich nach Mitteln um, die Zeichnungen mit mehreren Farben auszufüllen. Der berühmteste Maler des Alterthums, Apelles, ein Zeitgenosse Alexanders des Großen, wandte bereits vier Farben (Weiß, Gelb, Roth und Schwarz) an, um seine herrlichen Werke zu schaffen, die an vortrefflicher Zeichnung, Perspektive, richtiger Vertheilung von Licht und Schatten, Durchgeistigung und Anmuth den Preis davontrugen und als unerreichte Muster für die Zeitgenossen und alle nachfolgenden Künstler gepriesen wurden.

Als Malstoffe benutzten die Alten die sogenannten Wachsfarben, d. h. mit Wachs oder außerdem mit einem Zusatz von Oel verbundene Farbstoffe hauptsächlich aus dem Pflanzen- und Mineralreich. Die von Plinius und anderen Schriftstellern überlieferte und als „enkaustisch“ bezeichnete, d. h. auf dem Wege des Einbrennens verfahrende Manier bei der Uebertragung der Farbstoffe auf eine Holztafel, wobei ein heiß gemachter Metallstichel seine Dienste leistete, bedarf immer noch einer genaueren Erklärung. Daneben machte man von der sogenannten Temperamanier einen häufigen Gebrauch; in diesem Falle übertrug der Pinsel die Farbe auf den eigentlichen Malstoff.

Zwei Mumienporträts aus Hawara.

Leider haben uns erhaltene Reste aus den Zeiten des Alterthums nur wenige Proben der antiken Malerei geliefert. Mit Ausnahme der Wandmalereien in den verschütteten Städten Pompeji und Herculanum, auch an einzelnen anderen Stellen wie z. B. in Rom, ist bis jetzt so gut wie nichts ans Tageslicht getreten.

Um so überraschender wirkte vor mehreren Jahren die Kunde, daß fern von Griechenland und Italien, und zwar auf ägyptischem Boden, eine Reihe von beinahe hundert Porträtbildern antiken Ursprunges entdeckt worden sei. Arabische Ausgräber hatten an einer einsamen Stelle der Wüste, welche in Gestalt eines Höhenzuges, nördlich vom Josephskanal, zwischen Mittelägypten und der Provinz des Fayum den Kulturboden unterbricht, eine Totenstadt in der Nähe des Dorfes El-Rubaijat entdeckt; dort lagen die Bilder theils frei unter einer dünnen Sandschicht, theils auf den einbalsamierten und in ihren Särgen ruhenden Leichen selber. Durch Vermittlung eines mir befreundeten Beduinenscheichs ging die Sammlung durch Ankauf in den Besitz eines Wiener Kaufmannes, des Herrn Theodor Graf, über, der es sich angelegen sein ließ, die merkwürdigen Funde in den Hauptstädten Europas öffentlich auszustellen und durch photographische Aufnahme derselben für eine möglichst weite Verbreitung der Bilder zu sorgen.

Die Porträts von Männern, Weibern und Kindern, welche etwa vor 2000 Jahren im Lichte der Sonne auf ägyptischer Erde gewandelt hatten, traten in den lebendigsten Farben und in wohl gelungenster Ausführung den Blicken der modernen Beschauer gegenüber und gaben den reichsten Stoff zu zahlreichen Besprechungen und Betrachtungen in den öffentlichen Blättern. Sie überraschten nicht nur durch ihre vollständige Erhaltung, die sogar manchen Zweifeln in Bezug auf moderne Uebermalung und Restaurationen begegnete, sondern noch vielmehr durch die gewonnene Ueberzeugung, daß die Menschen von damals gerade so aussahen wie das heutige Geschlecht. Man konnte sich in der That nur schwer des Eindruckes erwehren, daß die Bilder nicht unter den Händen antiker Künstler entstanden seien. Die genauesten Prüfungen ergaben indes den alten Ursprung sämmtlicher ausgestellten Porträtbilder, und die Kritik mußte sich vor der unbestreitbaren Thatsache beugen, daß für die Geschichte der Malerei im Alterthum ein kostbares Material gefunden war.

Die Köpfe waren in Vorderansicht auf dünnen Holztafeln in Lebensgröße gemalt, das Kolorit ließ alle uns bekannten Farbentöne erkennen, die Zeichnung war dabei vortrefflich, der Ausdruck meist voller Lebenswärme und Charakter. Selbst die Bekleidung, soweit diese unterhalb der Halsgegend hervortrat, sammt den Schmuckgegenständen weiblicher Personen, Ohrringen und Halsketten, erinnerte durchaus nicht an unsere landläufigen Vorstellungen vom Antiken. Im Gegentheil riefen sie das einfach Bürgerliche in unserer eigenen Zeit ins Gedächtniß zurück, und man legte sich unwillkürlich die Frage vor, ob seit der Entstehung jener Bilder wirklich 2000 Jahre verflossen seien. Sie trugen weder den Namen der dargestellten Personen noch den des Künstlers, welcher das Werk in enkaustischer oder in Temperamanier geschaffen hatte. Waren es auch keine Künstler ersten Ranges, bisweilen sogar sehr mittelmäßige Meister, welche auf Bestellung die Porträts angefertigt hatten, so wäre es immerhin [630] von besonderem Werthe gewesen, aus den Namen auf ihre Nation einen Schluß zu ziehen. Nur das eine dürfte mit Sicherheit angenommen werden, daß es nicht eingeborene Aegypter, sondern griechische Maler waren, welche sich im alten Lande der Pharaonen niedergelassen hatten und durch die malende Kunst ihr liebes Brot verdienten. Seitdem Alexander der Große Aegypten im Jahre 332 v. Chr. erobert und die neugegründete Residenz Alexandrien zu einem Mittelpunkt des Welthandels und der griechischen Bildung gemacht hatte, strömten die Fremden, und an ihrer Spitze Macedonier und Griechen, in das geöffnete Nilthal ein, um aus dem Handel und sonstigen Beschäftigungen ihren gewinnbringenden Vortheil zu ziehen. Dazu kam, daß die Verwaltung an den Hauptsitzen des Landes nach griechischem Muster eingerichtet und als amtliche Schriftsprache das Griechische eingeführt war, ganz wie im modernen Aegypten früher das Türkische, später das Französische und endlich das Englische als Beamtensprache diente und das letztere bis zur Stunde noch dient.

Die Landschaft des Fayum, an deren Ostseite, auf den Rändern der Wüste, die Totenstädte zum größten Theile gelegen waren, gehörte zu denjenigen Gegenden Aegyptens, in welchen sich das Griechenthum besonders breit gemacht hatte. Der Mörissee und ein weit verzweigtes Kanalsystem mit Hafenstellen und eingedämmten Teichen, dazu ein mildes gemäßigtes Klima hatten von alters her dieser der Wüste abgewonnenen und künstlich bewässerten Oase besondere Fruchtbarkeit verliehen, die in der heutigen Bezeichnung des Fayum als eines „Rosengartens von Aegypten“ ihr neuzeitliches Spiegelbild findet.

Der erste Ptolemäer hatte der alten Hauptstadt der Provinz, der sogenannten „Krokodilstadt“, nach seiner Schwester und Gemahlin den Namen Arsinoë verliehen und in der griechischen Neustadt eine Kultusstätte der irdischen Königin als Göttin gestiftet. Arsinoë, die junge Stadt, baute sich im Süden der älteren auf und besaß eine Reihe nach griechischen Mustern aufgeführter Gebäude für öffentliche Zwecke und Versammlungen. Die Aegypter traten den Griechen gegenüber in den Hintergrund und bestanden neben einer heruntergekommenen und verarmten Priesterkaste eigentlich nur noch aus Handwerkern, Bauern und Dienern. Der Grieche spielte den Herrn und den Träger einer jungen, aber reich entwickelten Intelligenz. Der altägyptische Geist hatte sich abgelebt und führte neben dem neuen aufsteigenden Genius ein Scheindasein, in welchem der Kult thierköpfiger Götter, die geheimnißvollen Mysterien im Zusammenhang mit dem Dienste der heiligen Dreiheit Osiris, Isis und Horus und die Gebräuche bei der feierlichen Bestattung der Toten die lebenswarmen griechischen Anschauungen über das Götterwesen ersetzten.

Daß die griechische Kunst und der griechische Künstler bei der Gründung der Neustadt Arsinoë, in deren Ruinen ich tagelang Ausgrabungen leitete, ohne auf andere Gegenstände als solche mit griechischem Stempel zu stoßen, ihre Rechnung inmitten der gemischten Bevölkerung fanden, darf als feststehend bezeichnet werden. Selbst dem eingeborenen, in dem Glauben seiner Väter aufgewachsenen und erzogenen Aegypter leistete sie ihre Dienste, um nicht nur sein Leben in dieser, sondern auch in jener Welt zu verschönen. Der Maler trat in den Dienst der ägyptischen Leichenbestattung und schuf unbewußt eine neue Epoche der Mumienbehandlung, die zu den merkwürdigsten Beobachtungen Anlaß giebt.

Es war nämlich altherkömmlich, die einbalsamierte Leiche mit regelrecht gelegten Binden zu umwickeln und sie mit einer bemalten Maske aus einer kartonartigen Masse zu schmücken, welche das Gesicht des Toten männlichen oder weiblichen Geschlechtes darzustellen bestimmt war. Die alte Sitte währte bis in die Ptolemäerzeiten hinein, in welchen bereits an Stelle der einfachen Malerei eine Vergoldung des Gesichtes trat. Unter der römischen Herrschaft nahm diese Gewohnheit im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in ausgedehntem Maßstab zu, denn nicht nur das Gesicht, sondern die ganze von griechischer Künstlerhand angefertigte und bis zur Brust hin verlängerte Maske wurde mit einer blendenden Vergoldung überzogen. Man fügte selbst Arme und Hände hinzu, wobei man die Halsketten, Ohrringe, Armspangen und Ringe eines Frauenleibes in plastischer Weise wiedergab und in die eine Hand einen Rosenstrauß steckte, die Rosen ausnahmslos mitten in der übrigen Vergoldung durch rothe Bemalung andeutend.

Ungefähr um die Mitte des zweiten Jahrhunderts verschwand die vergoldete Maske, und ihre Stelle ward durch ein auf Holz gemaltes Porträtbild der verstorbenen Person ersetzt. Es lag oben auf den Binden, welche um den Kopf gewickelt waren, und wurde durch rahmenartig gelegte und zusammengekniffene Zeugstreifen an seinem Platze befestigt.

Die in dieser Weise hergestellte Porträtmumie wurde jedoch nicht sofort der Grabstätte übergeben, sondern nach älterer ägyptischer Sitte zunächst im eigenen Hause, also mitten unter den Ueberlebenden, aufrecht an eine Wand gestellt, so daß die Nachkommen täglich Gelegenheit fanden, ihre im Tode vorangegangenen Familienmitglieder von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Die Zeit verwischte allmählich den Schmerz und damit die ursprüngliche Sorge um die gute Erhaltung der Mumiengesellschaft mitten in einem Familiensitze, besonders wenn jene sich ansehnlich vermehrt hatte oder älteren Jahrgängen angehörte. Die Mumien kamen, wie man zu sagen pflegt, in die Rumpelkammer oder selbst in einen wenig geschützten Hofraum, allen Unbilden von Menschenhand und Witterungsverhältnissen bis zu Regengüssen hin ausgesetzt. Bei zufälligen oder muthwilligen Verstümmelungen fühlte wohl dieses oder jenes lebende Familienmitglied ein stilles Erbarmen und führte selbständige Restaurationen der Bilder aus, die jedoch nichts weniger als künstlerische Leistungen waren und noch heutigen Tages an den aufgefundenen Mumien sichtbar sind. Am Ende wurde im Familienrath der Beschluß gefaßt, den angesammelten Mumienbestand nach der nächst gelegenen Totenstadt überzuführen, wobei man es nicht an Kränzen, Blumengewinden, Totenkrügen und sonstigen Beigaben fehlen ließ. Die Mumien wurden in einem einfachen Familiengrab oder in einer oft nur einen Fuß unter der Oberfläche liegenden Grube beigesetzt, ohne Sarg oder sonstige schützende Umhüllung, und darauf mit dem Sande der Wüste bedeckt. Das Geschäft der Bestattung hatte damit sein Ende erreicht.

Zu den zahlreichen Totenstädten im Fayum gehörte auch diejenige, welche sich in unmittelbarer Nähe des Josephskanales nördlich von der Ziegelpyramide von Hawara befindet. Die letztere bildet das ehemalige Grabmal eines uralten Königs Namens Amenemhê III. (um 2300 v. Chr.), dem zugleich die Anlage des südlich davon gelegenen und bis auf wenige Spuren verschwundenen Labyrinthes und die Gründung des künstlich ausgegrabenen Mörissees, ein wenig landeinwärts nach der Stadt Arsinoë hin, zugeschrieben wird. Die erwähnte Totenstadt, welche einen Flächeninhalt von ungefähr 50 000 Metern ins Geviert umfaßte, beherbergt Tausende von Leichen, die von der Mitte des dritten Jahrtausends an bis gegen das Ende der heidnischen Zeiten der ägyptischen Geschichte auf diesem einsamen Plateau der Wüste ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Die ältesten Gräber, aus tiefen in den Kalkstein der Wüste gebahnten Felsenschachten bestehend, sind fast durchweg von den Späteren ausgeplündert worden, so daß sie für die heutige Forschung so gut wie keine Ausbeute geboten haben. Zu den jüngsten neben ihnen bestatteten Geschlechtern gehören jene Mumien mit bunten und vergoldeten Masken sowie jene mit Porträtbildern, von denen ich oben ausführlicher gesprochen habe. Es darf angenommen werden, daß sie der Mehrzahl nach aus der Hauptstadt Arsinoë und aus der Umgegend derselben herrührten, ebenso aber auch, daß sie von gut bürgerlicher Herkunft gewesen sein müssen. Auf alle Fälle hatten die darin verpuppten Leichen den Künstlern und Handwerkern reichliche Beschäftigung geboten, denn nicht nur das Malen der Bilder, sondern auch das Weben der unendlich langen Leinwandstreifen für die Umhüllung der einbalsamierten Körper erforderte einen gewissen Aufwand von geschulten Kräften.

Meiner Absicht, auf dem Totenfelde persönlich Ausgrabungen zu leiten, lag die Hoffnung zu Grunde, möglicherweise auf unerwartete wissenschaftlich werthvolle Funde zu stoßen, denn auch in diesen Dingen hängt alles vom glücklichen Zufall ab.

Als ich mich im April dieses Jahres an Ort und Stelle begab, um die Oertlichkeiten näher in Augenschein zu nehmen, fand ich mich in meinen Voraussetzungen ziemlich enttäuscht. Von einer systematischen Ausgrabung konnte kaum die Rede sein. Der Boden zeigte sich nach allen Richtungen hin durchwühlt, Hügel erhob sich neben Hügel, und Knochen und zersetzte Mumienbinden lagen zerstreut umher oder sahen aus dem Erdreich nach allen Richtungen hin hervor. Aus dem Anblick allein schon ließ sich der richtige Schluß ziehen, daß die Totenstadt in älteren und jüngeren Zeiten [631] von Ausgräbern planlos durchwühlt worden war. Ein Engländer, Mr. Flinders Petrie, bekannt durch seine überaus glücklichen Funde auf ägyptischem Boden, war der letzte gewesen, welcher vor zwei Jahren die ausgedehnte Gräberstadt nicht ohne gute Erfolge durchsucht hatte. Unter solchen Umständen blieb es das Gerathenste, auf gut Glück hin die Ausgrabungen auf den freien Plätzen zwischen den Hügeln zu beginnen und die Erfolge abzuwarten.

Ich konnte mich vom ersten Tage meiner Versuche an nicht beklagen, denn die unerwartetsten Funde traten zu Tage, und die Erde öffnete ihren Schoß, um mir Mumien mit buntbemalten oder vergoldeten Masken, vor allem aber solche mit Porträtbildern zu überliefern. Meine freudige Ueberraschung steigerte sich aber gleichzeitig, als sich unter den Bildnissen nicht nur solche zeigten, welche in enkaustischer Manier auf Holz gemalt waren, sondern auch mehrere, welche die unbekannten Künstler mit Hilfe von Temperafarben auf Leinwand hingeworfen hatten, darunter Frauenköpfe von auffallender Frische und Schönheit, die Augen groß, das Haar reich frisiert und die Wangen von lieblicher Röthe. Das waren nicht die Abbilder von Leichengesichtern, die mich aus dem Sande anstarrten, sondern lebenswarme Züge, die mir aus ihrem zweitausendjährigen Versteck im Boden der Wüste entgegenzulächeln schienen. Jeder neue Fund führte zu einer neuen Aufregung, und die Spannung wuchs in dem Grade, als der Zufall sein loses Spiel trieb. Die vornehmeren Mumien waren größtentheils von Rosengewinden oder sonstigem Blumenschmuck umgeben, wenigstens fehlte niemals ein Rosenkranz, während die zu den ärmeren Klassen der Bevölkerung gehörenden masken- und bilderlosen Leichen nur in selteneren Fällen von den Kindern der Flora ihren gebührenden Antheil erhalten hatten. Aus dem Schatze dieser Funde von Hawara geben die beiden Bilder auf S. 629 eine Probe.

Die vorhin erwähnten Porträtbilder auf Leinwand liefern zum ersten Male Beispiele dieses Genres aus den Zeiten des Alterthums und können zugleich als Bestätigung für die von Plinius überlieferte Nachricht dienen, daß Kaiser Nero sich in ganzer Gestalt mit der kolossalen Höhe von 120 Fuß auf Leinwand habe malen lassen. Und namentlich findet diese Angabe, nur von der kolossalen Größe der Darstellung abgesehen, eine merkwürdige Bestätigung durch eine altägyptische Leinwand, die einst als äußere Mumienhülle diente und auf welcher die betreffende männliche Person in ganzer Figur und in der Tracht ihrer Zeit sich dem Beschauer zeigt. Das merkwürdige Bild, ein Unikum in seiner Art, ward bei einer Mumie in den Gräbern von Saqqarah, also auf dem Gebiet der ehemaligen Totenstadt von Memphis, aufgefunden und von mir für die Königlichen Sammlungen in Berlin in diesem Jahre an Ort und Stelle erworben. Daß es dereinst in der Geschichte der malenden Kunst eine hervorragende Rolle spielen wird, darf mit Recht schon jetzt vorausgesetzt werden. Vielleicht sind ähnliche Funde an denselben Oertlichkeiten der Zukunft noch vorbehalten.

Es ist nicht anzunehmen, daß die beschriebenen Bilder, Köpfe sowohl als in ganzer Gestalt ausgeführte Personen, ägyptischen Künstlern ihre Entstehung verdanken. Schon die Darstellungen in Vorderansicht sprechen dagegen, da die ägyptischen Meister, Bildhauer wie Maler, nur Profilbilder auf Grund gewisser Proportionen zu schaffen verstanden. Müssen wir auch die von Plinius bestrittene Angabe, daß die Anfänge der Malerei bei den Aegyptern zu suchen seien, ihrem vollen Umfang nach aufrecht erhalten, so steht es andererseits ebenso fest, daß sich der ägyptische Künstler niemals der idealen Freiheit in der Kunst bewußt war, sondern unter dem Zwange altherkömmlicher priesterlicher Vorschriften seine Arbeiten gleichsam handwerksmäßig fertigte. Daß von den Zeiten an, in welchen ihm griechische Vorbilder als Muster entgegentraten oder griechische Künstler und Lehrer seine Hand leiteten, eine Wandlung zum Besseren eingetreten sein könnte, läßt sich in keiner Weise vermuthen, vor allem nicht mit Bezug auf die Zeit des zweiten und dritten Jahrhunderts nach Christus, in welcher die Bildermumien plötzlich in den Vordergrund traten.

Hierzu tritt ein anderes schwerwiegendes Zeugniß. Beschriebene Steine nach Art unserer Leichensteine und mit Schrift bedeckte Papyrusstücke, welche gelegentlich in der unmittelbaren Umgebung der Bildermumien aufgefunden worden sind, lassen nur griechische Buchstaben und griechische Sprache bis zu den Eigennamen hin erkennen, so daß es sich der Hauptsache nach um griechische Einwohner aus dem Fayum handelt, welche nach ägyptischer Weise mumifiziert und bestattet wurden. Auch sonst liegen für diesen Brauch ganz bestimmte Beweise vor. Fast in allen europäischen Museen, in welchen ägyptische Alterthümer zur Schau ausgestellt sind, befinden sich Leichen von Griechen und Römern – die Sarginschriften lassen darüber auch nicht die leisesten Zweifel bestehen – die in einzelnen Städten Aegyptens gelebt hatten, oft in vornehmen Stellungen als höchste Beamte der Regierung, und nach ihrem Tode ganz nach ägyptischer Weise einbalsamiert und mumienhaft behandelt worden waren.

Trat der Aegypter in diesen Fällen als wohlgeübter Leichenbesorger ein, so war es im Gegensatz zu ihm der griechische Künstler, welcher die Bildnisse der Verstorbenen auf eine Holztafel oder ein Leinwandstück von entsprechender Größe malte, und zwar mit einer kunstgerechten Technik, wie sie dem Aegypter vollständig unbekannt war. Eine Sammlung derartiger Bilder, von denen noch Tausende im Boden der Erde verborgen liegen – eine von mir entdeckte Totenstadt ist überhaupt noch unberührt geblieben – dürfte eines der sehenswerthesten Museen für die griechische Porträtmalerei bilden, soweit sich die ältesten Spuren derselben überhaupt verfolgen lassen. Vielleicht daß in Deutschland die Mittel dazu aufgebracht werden, um eine Sammlung der beschriebenen Art ohne Zeitverlust ins Leben zu rufen, ehe uns andere Nationen mit dem Antritt eines so kostbaren Erbes der Vorzeit zuvorkommen.

Ich will zum Schlusse einen Punkt berühren, der mich während meiner Ausgrabungen aufs lebhafteste beschäftigt hat und jedem Leser dieser Zeilen in gleicher Weise nahetreten muß. Er betrifft die Frage, ob die namenlosen Maler ihre Aufträge erst nach dem Hinscheiden eines Familienmitgliedes ausführten, ob sie nach dem Leben gemalte Originale benutzten, oder ob diese Originalbilder nach dem Tode einer geliebten Person gleichsam von der Wand genommen und auf der Gesichtsstelle ihrer Mumien in der oben beschriebenen Weise angebracht wurden.

Die Bilder weisen mit aller Deutlichkeit auf die verschiedensten Lebensalter hin, vom jungen Manne an bis zum weißbehaarten Greise: darüber lassen Zeichnung, Kolorit und der allgemeine Gesichtsausdruck auch nicht die geringsten Zweifel übrig. Nur bei Kindern tritt ein auffallender Unterschied hervor. Ihre Bilder sind, wie man zu sagen pflegt, über einen und denselben Leisten geschlagen. Das kindliche Gesicht ist durchweg nach demselben Schema, und zwar in nichts weniger als sauberer Temperamanier durchgeführt, wie etwa ein flüchtiger Entwurf aus dem Gedächtniß und nach eigener Phantasie des Malers. Die Lebenswahrheit, wie sie sich in den Zügen der erwachsenen Personen ausprägt, tritt bei den Kindergesichtern vollständig in den Hintergrund. All mein Nachdenken reicht nicht aus, diesen Unterschied anders als in der folgenden Weise zu erklären.

Was Plinius in dem Abschnitt über die Malerei so sehr bedauert, daß zu seiner Zeit die Porträtierung ganz in Vergessenheit gerathen und die gute alte Sitte aufgegeben sei, in den Häusern die Bilder der lebenden Familienmitglieder aufzubewahren, das hatte in Aegypten im griechischen Familienleben bis in das dritte Jahrhundert hinein seinen Fortbestand, ja die alte Sitte wurde sogar eifrig gepflegt. Bei dem Tode einer erwachsenen Person wanderte das Bild auf die Mumie, um mit derselben vereinigt auf längere Zeit im Hause zu bleiben und schließlich nach der Totenstadt befördert zu werden. Die Kinder im Hause, deren Bedeutung für das Leben erst die spätere Zukunft bieten konnte, ließ man einfach unbeachtet und schloß ihre Bildnisse vorläufig aus. Bei ihrem frühen Tode standen dem Maler also keine Vorlagen zu Gebote, ihr Konterfei nach dem Leben auf Holz oder auf Leinwand in sauberer Ausführung zur Darstellung zu bringen. Er schuf deshalb mehr oder minder flüchtig gemalte Phantasiestücke, die sich beinahe wie ein Ei dem andern gleichen und in ihrer Art mit den ausdruckslosen Engelsköpfchen auf mittelmäßigen Bildern unserer älteren Malerschulen zusammengestellt werden können. Die Vorstellung, daß die Bilder von erwachsenen Personen erst nach dem Tode derselben gemalt worden seien, trägt die größte Unwahrscheinlichkeit in sich, denn wer die besseren Porträtbilder mit ihrer vollen Charakteristik gesehen hat, muß jeden Gedanken daran beiseite schieben. Unter solcher Annahme würden ähnliche Bildnisse wie bei den Kinderporträts entstanden [632] sein, nicht aber wirkliche Meisterwerke, wie ich sie selber dem Schoße der Erde entrissen habe.

Auch auf dem Gebiet der Porträtmalerei auf Holz und Leinwand liefert der besprochene Gegenstand einen neuen Beweis für den alten Satz, daß es eigentlich nichts Neues unter der Sonne mehr giebt. Wer hätte es sich jemals träumen lassen, daß wenige Fuß unter dem Boden der Wüste Aegyptens eine ganze Auswahl antiker Porträtbilder verborgen liegt, welche die Kunst des Porträtierens zunächst etwa 2000 Jahre vor unserer eigenen Zeit als allgemein bekannt und ausgeübt bezeugen! Und das in einer abgelegenen Provinz des großen römischen Reiches, fern von der Weltstadt Rom mit ihrer Pflege der Kunst! Dazu bezeichnen die ägyptisch-griechischen Porträts nicht erst den Anfang dieser Kunst, sondern in einem gewissen Sinne das Ende derselben nach einer geschwundenen Blüthezeit der unmittelbar vorangegangenen Jahrhunderte. Da uns aus dieser Glanzperiode keine Probe erhalten ist, so schenken wir gern den begeisterten Schilderungen Glauben, welche uns klassische Schriftsteller von den Werken eines Zeuxis, Parrhasios, Apelles und anderer Meister hinterlassen haben.

Der Anblick der Bilder von Hawara rechtfertigt vollkommen unsere Voraussetzung, daß die Kunst der Alten auf ihrer Höhe vielleicht von keinem Maler der späteren Zeiten bis auf unsere Tage hin übertroffen worden ist.


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Heroinen der deutschen Bühne.

Es scheint, als ob eine wehmüthige Beleuchtung auf die Gruppe der Heldinnen fiele, welche in Deutschland noch das Banner der Tragödie hochhalten. Denn wie steht es mit dem deutschen Trauerspiel selbst? Nagt nicht schon der Holzwurm an seinem stolzen Baue? Erschallt nicht unkentönig sein Grablied? Brechen nicht alle seine Stützen zusammen unter dem Sturme und Drange hereindringender litterarischer Neuerung? Und, in der That, wenn man die neuen Lehren hört, so geht es jetzt zu Ende mit dem Trauerspiel, dessen Helden und Heldinnen auf dem Kothurn schreiten und sich groß abheben vom Hintergrund der Geschichte; so ist die Zeit gekommen, wo nur innere Seelenkämpfe alle auf dem Boden unserer gesellschaftlichen Verhältnisse berechtigt sein sollen, sich auf der Bühne abzuspiegeln und höchstens eine eingeteufelte Intrigantin oder eine leidenschaftliche Salondame, die das unterste zu oberst kehrt, noch von einem Abglanz des weiblichen Heldenthums aus früherer Zeit verklärt wird. Dann sähe es freilich schlimm aus mit den Heroinen unserer Bühne, und sie hätten nichts Besseres zu thun, als in den Charonsnachen zu steigen, den jene Kritik für sie bereit hält, und in der Schattenwelt zu verschwinden.

Doch die Aussichten sind nicht so trübe, wie es scheinen mag: noch ist ja unser Bühnenschiff fest verankert im Hafen unserer klassischen Dichter, noch wehen von seinen Masten die stolzen Flaggen eines Shakespeare, Schiller und Goethe, und es ist nicht zu befürchten, daß es so bald von diesen Ankern losgerissen werde, um ziellos auf den Wellen der neuen Sturm- und Drangzeit dahinzutreiben. Und immer wieder tauchen dichterische Talente auf, die nach den gleichen Lorbeeren streben wie jene unsterblichen Dichter. Sie werden sich wieder an Gestalten wagen wie diese, und wenn die hochgehende Brandung der Gegenwart sie zunächst in ihrem schaumspritzenden Wogenschlag begräbt, sie werden wieder auftauchen, und ihr Banner wird sich demjenigen der großen Dichter der Vergangenheit gesellen.

Damit soll indeß nicht gesagt sein, daß es der aus dem Leben der Gegenwart schöpfenden Dichtung, wenn sie von hervorragend Begabten gepflegt wird, versagt sei, Charaktere zu schaffen, deren Verkörperung eine Aufgabe ist für großangelegte dramatische Künstler. Es ist nur schwieriger, solche Gestalten von monumentaler Größe aus dem allzuweichen Material unseres bürgerlichen Lebens herauszuarbeiten, und es ist bisher nur in den seltensten Fällen gelungen.

Unter den Heldinnen unserer Bühne nimmt Charlotte Wolter vom Wiener Hofburgtheater einen hervorragenden Rang ein. Wir haben in der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1876, Nr. 6) bereits ihr Bild gebracht, und zwar in einer ihrer Glanzrollen als Messalina in Wilbrandts Trauerspiel „Arria und Messalina“; sie ist also unseren Lesern keine Fremde mehr. Ein Kind der schönen Rheinlande, in Köln geboren, hat sie dort von der Pike auf gedient. Sie begann ihre Laufbahn als Choristin des Kölner Stadttheaters; dann erschien sie an der blauen Donau, ohne Ahnung davon, daß dort einmal ihre Lorbeeren wachsen sollten; denn am Karltheater in Wien war kein Boden für tragische Begabungen, und es war ein weiter Weg von der Leopoldstadt zum Burgtheater auf dem Michaelerplatz, ein Weg, den sie damals unmöglich zurücklegen konnte. Ihr Name wurde zuerst in weiteren Kreisen genannt, als Dingelstedt am Berliner Viktoriatheater seine Bearbeitung von Shakespeares „Wintermärchen" in Scene setzte. Mit so glänzendem Geschick auch diese Bearbeitung das so wenig einheitliche Stück mit seinen oft kindlichen Motivierungen theatralisch wirksam gemacht hatte, ohne das plötzlich auftauchende Talent der Charlotte Wolter würde der Erfolg doch kein so nachhaltiger gewesen sein. Das Schauspiel hat eine große Scene, die Gerichtsscene, und in dieser erhebt es sich zu dramatischer Bedeutung, wenn die Rolle der Hermione von einer berufenen Tragödin gespielt wird. Und als solche offenbarte sich Charlotte Wolter an diesen Abenden; an Shakespeare entzündete sich zuerst ihr Feuer und Dingelstedt war ihr erster dramatischer Mentor. Heinrich Laube hatte schon länger ein Auge auf sie geworfen; er hatte seine dramaturgischen „Detektives", welche sich an die Fersen der jungen Talente hefteten, und Lewinsky, den er nach Berlin geschickt hatte, berichtete von dort, daß die junge Künstlerin sich vielversprechend entwickle. Maurice hatte sie für das Hamburger Stadttheater engagiert, Laube wollte sie für die „Burg“ gewinnen, und es gelang ihm mit schweren Opfern. Hier endlich fand ihre große Begabung die Kunststätte, wo sie sich frei und bedeutsam entfalten konnte. Die ganze Eigenart derselben zeigte sich in leidenschaftlichen Rollen; der Affekt, die Leidenschaft wirkten bei ihr wie eine Naturkraft mit hinreißender, zündender Gewalt. Der unnachahmliche „Wolterschrei“, dieser stärkste packende Ausdruck der aufs höchste gesteigerten Gemüthsbewegung, ist für ihre ganze Darstellungsweise bezeichnend.

Charlotte Wolter ist niemals durch eine strenge Schule gegangen, so groß auch Laubes Einfluß auf sie gewesen sein mag; das Regelrechte, Schulmäßige, am Spalier Gezogene ist ihr stets so fremd geblieben, daß es ihrem Spiele nicht an einzelnen überwuchernden Ranken fehlte. Die harmonische schwungvolle Dichtersprache Schillers und Goethes mochte in ihrer ganzen Klarheit und Reinheit bei geringeren Talenten mehr zur Geltung kommen, wenigstens wo es sich um den ruhigen Vortragston handelte, und die Glanzrollen der Schillerschen Dramen waren nicht die ihrigen; aber Grillparzers Sappho, besonders in den späteren Scenen voll seelischer Erregtheit, seine Medea mit ihrer wilden Leidenschaftlichkeit, die Lady Macbeth, die Gräfin Orsina, die Deborah, die Phädra, die Krimhild und Maria Magdalena in Hebbels Dramen, die Messalina, das waren Gestalten, in denen sie mit ihrem ganzen Naturell aufging, Gestalten voll Lebensblut und, wo es darauf ankam, voll berauschender Liebesgluth, und keine neuere Darstellerin vermochte so wie Charlotte Wolter die Stürme der Leidenschaft zu entfesseln. Schöne ausdrucksvolle Züge, eine Gestalt von Ebenmaß und Fülle zugleich unterstützten ihre künstlerischen Triumphe, und was die gesellschaftliche Stellung betrifft, so konnte die frühere Kölner Choristin als Gräfin O’Sullivan in den Salons der Gattin des obersten Theaterleiters, des Prinzen Hohenlohe, einen bevorzugten Rang behaupten, denselben Rang, den sie in der Glanzepoche des Wiener Hofburgtheaters

[633]

Eleonore Wahlmann als Sappho.     Gertrud Giers als Phadra.     Anna Haverland als Jungfrau von Orleans.
Klara Ziegler als Brunhild.     Paulina Ulrich als Katharina Howard.     Charlotte Wolter als Lady Macbeth.
Rosa Poppe als Medea.   Maria Pospischil als Porcia.
Heroinen der deutschen Bühne.
Mit Randzeichnungen von R. E. Kepler.

[634] einnahm und in der Geschichte desselben für immer einnehmen wird.

Neben dieser leidenschaftlichen „Naturalistin“, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, neben dieser Darstellerin, bei der alles Eingebung des Genies war, ist Klara Ziegler als die stilvollste Heroine unseres deutschen Theaters zu betrachten. Alles, was sie schafft, ist in großen Linien ausgeführt, ihre mächtige Erscheinung, der Vollklang ihres Organs, ein gewisser majestätischer Faltenwurf ihres Spiels erinnern uns stets an das Bild der Melpomene selbst; es ist, als ob die Göttin der Tragödie in lebensvoller Gestalt vor uns hinträte. Klara Ziegler hat die großen Rollen in getragenem dichterischen Stile stets vor den Aufgaben, welchen etwas Zersetzendes, Auflösendes, geistig Zerklüftetes oder eigenartig Ungewöhnliches beigemischt ist, bevorzugt. So spielt sie bei ihren Gastspielen lieber die Brunhild Geibels als diejenige Hebbels, welche allerdings nicht das ganze Drama beherrscht wie Geibels Heldin; aber davon abgesehen hatte Hebbels absonderliche isländische Norne mit ihren geheimnißvollen Visionen wenig Anziehendes für eine Darstellerin, welche sich lieber der klargezeichneten Brunhild des Lübecker Dichters zuwandte. Nicht als ob Hebbels Muse ihr fremd geblieben wäre: die Judith war eine ihrer Glanzrollen, aber das Heldenmädchen von Bethulia ist in der Bühneneinrichtung des Dramas vorzugsweise eine thatkräftige Heldin, welche den Feind ihres Volkes dem Tode weiht, während in der Buchausgabe die Beleuchtung der großen Scene in sonderbaren Lichtern spielt und allerlei Halberklärtes, Räthselhaftes seine Schatten mit hereinwirft. Uebrigens hat, besonders bei ihrem Engagement in Leipzig 1868, Klara Ziegler auch die Brunhild Hebbels gespielt, und unser Blatt brachte damals ein Bild der Darstellerin in dieser Rolle (Jahrg. 1868, Nr. 32). Auch spielte Klara Ziegler in Kleists wild genialem Drama „Penthesilea“ am Münchener Hoftheater mit vielem Erfolg die Titelrolle. Bei Gelegenheit ihres fünftundzwanzigjährigen Jubiläums haben wir über den Lebensgang der Darstellerin eingehend berichtet (Jahrg. 1887, Halbh. 4). Neue Bahnen hat sie seitdem nicht eingeschlagen und konnte sie nicht einschlagen, denn durch ihre Naturanlage, ihre Erscheinung, ihren früheren Entwicklungsgang ist ihr der Weg ein für allemal fest vorgezeichnet, und wenn neuere Dichtung die modernen Seelengemälde mit roherem oder feinerem Farbenauftrag bevorzugt, so wird sie ihr dorthin nicht folgen wollen und nicht folgen können.

Die vielseitigste der Heldinnen unserer Bühne ist jedenfalls Pauline Ulrich, die ebensogut unter die ersten Liebhaberinnen, ja unter die Lustspieldarstellerinnen eingereiht werden könnte, die aber auch an einem hervorragenden deutschen Theater, dem Dresdener Hoftheater, seit Jahrzehnten die Rollen spielt, welche ins Fach der Heroinen schlagen. Auch diese Künstlerin ist den Lesern unseres Blattes nicht mehr fremd, bereits im Jahrgang 1875 (Nr. 3) brachten wir das anziehende Bild derselben. Pauline Ulrich, eine geborene Berlinerin, trat, nachdem sie als Schülerin der Krelinger in Berlin die fleißigsten Vorstudien gemacht hatte, 1859 in Dresden in den Rollenkreis, welchen Frau Bayer-Bürck damals verlassen hatte, aber sie erweiterte diesen bald nach allen Seiten hin. Ihre hohe Gestalt ist nicht in das feierliche Gewand der Tragödie gleichsam hineingewachsen: sie ist schlank, biegsam, anmuthig, sich auch dem leichten Spiele des Konversationsstückes anschmiegend. Pauline Ulrich spielt Goethes Iphigenie mit dichterischem Adel, aber sie ist auch eine vortreffliche Heldin der Scribe’schen geschichtlichen Lustspiele, und wenn sie überall am Platze ist, wo sie eine große Dame darzustellen hat, so weiß sie auch die Salonrollen des leichten Lustspiels mit feinem Humor zu geben; sie vereinigt markige dramatische Kraft mit einer geistvollen Beweglichkeit und bringt als Shakespeares Beatrice jeden launigen Einfall des großen Dichters zu wirksamer Geltung. Durch zahlreiche Gastspiele hat sie sich in ganz Deutschland und weiter hinaus einen Namen gemacht, doch blieb sie stets fest mit dem Dresdener Hoftheater verwachsen.

Wo aber Pauline Ulrich auftrat, war sie ein gern gesehener Gast: die Harmonie ihres Wesens, das geistvolle Leben, das ihrer Darstellungsweise eigen war, die Vielseitigkeit ihres Talentes übten eine bestechende Wirkung aus, und sie fesselte bei wiederholten Gastspielen das Publikum stets von neuem. –

Es war unter der Direktion Friedrich Haases in Leipzig, als eine junge stattliche blonde Dame zuerst versuchte, die tragischen Lorbeeren zu erringen. Es war eine Märkerin, eine echte Norddeutsche, und sie schien uns allen aus dem Holze zu sein, aus dem man Tragödinnen schnitzt. Leider strafte der erste Theaterabend die günstigen Vorhersagungen Lügen; die junge Kunstnovize trat als Gräfin Julia Imperiali im „Fiesko“ auf, allerdings eine der gefährlichsten Rollen und das Publikum lehnte diese Kunstleistung ab, die Kritik des Foyers äußerte sich nur kopfschüttelnd über die junge Darstellerin. Plumps, Anna Martha – da lag der Topf mit allen schönen Zukunftshoffnungen! Und in der That, Gräfin Julia Imperiali schien den Schleier genommen zu haben, denn sie war gänzlich von der Bühne verschwunden. Nach geraumer Zeit las man eines Tages den Namen der Debütantin wieder auf dem Zettel; sie hatte einen Prolog zu sprechen und sie sprach ihn mit einem so volltönenden Organ, mit solchem Verständniß und so nachdrucksvoll, daß ihr dafür rauschender Beifall zutheil wurde. So war sie wieder aus dem Dunkel hervorgetaucht; sie hatte die Pleißestadt nicht verlassen und in aller Stille Studien gemacht. Nicht lange darauf trat sie als Adelheid im „Götz“ auf und hatte einen durchschlagenden Erfolg; die große Scene mit dem Sendboten der heiligen Feme hatte sie mit hinreißender Kraft gespielt. An diesem Abend hatte die deutsche Bühne eine neue Heroine gewonnen. Anna Haverland wurde zunächst in Leipzig die Trägerin großer Rollen, dann vom Dresdener Hoftheater engagiert, später eine Zierde der Meininger Truppe. Alle Zwischenstationen ihrer künstlerischen Laufbahn, alle Gastspielreisen zu erwähnen, ist hier nicht der Ort; vergangenen Winter gastierte die Künstlerin in New-York, dem großen Wallfahrtsort der deutschen Berühmtheiten, und gegenwärtig ist sie am Berliner Theater Ludwig Barnays thätig. Sie hat ein schönes, klangvolles Organ, und melodisch fließen die Goetheschen Verse von ihren Lippen, wenn sie die Priesterin an Tauris’ Strand darstellt. Für solche getragene hoheitsvolle Aufgaben ist sie in erster Linie berufen, das unvergänglich schöne Dichterwort findet in ihr eine begabte Vermittlerin, die durch ihren Vortrag alle seine Schönheiten unverblaßt zur Geltung bringt. Wo es die Darstellung erregter Leidenschaft gilt, hat sie Kraft und Nachdruck, wenn auch das Verweilen in dämonischen Tiefen ihrem Talent ferner liegt; im ganzen sind ihre Gestalten mehr in ein helles Licht gerückt. Ihr Repertoire ist jetzt dasjenige der gefeierten Heroinen, während sie früher häufiger in den Rollen der ersten tragischen Liebhaberinnen auftrat.

Die Heldin des Stuttgarter Hoftheaters, Eleonore Wahlmann, hat, im Gegensatz zu Anna Haverland, nicht allzu häufig die Stätte ihres künstlerischen Wirkens verlassen, obschon sie an der Wiener „Hofburg“, in München und mehrmals auch an norddeutschen Bühnen gastiert und überall Anerkennung ihrer hervorragenden Begabung gefunden hat. Zu Klagenfurt in Kärnten geboren, ein echtes Theaterkind, da sie schon in Kinderrollen auftrat, einmal als Genius aus den Wolken flog, ein anderes Mal zu ihrer Freude als naturwüchsiger „Bub“ glänzen konnte, hatte sie sich schon mit der Welt der Prosceniumslampen vertraut gemacht, als sie von ihren Eltern in eine Wiener Erziehungsanstalt gebracht wurde, da diese selbst bei ihren wechselnden Engagements an verschiedenen Provinzbühnen ihr keinen regelmäßigen Unterricht zuheil werden lassen konnten. Aus der Anstalt entlassen, trat sie bei kleinen Bühnen auf, bis eine Heirath sie drei Jahre lang der dramatischen Kunst entfremdete. Doch sie kehrte wieder zur Bühne zurück, als Emil Devrient bei einem Gastspiel in Amsterdam sie bewogen hatte, die Rolle der erkrankten Liebhaberin zu übernehmen. Seitdem ist sie der Kunst treu geblieben; kurze Zeit nach ihrem Wiederauftreten löste der Tod ihre Ehe. Sie war dann zwei Jahre lang in Graz engagiert; seit dem Jahre 1866 ist sie Mitglied des Stuttgarter Hoftheaters, und obwohl sie es im allgemeinen nicht liebte, durch große Gastspielreisen in die Ferne zu wirken, ist ihr Ruhm doch in die weitesten Kreise gedrungen. Sie ist eine Meisterin edeln und gediegenen Vortrags, das hat sie nicht nur als Iphigenie in den Goethe-Aufführungen des Hoftheaters, sondern auch als Vorleserin der Sophokleischen „Antigone“ in Stuttgart und Tübingen bewiesen. Auch Schillers große Rollen, eine Maria Stuart, eine Jungfrau von Orleans, führt sie mit meisterlicher Beherrschung des dichterischen Wortes durch; doch erst in schärfer gezeichneten Charakteren bewährt sie ihre ganze Gestaltungsgabe; eine Lady Milford, eine Gräfin Orsina, eine [635] Medea stattet sie mit dämonischen Zügen aus, die eine ergreifende Wirkung ausüben. Eine Glanzleistung war ihre Margarethe in dem von Dingelstedt eingerichteten Königsdrama Shakespeares „Heinrich VI.“. Am Münchener Hoftheater spielte sie diese Furie der englischen Bürgerkriege, für welche ihr jedes Vorbild fehlte, selbstschöpferisch mit hinreißender Kraft, so daß die Kritik ihr warme Anerkennung zollte. Auch ihre Sappho, ihre Phädra, ihre Thusnelda und Isabella sind hervorragende Leistungen. Die Künstlerin hat ausdrucksvolle Züge, dunkle Augen, eine edle Gestalt und plastische Bewegungen.

Wenden wir uns jetzt jenen Schauspielerinnen zu, welche im Laufe des letzten Jahrzehnts sich einen Namen gemacht haben! Eine geborene Kölnerin wie Charlotte Wolter, ist Gertrud Giers in die Fußtapfen der Wiener Meisterin getreten. Von der eigenen Mutter ausgebildet, in der Plastik von dem italienischen Meister Perini unterrichtet, spielte Gertrud Giers schon im Alter von sechzehn Jahren ihre Heroinen; denn sie war ein hochgewachsenes deutsches Heldenmädchen. Sie glänzte an den großen Stadttheatern in Hamburg und Frankfurt, feierte in St. Petersburg und New-York Triumphe und ist gegenwärtig am Hoftheater in Hannover engagiert. Ihre äußeren Vorzüge, insbesondere ein sehr modulationsfähiges, glockenhelles Organ von großer Kraft, gehen Hand in Hand mit den inneren: einem feurigen Temperament und einem warm empfindenden Herzen. Ihr Mienenspiel ist höchst beweglich, ihre beredten Augen geben jeder Empfindung seelenvollen Ausdruck; sie arbeitet ihre Rollen mit feinem Verständniß durch. Wir lasen einmal in den Blättern, welch hohe Meinung Ernst von Wildenbruch von dieser Darstellerin hat, – er erklärte sie für das größte Talent unter den deutschen Bühnenkünstlerinnen. Jedenfalls liegt ihr alles Kühle und Eingelernte fern; sie spielt eben mit dem Herzen und giebt dadurch ihren Gestalten den Ausdruck voller Lebenswahrheit. Als eine vorzügliche Leistung wird ihre Jungfrau von Orleans bewundert; in den beiden großen Monologen und in der Kerkerscene wirkt sie hinreißend; sie bringt in dem Auftritt mit Burgund den Zauber des echt Weiblichen zu gewinnendem Ausdruck und läßt die schlichte Hirtenjungfrau Johanna nicht hinter der begeisterten Prophetin und Kriegerin verschwinden. Ihre Phädra, ihre Messalina, ihre Medea, ihre Iphigenie werden in gleicher Weise von der Kritik gerühmt. Fräulein Giers hat für diese Heldinnen des Alterthums den hohen Schwung, die plastische Gebärde, aber sie hat nichts Versteinertes, sie giebt auch diesen Gestalten ein reiches inneres Leben.

Die erste Heldin des Berliner Hofschauspiels, Rosa Poppe, ist eine Ungarin; ihre Eltern waren wohlhabende Weinbauern und sie hatten zugleich eine Gastwirthschaft, in welcher sie einen Theil ihres Weins ausschenkten; es giebt noch viele, denen die jetzige Berliner Tragödin ein Glas echten Adlersberger kredenzt hat. Sie wurde damals von ihrer Mutter zu einer tüchtigen Hausfrau erzogen, wie diese es war und noch ist. Vom Theater hatte man in den Kreisen des ungarischen Weinbauern keine Ahnung; auch die Tochter des Hauses hatte nie ein Theater gesehen, las aber in der Stille mit Heißhunger die Trauerspiele ihres geliebten Schiller. Durch elementare Ereignisse, Hagel und Ueberschwemmungen, durch ein vierjähriges Krankenlager des Vaters, der auch schließlich ein Opfer seiner Krankheit wurde, verlor die Familie ihr Vermögen, und Rosa Poppe mußte entweder die Hand eines ungeliebten Mannes nehmen oder sich selbst ihr Brot verdienen. Sie entschied sich für das letztere und wurde gegen den Willen aller ihrer Verwandten Schauspielerin. Sie machte das ganze Elend der kleinen Bühnen durch, hatte mit Noth und Sorgen zu kämpfen, bis ihr künstlerischer Lebenslauf allmählich in geregeltere Bahnen einlenkte. Wir finden sie am Wiener Karltheater, am Augsburger Stadttheater; doch erst seit ihrem Auftreten an der Berliner Hofbühne zog sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Anfangs schien ihr Spiel noch unausgeglichen und entbehrte des rechten künstlerischen Maßes; sie that hier und dort zu viel; auch die Gebärde war nicht immer angemessen. Doch gerade an der Hofbühne machte sie glänzende Fortschritte, und ihre Medea in der Grillparzerschen Trilogie bezeichnete einen Höhepunkt ihrer Entwicklung, der von der Kritik mit Begeisterung anerkannt wurde. Max Grube, der zuerst Grillparzers „Goldenes Vließ“ als Gesammtdichtung auf die Berliner Bühne gebracht hat, gab dadurch auch der Darstellerin Gelegenheit, den ganzen Entwicklungsgang der Heldin uns vorzuführen, während in der Regel den Heroinen der anderen Bühnen nur die Aufgabe zufällt, die Medea der dritten Abtheilung zu spielen. Diese Entwicklung aber mit aller Gewalt der Liebe und des Hasses brachte Rosa Poppe in ergreifender Weise und mit hinreißender Steigerung zur Anschauung. Ihre Darstellungsweise strebt nach Naturwahrheit, sie vermeidet den getragenen deklamatorischen Ton, doch nimmt sie nicht immer genug Rücksicht auf die dichterische Schönheit der Verse. Jedenfalls ist sie durchaus eigenartig und in dieser Eigenart bedeutend. Rosa Poppe hat eine hohe, schlanke Gestalt, angenehme Gesichtszüge, ein gutes, in großen Affekten machtvolles Organ. Von klassischen Rollen hat sie am Berliner Hoftheater außer der Medea die Adelheid im „Götz“, die Turandot, die Eboli, die Elisabeth, dann noch die Marquise von Pompadour gespielt. Am erfreulichsten ist der Fortschritt eines starken leidenschaftlichen Talents zu immer wachsender künstlerischer Bedeutung.

Wie Bogumil Dawison der polnischen Bühne angehörte, ehe er deutscher Schauspieler wurde, so war Marie Pospischil, die jetzt als jüngere Heroine am Wiener Hofburgtheater thätig ist, tschechische Schauspielerin, ehe sie sich dem deutschen Theater zuwandte. In Prag geboren, kam sie schon mit sechzehn Jahren an das tschechische Nationaltheater, wo sie fünf Jahre blieb. Dann widmete sie ein Jahr Gastspielen in Rußland und Polen. Hierauf wagte sie den Uebergang zur deutschen Bühne und spielte die Jungfrau von Orleans am Deutschen Landestheater in Prag mit großem Erfolg. Die Tschechen verloren ungern ein so bedeutendes Talent, das sich nach einem größeren Wirkungskreis sehnte, als ihn die böhmische Nationalbühne gewähren konnte, und es fehlte nicht an heftigen Angriffen auf die abtrünnige Künstlerin. Von Prag aus wurde sie an das Deutsche Theater in Berlin engagiert, wo sich ihre Umwandlung in eine deutsche Schauspielerin vollendete. Vor allem gab sie sich Mühe, die tschechischen Dialektanklänge aus ihrer Aussprache zu verbannen, obschon noch immer jener Rest angeborener Eigenart übrig blieb, der auch bei Dawison stets, wenn auch noch so leise, an den Ausländer gemahnte. Dann brach sie mit der mehr deklamatorischen Vortragsweise des tschechischen Theaters und strebte nach Naturwahrheit des Ausdrucks, ohne den idealen Zug zu verkümmern. Für glänzende Farbengebung war sie geschaffen; das breit Verschwommene, allzu Ueppige der Darstellungsweise mußte sie zu vermeiden suchen, und es gelang ihr, bei der strengen Zucht des deutschen Theaters, alle Auswüchse, die theils ihrer Nationalität, theils ihrem Naturell entstammten, immer mehr zu beschneiden. Ihre Eigenart schildert ein namhafter Kritiker mit folgenden Worten: „Marie Pospischil ist eine Heroine mit der Erscheinung einer Salonliebhaberin und der Stimme einer Sentimentalen, und diese Mischung wird zusammengeschweißt durch die Leidenschaft der Empfindung.“

Marie Pospischil tritt jedenfalls in die Fußtapfen von Charlotte Wolter; sie hat nicht die marmorne Hoheit der Klara Ziegler und ihrer Nachfolgerinnen. Ihre tragische Kraft liegt in ihrem leidenschaftlichen Naturell; auch der „Wolterschrei“ ist ihr nicht versagt, wie ihre Adelheid im „Götz“ in der Ermordungsscene beweist. Zu ihren Glanzrollen gehören diejenigen, in denen eine glühende Sinnlichkeit sich ausprägt wie die Messalina und die Udaschkin in Freytags „Graf Waldemar“; aber auch die Lady Macbeth, die Orsina, Sappho und Porcia stellt sie in interessanter Weise dar, wenn sie auch nicht überall jene widerstrebenden Züge ihres Wesens zu harmonischem Einklang zu stimmen vermag. Das gelang ihr vorzüglich als Hjördis in Ibsens „Nordischer Heerfahrt“, einer Rolle, die ebenso den Höhepunkt ihrer Entwicklung bezeichnete wie die Medea denjenigen von Rosa Poppe. An das Wiener Hofburgtheater berufen, hatte sie mit ihren Proberollen der Orsina und Maria Stuart einen großen Erfolg – und so gehört sie jetzt dem gefeierten Künstlerstabe dieser Bühne an.

Noch ist eine Reihe jüngerer Kräfte vorhanden, die in ernstem Vorwärtsstreben den hohen Aufgaben der Tragödie gerecht zu werden trachten. Einer späteren Zeit wird es vorbehalten sein, über sie das endgültige Urtheil zu fällen. Dann wird vielleicht auch die „Gartenlaube“ ihren Lesern einen neuen stolzen Kranz von Meisterinnen der tragische Muse vorführen können, wie die heute geschilderten ihn bilden.  


[636]
Ketten.
Roman von Anton v. Perfall.

      (5. Fortsetzung.)


Wieder klimperte das Klavier, wieder ertönte das wüste Lachen aus dem „Jörgl“ und lärmten die „Jungen“ beim „Prasser“, wieder glühten im Dunkel die roth verhangenen Fenster der „Fackel". Hans trat in das von übelriechendem Dunste gefüllte Lokal der „Fackel“, ein Blick überzeugte ihn, daß Holzmann noch nicht da sei.

Die Wirthin empfing ihn mit mißtrauischer Miene. „Suchen Sie den ‚Schwarzen Jakob‘?" fragte sie barsch. „Er hat sich nicht mehr sehen lassen seitdem, er haßt das Geschnüffel – war ein guter Gast.“

„Bringen Sie ein Glas Bier und kümmern Sie sich nicht darum, wen ich suche oder nicht!“ entgegnete Hans abweisend.

Eingeschüchtert durch den entschiedenen Ton entfernte sich die Wirthin, um das Verlangte zu bringen. Jetzt trat auch Holzmann ein, mit offenbar von reichlichem Alkoholgenuß getrübten Augen stierte er im Zimmer umher. Hans wurde von unbezwinglichem Ekel erfaßt, es war ihm, als müsse er entfliehen. Da erblickte ihn Holzmann; über die Entdeckung vergnügt mit dem Finger schnalzend, trat er näher. Ohne Umstände setzte er sich neben Hans und nahm ungeniert einen tüchtigen Schluck aus dessen Glas.

„Hab’ ich’s nicht fein gemacht?“ fragte er, mit den Augen zwinkernd. „Bin ich nicht ein wahrer Freund?“

Hans zuckte unter dieser Andeutung zusammen und dachte nicht einmal daran, von dem Menschen wegzurücken, der ihm vertraulich die Hand auf die Schulter gelegt hatte; sie lastete darauf wie Blei.

„Na, so reden Sie doch, jetzt brauchen Sie ja keine Angst mehr zu haben – ich schweige wie das Grab!“

„Ich verstehe Sie nicht,“ stammelte Hans.

„Sie verstehen mich nicht? Na, das ist gut! Warum sind Sie denn hier? Oder habe ich meine Sache wirklich so gut gemacht, daß auch Sie ...? Na, hören Sie, da wär’ ich wirklich stolz. Aber machen Sie keine Flausen, zwischen uns zwei muß alles klar sein. Also die Geschichte war so: ich und er – Sie wissen, wen ich meine – hatten alles vortrefflich vorbereitet, es klappte soweit auch ganz gut, er war schon glücklich drin im Laden – da überkommt ihn ein Schrecken, er glaubt wunder was draußen auf der Straße zu hören, springt durch die Oeffnung wieder herunter, wirft mir dabei die halbe Decke auf den Kopf und ist auf und davon, während ich in der Patsche sitze. Na, ich will’s ihm nicht nachtragen.“

In Hans war, während Holzmann in seiner frechen Weise erzählte, ein dumpfer Zorn aufgestiegen. „Also haben Sie meinen Vater wirklich so weit gebracht, Sie Schurke!“ flüsterte er zwischen den Zähnen. Sein Antlitz war weiß, sein Auge leuchtete unheimlich.

„Natürlich, ich bin der Verführer! Er ließ sich übrigens sehr gern verführen, der Herr Vater – doch das ist ja jetzt ganz einerlei, verlieren wir keine Zeit mit solchen Dummheiten! Rollen Sie die Augen nicht so, ich fürchte mich nicht – Ihnen muß alles dran liegen, daß Ihr Vater nicht entdeckt oder aufgegriffen wird, und wenn ich spreche . . .“

Das letzte Wort klang wie eine Drohung; Hans ließ finster das Haupt sinken.

„Ich spreche aber nicht, wenn Sie vernünftig sind.“

„Was nennen Sie vernünftig?“

„Sie kaufen mir das Geheimniß ab – das ist doch sehr vernünftig!“

„Womit? Ich bin arm.“

„Weiß ich, und ich bin kein Blutsauger, das überlass’ ich den ehrlichen Menschen. Es giebt ja auch Abschlagszahlungen, und Sie werden nicht arm bleiben –“

„Gut, ich bin bereit. Was fordern Sie?“

„Das ist schwer zu sagen. Je weiter Sie es bringen, desto mehr muß Ihnen an meinem Schweigen liegen. Sagen wir vor der Hand dreißig Mark monatlich! Gewiß anständig! Haben Sie Glück, machen vielleicht eine gute Partie – ’s ist ja so was in Aussicht, wie ich hörte – na, dann läßt sich weiter drüber reden, dann kann man’s vielleicht mit einmal abmachen.

Hans hatte nicht einmal mehr die Kraft des Zornes gegen diesen offenbaren Hohn. Die Anspielung auf Claire machte ihm seine furchtbare Lage doppelt klar.

„Sie sollen das Geld haben. Aber geben Sie sich keiner Hoffnung hin in Bezug auf meine Zukunft –“ Er lachte schmerzlich. „Ich habe keine Zukunft mehr von heute an und werde nie –“

„‚Heirathen‘, wollen Sie sagen? Ah bah, das sagen Sie jetzt. Nicht heirathen? Ein so schöner Mann mit diesen Aussichten! Da ist mir nicht bange. Also vor der Hand dreißig Mark monatlich. Sie senden es an den Wirth zum ‚Schwarzen Rößl‘, meinetwegen unter fremdem Namen, ich weiß dann schon, von wem es kommt. Aber noch etwas: ich könnte doch einmal einen besonderen Wunsch haben – man hat hie und da größere Ausgaben – und ich möchte Sie von Zeit zu Zeit doch auch persönlich sehen, damit ich Sie nicht ganz aus dem Gesicht verliere . . . also kurz und gut: ich verlange, daß Sie sich alle Vierteljahre, sagen wir: immer am Ersten jedes dritten Monats von heute an, im ‚Schwarzen Rößl‘ sehen lassen. Kommen Sie nicht, so müßte ich schreiben, und das ist gefährlich für uns beide. Also einverstanden?“

„Ich muß!" stöhnte Hans. „Nun aber – wo ist mein unglücklicher Vater?“

„Er ist jetzt auf eine Zeit lang verschwunden; ich glaube, er ist in der Schweiz. Doch das kann Ihnen ja gleich sein. Auch wenn er wiederkommt, wird er sich vor Ihnen nicht sehen lassen auf diese Geschichte hin, er fürchtet Sie –“

„Und wer giebt mir die Versicherung, daß Sie ihn dann nicht zum zweiten Male zu einem solchen Verbrechen verführen?"

„Ich, Verehrtester!“ erwiderte Holzmann lachend. „Er taugt nicht zu dem Geschäft, es fehlt ihm die Ruhe, die Kälte; mitten drin reut es ihn, und er macht lauter Dummheiten.“

Hans war dem Gauner für dieses Wort beinahe dankbar, bewies es ihm doch, daß sein Vater kein Verbrecher von Natur war, daß ihn nur seine Leidenschaftlichkeit, seine widrigen Verhältnisse und die Künste Holzmanns soweit gebracht hatten. Aber was nützte es seinem Vater und ihm selbst, daß dem so war? Befanden sie sich deshalb weniger in der Gewalt des Schurken? War er selbst nicht in Zukunft ein Sklave Holzmanns? O, das war die schändlichste Fessel, die er je getragen! Doch wie – wenn er sie abschüttelte mit einem energischen Rucke, mochte draus entstehen, was da wollte? Sein Vater war in Sicherheit, und selbst wenn er infolge einer Anzeige den Gerichten verfiel, war es nicht besser, daß er seine Schuld büßte, statt mit dem Bewußtsein, ein Ausgestoßener und Verfolgter zu sein, immer weitergetrieben zu werden auf der dunklen Bahn und vielleicht dem Schlimmsten zu verfallen. Und konnte denn Holzmann überhaupt den Genossen verrathen, ohne selbst mit in die Falle zu gerathen? Aber dieser Mensch mit seinem rachsüchtigen Charakter und seiner bösartigen Schlauheit würde sicher einen Weg finden, seine Drohung wahr zu machen, ohne sich selbst zu gefährden. Im Nothfall würde er wohl auch vor einem Meineid nicht zurückschrecken, um den Vater als den alleinigen Schuldigen hinzustellen. Ja, es war zu erwarten, daß er sich dann die Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, auch den Sohn in Verdacht zu bringen. Anhaltspunkte dafür bot ihm ja der Verkehr in der berüchtigten „Fackel“. Und dann – wo blieb dann sein Glück, seine Zukunft, die er sich nur zu denken vermochte an der Seite Claires!

Im Gefühl seiner Ohnmacht verlegte sich Hans zu seiner eigenen inneren Beschämung aufs Bitten.

„Erlassen Sie mir die Besuche im ‚Schwarzen Rößl‘,“ begann er, „sie sind mir unmöglich.“

„Thut mir leid, aber auf diese Besuche verzichte ich nicht, ich muß sogar um große Pünktlichkeit bitten. Abgemacht also!“ Er streckte Huns die schmutzige Hand hin. Ich will Sie nicht länger aufhalten. – Warum schlagen Sie nicht ein? Die Hand färbt nicht ab! Mein Gott, wenn alle Spitzbubenhände Farbe lassen würden, wir gingent alle umher wie die Färber. Uebrigens ist der Humbug mit dem Handschlag auch nicht nöthig, solche Sachen halten sich von selbst. Aber noch etwas – haben Sie vielleicht die erste Monatsrate bei sich? Ich meine nur – es eilt nicht gerade –“

[637] Hans griff in die Tasche und warf das Geld auf den Tisch.

„Stimmt!“ sagte Holzmann schmunzelnd. „Auf Wiedersehen im ‚Schwarzen Rößl‘ genau auf Tag und Stunde, wie wir’s besprochen haben. Ich liebe die Pünktlichkeit! Und nun – nichts für ungut, Herr Davis!“ Mit diesen Worten erhob er sich, drückte seinen Hut tief ins Gesicht und verließ das Lokal.

Hans blieb betäubt zurück. Das Fürchterlichste war eingetroffen – wohin mochte ihn die Gemeinschaft mit diesem Verbrecher noch führen! Da schlug es acht Uhr, um diese Zeit sollte er bereits im Salon bei Berrys sein. Er schauerte zusammen bei dem Gedanken. Was sollte er sagen, wenn man ihn fragte, wo er so lange geblieben sei, wenn Claire ihn fragte mit dem stummen Vorwurf im Blicke, der ihm jedesmal das Herz zerriß? Sollte er ihr alles bekennen, ihr zurufen: „Ich bin der Sohn eines Verbrechers, der Sklave eines Schurken – aber ich liebe Dich mehr als das Leben, und wenn auch Du mich liebst – Liebe kann alles vergessen, verzeihen!“ Aber wie würde sie da entsetzt, voll Ekel, aufspringen, die schöne verwöhnte Claire, wie würde sie ihn verachten, hassen, daß er, der Geschändete, Ehrlose, sich in ihr Herz geschlichen! Es gab nur eines, wenn er ein Mann war: das Haus verlassen, in dem sein ganzes Glück beschlossen lag.

Die Wirthin hatte das seltsame Paar scharf beobachtet, auch die Zahlung an Holzmann war ihr nicht entgangen. Sie hatte doch dem jungen Menschen unrecht gethan, es war keiner von der Polizei. Als sie das Geld für die Zeche nahm, nickte sie ihm daher freundschaftlich zu.

Luftiger Platz.
Aus dem Werke „Spiegelbilder aus dem Leben“ von René Reinicke. (F. A. Ackermanns Kunstverlag in München.)
Für die „Gartenlaube“ in Holz geschnitten.

„Nehmen Sie sich in acht vor dem!“ sagte sie. „Es wär’ schad’ um so einen schönen jungen Herrn.“

Hans erwiderte nichts; ohne sich umzusehen, eilte er aus dem Lokal.

*               *
*

Der Salon Berrys war heute stark besucht; alle Kreise der Hauptstadt waren vertreten. Eine herrliche Sopranstimme, von den Tönen eines Klaviers begleitet, versammelte die vorher in den Räumen des ersten Stockwerks zerstreuten Gäste im Salon. Die gefeierte Primadonna der Hofbühne gab ein Lied zum besten, da mußte man wohl oder übel das heimliche Geplauder unterbrechen, die reich besetzten Büffetts verlassen und sich dazu noch sehr erfreut zeigen über diesen Kunstgenuß. So gut es gehen wollte, entschädigte man sich durch heimliches Geflüster in rosige niedliche Oehrchen, durch koketten Fächerschlag und neckisches Augenspiel. Nur einige wenige Kunstenthusiasten lauschten mit ernsten tiefsinnigen Gesichtern dem Gesang, nicht ohne hie und da verweisende Blicke auf das junge unaufmerksame Volk zu werfen.

Besonders Graf Maltiz schien den Vortrag für seine besonderen Zwecke auszunutzen. Er saß dicht hinter Claire, sein dunkles Antlitz mit dem mächtigen schwarzen Schnurrbart berührte fast die feinen blonden Löckchen, die sich um Claires Hals ringelten. Seine Flüsterworte brachten sichtlich eine starke Bewegung bei der Dame hervor. Sie wechselte wiederholt die Farbe, erwiderte hastig etwas hinter dem aufgespannten Fächer und kühlte sich fortwährend mit dem Spitzentuch die heiße Stirn, die glühenden Wangen.

Die Sängerin endete unter stürmischem Beifall. Mit einer Verbeugung bot Maltiz Claire den Arm und das Paar bog in eines der lauschigen Nebengemächer ein, verfolgt von spitzen Worten und Blicken.

„Sprechen Sie, Fräulein Claire, ich beschwöre Sie,“ begann erregt der Graf, als sie allein waren. „Was beängstigt Sie? Was drängt sich stets zwischen uns?“

„Zwischen uns, Herr Graf?“

[638] „Ja, zwischen uns, Fräulein Claire. Ich sage das getrost, ich bin kein junger Fant mehr, kein schmachtender Jüngling, ich bin ein Mann – mit tausend Fehlern vielleicht, aber mit dem einen Vorzug, daß ich mit meinen Gefühlen nicht Versteck zu spielen weiß. Ein Reiter liebt die rasche kühne Entscheidung!“

„Das ist ja ganz schön, Herr Graf,“ unterbrach ihn Claire in leicht ironischem Tone, „aber ich bin leider zu Fuß und kann dem raschen kühnen Reitersmann nicht folgen.“

„Sie verleugnen sich selbst, Fräulein Claire! Seit wann gehören Sie zu diesen matten Naturen, die, einer raschen kräftigen Leidenschaft nicht fähig, ängstlich hin und her schwanken, überlegen, fürchten und zagen. Entweder bin ich Ihnen gleichgültig, zuwider, dann haben Sie Ihr Spiel mit mir getrieben, oder ich bin Ihnen mehr als die anderen. Warum aber dann noch zögern? Oder will Ihr Papa den leichtsinnigen Offizier nicht, der mit seinem Sohne ein flottes Leben führt, und Sie lieben den Papa über alles? Ist es dies?“

Der Graf war schön in seiner rücksichtslosen Erregung, die ihn die gute Sitte so weit mißachten ließ, daß er zornig mit dem Säbel auf den Boden stieß.

Claire entzog ihm den Arm.

„Sie vergessen sich, Herr Graf! Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig über die Gründe meines Benehmens. Sind Sie ein Mann, der kühne Entscheidungen liebt, so bin ich eine Frau, die sich ihre Gefühle nicht in blindem Ansturm entreißen läßt. Sie wählen eine Taktik, Herr Graf, mit der Sie vielleicht oft gesiegt haben, die aber nicht immer die richtige ist.“

Maltiz ergriff die beiden Hände des Mädchens und sank, hingerissen von seiner Leidenschaft, vor ihr auf die Knie.

„Taktik? Ich kenne keine in diesem Augenblick. Ich liebe Sie, Claire, nun müssen Sie es hören! Mein sollen Sie werden . . . nur einen Hoffnungsstrahl geben Sie mir!“ Jäh sprang er auf und beugte sein heißes Gesicht so nahe an das ihrige, daß sie seinen Athem spürte.

Nun verlor auch Claire die mühsam bewahrte Ruhe, das Feuer, das verzehrend in dem Manne vor ihr loderte, drohte auch ihre Sinne zu ergreifen. Eine Müdigkeit überkam sie, daß sie wie betäubt die Augen schließen mußte. Es war ihr, als müsse sie um Hilfe rufen gegen sich selbst – warum nur fehlte Hans gerade heute!

Da glaubte sie Schritte zu vernehmen, sie blickte auf – unter dem Vorhang der Thür stand Hans Davis, bleich und verstört; in der nächstelt Sekunde war er wieder verschwunden. Ob er es nun wirklich gewesen war oder das Ganze nur eine Täuschung ihrer erregten Sinne – die Erscheinung hatte ihr die ersehnte Hifle gebracht, sie gehörte wieder sich selbst. Stolz richtete sie sich auf.

„Man hat uns beobachtet, verlassen Sie mich!“ rief sie befehlend. Achselzuckend verbeugte sich der Graf und ging.

Als Claire, nach Fassung ringend, den Salon betrat, fiel ihr erster Blick auf Hans. Es war also keine Vision gewesen – er hatte sie belauscht! Der Schmerz über das Gehörte, Gesehene lag offenbar noch in seinen Zügen. Warum nur hatte sie gerade an ihn denken müssen in dem entsetzlichen Augenblick, als sie jede Kraft in ihrem Inneren erschlaffen fühlte? Warum wich die qualvolle Betäubung bei seinem Anblick? Mit einem Male sah sie klar: sie liebte diesen Mann! Ihm hätte sie gern tausendmal die Antwort gegeben, die der Graf vorhin mit stürmischer Leidenschaft von ihr hatte erzwingen wollen! Aber weshalb wagte Hans nicht dasselbe wie dieser Maltiz – warum verrieth er mit keinem Worte, was er fühlte? Entschlossen trat sie auf Hans zu.

„Wo bleiben Sie so lange? Ich habe Sie überall gesucht. Es giebt Leute, die sich keine Sekunde rauben lassen von diesem Abend, ich dachte, Sie gehörten vor allem dazu.“ sprach sie ihn an.

„Dringende Geschäfte, gnädiges Fräulein! Uebrigens werden Sie mich wohl nicht vermißt haben. Sie sehen so blühend, so strahlend aus von freudiger Lebenslust, daß ich mir doppelt dunkel und unscheinbar vorkomme, so gar nicht, als könnte ich vermißt werden.“

„Wäre es nicht moglich, daß Sie mein Aussehen falsch deuten? Vielleicht ist es nicht Lebenslust, was mich erfüllt, sondern etwas anderes, Entrüstung – Empörung über etwas . . .“

Hans blickte ihr fest ins Auge, mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes. „Empörung über mich, den Lauscher, nicht wahr?“ Claire erröthete tief. „Also Sie waren es wirklich? Nein, das meinte ich nicht.“

„Das meinten Sie nicht? Aber dann – dann bleibt nur eine Erklärung übrig . . .“

„. . . daß ich empört bin über die ungerechtfertigte Zudringlichkeit des Grafen, von der Ihr Erscheinen mich erlöste!“

Hans fühlte, wie sich ihm alles Blut zum Herzen drängte – da stand ja das Glück vor ihm, nahe, greifbar nahe. Aber – o Hohn des Schicksals! – er durfte die Hand nicht danach ausstrecken, er, den das Verhängniß in seine Bande geschlagen, durfte nicht mehr frei wählen, wollte er nicht auch die, die ihm das Liebste war auf Erden, mit sich in Schmach und Schande bringen. Gewaltsam raffte er seine Selbstbeherrschung zusammen.

„Aber der Graf liebt Sie, Fräulein Claire,“ erwiderte er scheinbar gelassen, „und er hat alle Berechtigung dazu. Urtheilen Sie deshalb nicht zu streng! Seine Leidenschaft macht ihn unvorsichtig; o, ich begreife das – sie kennt keine Rücksicht, kein Bedenken, unaufhaltsam drängt sie vorwärts, ihrem Ziele zu!“

„Wirklich, thut sie das?“ entgegnete Claire. „Was wissen denn Sie von Leidenschaft bei Ihren langweiligen fühllosen Maschinen, für die Sie schwärmen? Wie kalt Sie das sagen: ‚der Graf liebt Sie‘, als ginge Sie das gar nichts an!“ Eine tiefe Bekümmerniß klang durch den spöttischen Ton dieser Worte hindurch.

Das Herz krampfte sich in Hans zusammen. Sie standen abseits von der Gesellschaft, niemand konnte sie belauschen – es galt nur ein Wort, das fühlte er, und Claire war sein! Und dieses Wort – er durfte es nicht sprechen! Noch klang die Stimme Holzmanns widerlich in sein Ohr. Er mußte dieses fürchterliche Gespräch beenden, jäh und gewaltsam, sonst erlag er der Versuchung.

„Es darf mich nichts angehen, wenn ein anderer Sie liebt. Der Graf ist der Mann, Sie glücklich zu machen, ist Ihrer würdig, das ist das einzige, was mich dabei interessieren kann, mich, Ihren Jugendfreund, Ihren kleinen Automaten!“

Er athmete schwer auf nach diesen Worten, die nüchtern mit vernünftiger Kühle über seine Lippen gekommen waren.

Claire lachte spöttisch. „Wirklich – Sie sind fest überzeugt, daß der Graf mich glücklich machen würde, daß er meiner würdig ist? Diese Aeußerung erinnert mich wirklich an den Automaten von einst mit seinen toten, langweiligen Bewegungen. Uebrigens haben Sie ganz recht – es geht Sie wirklich nichts an, ob der Graf mich liebt oder nicht, darum lassen Sie in Zukunft das Belauschen!“

„Fräulein Claire!“

Sie hörte nicht mehr auf ihn, sie hatte ihm den Rücken gewandt.

Hans lehnte sich an die Fensterbrüstung und drückte die heiße Stirn an die kalten Scheiben. Das Opfer war vollbracht!

„Warum so einsam, Davis?" weckte ihn plötzlich eine Stimme neben sich – es war die Berrys. Erschrocken wandte sich Hans um.

„Wie sehen Sie denn aus? Krank, überarbeitet und unglücklich! Mir scheint, Sie fühlen sich immer gedrückt in meinem Hause – warum denn? Haben es ja gar nicht nöthig! Sie müssen sich mehr umthun, müssen sich dieser Welt mehr anpassen, wenn es Ihnen auch nicht immer angenehm ist! Sie sind nun einmal berufen, darin zu verkehren, und ich darf es geradezu von Ihnen verlangen, daß Sie sich nicht absondern. Heutzutage macht man seinen Weg nicht mehr allein mit den Kenntnissen, auch Aeußerlichkeiten sind nicht zu unterschätzen, wenn man eine Stellung einnehmen will. Und das wollen Sie doch, und ich will es auch! Ja, ja, ich muß es Ihnen einmal sagen, es fehlt Ihnen an Selbstgefühl, und das ist nothwendig gerade diesen Leuten gegenüber, die wunder meinen, was sie sind. Kommen Sie, kommen Sie – Claire fragte auch schon nach Ihnen!“

Hans lachte gezwungen, entschuldigte sein Alleinbleiben mit Kopfschmerz und folgte dann Herrn Berry.

Claire stand bei Otto und Maltiz. In Hans brauste alles wirr durcheinander, mechanisch sprach und antwortete er. Dazwischen hinein tönte dämonisch das Lachen Claires und des Grafen.

Wie ein wüster Traum ging der Abend vorüber, er sah noch, wie der Graf zum Abschied lange Claires Hand hielt, dann eilte er durch die Nacht seiner Wohnung zu.


10.

Mit Claire war eine auffallende Veränderung vorgegangen. Sie zog sich von der Gesellschaft immer mehr zurück und ließ sich selbst an den Empfangsabenden öfters entschuldigen, so daß diese dadurch ihre Anziehungskraft verloren. „Claire wird Gräfin Maltiz und deshalb dieser Rückzug,“ hieß es in der Stadt; was [639] hatte man also noch bei dem langweiligen Maschinenmenschen weiter zu suchen! Die Beute war erjagt, und es war verlorene Liebesmühe, sich noch weiter um sie zu bemühen. Die jungen Löwen zogen sich knurrend zurück, eine andere Fährte zu suchen, ihnen folgten bald die Künstler und sonstigen Koryphäen der Hauptstadt. Herr Berry verstand es nicht, sie zu halten, es wurde langweilig in dem Salon; Graf Maltiz allein blieb auf dem Platze.

Er war der intimste Freund Ottos, mit dem zusammen er einen Rennstall hielt, und auch Claire behandelte ihn durchaus kameradschaftlich. Der Scene an jenem Abend, bei der Hans sie überrascht hatte, geschah nie mehr Erwähnung, und Claire schien dem Grafen gerade durch den freien Umgang jede Gelegenheit entziehen zu wollen, sie zu wiederholen.

Nichts ist schmerzlicher für einen Liebhaber, denn als Freund behandelt zu werden, mit all der nüchternen Offenheit, welche diesem zukommt. Jedes zärtliche Wort, jedes süße Geheimniß stockt ihm da auf der Zunge und scheint ihm lächerlich. Maltiz war unglücklich, er verstand Claire nicht. Warum entzog sie ihm nicht ihren Umgang, wenn sie seine Werbung ein für allemal abgewiesen haben wollte? Wenn sie ihm aber doch ein tieferes Gefühl entgegenbrachte, warum dann diese Kälte, die erkältend auch auf ihn zurückwirken mußte? Die kostbare Zeit verstrich – wenn nicht wenigstens die Verlobung bald stattfand, so ließen sich seine Gläubiger nicht länger beschwichtigen . . .

Otto kannte die Verhältnisse seines Freundes sehr wohl, er stak selbst tief in Schulden und konnte deshalb die Eile, aus der Maltiz ihm gegenüber gar kein Hehl machte, recht gut begreifen. Ja, der Graf ging so weit, Otto aus Erkenntlichkeit für seine Mithilfe die Uebernahme seiner zahlreichen Verpflichtungen zu versprechen. sei er einmal verheirathet, so gehe das bei dem Alten in einem hin. Otto, weit entfernt, darin eine Taktlosigkeit zu erblicken, faßte das als ritterliche Großmuth von seinem vornehmen Freunde auf und machte die größten Anstrengungen, um Claire zur Entscheidung zu bringen. Doch mußte er die Sache mit aller Vorsicht angreifen, um nicht ihr Mißtrauen zu erregen.

Das Benehmen der Schwester war ihm selbst unbegreiflich, es war fast, als wartete sie auf etwas; oft traf er sie mit verweinten Augen. Sollte eine heimliche Liebe daran schuld sein? Seit ihrer Rückkehr aus Paris war sie doch nur dem Grafen nahe getreten, und um den brauchte sie doch nicht zu weinen! Wiederholt ließ er alle, die seitdem im Hause verkehrt hatten, an sich vorüberziehen, sogar Hans Davis. Und obwohl ihm der Gedanke zuerst lächerlich erschienen war, er drängte sich ihm immer wieder auf. Wie oft hatte er die beiden in lebhaftem Gespräch getroffen! Die unverzeihliche Vertraulichkeit der Jugendjahre wirkte wohl noch immer nach, zudem bevorzugte Papa den jungen Mann immer mehr und zog ihn mit Gewalt in seine Kreise; so unmöglich war also die Sache nicht, und er wurde den Verdacht nicht mehr los. Gerade jetzt entdeckte er auch durch einen Zufall, daß Claire Krankenbesuche im Arbeiterviertel machte. Das war trotz ihrer Gutmüthigkeit ganz gegen ihre sonstige Art, sie liebte das schmutzige Getriebe nicht und betrat nur äußerst selten die Fabrik. Sollte sie aus Interesse für Davis um das „Pack“ sich kümmern, dem auch dieser entstammte?

Der Gedanke, daß er auf der richtigen Spur sei, empörte ihn – das wäre ja eine öffentliche Blamage, ganz abgesehen davon, daß dann alle seine Hoffnungen auf die Hilfe des Grafen in nichts zerfielen! So beschloß er einen entscheidenden Schritt. War etwas an seinem Verdacht, wie er allmählich fest überzeugt war, so wuchs die Gefahr mit jedem Tage, den er verstreichen ließ, ohne zu handeln.

Eines Tages trat er geradezu als Freiwerber für seinen Freund bei Claire auf. Ihr Benehmen gegen Maltiz sei so unklar, daß dieser, eine Abweisung befürchtend, ihn gebeten habe, seine Schwester um eine Entscheidung zu bitten. So stelle er ihr offen und ohne Umschweife die Frage, die sie unzweideutig zu beantworten habe, da ein längerer derartiger Verkehr des Grafen mit ihr unmöglich sei, ohne daß beider Ehre und gesellschaftliche Stellung gefährdet sei. Ein rascher Entschluß sei also unbedingt nöthig. Jeder Anpreisung seines Freundes enthielt er sich absichtlich.

Claire ließ sich zugänglicher finden, als er erwartet hatte; sie spottete nur über den schwachen Muth des sonst als so schneidig gerühmten Grafen, sie habe diese Werbung schon längst vorausgesehen und habe sich bereits damit „ausgesöhnt“, wie sie sich ausdrückte. Sie sehne sich hinaus aus diesem einförmigen Leben, und wenn sie auch nicht gerade eine innige Liebe zu dem Grafen fühle, so könne sie sich doch als seine Gattin denken, und mehr könne man ja auch nicht verlangen, wenn man das Unglück habe, eine reiche Erbin zu sein. Uebrigens habe Papa das letzte Wort zu sprechen.

Otto hörte aus diesen Worten nur die Erfüllung seiner Hoffuungen, nicht den Verzicht eines unglücklichen Herzens, das in verhängnißvollem Irrthum Heilung und Vergessen suchte im Strudel des Weltgetriebes.

Herr Berry betrachtete die Werbung des Grafen als unabwendbares Schicksal. Seine stillen Hoffnungen auf Davis hatte ihn betrogen; Hans war wirklich kein Mann für Claire, es fehlte ihm der persönliche Muth, das Selbstbewußtsein, das allein Großes schafft und auch über die niedrigste Geburt erhebt; er hatte offenbar keine „Rasse“. In der letzten Zeit ließ auch sein Eifer im Geschäft bedeutend nach; seine Schwungkraft war sichtlich erschöpft, die glückliche Idee von damals vielleicht nur ein Zufall.

Er bewegte sich jetzt nur noch in den gewöhnlichen Geleisen der Arbeit. Woher sollte ihm da die Kraft kommen, als sein künftiger Erbe die Fabrik zu leiten? Freilich, Graf Maltiz war ihm auch nicht erwünscht als Schwiegersohn – aber war es dieser nicht, der Claire gewann, so war es ein anderer, der seinen Wünschen noch weniger entsprechen mochte. Daß seine Tochter dem Grafen geneigt war, daran glaubte er nicht mehr zweifeln zu können, wenn sie sich auch immer wieder merkwürdig scheu in sich zurückzog. Der Graf bot ihr einen glänzenden Namen, er war schön, nicht ohne Geist, wohl geeignet, auf ein Mädchenherz Eindruck zu machen. Nur hätte er seine Tochter für tiefer angelegt gehalten, er hätte ihr zugetraut, daß sie noch etwas mehr von ihrem künftigen Gatten verlange. Aber nun war es einmal ihr Wille so – auch gut!

So wurde die Verlobung des Grafen Maltiz mit Fräulein Claire Berry bekannt gemacht; sie überraschte niemand mehr. Otto und der Bräutigam drückten sich verständnißvoll die Hände und machten sofort neue Ankäufe für den Rennstall.

Hans Davis hatte geglaubt, für diese Verlobung gerüstet zu sein, es mußte ja so kommen. Doch als nun das Ereigniß wirklich eintrat, da drohte der Schmerz darüber ihn beinahe zu erdrücken. So lange als möglich schob er die Gratulation hinaus, die er wohl nicht anders als persönlich darbringen konnte. Endlich raffte er alle Kraft zusammen und begab sich zur Villa; man sollte in ihm nur den Bediensteten erblicken, der die leere Form erfüllte. Doch als Claire ihm dann bleich, die Züge matt und schlaff, entgegentrat, da zuckte es in ihm auf wie Freude, und unwillkürlich fiel er aus der selbstgewollten Zurückhaltung heraus. Vergebens nahm Claire eine herablassende Miene an, vermied selbst den herzlichen Ton der Freundin, als sie ihm für seinen Glückwunsch dankte. Er sah unter die Maske, – sie litt mit ihm, vielleicht mehr, weil sie den Grund für sein Verhalten nicht kannte und an Stelle des düsteren Verhängnisses, dem er sich beugte, Feigheit und Mangel an Liebe vermuthen mußte.

„Ich verzichte von heute an auf mein Eigenthumsrecht, Sie sind frei, Herr Davis,“ sagte Claire, in der deutlichen Absicht, dem peinlichen Zusammensein ein Ende zu machen. Hans küßte die kleine Hand; zu spät erhob er das Haupt, eine Thräne war auf die Hand gefallen.

Claire zog sie erschrocken zurück. „Wie – eine Thräne? Bei Ihnen, dem Manne von Stahl und Eisen?“ sagte sie langsam. „Da darf ich mir ja etwas einbilden. Sie erinnert mich an einen Weihnachtsabend, wo die kleine Claire die Thränen, die Sie vergossen, noch trocknen konnte – –“

„Und wo Ihnen der fremde Junge zum Spielzeug geschenkt wurde –“

„Ja – und er wurde mein liebstes Spielzeug, und als er zum Spielzeug zu groß geworden, ward er mein liebster Freund,“ fuhr Claire leise fort. Ihr großes Auge, das erst so kalt geblickt hatte, ruhte jetzt voll innigen Ausdruckes auf Hans, der alle seine Vorsätze darüber vergaß.

„Und als er zum liebsten Freunde zu groß wurde, da trennte man die beiden –“ rief er mit mühsam verdeckter Leidenschaft.

„Ja, da trennte man sie . . . Doch genug dieser Rückblicke auf die Vergangenheit!“ Ihre Stimme klang wieder kühl. „Es beginnt jetzt für mich ein neues Kapitel, und wenn ich Ihrer Prophezeihung Glauben schenken darf – Sie erinnern sich ja noch [640] an jenen Abend in unserem Hause, wo Sie über meinen jetzigen Bräutigam schwärmten – so wird es für mich ein glückliches sein. Ich danke Ihnen nochmals, Herr Davis, für Ihre freundlichen Glückwünsche. Apropos, was macht denn ‚Claire‘ Nummer zwei?"

„Sie macht Ihnen alle Ehre, sie befährt den Mont Cenis und ist die beste Bergmaschine.

„Das freut mich, vielleicht fahre ich mit ihr auf meiner Hochzeitsreise – das wäre reizend – nach dem ‚System Davis‘!“ Sie lachte hart auf. „Auf Wiedersehen, Herr Davis!“ Mit einer leichten Verbeugung ging sie aus dem Zimmer.

Hans stand noch lange, als hätte er ihren Abgang gar nicht bemerkt. Er hielt die geballten Hände gekreuzt, als trüge er wirklich Fesseln. Dann fuhr er plötzlich auf. „Dem ‚System Davis‘, dem System der Feigheit, der fortgesetzten Lüge,“ sprach er vor sich hin, „ich will ihm ein Ende machen!“ Er eilte hinaus, die Treppe hinab; vor dem Arbeitszimmer Berrys hielt er einen Augenblick an. Das Geräusch von Schritten drang heraus; seine Hand lag auf dem Drücker – dem Kommerzienrath alles zu gestehen und um seine Entlassung zu bitten, das war sein Entschluß.

Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Schmorsdorfer Linde.
Nach einer Photographie von Th. Kirsten in Dresden.

Da sprengten Maltiz und Otto über den Hof; der Graf grüßte lächelnd hinauf zu Claire.

Bei diesem Anblick fühlte Hans in seinem Innern eine Woge des Hasses aufrauschen gegen diesen Mann. Maltiz war ein Freund Ottos – wenn er von demselben Stoffe war wie dieser, wenn er Claire am Ende nur ihres Reichthums wegen heirathete, und sie, die offenbar litt, unglücklich wurde! Dann war er schuld! Nein, er durfte nicht gehen, sein Platz war an ihrer Seite, wie sehr er auch darunter leiden mochte.

Still ging er an Berrys Thür vorüber.

*               *
*

Graf Maltiz war nahe daran gewesen, seinen Rennstall aufgeben und sich aus den Sportskreisen, in denen er die erste Rolle spielte, zurückziehen zu müssen. Das wäre aber in seinen Augen der gesellschaftliche Tod gewesen, dem er wahrscheinlich den wirklichen vorgezogen hätte. Der Papa auf Schloß Kossan war selbst noch trotz seiner alten Tage ein Durchgänger und konnte dem Sohne mit dem besten Willen nicht mehr aus der Noth helfen. Der Ertrag der Hüttenwerke hatte sich von Jahr zu Jahr verschlechtert, und die Herrschaft selbst war Fideikommiß und nicht mit Schulden belastbar.

Gerade in der letzten Zeit hatte besonderes Unglück auf dem Rennplatz die Lage für Maltiz verschlimmert; nicht nur seine Stellung in der Gesellschaft, auch die Uniform stand auf dem Spiele. Es gab nur noch zwei Wege für ihn: Claire, die Tochter des Millionärs, oder eine Kugel vor den Kopf! Der Wille zum Leben hatte ihn zu den Füßen Claires getrieben und ihm im Verein mit ihrer bezaubernben Erscheinung die Gluth wahrer Leidenschaft verliehen.

Es war nach alledem wohl begreiflich, daß die Freude des Grafen, als er sich jetzt am Ziele seiner Wünsche sah, keine Grenzen kannte. und sein neuer Schwager theilte dieses Gefühl nach Kräften.

Ottos pekuniäre Angelegenheiten waren nicht weniger zerfahren als die des Grafen, aber als der Verlobte der reichen Berry hatte Maltiz wieder einen unbeschränkten Kredit, den Otto in vollen Zügen mitgenoß. Die beiden Freunde trugen sich mit großen Plänen für die nächsten großen Herbstrennen, die alle früheren Verluste reichlich hereinbringen sollten.

Otto that sich etwas zu gute auf seinen spekulativen Sinn, den er vom Vater geerbt haben wollte. Nur nicht kleinlich sein und sich durch Mißgeschick im Anfang verblüffen lassen! Das war seine Losung. „Helios“ der Sieger im letzten Derbyrennen, war im Stalle des Fürsten R. kurz nach seinem Siege an einer Sehnenentzündung erkrankt. Die Ansichten über seine Herstellung gingen unter den Sachverständigen weit auseinander. Otto beredete nun den Grafen, den Renner um den billigen Preis von zwanzigtausend Mark zu erwerben – kurz nach dem Siege waren dem Fürsteu hunderttausend geboten worden. Auch der Graf war bald gleich seinem Schwager von der Möglichkeit überzeugt, das Pferd wieder völlig herzustellen, und beglückwünschte sich schon im voraus zu dem ungeheuren Gewinn, wenn „Helios“ unter seiner eigenen Führung den ersten Preis davontragen würde. Es war kein Pferd auf dem Turf, das sich mit „Helios“ nur annähernd messen konnte, wenn dieser wieder bei vollen Kräften war.

Maltiz ließ den kostbaren Besitz keinen Tag aus den Augen und überwachte seine Pflege mit gewissenhafter Sorgfalt.

Das Rennen um den großen Preis fand kurz vor dem Tage statt, auf welchen die Hochzeit festgesetzt war. Erfüllte sich des Grafen Hoffnung so konnte er seine Verhältnisse wenigstens so weit ordnen, daß er nicht sofort die Hilfe seines Schwiegervaters in Anspruch nehmen mußte. Und warum sollte diese Hoffnung trügen, die auf so sicherer Berechnung aufgebaut war!

In diesen frohen Erwartungen, in denen Maltiz sich wiegte, war er doppelt aufmerksam gegen seine schöne Braut, und auch seinem Schwiegervater gegenüber bot er seine ganze Liebenswürdigkeit auf. Sein Interesse für die Fabrik schien stetig zuzunehmen, ja er spielte wiederholt darauf an, daß er sich wohl entschließen könnte, seine militärische Laufbahn aufzugeben und sich ganz dem Berryschen Besitz zu widmen, falls Otto wirklich keine Lust dazu habe. Und über dieser verlockend wiederauftauchenden Zukunft, die er gänzlich aufgegeben hatte, war Berry nur zu geneigt, den Rennstall sammt „Helios“ und all den verschiedenen Gerüchten über den Grafen, die ihm zu Ohren kamen, zu vergessen.

Auch Claire konnte sich dem Eindruck des ritterlichen, mit allem Blendwerk eleganter weltmännischer Sicherheit ausgestatteten Wesens ihres Verlobten nicht entziehen. Und glücklich darüber, auch ihr Herz, das bisher ihm gegenüber nicht zu Wort gekommen war, ein wenig sprechen lassen zu können, gab sie sich dieser Regung willig hin, sich gewaltsam über die innere Leere hinwegtäuschend.

Schwerer als Claire trug Hans die neue Last. Er suchte sich im Lärme der Arbeit, beim dröhnenden Getöse der Hämmer [641] und Maschinen zu betäuben, und nur die geheime Hoffnung hielt ihn noch aufrecht, daß irgend eine unerwartete Fügung des Schicksals dieses unnatürliche Band zwischen Claire und dem Grafen lösen werde. Allein der Herbst kam, die Blätter welkten und mit ihnen die stille Hoffnung, an die er sich geklammert hatte. In wenigen Wochen sollte die Hochzeit Claires stattfinden.


11.

Graf Maltiz und Otto sahen mit fieberhafter Erregung dem großen Rennen entgegen. „Helios“ war völlig wieder hergestellt, der englische Trainer, den sie um hohe Summen angestellt hatten, versprach sicheren Erfolg. Die ganze Sportswelt blickte auf „Helios“ und ärgerte sich jetzt schon über den glücklichen Kauf des Grafen. Hohe Wetten wurden geschlossen. Siegte „Helios“, so war der Gewinn ein ungeheurer.

Claire begrüßte diese Nervenerregung eben jetzt, wo der Tag ihrer Vermählung immer näher rückte, mit Freuden, sie gewährte ihr eine erwünschte Ablenkung von den quälenden Gedanken. Am Ende gehörte ja der Sport zu ihrem künftigen Leben – so wollte sie auch eine Rolle dabei spielen, und nicht die letzte. Maltiz, der schöne Reiter, als Sieger im Rennen umjauchzt von der Menge, gefeiert von seinen Standesgenossen, sie auf der Tribüne als seine beneidete Braut, den Triumph mitgenießend – ihre lebhafte Einbildungskraft beschäftigte sich ständig mit diesem farbenprächtigen Bilde und fand darin eine gewisse Befriedigung für so vieles andere, was sie schmerzlich vermißte.

Ein Ueberfall.
Nach einem Gemälde von F. Jimenez.


Da kam vier Tage vor dem Rennen eine für den Grafen schlimme Post. Sein Vater war auf den Tod erkrankt, seine Anwesenheit auf Schloß Kossan dringend nothwendig. Da gab es kein Ausweichen. Starb sein Vater, so war seine eigene Betheiligung am Rennen eine Unmöglichkeit. Für diesen Fall, der bei dem Alter des Grafen und der Art seiner Krankheit der wahrscheinliche war, mußte also Otto den „Helios“ reiten, denn es war Vorschrift, daß der Besitzer selbst, nicht ein Jockey reite. Und damit war der ganze Erfolg in Frage gestellt; Otto konnte sich als Reiter nicht entfernt mit dem Grafen messen, auch war er noch zu unerfahren und hatte den „Helios“ noch nie bestiegen. Der Graf zögerte mit seiner Abreise, allein die Nachrichten wurden immer schlimmer. „Helios“ zurückzuziehen und nicht gehen zu lassen, war unmöglich; nicht nur der hohe Betrag des Reugelds kam dabei in Betracht – was die Hauptsache war: die Wechsel, welche die Freunde in sicherer Erwartung des Sieges noch reichlicher als sonst ausgestellt hatten, liefen kurz nach dem Rennen ab. Es galt also va banque. Otto erhielt von dem Freunde noch die dringendsten Weisungen, dann nahm dieser mit schwerem Herzen, sein Verhängniß ahnend, Abschied von Claire.

Otto freute sich im stillen; er empfand längst Neid gegen Maltiz, der ihn als Sportsmann und Reiter völlig in Schatten stellte. Jetzt war ihm Gelegenheit geboten, seine eigene Meisterschaft zu zeigen und dem thörichten Gerede der Leute, die ihn immer nur als Schüler des Grafen gelten lassen wollten, ein Ende zu machen. Ein „Helios“ trug auch ihn zum Ziele. Er wartete fieberhaft erregt auf die Nachrichten des Grafen; sie kamen und lauteten zu seinem Aerger günstig – der alte Graf schien sich zu erholen. Da plötzlich, am Abend vor dem Rennen, für das Maltiz schon seine Rückkehr in Aussicht gestellt hatte, traf die Todesnachricht ein. Es war entschieden, Otto mußte den „Helios“ reiten.

(Fortsetzung folgt.) 


[642] ----

BLÄTTER UND BLÜTHEN.

Gemüthsruhe als Schutzmittel gegen Ansteckung. Wenn die schwere Prüfung einer Epidemie über die Völker hereinbricht, dann wird jedesmal vor Furcht und Aufregung gewarnt und Gemüthsruhe als ein treffliches Schutzmittel gegen die Gefahren der Seuche empfohlen. Dieser gute Rath wird leider von einem großen Theile der Bevölkerung sehr falsch verstanden. Die Leute meinen, die Regierung und die Aerzte beruhigten auf diese Weise die öffentliche Meinung, um den Ausbruch einer Panik und deren traurige Folgen zu verhüten. Aber die Leute irren, darum allein handelt es sich nicht; Furcht und Aufregung sind auch in unmittelbarster Beziehung die kräftigen Bundesgenossen ansteckender Krankheiten, indem sie den kleinsten Lebewesen, die diese Leiden erregen, Thür und Thor in unserem Körper öffnen.

Zu allen Zeiten hat man die Erfahrung gemacht, daß ängstliche Leute von epidemischen Krankheiten leichter ergriffen werden als diejenigen, die, starken Geistes, mit Ruhe der Gefahr entgegentreten. Beweisen konnte man früher diese Thatsache nicht, da man die Ursachen der Ansteckung nicht kannte. Seitdem aber diese durch die Bakteriologie sichtbar gemacht wurden, ist es auch gelungen, durch Versuche festzustellen, daß Gemüthsruhe in der That ein kräftiges Schutzmittel gegen die Ansteckung bildet. Der berühmte französische Arzt Féré stellte diese Versuche an: er erschreckte Tauben, Kaninchen und weiße Mäuse und untersuchte dann ihr Verhalten gegen verschiedene Krankheitserreger.

Wir kennen bereits eine ganze Reihe von Schutzwehren, mit welchen der Organismus höherer Thiere gegen Ansteckung ausgerüstet ist. Das Blut besitzt keimtötende Eigenschaften. Frisches Blut ist imstande, eine gewisse Menge von Bakterien zu töten; dieses Vermögen schützt den Körper in vielen Fällen, wenn die Zahl der ansteckenden Keime, die in den Körper gelangen, nicht zu groß ist. Wie verhält sich nun das Blut erschreckter Thiere gegen diese Keime?

In den betreffenden Versuchen wurden zwei gleiche Mengen Bluts, die man einerseits in Ruhe gelassenen, andererseits geängstigten Thieren entnommen hatte, mit verschiedenen Krankheitserregern vermengt. Das Blut der ersteren tötete die Bakterien; das Blut der geängstigten Versuchsthiere hatte dagegen in der Hälfte der Fälle seine keimtötenden Eigenschaften eingebüßt.

Die Empfänglichkeit für gewisse ansteckende Krankheiten ist nicht gleichmäßig bei verschiedenen Thierarten, die einen erliegen z. B. der Hühnercholera oder dem Bacillus des Mäusetyphus, die anderen sind für diese Krankheiten wenig oder gar nicht empfänglich.

Indem man also erschreckte und in Ruhe gelassene Thiere derselben Art mit verschiedenen Krankheitserregern impfte, gelangte man zu folgenden Ergebnissen. Bei Anwendung tödlicher Gaben starben die Erschreckten früher, als die anderen. Impfte man die Thiere mit abgeschwächten Kulturen, so blieben die in Ruhe gelassenen Tauben, Kaninchen und Mäuse gesund, während die erschreckten krank wurden oder starben. Schließlich wurden wenig empfängliche Thiere durch voraufgegangenen Schreck gegen bestimmte Krankheiten in so hohem Grade empfänglich, daß sie denselben erlagen.

Wir ersehen aus diesen Versuchen, daß die Furcht die Zusammensetzung des Blutes ungünstig verändert und die Immunität gegen ansteckende Krankheiten abzuschwächen vermag.

Der thierische Organismus besitzt, wie gesagt, im Blute ein Schutzmittel gegen die Bakterien. In dem Blute eines Erwachsenen befinden sich etwa 1000 Millionen weißer Blutkorperchen, winziger Zellen, die als selbständige Individuen, mit Eigenbewegung ausgestattet, in uns leben. Diese weißen Blutzellen sind Feinde der Bakterien; sie werden durch dieselben angezogen, und wo in den thierischen oder menschlichen Körper Bakterien eindringen, dort pflegen die weißen Blutzellen die Blutgefäße zu verlassen, dort rücken sie gegen die Bakterien vor, die sie in ihren Leib aufnehmen und vernichten, buchstäblich auffressen. Man hat diese Gebilde darum „Phagocyten“, d. h. Freßzellen, genannt. Füllt man ein kleines zu einer haarfeinen Spitze ausgezogenes Röhrchen mit einer Bakterienkultur und führt die Spitze unter die Haut eines Kaninchenohres ein, so pflegt man bei normalen Thieren wahrzunehmen, daß die Phagocyten den Körper verlassen und in das Glasröhrchen eindringen, um die Bakterien, die den Körper bedrohen, zu vernichten. Das erkennt man schon mit dem bloßen Auge an einem weißlichen Pfropfen, der sich in dem Glasröhrchen an der dem Körper zugekehrten Seite bildet. Als nun Féré mit erschreckten Thieren denselben Versuch machte, blieb die Flüssigkeit in dem Glasröhrchen klar; die Phagocyten rückten nicht vor zum Kampf gegen die Bakterien; die Furcht hatte auch das Heer der weißen Blutzellen gelähmt.

Diese Beispiele mögen genügen; sie lehren uns, daß niederdrückende seelische Erregungen thatsächlich der Ansteckung Vorschub leisten. Natürlich kann dieselbe nur dann erfolgen, wenn Krankheitskeime sich in der unmittelbaren Umgebung des Menschen befinden und von diesem unmittelbar nach einem Schrecken oder im Laufe einer länger dauernden niedergedrückten seelischen Stimmung aufgenommen werden.

Herrscht nun in einem Orte eine epidemische Krankheit, wie z. B. die Cholera, so sind die Ansteckungskeime in demselben bald in größerer, bald in geringerer Menge verbreitet; die Möglichkeit, dieselben aufzunehmen, ist groß, und die Furchtsamen sind darum der Gefahr der Ansteckung besonders ausgesetzt, da sie die Schutzwehren, mit welchen die Natur den Körper ausgestattet hat, durch ihre Aengstlichkeit niederreißen.

Außerdem können diejenigen, die ihre Gemüthsruhe verlieren und in der ewigen Angst schweben, von einer bestimmten Krankheit ergriffen zu werden, noch in einer anderen Weise wirklich krank werden. Es ist bekannt, wie groß die Macht der Einbildung ist. Leute, die von gesunden Hunden gebissen wurden, erkrankten wiederholt unter Erscheinungen der Tollwuth, weil sie fürchteten, der betreffende Hund sei toll gewesen. Es handelte sich dabei aber nicht um die echte Hundswuth. Die armen Geängstigten litten nur an denjenigen Symptomen der furchtbaren Krankheit, die ihnen bekannt waren, und konnten durch beruhigende Mittel geheilt werden. Nervöse Menschen, die sich einreden oder suggerieren, daß sie Fieber bekommen werden, werden wirklich von einer Temperaturerhöhung befallen. Solche nervös erregte und ängstliche Naturen können auch wohl zu Zeiten der Cholera von Erbrechen und Durchfällen befallen werden.

Sie können sich aber sehr leicht auch die echte Cholera zuziehen. Ein gesunder Magen ist bekanntlich eine mächtige Schutzwehr, welche die Cholerabacillen nicht so leicht überwinden können; wir wissen ja aber, wie sehr durch seelische Verstimmungen gerade die Verdauung beeinträchtigt, wie leicht durch sie der Magen krank gemacht wird.

Wer also jetzt Muth und Ruhe predigt, der will die Menschen nicht nur scheinbar trösten, im Gegentheil, er hält kräftige Schutzwehren gegen die Ansteckung aufrecht. Und wer seine Gemüthsruhe bewahrt und mit kluger Ueberlegung die Rathschläge der Behörden und Aerzte befolgt, der ist gegen die Gefahr doppelt gewappnet. Diejenigen aber, die in unüberlegter Weise übertriebene Nachrichten, Schauermärchen u. dergl. verbreiten, mögen im Angesicht dieser Thatsachen bedenken, welche Verantwortung sie auf sich laden. In dem Feldzug, den uns die finstere asiatische Macht auf deutschem Boden aufgedrungen hat, sind Carbol und Chlorkalk unentbehrlich wie Pulver und Blei in gewöhnlichen Kriegen, aber zum siegreichen Kampf ist auch hier eins unbedingt nöthig: Ruhe und Muth.

Erfinder-Lose. Bei der Erfindung des Holzschliffpapiers, welche wir Friedrich Gottlob Keller verdanken, spielte, wie sich unsere Leser aus seiner Lebensbeschreibung in Halbheft 14 dieses Jahrgangs erinnern, ein Wespennest eine große Rolle. Der Erfinder hat dieses Wespennest sowie die ersten Papierproben, welche aus seiner Hand hervorgingen, seither sorgsam aufbewahrt. Jetzt aber sieht er sich durch seine sehr beschränkten Umstände, in die er vollständig unverschuldet gerieth, veranlaßt, diese theuren Andenken dem Verkauf auszusetzen.

Als wir diese Nachricht erhielten, da waren wir sofort entschlossen, ihr an dieser Stelle Verbreitung zu geben. Aber nicht mit der Absicht, Keller Angebote auf seine Erinnerungen zu verschaffen – nein! Sie sollen ihm gerade erhalten werden! Wir meinen, es sei Ehrensache derjenigen, welche aus Kellers Erfindung Nutzen ziehen, hier helfend einzugreifen; es sei Pflicht des ganzen deutschen Volkes, nicht zu dulden, daß ein solcher Mann wie Keller am Abend seines Lebens aus bitterer Noth sich von seinen liebsten Schätzen, von den Symbolen seiner That trennen muß. Wie oft haben wir es schon gesehen, daß man Tausende zusammenschoß, um einem hervorragenden Geiste nach seinem Tode ein steinern oder ehern Denkmal zu errichten. Wie oft hat man uns schon nachgesagt, daß wir unsere verdienten Männer erst dann ehren, wenn sie nicht mehr sind! Entkräften wir diesen Vorwurf! Ehren wir den Lebenden, indem wir Noth und Sorge von ihm nehmen!

Verwaltungsgrundsätze der Behörden machen es uns unmöglich, wo es sich wie hier um eine Sammlung zu gunsten einer einzelnen Person handelt, uns selbst als Sammelstelle anzubieten und Gaben zu einer Nationalstiftung für Keller in Empfang zu nehmen, wie wir es gern thun würden. Wem aber unsere Bitte im Herzen gezündet hat, der gehe hin und schicke sein Scherflein an den Mechaniker Friedrich Gottlob Keller in Krippen bei Schandau a. d. Elbe. Und möge mit diesen Gaben ein sonniger Lebensabend bei dem Manne seinen Einzug halten, aus dessen Hütte ein so mächtiger Kulturfortschritt emporwuchs!

Am Vorabend der Hinrichtung. (Zu dem Bilde S. 616 u. 617.) Es ist ein Vorgang aus der traurigen Zeit der deutschen Soldläuferei, den unser Bild darstellt, aus der Zeit, da in allen Kriegsheeren deutsche Landeskinder anzutreffen waren, die um ein Geringes ihre Haut für fremde Herren zu Markte trugen.

Der Graf Lodron, welcher in den Kämpfen König Philipps gegen die wider ihren Zwingherrn sich erhebenden Niederländer auf spanischer Seite Dienste that, hatte auch eine Schar deutscher Söldner in seinem Heerhaufen. Als er ihnen nun einmal den ausbedungenen Sold nicht zahlte, da meuterten sie und hielten ihren vertragsbrüchigen Herrn zwei Monate lang in Valenciennes gefangen. Das vergaß ihnen der Graf nicht. Mit allerlei listigen Versicherungen gelang es ihm, einen Theil der Deutschen zum Wiedereintritt in die spanischen Dienste zu bewegen. Als sie nun aber in Borgerhout bei Antwerpen eintrafen, da ließ sie der Graf plötzlich durch spanische Reiter und Fußsoldaten umzingeln, und zur Rache für Valenciennes ward eine bestimmte Anzahl von ihnen zum Tode durch Henkershand verurtheilt. Vergeblich flehten die Weiber der Betroffenen um Gnade. Der schwer gereizte Graf wies sie ab, und so zogen sie in höchstem Schmerze vor das Gefängniß zu Antwerpen, in dem die Verurtheilten ihrem Ende entgegenharrten. Da spielte sich denn jene herzzerreißende Abschiedsscene ab, die unserem Künstler den Stoff zu seinem Bilde gegeben hat. Verzweiflungsvoll reichen sich die Gatten zum letzten Male die Hand – ein Vater preßt sein Gesicht zwischen den Stäben des Kerkergitters durch, seinem Kinde den letzten Kuß aufs Mündchen zu drücken, andere werfen ihre letzten Habseligkeiten, das Geld, um das sie ihr Leben verkauft, heraus durch die eisernen Maschen.

Hart und fühllos bleiben die spanischen Schildwachen, der finstere Kerkermeister – in den vorübergehenden Bürgern von Antwerpen aber [643] regt sich ein tiefes Mitleid mit den armen Opfern einer grausamen Justiz. Etwas eint sie mit den Fremdlingen; wohl standen sie eben noch im Solde des verhaßten Spaniers – jetzt aber haben sie einen Unterdrücker.

Strickunterricht. (Zu dem Bilde S. 625.) In unserem deutschen Vaterland sind es der Gegenden, in denen sich eine althergebrachte Tracht bis in die heutige Zeit herein erhalten hat, nicht mehr allzuviele. Umsomehr bilden die wenigen, wo dies der Fall ist, den Zielpunkt der Kulturforscher und der Maler. Einen dieser Landstriche hat sich auch der unseren Lesern wohlbekannte Künstler L. Blume-Siebert als sein vornehmstes Arbeitsfeld erkoren. Von seiner Heimath, dem Waldeckischen, aus erreicht man in kurzer Wanderung das im alten Kurhessen gelegene Schwalmthal. Seine biederen Bewohner, die „Schwälmer“, hat er von Jugend auf in ihren eigenthümlichen Kostümen beobachten können, aus ihrer Mitte stammt auch das hübsche Pärchen, das er auf seinem launigen Bilde „Der Strickunterricht“ verewigt hat. Und wenn die Schwälmer Burschen nicht vorher schon stricken können, bei solchen Lehrerinnen werden sie es wohl nie gründlich lernen. Denn was würde aus dem fröhlichen Lachen von Anna Kathrinchen, wenn der Hansfrieder sich nicht so recht ungeschickt anstellte?

Blutvergiftung durch Farben. Immerfort liest man in Zeitungen Berichte über Blutvergiftungen, die durch kleine Wunden entstanden sind, und fast immer wird dabei die Ursache des schlimmen Leidens falsch erklärt. So heißt es z.B.: eine Frau hatte eine kleine Wunde am Fingernagel; sie bläute Wäsche; von der Farbe drang ein wenig in die Wunde ein und es trat infolgedessen eine so schwere Blutvergiftung ein, daß es nur mit Mühe gelang, die Frau am Leben zu erhalten. Ebenso sollen in anderen ähnlichen Fällen mit Anilinfarben gefärbte Strümpfe oder bei Stahlfederstichen verschiedene Tintensorten die Blutvergiftung hervorgerufen haben. Dem gegenüber ist zu betonen, daß selbst in Fällen, wo die beschuldigten Farben wirklich Giftstoffe wie z. B. Arsen enthalten, die Menge, welche in das Blut eingedrungen sein kann, zu gering ist, um derartige schwere Zufälle hervorzurufen. Die schlimmen Wunden und die als Folge derselben auftretende Blutvergiftung sind das Werk unserer unsichtbaren Feinde, gewisser Bakterienarten. Darum sehen wir auch, daß kleine Verletzungen durch Nadelstiche, Splitter u. dgl., bei denen keine Farben mit in Frage kommen, ebenfalls so schlimm verlaufen können. Das beste Mittel zur Verhütung dieser Unfälle ist die Reinhaltung der kleinen Wunden. Wenn wir aber bedenken, wie oft noch Spinngewebe aus staubigen Ecken, gekautes Brot, allerlei Schmierpflaster u. dgl. auf solche Wunden gelegt werden, so können wir uns nicht wundern, daß sie so oft sich verschlimmern, zum Verlust von Fingern und selbst zum Tode führen. Ist etwas derartiges geschehen, dann wird die „Farbe“ als der Sündenbock ausgegeben, während die eigentliche Schuld, die Verunreinigung der Wunde, verschwiegen wird. Man lasse darum solche kleine Verletzungen ausbluten, wasche sie mit reinem, am besten mit abgekochtem Wasser ab und verklebe sie mit Kollodium oder mit einem antiseptischen Heftpflaster, wie z. B. mit dem Salicylsäure-Heftplaster, das in jeder Apotheke vorräthig ist. Dadurch wird die „Blutvergiftung“ sicher verhütet.*     

Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Schmorsdorfer Linde. (Mit Abbildung S. 640.) Es ist ein Gefühl halb der Ehrfurcht, halb der Wehmuth, das uns beim Anblick dessen bewegt, was ungebrochen die Jahrhunderte überdauert hat. Was einst von fleißigen Händen gebaut und gepflanzt wurde, Haus und Baum und Wald, es steht wohl noch immer, indes von jenen, die es angelegt haben, längst die letzte Spur verweht ist. Und wir, die wir den ehrenfesten Bau eines alten Bürgerhauses, den stolzen Wuchs sagenumsponnener Eichen und Linden betrachten, schauen zurück auf die Zeiten, welche an ihnen vorübergerauscht sind, auf den milden Schein des Friedens und die düstere Fackel des Kriegs, die segenspendend oder Vernichtung drohend darüber geleuchtet haben; und wie wir dabei die Reihe der Geschlechter überdenken, die vor uns in Freud und Leid das alles pflegten und hüteten und flüchtig dahinsanken, mag uns das wehmüthige Wort Goethes durch den Sinn gehen:

„Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.“

Eine altersgraue Linde ist es, welche diesmal unser Bild aus der Reihe von Deutschlands merkwürdigen Bäumen heraushebt. – Südlich vom Elbthal, zwischen Dresden und der Sächsischen Schweiz, liegen an der Grenze des Erzgebirges die Dörfer Schmorsdorf und Maxen, bekannt durch ein Gefecht im Siebenjährigen Krieg, in welchem der Oesterreicher Daun am 21. November 1759 den preußischen General Fink gefangen nahm. Eine Anhöhe zwischen beiden Dörfern heißt noch heute der „Finkenfang“. Es ist überhaupt ein geschichtlich denkwürdiger Boden, den wir da vor uns haben; er hat bis heute noch Reste der einstigen wendischen Besiedelung durch die „Sorbenwenden“ aufzuweisen. Den Namen Schmorsdorf selbst leiten manche Sprachforscher ab von dem wendischen Wort „smorden“ in der Bedeutung „Dreschfröner“. Bei Schmorsdorf also steht die Linde, die durch ihre eigenartige Form auffällt. Ihr Alter läßt sich nicht genau bestimmen, es reicht jedenfalls in wendische Zeit hinauf.

Ihr Wuchs ist gewaltig, der Hauptstamm, an der schwächsten Stelle 9 Meter im Umfang messend, erhebt sich 5 Meter über die Erde und theilt sich dann in eine Reihe von Aesten, welche bis zu einer Höhe von 40 Metern in die Lüfte ragen. Im hohlen Innenraum des Stammes haben 12 bis 15 Personen Platz, und nach der Ueberlieferung sollen früher die Versammlungen des Gemeindegerichts darin stattgefunden haben. Leider hat die Linde im Jahre 1884 unter einem Schadenfeuer gelitten, welches das halbe Dorf zerstörte; und darauf hat ein Sturmwind von den sieben Kielen die drei am schwersten mitgenommenen abgerissen. Jedoch verjüngt sich der Baum durch Nachwuchs, der hoffentlich diesen Riesen aus vergangenen Jahrhunderten für die Bewunderung auch späterer Geschlechter aufrecht hält.

Ein Ueberfall. (Zu dem Bilde S. 641). Naturforscher und Jäger wissen viel von der blinden Leidenschaft zu erzählen, mit welcher der Hühnerhabicht auf seine Beute stößt. Nach dem Bericht der Brüder Müller stieß ein Hühnerhabicht selbst mitten in Fensterscheiben hinein, so daß die Scherben davonflogen und er bis ins Zimmer vordrang. Trotz der Heißblütigkeit, die der Räuber im ersten Angriff zeigt, versteht er sich doch zu beherrschen, und wenn der erste Stoß mißlungen ist, so nimmt er mit kluger Berechnung und vieler Ausdauer die Verfolgung seines Opfers auf, wobei er sich durch Geschicklichkeit und kühne scharfe Wendungen auszeichnet. So verfolgt er zur Winterszeit selbst das flinke Eichhörnchen von Ast zu Ast und läßt nicht ab, bis er es in seinen Krallen hält.

Der Hühnerhabicht stößt aber nicht nur von der Höhe herab, als ein echter Wegelagerer stürzt er auch aus einem niedrigem Versteck hervor und sucht in gedecktem Fluge tief an der Erde seine Beute zu erreichen. Einen derartigen Ueberfall stellt das stimmungsvolle Bild von F. Jimenez dar. Augenscheinlich hat es der Habicht auf den Führer des wehrlosen Hühnervolkes, den Hahn, abgesehen.

Der erste Stoß ist dem Räuber mißlungen, aber er wird ein leichtes Spiel haben; denn dem Hahne steht nur ein Rettungsmittel zu Gebote – die Flucht, und auch dieses wird auf dem freien Felde vergeblich sein. *     

Zerlegbare Holzhäuser in Deutschland. Amerika mit seiner leicht beweglichen, wenig seßhaften Bevölkerung hat zuerst das fertige Wohnhaus als Handelsware auf den Markt gebracht, und heute noch wird auf den Eisenbahnen in Dakota ein kleines zerlegbares Wohnhaus ebenso wie Vieh, Ackergeräthe, Sämereien u. dergl. zu den nothwendigsten Ausstattungsgegenständen eines Ansiedlers gerechnet, für welche derselbe besondere Frachtermäßigung genießt. Auch in Schweden hat sich diese Industrie eingebürgert.

In Deutschland erschienen zerlegbare Häuser zuerst zu militärischen Zwecken, namentlich als Kranken- und Mannschaftsbaracken. Für die beste zerlegbare Krankenbaracke wurde 1885 von der verstorbenen Kaiserin Augusta ein Preis ausgesetzt. Die Herstellung fertiger Holzhäuser für den bürgerlichen Gebrauch erfolgte bisher meist nur zur Ausfuhr nach den Kolonien oder nach anderen kulturarmen Gegenden. So fertigte eine Fabrik in Wolgast 14 Gebäude für einen argentinischen Badeort unweit Buenos Ayres, darunter ein stattliches Konzerthaus, 7 Villen, ein Maschinenhaus und mehrere Wirthschaftsgebäude im Einzelwerthe von 8- bis 40 000 Mark. Die Gebäude wurden aus amerikanischem Pitch-Pine-Holz, sowie aus Cypressen- und deutschem Kiefernholz in Wolgast abnahmefertig hergestellt, dann zerlegt, verpackt und mit der Bahn nach Hamburg zum Weiterversandt mittels Seeschiffes geschickt. Zum Schutze gegen die Einflüsse der Witterung und gegen Feuersgefahr wurden die Häuser zuvor mit einem besonderen Anstrich versehen. Neuerdings finden derartige Häuser bei uns auch Verwendung als Villen, Kurhäuser, Land- und Gartenhäuser. Die Wolgaster Fabrik baute seit Herbst 1890 4 Villen für das Seebad Heringsdorf auf Usedom, 2 Villen für das Seebad Binz, andere endlich, welche in der Umgebung Berlins, in Königswusterhausen, am Wannsee, am Griebnitzsee Aufstellung fanden. Ohne Zweifel läßt sich bei größerer Ausgestaltung dieses Industriezweiges auch für weitere Kreise Nützliches schaffen.

Die Urgeschichte des Postwesens ist durch werthvolle Funde, welche im Archiv der Fürsten von Thurn und Taxis gemacht wurden, näher aufgeklärt worden. Das Jahr 1516 wurde seither allgemein und so auch in unserem Artikel „Die Weltpost“ in Halbheft 14 des Jahrgangs 1889 als das Geburtsjahr der Taxisschen Posten betrachtet. Aber bereits zu Lebzeiten Kaiser Friedrichs III. wurden Posten im Heiligen Römischen Reiche eingerichtet, nur sind die hierfür mit Roger von Taxis wahrscheinlich 1451 abgeschlossenen Verträge nicht auf uns gekommen. Dann gab Kaiser Maximilian I. an Johann von Taxis 1496 und 1498 verschiedene Privilegien. Der erste urkundliche Beweis für das Vorhandensein einer Taxisschen Postanstalt stammt aus dem Jahre 1500, in welchem Philipp der Schöne, Maximilians I. Sohn, Franz von Taxis zu seinem Generalpostmeister ernannte. Als Hauptarbeitsfeld wurden ihm die Niederlande gegeben. Gerade hier, wo Handel und Wandel bereits zu einer hohen Blüthe gelangt waren, mußte eine derartige Neuerung doppelt willkommen geheißen werden. Denn wenn auch in den ersten Abmachungen nicht ausdrücklich hervorgehoben wird, daß die Post auch im Privatinteresse ihre Thätigkeit entfalten solle, so ist doch dieser Schluß mit ziemlicher Sicherheit zu ziehen, insofern die Summe, welche vertragsmäßig vom Staate allein bewilligt wurde, nicht ausreichte, um alles das, was verlangt wurde, zu leisten. Vornehmlich aber lag es im Interesse der weltlichen Macht, eine Anstalt zu fördern, die ihr selbst von größtem Nutzen war. Denn Philipp dem Schönen kam es gerade damals sehr darauf an, mit seinem Vater in Wien und seinem Schwiegervater in Spanien leicht verkehren zu können.

Die ersten Posten, welche eingerichtet wurden, waren reitende. Zu Pferde erfolgte auch die Personenbeförderung; erst später trat die Postkutsche auf. Die Anfangs- und Endpunkte der Linien waren nicht genau an bestimmte Plätze gebunden, sondern richteten sich nach dem jedesmaligen Aufenthaltsorte der Fürsten. So kann denn nicht als erster stehender Postkurs der zwischen Brüssel und Wien bezeichnet werden. Die Schnelligkeit, mit der die Entfernungen zurückgelegt wurden, verdient in Anbetracht der damals wenig gepflegten Wege alle Anerkennung. Von Brüssel bis Innsbruck wurden im Sommer 5½, im Winter 6½ Tage gerechnet, von Brüssel nach Paris 44 bez. 54 Stunden. Der Kurierzug legt dieselbe Entfernung heutzutage in 5 Stunden zurück.

Den für die Entwicklung des Postwesens grundlegenden Vertrag schloß Karl V., damals Herr der Niederlande, 1515 mit Johann und Franz von Taxis ab. Der Zweck desselben war, das gesammte Postwesen des weitausgebreiteten Reiches ganz den Taxis zu sichern. Die beiden Taxis wurden zu Generalpostmeistern ernannt und konnten in ihrem Verwaltungsgebiete frei schalten. Gegen Zahlung von 11 000 Golddukaten (nach unserem Gelde 400 000 Mark) mußten sie die Beförderung sämmtlicher königlicher Briefschaften übernehmen. Das war ein verhältnißmäßig [644] geringer Zuschuß, denn der König von Frankreich zahlte bei nicht so weit ausgedehnten Postlinien mehr als das Dreifache. Die Taxis konnten sich einer derartigen Bedingung nur dann unterziehen, wenn ihnen ausschließlich die Briefbeförderung der Privaten zugestanden wurde, und wenn auch im Vertrag nicht wörtlich ausgesprochen war, daß sie Privatbriefe befördern durften, so geht doch diese Gerechtsame daraus hervor, daß niemand außer ihnen zur Briefbestellung berechtigt sein sollte.

Das Taxissche Postwesen machte sich auch dadurch bei der Mitwelt beliebt, daß es durch seine Verträge die Möglichkeit gewonnen hatte, das Briefgeheimniß zu wahren. Karl V. hatte sich keinerlei polizeiliche Bevormundung vorbehalten, vielmehr sich verpflichtet, von andern Herrschern, durch deren Gebiete die Posten kamen, Patente zu erwirken, daß die Kuriere überall freien Durchzug haben sollten. In Frankreich hatte man bis dahin die von der Post beförderten Depeschen stets ängstlich durchsucht, ob nicht Staatsgefährliches in denselben enthalten sei.

Am 15. November 1515 trat der Vertrag in Kraft. Innerhalb zwölf Tagen mußten die niederländischen Posten, innerhalb zwanzig Tagen die spanische, römische, neapolitanische, deutsche und französische Post in Thätigkeit sein. Es war dadurch ein Netz gegeben, welches sich so ziemlich über das gesammte civilisierte Europa ausdehnte, von Neapel bis Brüssel, von Wien bis Toledo. Die Fristen, in denen die Entfernungen zurückgelegt werden mußten, waren geringer als früher. Um größere Schnelligkeit zu ermöglichen, waren überall Stationen in mäßiger Entfernung angelegt; so waren es z. B. von Augsburg bis Brüssel deren 23. Außerdem waren Vorkehrungen getroffen, daß auf besonderen Wunsch der Regierung und gegen besondere Vergütung die Geschwindigkeit noch erhöht werden konnte. H. L.     

Die Straßenschleppe verschwindet wieder! Diese Thatsache ist hauptsächlich darum so hocherfreulich, weil sie von einem großen geistigen Fortschritt der deutschen Frauenwelt unzweifelhaftes Zeugniß ablegt. Was noch im Jahre 1867 unmöglich war, das allgemeine Tragen der unsinnigen und unappetitlichen Schleppe zu verhindern, das ist heute so ziemlich durchgeführt, und zwar viel mehr durch weibliche Einsicht als durch männlichen Spott. In Berlin hat sich ein großer Kreis von Frauen einmüthig dagegen erhoben, auf den Promenaden aller großen Städte sieht man die Damen entweder mit fußfreiem Rocke oder das lange Kleid mit der Hand tragend. Es hinterher schleifen zu lassen, ist heute schon ein untrügliches Zeichen von geringer Bildung oder zweifelhafter Lebensstellung.

Darum Ehre den vernünftigen deutschen Frauen, die hier einmal durch die That bewiesen haben, daß ihr Geschlecht geistig vorwärts gekommen ist und sein Urtheil über den blinden Modedrang zu setzen versteht!

Der Zug unserer Zeit nach dem Zweckmäßigen und Praktischen hat auch seinen Antheil an dem glänzenden Fiasko der Straßenschleppe, deshalb liest man bereits aus Paris, daß die dortigen „tonangebenden Häuser“ für die Herbstmode auf die neue Form wieder verzichten wollen. Aber Deutschland hat dazu den Anstoß gegeben, worüber sich zu freuen die deutschen Frauen alle Ursache haben. Bn.     

Die Cotta’sche Volksbibliothek. Seit drei Jahren sieht man in vielen deutschen Häusern kleine schmucke blaue Bändchen anf dem Bücherbrette. Die alten theuren Namen „Lessing“, „Goethe“, „Schiller“, „Shakespeare“, „Körner“, „Hauff“ liest man auf dem Rücken, es sind die Bändchen der „Cotta’schen Volksbibliothek“. Die gute Ausstattung hat ihnen im Verein mit dem äußerst billigen Preise den Weg überallhin geöffnet, sie ermöglichten es auch dem knapp Gestellten, sich die ehrwürdigen, ewig schönen Schätze unserer klassischen Litteratur zu eigen zu erwerben, und sie haben auf diese Weise mehr als alle seitherigen Ausgaben dazu beitragen können, diese Schätze zu dem zu machen, was sie sein müssen, zum Gemeingut des deutschen Volkes.

Der Anklang, welchen so die Cotta’sche Volksbibliothek in den breitesten Schichten des deutschen Volkes gefunden hat, veranlaßte die Verlagshandlung, ihr nunmehr eine Fortsetzung zu geben. Und gewiß blieben der Schriftwerke noch genug übrig, die es verdienen, in eine Volksbibliothek Zutritt zu finden. Da sind vor allem Uhlands Gedichte und Dramen, Chamissos, Heinrich von Kleists Werke, Voßens „Luise“, Wielands „Oberon“, die neben einem Hauff und Körner nicht fehlen durften. Außer den genannten gedenkt die Verlagshandlung in die neue Reihe von 48 Bändchen (jedes zu 50 Pfennig) noch aufzunehmen: Lenaus und Heines, sowie Raimunds sämmtliche Werke, Jer. Gotthelfs, Eichendorffs, E. T. A. Hoffmanns ausgewählte Werke, Zschokkes ausgewählte novellistische Schriften, Immermanns „Oberhof“ und Tegnérs „Frithjofssage“. Wer will, kann sich aus dieser Liste einen einzelnen Autor herauswählen oder auch, etwa zur Ergänzung seines schon vorhandenen Besitzes, einzelne Bändchen um denselben Preis gesondert erwerben.

Wir wünschen dem echt volksthümlichen Unternehmen einen guten Erfolg, zum Heile der gesunden litterarischen Anschauungen unseres Volkes.

Anton van Dycks Selbstporträt. (Zu unserer Kunstbeilage.) Anton van Dyck, der Schüler von Peter Paul Rubens und nach diesem wohl der größte der vlämischen Maler des siebzehnten Jahrhunderts, ist vor allem der klassische Meister des Porträts geworden. Wohin ihn sein vielbewegtes Leben führte, überall, in Italien insbesondere und in England, schätzten es sich die Großen der Stadt und des Landes zur Ehre, von ihm gemalt zu werden, und die Zahl der Bildnisse, die er hinterlassen, glaubt man auf dritthalbhundert berechnen zu können, trotzdem er nur zweiundvierzig Jahre alt wurde – er lebte von 1599 bis 1641 – und daneben eine ganze Menge der großartigsten Historienbilder schuf. Unsere Leser erinnern sich noch des schönen Bildes von E. Gelli in Halbheft 23 des Jahrgangs 1889. Dort war Anton van Dyck dargestellt, wie er in seinem fürstlich ausgestatteten Atelier den Besuch seines königlichen Gönners, Karls I. von England, empfängt. Heute können wir in vortrefflicher Holzschnittwiedergabe das prächtige Selbstbildniß des Malers vorführen, das eine Zierde des Louvremuseums in Paris bildet.


KLEINER BRIEFKASTEN.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

S. P. in Brünn. Sie haben ganz richtig vermuthet. Der Verfasser unseres Artikels über Theodor Billroth ist kein anderer als der berühmte Berliner Chirurge Geheimer Medicinalrath Professor Dr. Ernst von Bergmann, welchem das deutsche Volk von den schweren Tagen der Krankheit Kaiser Friedrichs her eine dankbare Erinnerung bewahrt. Billroths Geburtshaus zu Bergen auf Rügen befindet sich heute im Besitz einer Frau von Düring. An demselben ist am 17. August d. J. eine metallene Gedenktafel angebracht worden.

A. K. in San Francisko. Besten Dank für Ihre freundlichen Mittheilungen!

Herrn Apotheker H. Belli in Genf. Auf Ihren Wunsch theilen wir unseren Lesern gern mit, daß die von Ihnen aufgenommenen Liebhaberphotographien der Unglücksstätten von Fayet, St. Gervais und Bionay zum Besten der armen Hinterbliebenen verkauft werden. Dieselben sind, das Stück zu 1 Franken = 80 Pf., von Herrn Apotheker Christ. Belli in Wiesbaden zu beziehen.

Fr. B. in Gernsbach. Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen über den Ganghoferschen Roman! Was Ganghofers frühere Erzählungen betrifft, so sind sie wohl alle auch in Buchform (bei Adolf Bonz u Komp. in Stuttgart) herausgegeben worden, einige davon sogar illustriert, wie z. B. „Der Jäger von Fall“, welcher bereits in zweiter Auflage vorliegt. Auch das Lustspiel „Die Falle“ ist in demselben Verlage erschienen.

J. F. in Rotterdam. Die gezähmte Thiergruppe, welche wir in Halbheft 18 abgebildet haben, bildet das Glanzstück von Carl Hagenbecks Zoologischem Cirkus, welcher im Laufe dieses Jahres in verschiedenen größeren Städten Europas verweilte. Uebrigens ist nicht Herr Carl Hagenbeck selbst der Dresseur, sondern dessen Schwager, Herr Heinrich Mehrmann, was zur Richtigstellung unserer Notiz in Halbheft 18 hiermit nachgetragen sein soll.



Auflösung des Gedenkfeierräthsels „Der Indianer“ auf S. 612:

Den Schlüssel der Lösung giebt die sich wiederholende Jahreszahl im Kreise: 1492. Liest man nämlich vom Bandanfang links unten angefangen in der Runde zuerst alle Buchstaben bei der 1, dann bei der 4, dann 9 und 2 (also viermal die Runde), so erhält man die Worte:

1) Centenar-
4) Feier der
9) Entdeckung
2) Amerikas.


Auflösung des Räthsels auf S. 612: 0 Reck, Rock.


Auflösung des Logogriphs auf S. 612:0 Reiter, Retter.


Auflösung der Schachaufgaöe Nr. 7 auf S. 612:
1. T c 8 – f 8 S d 4 – e 6:
2. D d 3 – f 5 † beliebig.
3. T f 8 – f 7, D f 5 – f 7: matt.
A.
1. . . . . S a 5 beliebig.
2. T f 8 – f 7 + K f 6 – e 6:
3. D d 3 – c 4 matt.
B.
1. . . . . K f 6 – e 6:
2. D d 3 – c 4 † beliebig.
3. D c 4 – c 8, c 5 matt.
C.
1. . . . . beliebig.
2. D d 3 – h 7: beliebig.
3. D h 7 – f 7: matt.

Wenn der schw. S d 4 im ersten Zuge auf ein anderes Feld als e 6 geht, so folqt 2. D d 3 – f 5 † K f 6 – c 7. 3. D f 5 – f 7 : matt; es geht aber auch: 2. T f 8 – f 7 + K f 6 – c 6: 3. D d 3 – d 7 matt.


Die Auflösung der Skataufgabe Nr. 6 erscheint im nächsten Halbheft.



manicula Hierzu Kunstbeilage X: Anton van Dycks Selbstporträt.

Im Verlage der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart erschienen soeben die folgenden neuen Original-Ausgaben von

Ludwig Uhland’s Schriften:


Gesammelte Werke. Sechs Bände. In 3 Leinenbände gebunden 6 Mark. In 3 Halbfranzbände gebunden 9 Mark.

Gedichte und Dramen. Zwei Bände. Große Ausgabe. In 1 Leinenband gebunden 3 Mk. In 1 Halbfranzband geb. 4 Mk.

Mittlere Ausgabe. In 1 Leinenband geb. 2 Mk. In 1 Halbfranzband geb. 3 Mk. 0 Kleine Ausgabe. In 1 Leinenband geb. 1 Mk

Gedichte. Große Ausgabe. 1 Leinenband 2 Mark. Mittlere Ausgabe. 1 Leinenband 1 Mark. Kleine Ausgabe. 1 Leinenband 50 Pf.


Diese neuen Uhland-Ausgaben zeichnen sich durch korrekten Text, schönen Druck auf gutem Papier, geschmackvolle und dauerhafte Einbände aus. Die billigen Preise ermöglichen es nunmehr jedermann, zu Schiller und Goethe auch Uhland für die Hausbibliothek zu erwerben. Die Verlagshandlung bietet zur Auswahl die verschiedenen Werke in verschiedenen Preislagen; alle Ausgaben sind trotz der billigen Preise äußerst elegant ausgestattet. Man verlange in den Buchhandlungen ausdrücklich die Cottä’schen Original-Ausgaben.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.