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Die Gartenlaube (1892)/Heft 13

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[389]

Der Klosterjäger.

Ein Hochlandsroman aus dem 14. Jahrhundert von Ludwig Ganghofer.
(5. Fortsetzung.)

In der Küche der Herrenhütte saßen Herr Schluttemann und Frater Severin am Herde. Als der Vogt meinte, daß Herr Heinrich wohl schon in Schlaf gesunken wäre, verließ er die Hütte und holte einige neue „Pärchen“ aus dem Versteck. Schwer seufzend wandte sich Frater Severin ab, als Herr Schluttemann eine der Steinflaschen zwischen die Knie nahm, um mit hochwichtiger Sorgfalt den mit Wachs verklebten Pfropf zu lösen. Einen langen, langen Zug that der Vogt, dann reichte er die Flasche dem Bruder. „Tauchet an, Frater!“

Ein stummes Kopfschütteln war die Antwort.

Herr Schluttemann erschrak. „Bruder? Seid Ihr krank?“

„Nein … aber ich will nicht trinken. Heut’ treib’ ich keine Heimlichkeit. Herr Heinrich war so gut zu mir.“

„Tatata! Das ist eine Ausred’! Wer nicht trinken will, hat entweder ein böses Stück gethan oder will’s begehen. Zeiget, daß Ihr ein unschuldig Herz habt … schluck, schluck!“

„Ich hab’ keinen Durst!“ sagte Frater Severin und seufzte tief.

„Tatata! Durst? Durst? In unserer unschuldigen Zeit trinken nur zu viel’ ohne Durst – wie billig! Man trinkt für den zukünftigen. Kauft in der Noth, sagen die Quacksalber, dann habt ihr’s im Tod!“

Jetzt hab’ ich’s einmal gesagt …“ seufzte Frater Severin, „… und ich trink’ nicht!“

„Tatata!“ Herr Schluttemann faßte des Fraters Kutte und zog ihn zu sich nieder. „Kommt her, Frater, setzet Euch zu mir, ich will Euch ein Liedlein singen, das soll Euch ins Gewissen reden!“ Er schob seinen Arm unter den des Fraters, schwenkte die Flasche und sang mit leiser Stimme:

Blindekuh.“
Nach einem Gemälde von Carl Gehrts.

[390]

„Wohlauf, lieb’ Bruder, allzumal,
Quem sitis vexat plurima[1]
Ich weiß ein Wirth im kühlen Thal,
Qui vina habet aurea![2]

Er zapfet fleißig uns den Wein
De dolio in cantharum.[3]
Drum wollen wir auch fröhlich sein
Ad noctis usque terminum!“[4]

Die zweite Strophe hatte Frater Severin mit wiegendem Kopfe mitgesummt ... und jetzt ergriff er die Flasche und zog und schluckte ... aber schon gehörig! Dann freilich, als er absetzte, machte er ein gar kummervolles Gesicht.

„Jetzt hab’ ich halt doch getrunken! O Mensch, Mensch! Was bist du für ein Gefäß voll teuflischer Suppe! Pfui!“

Mißbilligend schüttelte er den Kopf, setzte die Flasche an und trank. „Jetzt geht’s schon in einem hin!“

Ein paar feuchte Stunden verrannen den beiden, bis sie es zuwege brachten, daß die Flaschen einen trockenen Boden bekamen. Als Herr Schluttemann sich erhob, merkte er, daß er nicht mehr völlig Meister seiner Beine war ... er merkte es, als er mit der Nase schon auf der Erde lag. Mühsam krabbelte er sich an des Fraters Kutte in die Höhe. „Glaubet mir, Frater, das ist seiner Lebtag kein guter Fuhrmann, der nicht auch einmal umwerfen kann!“ Die Zunge wurde ihm schwer. „Und Ihr wisset ja doch, wie der gelahrte Philofophns sagt:

„Wirft uns der Wein schon nieder,
Gehn wir morgen doch zu ihm wieder.“

Frater Severin hielt die Leiter, und Herr Schluttemann tappte sich über die Sprossen hinauf ins Heu.




16.

Dem trüben Regentage folgte ein frischer, frühlingsduftiger Morgen. Jedes Rasenflecklein auf den steilen Gehängen und alle Almen hatten über Nacht einen lichtgrünen Schimmer bekommen. Es war Lenz geworden in den Bergen; er hauchte aus den lauen Lüften, blickte nieder aus dem tiefen Blau des Himmels, stieg aus der Erde mit würzigem Odem und wehte in den Düften, die der bergwärts ziehende Wind emportrug aus den Thälern, wo sich schon die ersten Blumen erschlossen hatten.

Als die warme Sonne auf allem Grund rings um die Jägerhütte lag, durfte Haymo das Lager verlassen. Frater Severin und Gittli führten ihn zur Bank vor der Thür, doch hätte er kaum einer Stütze bedurft, so kräftig war sein Schritt; er wäre am liebsten vor Tag schon aufgestanden, um mit Herrn Heinrich auszuziehen zum Hahnfalz.

Da saßen sie nun zu dreien. Frater Severin erzählte Schnaken und Schnurren, Haymo schaute mit nimmermüden Augen über Berge und Wälder aus, Gittlis Hand in der seinigen haltend; schweigend saß sie an seiner Seite, die Augen gesenkt, mit der freien Hand an einem Zipfel ihrer Jacke nestelnd. Ihr war zu Muth, sie wußte nicht wie. Ueberall, meinte sie, wäre ihr wohler als hier auf dieser Bank. Nun that sie einen stockenden Athemzug, stand auf und löste ihre Hand.

„Gittli? Was hast denn?“ fragte Haymo.

„Schaffen muß ich!“ sagte sie und schlich davon. Als sie die Küche der Herrenhütte erreichte, drückte sie die beiden Hände auf die Brust. Da lag es ihr wie ein schwerer, schwerer Stein. „Was hab’ ich denn, ja was hab’ ich denn nur?“ stammelte sie. Aber wie konnte sie nur so fragen! Was ihr das Herz bedrückte und beängstigend umklammerte, so daß ihr fast der Athem versagen wollte ... was sonst denn konnte es sein als die Sorge um den Bruder und die Schwäherin? War doch Herr Schluttermann beim Morgengrau mit Walti und zwei Knechten wieder auf die Suche gezogen. Auch Pater Desertus hatte sich ihnen angeschlossen, als wäre ihm das Bleiben bei den Hütten unerträglich. Und der mit seinen unheimlichen Messeraugen, meinte Gittli, würde gewiß etwas finden.

„O du lieb’s, gut’s Engerl droben, jetzt halt’ aber fest!“ Mit diesem Stoßseufzer machte sich Gittli an die Arbeit. Immer wieder mußte sie sich die Zähren aus den Augen wischen, und ein um das andere Mal schlich sie zum Fenster, um verstohlen hinüber zu blicken, ob auch Haymo noch auf der Bank sitze ... nein doch: um auszuschauen, ob nicht der Vogt mit den Knechten schon zurückkomme.

Da hallte aus dem Steinthal herauf der langgezogene Jauchzer einer Mädchenstimme. Gittli sprang zur Thür und legte die Hand über die Augen, um in der grellen Sonne besser sehen zu können. Von weitem erkannte sie die Tochter des Eggebauern.

„Was will denn die daheroben?“ stammelte sie.

Gittli war der heiteren Nachbardirn’ immer gut gewesen. Aber jetzt mit einmal empfand sie etwas gegen das Mädchen wie grollenden Unmuth. Freilich ... Zenza war ja doch die Tochter des Bauern, der das Kreuz auf den Wolfrat gelegt hatte!

„Was die nur will? ... Und aufgeputzt hat sie sich ... uuh!“ Unwillkürlich blickte Gittli an sich hinunter. Ihrem Linnen und ihrem abgeschabten Röcklein merkte man die Nächte an, die sie auf dem Herd verbracht hatte. Eine Zähre schoß ihr in die Augen, und zögernd trat sie in die Küche zurück, aber nur so weit, daß sie Zenza nicht aus den Blicken verlor.

Jetzt erschien das Mädchen auf der Höhe. „Da schau,“ schmunzelte Frater Severin, „ich glaub’ ja gar, wir kriegen Besuch! Und was für einen! Ui jei!“

Haymo machte große Augen. „Was will denn die daheroben?“ murmelte er, als hätte er Gittlis Worte gehört und nachgesprochen.

Zenza kam näher; sie trug einen dicken Veilchenstrauß im Mieder und hatte sich aufgeputzt, als ging’ es zum Hochamt in die Kirche. Ihr Gesicht brannte, und ihre heißen Augen hingen an Haymo.

„Grüß Dich Gott, Dirnlein!“ rief ihr Frater Severin entgegen. „Was für ein Heiliger hat denn Dich daherauf geschneit?“

„Der heilige Hubertus!“ lachte Zenza. „Grüß’ Gott auch, Herr Frater! Und der heilige Leonhardus hat auch mitgeholfen. Ja! Nachschauen hab’ ich wollen auf meiner Almen ... auf Sennzeit ist ja nimmer gar so lang. Und weil ich schon auf meiner Almen war, hab’ ich mir gedacht, ich mach’ das Katzensprünglein noch herauf, daß ich doch selber schauen kann, wie’s Eurem Letzerl[5] geht.“ Ihre Augen blitzten Haymo an, der in Unmuth über den kindischen Kosenamen den das Mädchen ihm gab, die Brauen furchte.

Frater Severin hatte Zenzas Hand erfaßt und tätschelte ihre Finger. „Macht sich ja, macht sich schon wieder. Schau ihn nur an: acht Tag’ noch, und er springt wieder über alle Berg’ aus. Aber sag’, woher weißt Du denn, daß ihm was geschehen ist?“

„Hat es ja der Polzer, der gestern nacht seine Schwester gesucht hat, überall ausgeschrien!“

Gittli, die am offenen Fenster lauschte, erschrak bis ins Herz. Hatte Wolfrat den Verstand verloren, daß er selbst erzählte, was in der Röth’ geschehen war?

„Der bildet sich jetzt was ein auf seine Schwester!“ sprach Zenza weiter. „Aber das muß ich selber sagen, brav hat sie sich gehalten. Ein halbes Kindl noch! Ich weiß nicht, aber ich glaub’, ich hätt’ den Kopf verloren!“ Sie lächelte. „Was meinst, Jäger?“ und wieder blitzten ihre Augen.

Gittli griff sich in ihrem Versteck mit beiden Händen an den Kopf; alles in ihr begann zu wirbeln.

„Du und den Kopf verlieren?“ lachte Frater Severin. „Ja! Andern die Köpf’ verdrehen – das wird das Richtige sein. Aber komm’, Dirnlein, setz’ Dich, wirst müd’ sein von dem weiten Weg, und hungrig auch ... wart’ ein’ Weil’, ich hol’ Dir eine Zehrung. Dann halten wir einen lustigen Haimgart.“ Und mit flinken Schritten ging er der Herrenhütte zu.

Gittli erblaßte. „So, schön ... jetzt laßt er sie gar allein mit ihm,“ stammelte sie. Aber weshalb nur sorgte sie sich, daß ihr „einwendig“ völlig kalt wurde? „Am End’ weiß sie was ... und sagt es ihm!“ Das mußte sie verhindern.

Kaum war der Frater gegangen, da trat Zenza auf den Jäger zu. „Hast viel ausstehen müssen?“ fragte sie mit leise bebender Stimme.

„Es hat grad ausgereicht!“ brummte er.

Den wenn ich wüßt’ der Dir das gethan hat!“ Sie ballte die Fäuste. „Da hast freilich nicht können zum Tanz kommen! Und ich wart’ allweil und wart’ und wart’ ... eine Wuth hab’ ich gehabt, daß ich Dich hätt’ zerreißen können!“

„So?“

„Und derweil liegt er daheroben, der arme Hascher, schiergar am Verscheinen! Aber schau, seit ich es gestern gehört hab’, da hat’s mich nimmer gelitten, ich hab’ herauf müssen!“

[391] „Geh?“

„Ja! Und weil Du mir keinen Buschen hast bringen können ... schau ... jetzt hab’ halt ich Dir einen gebracht!“ Sie löste den Veilchenstrauß von ihrem Mieder, doch als sie ihn dem Jäger reichen wollte, kam Gittli herbei, zögernd, mit finsteren Augen. Hastig legte Zenza die Veilchen neben Haymo auf die Bank, ging auf Gittli zu und streckte ihr beide Hände hin.

„Grüß’ Dich Gott, Kleine! Brav hast Dein Sacherl gemacht!“

Gittli legte die Hände auf den Rücken.

Zenza lachte. „Geh’, Du Dummerl, was hast denn? Ich mein’ doch, Du hättst Dir ein Vergeltsgott verdient! Da schau! ...“ Sie löste das dünne Silberkettlein von ihrem Mieder, haschte Gittlis Arm und zwang ihr das Kettlein in die Hand. „Nimm’s nur, nimm’s ... ich schenk’ Dir’s!“

Haymo sprang auf. Eine dunkle Röthe flog über seine Stirn und zornig klang seine Stimme: „Gittli! Gieb ihr das Kettl wieder ... Du brauchst Dir noch allweil nichts schenken zu lassen ... von der!“

„Ich hätt’s auch so nicht genommen!“ sagte Gittli mit ruhigen Worten und streckte die Hand mit dem Kettlein aus. „Da hast es wieder, ich brauch’s nicht, für mich thut’s auch ein Bändl!“

Bis in die Lippen war Zenza erbleicht. Einen funkelnden Blick warf sie auf Haymo, einen auf Gittli, dann lachte sie hell auf. Mit zornigem Griff packte sie das Kettlein, zerriß es, warf Gittli die Stücke ins Gesicht und ging mit heiserem Lachen davon, das Mädchen noch einmal streifend mit einem Blick des glühendsten Hasses.

Zitternd stand Gittli, die Wangen von heißer Röthe überzogen, Thränen in den Augen. „Was hab’ ich ihr denn gethan? Ich hab’ ihr doch nie kein ungutes Wörtl gegeben! Und jetzt thut sie mich so verschimpfen!“ Sie brach in bitterliches Weinen aus.

„Gittli!“ stammelte Haymo und wollte sie umschlingen. Aber da kam Frater Severin aus der Herrenhütte, Teller und Becher in Händen. Er machte große Augen und wollte fragen, wohin die Zenza gerathen und was denn geschehen wäre. Aber nach dem ersten Wort verstummte er wieder und verschwand hurtig in der Thür. Er hatte Herrn Heinrich gewahrt, der von der Höhe niedergestiegen kam, den erlegten Auerhahn am Bergstock über der Schulter tragend.

Haymo stand wortlos und nagte an seinen Lippen. Gittli, als sie Herrn Heinrich erblickte, wischte sich die Thränen aus den Augen, bückte sich und las die Stücke des zerrissenen Kettleins von der Erde. Was sie gefunden hatte, brachte sie dem Frater Severin und sagte: „Ich bitt’ Euch, Frater, wenn Ihr wieder hinunterkommt ins Kloster, so leget das der Jesumutter in den Schrein ... es ist gefunden Gut und will keinem gehören!“

Herr Heinrich war näher gekommen. Er nahm den stattlichen Auerhahn vom Bergstock und hielt ihn mit der Hand empor. „Haymo, sieh her, ich habe Weidmanns Heil gefunden!“

In Haymo kochte alles; aber er vergaß nicht seiner Jägerpflicht. Von der nächsten Fichte brach er das grüne Ende eines Zweiges, er trat vor Herrn Heinrich hin tauchte den Zweig in den rothen Schweiß des Vogels und sagte:

„Vor meinen Herren hin ich tritt,
Mit Weidmannsgruß und mit der Bitt’.
Er hat ein’ gerechten Schuß gethan
Drum soll er den Bruch auch nehmen an
Und tragen wohl in Freude
Dem edlen Vogel zu Leide!
Jo! Hoch, o ho!
Brauchet eure gute Wehr
Allezeit zu Gottes Ehr’!“

Herr Heinrich nahm den Bruch, steckte ihn auf die Kappe und gab mit Handschlag den Weidmannsspruch zurück:

„Hab’ Dank, mein lieber Jäger frei!
Trag alle Weil der Dinge drei:
Wehr ohne Schart’ und Fehl,
Graden Sinn ohne Hehl,
Treues Herz ohne Wank!
Habe Dank überall, habe Dank!“

Lächelnd legte Herr Heinrich die Hand auf seines Jägers Schulter und sagte: „Ich habe mein Sprüchlein geredet nach Herrenpflicht. Auf Dich aber, Haymo, paßt es nicht, denn ich habe Dir wünschen müssen, was Du hast. Zu Dir hätt’ ich sagen sollen:

„Bleib’, wie Du bist,
Zu aller Frist!
Und gesunde bald,
Daß der liebe Gott es walt’!“

Die Freude über diese herzlichen Worte färbte Haymos Wangen. Nun gingen sie zur Bank, und es begann das Erzählen. Rechte Jagd muß immer zweimal gehalten werden: erst mit der Waffe in der Hand, dann mit dem Herz auf der Zunge. Frater Severin hatte sich lauschend herbeigeschlichen; Gittli arbeitete mit stiller Geduld in der Herrenhütte.

Als in Herrn Heinrichs Erzählung die Sehne der Armbrust schnurrte und der stolze Vogel niederrauschte durch das Gezweig, da kamen die Knechte mit den Hunden über das Steinthal her. Mit hellem Laut begrüßten die schonen, geschmeidigen Thiere den Anblick der Hütte; wie der Wind kamen sie herbeigesaust und sprangen mit so ungestümer Freude an Haymo empor, daß Herr Heinrich ihm helfen mußte, sie abzuwehren. Nun sollte in aller Eile ein Imbiß genommen werden, und dann sollte es mit den Hunden hinausgehen auf die Luchsfährte, auf welcher Herr Heinrich am Morgen reichlichen Schweiß gespürt hatte. Haymo wurde in die Hütte geschickt, um wieder ein paar Stunden zu ruhen. Als er sich von der Bank erhob, sah er die Veilchen liegen; er faßte sie und hob die Hand zum Wurfe; lächelnd aber schüttelte er den Kopf, brach unter den Fichten einen Büschel der langen Schmielen, welche vom vergangnen Sommer noch standen, und nahm ihn mit den Veilchen in die Hütte.

Einer der Knechte hatte Gittli in der Küche des Herrenhauses aufgesucht und reichte ihr ein kleines Bündel. „Das hat mir Dein Bruder mitgegeben ... und grüßen soll ich Dich auch von ihm.“

Gittli hielt die Augen gesenkt und lispelte: „Weißt nicht, wie’s meiner Schwäh’rin geht?“

„Wie soll’s ihr gehen? Gut halt!“ sagte der Knecht aufs Gerathewohl; er hatte Sepha gar nicht gesehen.

„Gott sei Dank!“ seufzte Gittli erleichtert auf; dann öffnete sie das Bündel; die Röthe der Freude schlug ihr in die Wangen, als sie frisches Linnen und ihr gutes Gewand in dem Bündel fand. Jetzt konnte sie sich doch auch ein bißchen sauber machen ... freilich, um so schmuck auszusehen wie die Zenza, dazu hätte sie die Tochter des Eggebauern sein müssen und nicht die Schwester des armen Sudmanns. Hastig versteckte sie das Bündel und ging wieder flink an die Arbeit.

Eine Weile später machte sich Herr Heinrich auf den Weg. Einer der Knechte mußte ihn begleiten und die ungeduldig ziehenden Hunde an der Leine führen. Ueber eine Stunde galt es zu steigen, bis die Stelle erreicht war, an welcher Herr Heinrich den Schuß auf das Raubthier gethan hatte. „Gieb mir den Weckauf und halte Dich mit der Hel auf hundert Schritte hinter mir!“ sagte er zu dem Knechte, übernahm den Hund und setzte ihn auf die Fährte, welche mit reichlichem Schweiß gezeichnet war. Der Hund fiel in den Riemen, nahm die Fährte gierig an und zog Herrn Heinrich hinter sich her. Das war nun ein mühsamer Weg – durch Wald und über grobes Geröll, durch schier endloses Dickicht der Krummföhre, über Bergrippen auf und nieder, empor bis unter die kahlen Steinwände, wieder herab durch ein felsiges Thal bis zu den Almen und quer über das Almfeld in den dunklen Wald. Wohl eine halbe Stunde zog hier der Hund noch auf der Fährte, bis er in einem wirren Gestrüpp den Luchs aus seinem Lager stieß. Als wär’s eine große, langgestreckte Flamme, so fuhr die rothe Bergkatze aus ihrem Versteck hervor.

„Los die Hel!“ schrie Herr Heinrich, während er den im Riemen würgenden Weckauf befreite. Die Hunde schossen wie Pfeile dahin und begannen mit läutenden Stimmen die Hatz. Der Luchs versuchte aufzubäumen, aber die Krallen der wundgeschossenen Tatze versagten den Dienst – er fiel zurück; im gleichen Augenblick waren die Hunde über ihm: alle drei Thiere zu einem wirren Knäuel geballt, der Luchs fauchend und mit den „Waffen“ schlagend ... doch eh’ es Herrn Heinrich gelang, herbeizuspringen, wurde der Luchs wieder hoch, floh in weiten Sprüngen dahin, und hinter ihm her ging die kläffende Jagd der Hunde.

Herr Heinrich stand und lauschte den läutenden Stimmen. Eine Weile, dann verwandelte sich der Laut der Hunde in zorniges Gebell, welches immer aus der gleichen Richtung kam. „Sie haben ihn gestellt, sie geben Standlaut!“ rief Herr Heinrich dem Knechte zu und eilte zwischen den Bäumen dahin, dem Ruf der Hunde nach.

Nun erreichte er sie; zu Füßen einer aus dem Waldgrund aufragenden Felswand standen sie und bellten zu einer vorspringenden Platte empor, auf welche sich der Luchs mit einem mächtigen Sprung geflüchtet hatte. Er war in eine Falle gerathen: rings um ihn der kahle platte Fels, unter ihm die Hunde, vor ihm der Jäger.

[392]

Der Kirchgang.
Nach einem Gemälde von Hubert Salentin.

[393] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [394] „Schießet, Herr, so schießet doch!“ schrie der Knecht. Herr Heiurich aber warf die Armbrust auf den Rücken, zog den blitzenden Fänger aus der Scheide und ging auf das Raubthier zu, bis ihn von der Felswand nur noch eine Strecke von zehn Schritten trennte. Sein Kommen machte die Hunde noch ungestümer, sie heulten mit heiseren Stimmen und versuchten an der Felswand emporzuspringen. Um sie aber kümmerte sich der Luchs nicht mehr; er saß geduckt, die spitz behaarten Lauscher vorgestellt, die großen, feurig funkelnden Augen auf den Jäger gerichtet, regungslos ... nur die langen, weißen Barthaare zitterten über dem gefletschten Rachen.

„Nun?“ lächelte Herr Heinrich. „So spring’ doch! Du siehst ... ich warte.“

Die rothe Katze drehte den Kopf, als könnte sie den scharfen, ruhigen Blick dieser klaren Menschenaugen nicht länger ertragen. Sie glotzte auf die kläffenden Hunde nieder, dann rings umher wie nach einem Ausweg, und wieder richteten sich ihre funkelnden Augen auf den Jäger; ein leises Zittern rann über ihr gesträubtes Fell, sie duckte sich noch tiefer, die Tatzen streckten und spannten sich ... nun sprang sie ... aber blitzschnell hatte Herr Heinrich den Fänger gehoben, mit der ganzen wilden Kraft des Sprunges rannte sich der Luchs in den vorgestreckten Stahl und plumpste verendet zu Boden.

„Gelt, jetzt haben meine Gemskitzen und Hirschkälber Ruh’ vor dir!“ lachte Herr Heinrich, wischte am Moos den blutigen Fänger rein und verwahrte ihn in der Scheide. Der Knecht kam herbeigerannt, um das Raubthier zu betrachten. Aber die Hunde ließen ihn nicht zu; sie würgten und zerrten an dem erlegten Thier, bis Herr Heinrich sie abrief, um nachzuschauen, ob sie auch glimpflich aus der Balgerei mit dem Luchs entkommen wären. Weckauf war unversehrt, die arme Hel aber hatte einen tiefen Riß über die Schulter, und eine solche Wunde vom Luchs war gar bösartig.

„Hast Du Feuerstein und Schwefelfaden?“ fragte Herr Heinrich den Knecht.

„Ja, Herr!“

„So mach’ Feuer an und brich den Stachel von Deinem Griesbeil. Die Hel ist zerrissen, wir müssen die Wunde brennen.“

Bald flammte ein kleines Feuer, an welchem das Eisen zum Glühen gebracht wurde. Herr Heinrich kniete auf die Erde, nahm den Hund in den Schoß und drückte dessen Kopf an seine Brust.

„Gieb her den Dorn!“

Es zischte ... heulend vor Schmerz riß der Hund sich los, rannte mit tollen Sätzen umher und schüttelte immer wieder das Fell.

„Komm’, Hel, komm’, da komm’ her!“ lockte Herr Heinrich, mit den Fingern schnalzend. Der Hund warf scheue Blicke, zog den Schweif ein und kroch, immer wieder zögernd, vor seines Herrn Füße. Da er zu merken schien, daß ihm ein neuer Schmerz nicht drohe, sprang er mit freudigem Winseln an seinem Herrn hinauf.

„Hat’s weh gethan, Hel?“ schmeichelte Herr Heinrich, den Kopf des Hundes streichelnd. „Weißt, es hat halt sein müssen. Und gelt, Du fragst nicht, warum, und bellst nicht gegen die Hand, die Dich brennt? Ja – Du bist halt kein Mensch ... Du bist ein kluges Thier!“ Nun rief er den Knecht. „Trag’ den Luchs hinunter ins Kloster. Ich laß meine Chorherren grüßen, sie sollen sich den Braten schmecken lassen. Den Weckauf nimm mit Dir! Die Hel darf bei mir bleiben. Komm’, Hel, komm’!“

Gemächlichen Ganges stieg Herr Heinrich durch den Bergwald empor.




17.

Zu später Nachmittagsstunde erreichte Herr Heinrich die Hütten. Unter der Thür des Herrenhauses trat ihm der Vogt entgegen, brennend vor Erregung.

„Reverendissime! Könnt Ihr Euch denken, was wir gefunden haben?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte Herr Schluttemann in die Hütte und kam zurück, in der Hand den schon etwas übel duftenden Kopf eines Steinbocks mit mächtigem Gehörn.

Ueber die Lippen des Propstes flog ein zorniges Wort. Sie traten in die Stube, und Herr Schluttemann begann zu erzählen. Bis gegen Mittag hatten sie vergebens gesucht; alle Fährten und Schweißspuren wareu im Regen erloschen. Schon wollten sie sich auf den Heimweg machen, als Walti in einer tiefen dunklen Felsspalte etwas Verdächtiges erblickte. Es war der gesuchte Steinbock. Er wurde in die Höhe gehoben und genau untersucht; da zeigte sich, daß nichts an dem Thiere fehlte ... nur das Herz. Der Vogt ließ dem Bocke das Haupt abnehmen, um Herrn Heinrich das Gehörn zu bringen. Als sie auf dem Rückweg am Kreuz vorüberkamen, machte Walti abermals eine Entdeckung. „Der Bub’,“ meinte Herr Schluttemann, „hat Luchsaugen und eine Hundsnase.“ Walti bemerkte an dem Christusbild die Blutflecken . . . „schier noch so roth, als wären sie auch gemalt wie die anderen!“ Das Dach über dem Kreuze hatte den Regen verhindert, die bösen Spuren auszulöschen.

Da war es in Herrn Schluttemanns Gehirn wie eine Fackel aufgegangen, bis sein Verdacht das eine zum anderen fügte wie Glied um Glied zu einer Kette.

„Und jetzt, Reverendissime, das ist meine Meinung!“ Er legte die Arme über den Tisch und begann an den Fingern herzuzählen. „Primo! Beim Kreuz muß der Lump den Steinbock angeschweißt haben, oder der angeschweißte Bock kam auf der Flucht am Kreuz vorüber und hat gespritzt. So muß es einer gethan haben, der am Ostermorgen vor Tag beim Kreuz war! Einer, den ich kenneeeeh!“ Herr Schlnttemann dehnte die letzte Silbe wie einen Teigfaden. „So ein Gauner! Hat es mir noch selber erzählt! Warte nur, Dir zünd’ ich auf mit Deiner Schlauheit! Secundo – es fehlt nur der Schweißsack.[6] So hat es einer gethan, oder vielmehr ...“ Herr Schluttemann machte verschmitzte Augen, „einer hat es angestiftet, dem es um ein Herzkreuzl zu thun war! Einer, den ich kenneeeeh! Ist ja zu mir gekommen und hat eins haben wollen, ich hab’ ihm aber einen Tritt gegeben. Und wenn es einer gethan hat für den anderen, so hat er’s gethan um silbernen Dank! Weil er Geld gebraucht hat, wie der Bäck die Hefen ... sagen wir exempli causa: einer, der am Charsamstag das Lehent nicht hat zahlen können ... und am Ostermontag bringt er das Geld! Bringt es! Bringt es ... und haut mir’s auf den Tisch! Und sagt, der ander’ hätt’s ihm geliehen. Haha! Geliehen! Warte nur, Bürschlein, Dir will ich was borgen .. das hat der Freimann im Kasten!“

Herr Heinrich war betroffen aufgesprungen. „Herr Vogt! Ihr meinet den Sudmann, den Wolfrat?“

„Stimmt, Reverendissime! Und der andere, das ist dieser Schmerwanst, der Eggebauer. Der bleibt uns schon, wenn wir nur erst den Sudmann haben. Heut’ in der Nacht laß ich ihn ausheben ... ich habe die Knechte schon hinuntergeschickt; sie bringen ihn morgen, damit der Haymo gegen ihn zeugen kann.“

„Da habt Ihr übereilt gehandelt!“ zürnte Herr Heinrich. „Ihr hättet zuvor meine Stimme hören sollen. Wollt Ihr den Mann gefangen hierherbringen lassen, vor die Augen seiner Schwester?“

Herr Schluttemann machte ein verblüfftes Gesicht; er hatte Lob erwartet und wurde gescholten! Und bei all seiner Weisheit hatte er mit keinem Gedanken an Gittli gedacht. Aber holla ... das war ja ein neuer Beweis!

„Herr Heinrich,“ stotterte er, „scheinet es Euch nicht seltsam, duß gerade diese Dirn’ den Jäger gefunden hat? Gleich hängen laß’ ich mich, wenn sie nicht um die That gewußt hat!“

„Gewußt? Nein! Aber sie mag davon erfahren haben, da es geschehen war. Und da wollte sie helfen, wenn noch zu helfen wäre. Sprechen durfte sie nicht, wenn sie nicht den Bruder verderben wollte. In Gottvertrauen hat sie es gewagt mit eigener Kraft, und Gott ist ihr beigestanden. Ihr aber, Vogt, Ihr meint, alle Schuldigen gefunden zu haben? Denket nach ... denn es fehlt noch einer!“

„Einer? Noch einer?“ stotterte Herr Schluttemann.

„Ja, und Ihr selbst seid dieser eine!“

Das Gesicht des Vogtes färbte sich dunkelroth, und seine Nase wurde zur Fackel.

„Ja, Ihr!“ wiederholte Herr Heinrich. „Mit Eurem rauhen Wesen, mit Eurem Schreien und Schelten. Besinnt Euch nur, wie das arme Kind vor Euch stand, bleich und zitternd. Die Leute mußten ja glauben, sie würden über Nacht schon von Haus und Hof gejagt. Wenn der Mann die That wirklich begangen hat, dann habt Ihr ihn dazu getrieben, nicht der Eggebauer!“

Herr Schluttemann stand da wie ein hilfloses Kind. Er wagte kaum aufzublicken. „Ach, Herr Heinrich,“ stöhnte er, „wenn Ihr mir doch ins Herz schauen könntet! Meiner Treu ... ich bin ein seelenguter Kerl! Aber in der Früh halt, in der Früh! Da steckt mir das Weib in allen Knochen und regt mir die Fäust’ und blast mir die Backen auf.“

[395] „Wenn Frau Cäcilia das Zanken nicht einstellen will, so laßt Ihr doch einmal den Pagstein[7] um den Hals hängen und laßt sie vom Frohnknecht durch die Gassen führen. Ihr seid ja der Vogt!“

Herr Schluttemann kraute sich hinter den Ohren. Freilich, er war der Vogt ... aber Frau Cäcilia war der Obervogt!

Herr Heinrich verwand das Lächeln. „Sagt mir ... weiß das Mädchen schon von Eurem Fund und allem anderen?“

„Nein, nein, Reverendissime!“ gab Herr Schluttemann eilfertig zur Antwort. „Die Dirn’ war weggegangen, als wir kamen.“

„Weggegangen? Wohin?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie soll kein Wort von allem erfahren. Und Haymo?“

„Er ruhet wieder.“

„Schweiget auch gegen ihn! Mit Eurem Gewissen aber, Vogt, mit dem dürft Ihr reden ... so laut Ihr könnt.“

Mit zerknirschter Miene machte der Vogt einen tiefen Bückling, als Herr Heinrich die Stube verließ. Draußen rief der Propst den Knecht herbei, der am Morgen mit den Hunden gekommen war: er solle die Boten einzuholen suchen, die der Vogt hinuntergeschickt habe; sie möchten den Sudmann in Ruhe lassen und von der Sache schweigen, bis Herr Heinrich selbst hinunterkomme; könne er aber die beiden nicht mehr einholen und hätten sie den Mann schon gefaßt, dann solle er sie thun lassen, wie es ihr Auftrag heische. „Und im Salzhaus laß Dir ein Saumpferd geben, leg’ ihm einen Sattel auf und führ’ es hierher; ich will morgen zu Thal und kann den Haymo nicht in der Einöd’ lassen.“

Der Knecht machte sich auf den Weg. Herr Heinrich ging in die Jägerhütte, setzte sich zu Haymo an das Lager und ließ sich noch einmal erzählen, wie alles geschehen wäre. Mit stockenden Worten berichtete Haymo.

„So hat er den Stoß an der Stelle geführt, an welcher das Mädchen Dich gefunden hat?“

„Ja, Herr!“ sagte Haymo leise.

„Es ist also nicht beim Kreuz geschehen?“

Haymo schaute auf und sah den forschenden Blick des Propstes auf sich gerichtet. Zugleich aber war es ihm auch, als stünde Gittli neben ihm, mit angstvollen Augen, mit bittend erhobenen Händen. Er senkte die Blicke. „Nein, Herr!“ Kaum war das Wort gesprochen, da hätte er es gern wieder zurückgenommen. Nur wenige Stunden waren vergangen, seit er von seines Herrn Lippen den Spruch vernommen hatte:

„Wehr ohne Schart und Fehl,
Graden Sinn ohne Hehl ...“

und jetzt hatte er schon dawider gesündigt. Und doch fühlte er, wenn er ein zweites Mal gefragt würde, er könnte wieder nur sagen. „Nein, Herr!“

Man hörte draußen den Frater mit Walti reden; er suchte Herrn Heinrich, auf den die Mahlzeit warte. Der Propst erhob sich und ging in die Herrenhütte. Verwundert fragte er: „Wo ist Pater Desertus?“

„Ich weiß nicht, Herr!“ sagte der Frater. „Er ist fortgegangen.“

„Auch fortgegangen? ... Und weißt Du nicht, wohin das Mädchen ging?“

„Nein, Herr! Ich weiß nicht, was über die Dirn’ gekommen ist. Der Haymo hat sie doch nicht vertrieben!“ Frater Severin lachte. „Ich bin mit ihr hinübergegangen, um dem Jäger das Essen zu bringen und ... da war zuvor eine Dirn’ da, die hat dem Haymo einen Veigleinbuschen gebracht ... und aus den Blumen hatte er ein Kränzlein gewunden. Wie wir nun zu ihm hineinkommen und die Gittli geht vor sein Lager hin da drückt er ihr lachend das Kränzlein auf den Scheitel. Roth ist sie geworden wie ein gesottner Krebs und ist davongeschossen, ohne ein Wörtlein zu reden ... und seit der Zeit hab’ ich sie mit keinem Aug’ mehr gesehen.“

Freilich – denn ehe Frater Severin in die Herrenhütte zurückkam, hatte Gittli ihr Bündel aus dem Wiakel gezogen und war davongesprungen, um irgendwo im Gebüsch ein Versteck zu suchen, in dem sie die rußigen Kleider gegen ihr gutes Gewand vertauschen könnte. Mit Suchen und Suchen ... auf jedes Flecklein blickten ja die Hütten her ... war sie tief hinunter in das Steinthal gerathen. Endlich fand sie eine sonnige Mulde mit dichtem Föhrengestrüpp, so versteckt zwischen Felsgewirr, daß von den Pfaden und Hütten kein Blick hierher zu dringen vermochte. Gittli schlüpfte durch das Gezweig und fand inmitten des Gebüsches einen kleinen Teich, zu welchem sich das Regenwasser über dunklem Moos und weißem Sande gesammelt hatte; wie ein Spiegel blickte ihr das klare Wasser entgegen, von keinem Lüftchen gewellt, von keinem Staub getrübt, goldig schimmernd in der sinkenden Sonne. Gittli klatschte vor Freude die Hände ineinander. Keine Fürstentochter hatte in ihrer stolzen Burg ein Kämmerlein wie sie es hier gefunden: mit weichem Teppich, mit immergrünen Wänden, umgeben von himmelhohen Mauern, darüber die blaue Decke, an der die Sonne als Lampe hing ... und mitten drinnen im Kämmerlein ein lockendes Bad, das der Wettermacher des Himmels, der heilige Petrus, als Marschalk ihr bereitet hatte. Hastig tauchte sie die Hand in das Wasser ... es war nicht allzu kühl, denn der Regen war lau gefallen und die Sonne hatte gut geheizt. Im Gebüsch legte Gittli das Gewand zurecht, das sie mitgebracht, dann schlüpfte sie aus den Kleidern und huschte ins Wasser, flink und schlank, zart und geschmeidig wie ein Elflein, bis zu den Knien fast umhüllt vom schwarzen Mantel der gelösten Haare. Da plätscherte sie nun in der Sonne und schauerte und kicherte und wusch und rieb sich das Gesicht, daß ihr die Wangen zu brennen begannen. Und jetzt plötzlich erschrak sie und lauschte ... es raschelte im Gebüsch ... und mit einem leisen Aufschrei tauchte sie in das Wasser, daß nur ihr Köpfchen noch hervorlugte, vom schwimmenden Haar umgeben wie von einem dunklen Schattenkreis. Es war still in den Büschen ... doch nein, jetzt wieder begann das Rascheln, ganz leise, und immer näher kam es ... Gittli zitterte vor Angst und Kälte und wagte sich nicht zu regen ... sie sah im Dickicht die Spitzen der Aeste sich bewegen, etwas Graues schlich da drinnen hin und her ... nun theilten sich die Zweige, und zögernd trat aus den Büschen eia Hirschkalb hervor, das der nahende Abend aus dem Lager getrieben hatte.

Beim Anblick des Wassers „verhoffte“ das Thier, denn vor zwei Nächten war an der Stelle, wo der Teich sich gebildet hatte, noch Weide gewesen. Scheu, mit vorgestrecktem Halse, kam es näher, stieg mit tastenden Schritten in das Wasser, drehte den Grind hin und her und schaute bald mit dem einen, bald mit dem anderen Licht[8] in höchlicher Verwunderung auf sein Spiegelbild. Das war so drollig anzusehen, daß Gittli, die sich mäuschenstill gehalten hatte, kichern mußte. Das Wild hob mit jähem Ruck den Hals und gewahrte nun das weiße Gesichtchen mit den großen leuchtenden Augen; ungeduldig stampfte es mit den Läufen, denn die seltsame Wasserblume mit den tausend schwarzen, schimmernden Blüthenfäden und dem silberweiß aus dem Teich hervorschimmernden Stengel mochte ihm nicht ganz geheuer erscheinen. Da tauchte Gittli hurtig in die Höhe. „Brrrrr!“ machte sie, mit beiden Händen Wasser spritzend ... und mit einer hohen Flucht stob das erschrockene Thier in das Dickicht zurück, daß die Aeste rauschten und die Zweige knackten.

„Hast Du mich erschreckt, hab’ ich Dich erschreckt!“ lachte Gittli, aber sie brachte die Worte kaum hervor – so fröstelte sie. Eilig schüttelte sie das Haar, rang das Waffer aus dea Strähnen und huschte ins Gebüsch zurück.

Eine Weile, und sie erschien im blauen Röcklein und schwarzen Mieder, in jenem ganzen Staat, in welchem sie am Gründonnerstag das nörgelnde Staunen des Herrn Schluttemann geweckt hatte; die Haare aber ließ sie offen hängen damit sie auf dem Heimweg trocknen möchten ... und über ihrem Scheitel saß, als ein lieblicher Schmuck, das duftende Veilchenkränzlein. Sie trat an das Ufer, zog das Röcklein glatt an die Kniee und neigte sich vor; mit ernsten Augen betrachtete sie ihr Spiegelbild, dann lächelte sie ein klein wenig ... sie schien sich zu gefallen; doch gleich wieder schüttelte sie den Kopf und seufzte: „So schön wie die Zenza bin ich halt allweil nicht!“

Langsam stieg sie durch das Steinthal empor und suchte den Pfad nach den Hütten zu gewinnen. In der scheidenden Sonne trocknete ihr Haar und begann sich zu locken. Als sie den Steig erreichte und über das Thal hinwegschaute, blieb sie zögernd stehen. Saß dort drüben einem Fels zu Füßen, nicht Pater Desertus? Doch es gab keinen anderen Weg zu den Hütten – sie mußte an ihm vorüber. Aber weshalb nur war ihr bange vor diesem Mönch? Sie hatte [396] ihm nichts zu Leide gethan und keine Ursach’, ihn zu fürchten. Wohl hatte ihr Haymo gerathen: geh’ dem „Schwarzen“ aus dem Weg – allein sie hatte ja keinen anderen Pfad.

Ruhig schritt sie weiter. Als sie in eine tiefe Senkung des Thales kam, entschwand ihr der Pater aus den Blicken.

Desertus hatte das Mädchen noch nicht gewahrt. Seine Augen schauten ... wie Gittli zu Herrn Heinrich gesagt hatte ... wieder „einwendig^. Er saß auf einem niedrigen Stein und hielt den das Haupt stützenden Arm über einen höheren Felsblock gelehnt. Warm lag die sinkende Sonne auf seinem bleichen Antlitz, und um seine schmalen Lippen spielte ein träumerisches Lächeln. Die holden Bilder der Vergangenheit webten vor seinem Geist: Frühling war’s und schüchtern begannen im Laubwald die Blätter zu sprossen. Zwischen den Bäumen läuteten die Stimmen der Bollbeißer, die Hörner klangen und jagender Hufschlag tönte. Nun geben die Hunde Standlaut. „Heia, sie haben ihn!“ Und allen anderen voran fliegt Dietwald dahin auf schäumendem Pferde und löst schon den Riemen, mit dem der kurze Speer, die „Feder“, lose an seinen Arm gekoppelt ist. Auf einer kleinen Bloße haben die Beißer den Bären gefaßt, wie die Kletten hängen sie an seinem Gehör. Dietwald schwingt sich vom Pferde, sicher führt er den Stoß ... der Bär hat seinen „Fang“ erhalten und liegt verendet unter den Hunden. Nun geht es heimwärts durch den Wald mit Lachen und Plaudern. Von den Zinnen seiner Burg weht eine weiße Fahne, frohe Botschaft kündend. Er spornt das Roß, jetzt hat er den Hof erreicht, mit langen Sprüngen nimmt er die Stufen ... und unter der Thür der Frauenstube treten ihm die Mägde entgegen und bringen ihm sein Dirnlein, das ihm Gott geschenkt, derweil er den Bären jagte. Ach Herr, solch ein Würmlein! Kein Gesichtchen ... nur Augen! Und mit denen schaut es umher in der Welt, in die es gerathen ist, so neugierig, so erstaunt! Er wagt das winzige Dinglein kaum anzurühren, denn er fürchtet, es möchte ihm zerbrechen unter den Händen. Da war sein Junge schon aus festerem Holz; der schrie wie ein kleiner Geier, zappelte mit den Füßchen, schlug mit den zarten Fäusten um sich, ließ sich drücken und küssen ...

„Dietwald!“ Ach, wie matt diese Stimme klang! Er reicht das Dirnlein den Mägden und tritt auf den Zehen in die dunkle Stube, aus deren Ecke die weißen Laken des Bettes schimmern. Er tritt hinzu, noch finden sich seine Augen nicht zurecht, doch eine kleine weiche Hand erfaßt die seine. „Judita!“ stammelt er in seliger Freude und bedeckt das zitternde Händchen mit heißen Küssen. Da er aufblickt, lächelt ihm die junge Frau entgegen; sie kann in ihrer Schwäche das Haupt nicht erheben, es ruht auf schwarzem Kissen ... nein doch, das sind ja nur die gelösten Haare, die um ihre Wangen gebreitet liegen wie schwarze Seide.

Sie soll nicht reden, und er darf nicht sprechen zu ihr; aber an ihrem Lager darf er sitzen und ihre Hand in der seinen halten und träumend alle Freude nachgenießen, die er mit diesem holden Weibe gewann. Er hatte sie zum ersten Mal gesehen, da er mit König Ludwig einritt in die Passauer Bischofsburg. Als das Tournier gehalten wurde, warf er seine Gegner spielend in den Sand; die schönen Augen, die aus allen Fenstern auf ihn gerichtet waren, störten ihn nicht; denn in seinem Herzen glühte nur die Freude am Kampfspiel. Doch als ihm Frau Irmgard, des Bischofs Schwester, den Tournierdank reichte, sah er neben der stolzen Frau ein Mägdlein sitzen, fast noch ein Kind, mit fein geschnittenem Gesichtchen und tiefen Räthselaugen, Stirn und Wangen dicht umringelt von schwarzem Gelock. Ihre Blicke trafen sich, und leis erröthend senkte das Mägdlein die Lider. „Nun, Herr Graf, was zögert Ihr?“ lächelte Frau Irmgard. „Ihr habt den Dank verdient!“ Dietwald beugte das Knie und ließ sich den Kranz um die Stirn legen. Doch als er zurücktrat, winkte er dem Seneschall des Bischofs. „Wer ist das holde Kind?“ ... „Frau Irmgards Töchterlein Judita, ihr Vater hauset auf der Ortenburg[9].“

Bei der Tafel fand sich Dietwald an Juditas Seite. Drei Maientage schwanden hin, im ganzen Sonnenglanz und Blüthenduft der ersten jungen Liebe, mit ihrem sehnenden Sichsuchen, ihrem zagenden Sichfinden, ihrem seligen Stammeln und Verstummen und mit der süßen, alles bekennenden Zwiesprach der kühneren Augen. Und als Frau Irmgard Abschied nahm und Dietwald und Judita mit stummen Lippen standen, da sagte die lächelnde Mutter: „Nach der Ortenburg habt Ihr ein kurzes Reiten, Graf, lasset Euch doch einmal blicken bei uns, ehe Herr Ludwig wieder heimzieht nach seiner Pfalz.“

Einen Tag lang wehrte Dietwald seiner Sehnsucht, am zweiten Morgen aber saß er schon zu Pferd. Ueber blumige Wiesen ging der Weg, durch jung ergrünenden Wald. Auf einem Hügel erhob sich die stattliche Burg, und ihr zu Füßen lag das kleine Dorf. Dort tönten die Pfeifen, und jauchzende Stimmen klangen. „Sie halten den Maientanz,“ sagte ein Bauer, der des Weges kam, „und die Burgleute sind auch dabei, und das liebe Fräulein tanzet mit jedem braven Buben und ist geschläfet[10] wie ein Bauernkind!“

„So will ich mir auch einen Reigen holen!“ lachte Dietwald, sprang vom Pferde, warf die Zügel dem Knechte zu und eilte dem Dorf entgegen. –

Nun plötzlich rann es ihm heiß und kalt durch das Herz ... dort, zwischen den grünen Büschen, kam sie gegangen, zögernden Schrittes, leise lächelnd, gekleidet wie ein Kind des Dorfes, in blauem Rocklein und schwarzem Mieder, die Schultern umringelt von dunklem Gelock, über der Stirn ein Veilchenkränzlein, sie selbst eine liebliche Blume, die ein Wunder verwandelt in Fleisch und Blut.

„Judita!“ schrie er jubelnd auf, stürzte ihr entgegen und umschlang sie mit zitternden Armen ...

Das Mädchen aber erblaßte, riß sich mit angstvollem Aufschrei von seiner Brust ... und hinter ihm rief eine zornige Stimme. „Desertus!“

Taumelnd griff er mit den Händen nach seiner Stirn, mit erwachenden Augen starrte er um sich ... und da sah er in weitem Kreis die kahlen Felsen ragen – Herr Heinrich stand vor ihm, und auf dem Pfade floh Gittli erschreckt den Hütten zu.

„Welch ein Erwachen!“ stöhnte er, schlug die Hände vor das Gesicht und sank mit Schluchzen vor Herrn Heinrichs Füße. Zwischen den Brauen des Propstes glättete sich die zornige Furche. Er schüttelte das Haupt und legte die Hand auf des Paters Scheitel.

„Dietwald! Erhebe Dich!“

Pater Desertus drückte das Antlitz in Herrn Heinrichs Gewand und umklammerte ihn wie der Sinkende den rettenden Baum.

„Komm, Dietwald, steh’ auf!“ Herr Heinrich nahm ihn bei den Armen, hob ihn empor und führte den Wankenden zu einem Stein. „Rede! Wie kam es, daß Du Dich so vergessen konntest?“

Pater Desertus schaute zu ihm auf mit dem Blick der Verzweiflung; er drückte die eine Hand auf seine stürmisch bewegte Brust und führte die andere an den Lippen vorüber, wie um zu sagen: ich kann nicht sprechen! Herr Heinrich ließ sich auf einen Felsblock nieder und wartete. Es währte lange, lange, bis Pater Desertus zu sprechen begann, in heiseren Lauten mit abgerissenen Worten: „Ich saß ... und schlief mit wachenden Augen ... und träumte ... und mit einmal stand es wieder vor mir ... wie herausgetreten aus meinem Traum ...“

„Dein Gespenst?“ sagte Herr Heinrich betroffen. „So hätt’ ich Dich falsch verstanden bei der Klause? Nicht eine Ausgeburt Deiner irrenden Sinne? Ein Gespenst aus Fleisch und Blut! Dieses Kind hat die Versuchung über Dich gebracht?“

Pater Desertus starrte Herrn Heinrich an, als verstünde er ihn nicht. „Versuchung? ... Nein, Herr! ... Es war noch kein Lebender seinem athmenden Glück so treu, wie ich an meinem toten hänge. Eh’ ich Judita fand, hab’ ich kein Weib mit Mannesaugen angesehen, und seit ich sie verlor, ist mir, was Weib heißt, aus der Welt gestorbe. Versuchung? ... Nein! ... Ihr müßt es Wahnsinn nennen, den ein grausam spielender Zufall der Natur in mir entzündet!“ Wie im Fieber flogen seine Worte. „Ich hab’ es mit eigenen Ohren doch gehört von den bleichen Lippen all meiner Sassen, die den mörderischen Räubern noch entkamen, die es ansahen mit entsetzten Augen, wie mein Weib auf den Altan des brennenden Thurmes flüchtete, meinen Knaben an sich gedrückt, mein Töchterlein auf den Armen ... wie die Mauern barsten und die Balken stürzten, all mein Glück begrabend in Flammen, Rauch und Trümmern ... ich habe doch meines armen, süßen Weibes verkohlte Gebeine gefunden noch umwunden von dem goldenen Kettenschmuck, den Judita als mein Angebinde getragen hat, ich weiß doch, daß aus dem Reich des Todes keine Straße zurückführt in das Leben ... und dennoch! So oft mir dieses Kind vor Augen tritt, mein’ ich, ein Wunder hätte sich vollzogen, der Lauf der

[397]

Vercingetorix ergiebt sich dem Cäsar.
Nach einem Gemälde von Henri Motte.

[398] Zeiten hätte still gestanden, und alles Geschehene wär’ ein böser Traum gewesen, der sich nun löset von mir, da ich erwache. Denn dieses Kind, Herr Henrich ... wo find’ ich nur Worte für das Wunder ... ich suche auf der Erde: so gleichet keine Blume ihrer Schwesterblume . . ich suche am Himmel: so gleichet kein Stern dem Stern wie dieses Kind an Haar und Augen, an Antlitz und Gestalt, an Reiz und Wesen meinem Weibe! Und so wie dieses Mädchen jetzt ... im Kleid des Dorfes, mit gelöstem Haar, den Kranz von Veiglein über der Stirn ... so trat mir Judita entgegen, als ich in Seligkeit den ersten Kuß auf ihre Lippen drückte!“ In sich versinkend, schlug er die Hände vor das Antlitz.

„Dietwald!“ rief Herr Heinrich in tiefer Erregung. „Sage mir ...“ Er verstummte wieder. Es war ja das Unmogliche, was er dachte! Und durfte er aus der schmerzvollen Seele dieses schwer Gebeugten einen Wahnsinn reißen, indem er einen anderen Wahn in ihr erweckte? Er trat auf ihn zu und strich ihm langsam mit der Hand über den Scheitel. „Vergieb mir, Dietwald, daß ich Dich falsch verstanden, daß ich Dich aus der Pein in die Marter stieß, als ich Dich hierhergeführt, statt daß ich weite Meilen zwischen Dich und diese Hütten gelegt hätte! Du darfst nicht bleiben! Nicht um Deinetwillen und nicht des unschuldigen Kindes wegen, das Du erschreckt hast bis ins innerste Herz.“

Pater Desertus nickte vor sich hin.

„Weißt Du den Weg nach Deiner Klause zu finden?“

„Nein, Herr! Aber fort, fort, nur fort!“

„So warte hier – ich will Dir den Walti senden! Er soll Dir Deinen Basthut und das Griesbeil bringen und soll Dich führen. Auch eine Fackel soll er mitnehmen, denn Ihr kommet in die Nacht hinein. Und wenn Du in der Klause bist, halte den Buben bei Dir, er plaudert gern, und laß die Fackel brennen die ganze Nacht. Beten kannst Du nicht mit diesem Irrsinn im Herzen! Und schlafen noch minder! Nimm die Schnüre und beginne ein Netz zu flechten mit engen Maschen ... ich komme morgen vor Abend zu Thal ... eine Klafter hoch und drei Klafter lang soll das Netz gerathen sein, bis ich komme ... und weniger will ich nur finden, wenn Dich der Schlaf befiel. Bessere Hilfe weiß ich Dir nicht als: schaffen, schaffen und schaffen, bis Dir die Augen sinken und die Arme erlahmen. Und übermorgen sollst Du reisen!“

Sie reichten sich die Hände.

„Ich gehorche!“ flüsterte Pater Desertus.

Und Herr Heinrich ging, an der Wende des Pfades noch einmal zurückschauend mit bewegtem Blick. Als er das Herrenhaus erreichte, kam Frater Severin aus der Jägerhütte. „Wo ist der Walti?“

„Ich habe den Buben um Holz geschickt,“ sagte der Frater, „die Wellen[11] sind ausgegangen.“

„Und das Mädchen?“

„Ich glaub’, sie hockt in der Küche. Was die nur hat! Als wär’ die Trud hinter ihr, so ist sie gerannt gekommen, und vor Haymos Lager ist sie hingesunken und hat in einem fort geweint und kein Wort geredet, was wir sie auch gefragt haben. Ich hab’ schon gemeint, der Haymo fahrt aus der Haut, so hat er’s getrieben mit der Dirn’. Aber sie hat ihm nicht Red’ gestanden, und weil er gar nicht hat aufhören wollen mit fragen, hat sie einen Schluchzer gethan, als fiel’ ihr das Herz hinunter, und ist zur Thür hinausgeschossen. Der Haymo hat gleich aufspringen wollen und ihr nachlaufen. Aber ich hab’ ihn gehalten, und weil ich gesehen hab’, daß die Dirn’ ohne die Veiglein gekommen ist, hab’ ich ihm eingeredet, daß sie so weinen thät’, weil sie die Blümeln verloren hat. Da drüber hat er sich dann schier wieder gefreut!“

Herr Heinrich trat in die Küche und sah das Mädchen verschüchtert in einem Winkel sitzen.

„Gittli!“

Sie folgte ihm zögernd in die Herrenstube.

„Wo hast Du denn Deine schönen Blumen?“

„Verloren!“ lispelte das Mädchen. „Sie müssen mir heruntergefallen sein, wie ... wie er mich ...“ Sie verstummte.

„Du bist wohl arg erschrocken?“

Schweigend stand sie, mit gesenkten Lidern.

„Vergiß es, Gittli! Weißt, der Pater ist ein armer, kranker Mann ... krank im Herzen.“

Sie schaute mit großen Augen zu Herrn Heinrich auf.

„Denk’ nur, ehe der Pater in das Gotteshaus getreten ist, war er ein Rittersmann, hat eine junge, schöne Frau gehabt und holde Kinder und hat all seine lieben Leut’ verlieren müssen in einer einzigen Nacht!“

Gittlis Augen wurden feucht. „O mein Gott!“

„Weißt, und seit der Zeit ist er manchmal so träumig wie ein Krankes ... und wie Du jetzt gekommen bist, da hat er völlig gemeint, seine liebe Frau thät’ ihm erscheinen ...“

„Wohl wohl,“ fiel Gittli hastig ein, „er hat ja auch einen Namen gerufen, wie ich gar nicht heiß’.“

„Siehst Du!“

„Mein, der thut mich aber jetzt dauern!“ Sie streckte Herrn Heinrich in tiefer Bewegung die Hand hin. „Saget ihm doch nur, daß ich ihm nimmer harb sein will, aber gar nimmer!“

„Ja, mein Kind, das sag’ ich ihm, und das wird ihn auch freuen. Mußt auch mit keinem davon reden, weißt, die Leut’ thäten ihn drum anschauen.“

Sie schüttelte das Köpfchen.

„Aber komm’, so setz’ Dich doch ein’ Weil’! Ich bin ja ganz allein, wir wollen ein wenig haimgarten!“

Schüchtern setzte sie sich auf die Bank und strich an ihrem Röcklein die Falten glatt.

„Wie alt bist Du denn, Gittli, sag’!“

„Im letzten Anderherbst[12] bin ich fünfzehn Jahr’ geworden.“

„Fünfzehn Jahr’?“ wiederholte Herr Heinrich. Und nach kurzem Besinnen fragte er: „Weißt Du nicht auch den Tag, an dem Du geboren bist?“

„Wohl wohl, Herr, am heiligen Pelagitag.“[13]

Betroffen blickte der Propst das Mädchen an. Am heiligen Pelagitag ... das war zehn Tage nach der Ampfinger Schlacht und einen Tag nach dem Brande der Burg Falkenberg! Hier hatte die Natur ein seltsames Spiel getrieben, oder ... tief aufathmend schüttelte er den Kopf und fragte: „Wo seid Ihr denn daheim gewesen?“

„In Dorfen[14], Herr, aber wir haben nicht im Ort gehauset. Unser Häusl ist ganz einödig im Wald gestanden, denn der Vater hat gekohlet.“

„Kannst Du Dich denn noch besinnen auf Vater und Mutter?“

Sie schaute ihn mit feuchten Augen an. „Kann denn eins Vater und Mutter vergessen? Ich bet’ ja doch alle Tag’ für sie, und da seh’ ich’s allweil wieder dastehen vor mir: den Vater, der wie ein Baum gewesen ist, wenn das Mies daran hängt, ja, so einen langen Bart hat er gehabt, und wisset, Herr, er hat schon ein lützel gegrauelet ... aber das Mutterl, ja, das hat noch allweil Zöpf’ gehabt wie ein Junges. Und so gut schauen hat’s können, und eine Hand hat’s gehabt ... wenn’s einen damit angerührt hat, das ist einem völlig gewesen wie an einem Abend, wenn’s recht warmelet und es streicht ein Lüftl an einen hin. Und soviel, soviel lieb hat’s mich mögen! Ich glaub’, es hat noch keins auf der Welt ein so gutes Mutterl gehabt wie ich!“ Sie fuhr sich mit dem Arm über die Augen.

Herr Heinrich erhob sich, trat auf Gittli zu und nahm ihre Wangen in seine Hände. „Das Mutterl nimmt Dir keiner mehr, und wenn er Dir auch ein anderes dafür geben könnte!“

Sie schaute ihn fragend an, denn sie verstand ihn nicht.

Frater Severin erschien. „Der Bub’ ist daheim!“

„Er soll kommen!“

Walti trat in die Stube, und während Herr Heinrich leise mit ihm redete, erhob sich Gittli und schlich an der Wand entlang zur Thür. Draußen fuhr sie sich noch einmal über die Augen, dann ging sie der Jägerhütte zu. Doch ehe sie diese erreichte, blieb sie stehen, als besänne sie sich ... und nun eilte sie dem Pfad zu, der in das Steinthal führte. Sie wollte die verlorenen Veilchen suchen.

Als sie die Wende des Steiges erreichte, fuhr sie erschrocken zurück. Dort auf dem Stein saß immer noch der Pater; und in seinen Händen hielt er ihr Kränzlein und blickte darauf nieder mit regungslosen Augen. Jetzt hörte sie auch Tritte hinter sich .. dort kam der Bub’ mit zwei Bergstöcken und einer Kienfackel. Lautlos schlüpfte sie in einen Busch und wartete. Sie hörte, wie die beiden einige Worte wechselten und sich entfernten.

[399] Nun kam sie wieder hervor und begann zu suchen. Aber das Kränzlein wollte sich nicht finden lassen.

„Jetzt hat er’s mitgenommen!“ stammelte sie; aber sie zürnte nicht. „Vielleicht hat er eine Freud’ davon!“ Und einem, der soviel Schmerzen getragen hatte, war eine Freude wohl zu gönnen! Weib und Kind verlieren müssen, in einer Nacht – wer hätte mit ihm Erbarmen fühlen sollen, wenn nicht sie! Hatte sie doch Vater und Mutter auch an einem Tag verloren ... damals, als im Land das große Sterben umging!

Lange, lange stand sie und schaute ihm nach, wie er im Gewirr der Felsblöcke verschwand, wieder auftauchte, zwischen dunklen Gebüschen sich verlor und wieder erschien.

Der frischer ziehende Abendwind machte ihr Röcklein flattern und spielte mit ihrem Haar. Unter ihr im Bergwald rief ein Kuckuck, der erste, der mit dem Frühling gekommen war, und über den Halden begannen die steilen Wände, zwischen denen der Schnee nur noch in einzelnen Schluchten hing, in warmer Röthe zu glühen.

(Fortsetzung folgt.)

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Die Mäuseplage.

Vor kurzem meldeten unsere Tageszeitungen, daß die Bauern Griechenlands von ihrer Regierung militärische Hilfe erbaten. Waren etwa die Türken unvermuthet in den hellenischen Gauen erschienen, oder hatten Räuberbanden das klassische Land der Griechen zum Schauplatz ihrer Thaten gemacht? Durchaus nicht! Der Feind, gegen den die griechische Armee buchstäblich zu Felde ziehen sollte, war ein unscheinbares Geschöpf, das aber durch seine unzähligen Legionen furchtbar wurde ... gegen Mäuse sollte das Militär helfen! Die griechische Regierung ließ die Regimenter gegen diesen Feind nicht ausrücken, sie verschrieb sich vielmehr vom Ostseestrande einen deutschen Professor, der anscheinend gegen die Mäuseplage ein probates Mittel gefunden hatte, und der Professor dampfte eines Tages nach Athen ab, ausgerüstet mit einigen Fläschchen. Mit diesen harmlos aussehenden Waffen nahm er den Kampf auf, indem er gegen die winzigen Mäuse die unendlich kleineren Bacillen ins Feld führte, um so Pestilenz unter die Legionen der Nager zu bringen und das klassische Hellas von der schweren Noth zu befreien.

In der That kann sich die Mäuseplage zu einer furchtbaren Noth für den Landwirth gestalten, und wenn wir auch an die Sage, laut welcher Erzbischof Hatto in dem Thurme bei Bingen von den Mäusen aufgefressen worden sein soll, nicht mehr glauben, so wissen wir doch, daß im Mittelalter verschiedene Dörfer der Mäuse wegen verlassen werden mußten, und unsere Landwirthe müssen noch in der Gegenwart von Zeit zu Zeit in in verzweifelten Kämpfen ihre Ernte vor den Scharen dieser winzigen Räuber vertheidigen.

Berüchtigt durch den Reichthum an Mäusen war beispielsweise das Jahr 1856. Im Herbste desselben mußten nach Berichten des Naturforschers Lenz in einem Umkreis von vier Stunden zwischen Erfurt und Gotha 12000 Acker Land umgepflügt werden; zu derselben Zeit wütheten die Mäuse in Dessau, ein Gutsbesitzer aus der dortigen Gegend berechnete, daß ihm die Mäuse theils auf Wiesen und Feldern, theils noch in den Scheunen einen Schaden von 45000 Mark zugefügt hatten. Auch die Jahre 1872 und 1873 stehen bei den deutschen Landwirthen als Mäusejahre in schlimmem Andenken. Namentlich die Marsch- und Moorlande, Rheinhessen, die Ebenen Leipzigs, die Wetterau und Oberschlesien hatten unter der Plage zu leiden: Keim, Wurzel, Halm, Rinde, Blatt und Frucht verfielen den unermüdlichen Nagezähnen. 1859 hatten sich die Waldmäuse in Böhmen derartig vermehrt, daß sie in Gärten einen großen Theil des Obstes von den Bäumen fraßen. Bei ihrem Jagen, Beißen und Quieken untereinander glaubten die Leute oft, Vögel zwitschern zu hören. Im Jahre 1876 suchten die Mäuse die Rheinpfalz heim. Man hatte sie zu Tausenden und Hunderttausenden auf den Feldern erschlagen, aber es blieben ihrer noch so viele übrig, daß sie im Herbste die Weinberge überfielen, wo man nun ganze Haufen von abgebissenen Weintrauben und Beeren vorfand.

Das sind einige Beispiele, die geeignet erscheinen, der Mäusesippschaft beinahe eine Bedeutung in der sozialen Frage beizumessen, sie sind in der That höchst unerwünschte Gäste an unserem Tische, sie fressen uns centnerweise das Korn weg, dessen wir zu unserer Nahrung bedürfen.

Die Feldmaus, um welche es sich hier hauptsächlich handelt, nährt sich im wesentlichen von Pflanzenstoffen. Sie frißt alles, reifes und reifendes Korn, zarte Wurzeln, Gras- und Kräuterkeime, benagt selbst die Bäume des Waldes, zeigt aber einen guten Geschmack und eine gewisse Vorliebe für die Kulturpflanzen des Menschen, die sie dem Unkraut vorzieht, und ist dabei noch „ein sehr ungezogener Fresser“, denn sie verdirbt mehr, als sie frißt und in ihre Wohnung verschleppt.

Unter diesen Umständen waren die Landwirthe von jeher auf ihre Vertilgung bedacht. Vor mir liegt ein Buch, „Anleitung zur Verhinderung der Mäuseplage“ von K. Ableitner. Was darin enthalten ist, das ist beinahe eine kleine Kriegswissenschaft, in welcher nur ein Ziel erstrebt wird: der Mäusetod, und in welcher jedes Mittel vom Raubthier bis zum Gifte gutgeheißen wird.

Da wird zunächst das Totschlagen der Mäuse empfohlen; hinter dem pflugführenden Ackerknecht sollen Burschen mit Besen gehen und die zum Vorschein kommenden Nager totschlagen; ja als „mechanisches Mittel“ zur Vertilgung der Plage wird sogar Artillerie und Kavallerie empfoblen; wenn Kavallerieabtheilungen oder Artillerie mit vielen Mäusen besetzte Brach- und Stoppelfelder, sowie noch nicht bewachsene oder geleerte Wiesen zu Uebungen benutzen, so werden durch die Pferdehufe und Geschützräder theils die Mäuse getötet, theils ihre Gänge und Wohnungen ungangbar und unbewohnbar gemacht, und was fliehen kann, das flieht, so daß auf solchen Flächen nach mehrfach gemachten Beobachtungen längere Zeit keine Maus zu sehen ist.

Die Zahl der Maschinen, die zur Mäusevertilgung ersonnen wurden, ist sehr groß. Außer Fallen verschiedenster Art wurden raucherzeugende Apparate empfohlen; durch einen Blasebalg wurde der Rauch in die Mauslöcher getrieben, so daß die Thierchen in ihren Gängen jämmerlich ersticken mußten. Durch andere Vorrichtungen wurde gespannter Dampf in die Baue der Thierchen eingeführt, wodurch sie verbrüht wurden.

Zu den sichersten Mitteln in schlimmen Mäusejahren zählen die verschiedenen pflanzlichen und mineralischen Gifte. Leider aber haftet den wirksamsten unter ihnen der Fehler an, daß durch sie nicht nur die Mäuse, sondern auch andere nützliche Thiere vergiftet werden können. Und selbst die bewährtesten Mittel bringen in wirklichen Mäusejahren keine gründliche Abhilfe. Wenn die Zahl der Nager zu Millionen und Milliarden angewachsen ist, dann helfen auch die Bundesgenossen des Menschen aus dem Thierreich wenig. Die Säugethiere und Vögel, welche auf Mäusefang ausgehen, leben alsdann herrlich und in Freuden, aber ihr Magen wird nicht größer entsprechend der Mäusezahl, die Füchse, Igel, Iltisse, Bussarde, Eulen etc. reißen nur schwache Lücken in die Mäuselegionen.

Was das Gedeihen der kleinen Nager fördert und einschränkt, das sind elementare Witterungsverhältnisse. Strenge Winter, kalte Regen setzen von Zeit zu Zeit der unheimlichen Vermehrung der Mäuse eine unerbittliche Schranke entgegen. Alsdann erfrieren, ersaufen und verhungern die Mäuse in ungezählten Massen, denn sie sind empfindlich und können kaum zehn Stunden Hunger leiden. Zu den Elementarereignissen zählen auch die Seuchen, die mitunter die Mäusevölker befallen und in überraschend kurzer Zeit aufreiben.

Seit dem Aufschwung der Bakteriologie wurde nun wiederholt der Gedanke lebhaft erörtert, durch künstliche Verbreitung solcher Seuchen gegen die Massen der Thiere anzukämpfen.

Wenn aber auf diesem Gebiet etwas Brauchbares erreicht werden sollte, so mußte man zuerst die Hygieine der Mäuse, sowie deren Krankheiten studieren und einen Bacillus zu finden suchen, der die Mäuse vernichten, anderen Thieren aber unschädlich sein würde. Die Lösung dieser Frage ist nun dem berühmten Entdecker des Diphtheriebacillus, Prof. Löffler in Greifswald, gelungen. Unter den weißen Mäusen, die er zu Versuchszwecken in seinem Laboratorium hielt, brach eine mörderische Epidemie aus. Löffler fand bald den Krankheitserreger, den er Bacillus typhi murium (Bacillus des Mäusetyphus) nannte. Impfte man die weißen Mäuse mit Reinkulturen, so starben sie nach etwa fünf Tagen, fütterte man sie mit Brot, das mit einer Bacillenbouillon durchtränkt war, so pflegte der Tod nach acht bis vierzehn Tagen einzutreten. Die lebenden Mäuse fraßen außerdem die toten an und verbreiteten dadurch die Epidemie. Professor Löffler dehnte nun die Versuche auf die Feldmäuse aus und fand, daß dieselben gegen den Mäusetyphusbacillus ebenso empfänglich sind wie ihre weißen Verwandten. Dagegen zeigte es sich, daß der neuentdeckte Krankheitserreger anderen Thieren, namentlich unseren Hausthieren, gar nicht oder nur in geringem Maße schädlich sei. Bei Fütterungsversuchen blieben die Thiere gesund, nur gegen Impfungen erwiesen sich manche von ihnen empfänglich. Darauf gründete nun Professor Löffler seinen Vertilgungsplan. Man sollte Brot, welches mit den betreffenden Bacillen infiziert wurde, auf die Felder streuen und so den Mäusetyphus künstlich erzeugen.

Als die griechische Regierung sich an Löffler wandte, damit er in Thessalien seine Methode praktisch verwerthe, wurde ihm versichert, daß die Maus, welche in Griechenland verwüstend auftrat, derselben Art sei wie unsere Feldmaus, als aber Professor Löffler in Griechenland ankam, sah er zu seiner Ueberraschung, daß es sich um eine andere Mausart handelte, die größere Augen, eine größere Gestalt und andere Färbung als die unsrige hatte. War auch diese Maus gegen den betreffenden Bacillus empfänglich? – Matt stellte mit eingefangenen Mäusen Versuche an und das Ergebniß war günstig, geimpft starben die Thiere in drei bis vier Tagen, fütterte man sie mit infiziertem Brote, so erlagen sie der Krankheit in sieben bis acht Tagen.

Nun rückte Professor Löffler, von einem Professorenstab umgeben, an der Spitze von sechzig Soldaten nach Thessalien ab; dort durchtränkte man ganze Körbe Brot mit Bacillenkulturen und streute eines Nachmittags das Ansteckungsgift über mehrere Quadratmeilen Land aus. Die Furcht der Bevölkerung in Betreff der Schädlichkeit des neuen Giftes wurde dadurch widerlegt, daß einige Professoren das Bacillenbrot selbst verzehrten.

Man wartete nunmehr auf den Erfolg, und er stellte sich pünktlich ein. Nach acht bis neun Tagen ließ der Mäusefraß auf den Getreidefeldern fast gänzlich nach, die toten Mäuse lagen haufenweise umher und Scharen von Raubvögeln und Störchen verspeisten die freiliegenden Leichname.

So verließ Professor Löffler als Sieger in der ersten Schlacht den Boden Thessaliens. Der Vertilgungskrieg wird nach seinen Angaben fortgesetzt. Von etwaigen üblen Folgen dieser Massenvergiftung für die Hausthiere hat bis jetzt nichts verlautet, und so ist die Hoffnung wohl begründet, daß die Landwirthschaft von der neuesten Errungenschaft der Bakteriologie den größten Nutzen ziehen werde.


[400]

An der Stätte meiner Kindheit.

Fern verrauschte Kinderjahre,
Gebt zurück mir eine Stunde,
Eine einz’ge wunderbare
Aus der Welt der Märchenkunde!

5
Laßt mir duften eure Blüthe,

Eure Spiele mich entzücken
Und die Gaben frommer Güte
Mich vom Weihnachtsbaume pflücken!

Sel’gen Rausches leise Wogen

10
Lasset an das Herz mir schlagen,

Eures Himmels Regenbogen
Auf mein Haupt herniederragen!

Nur den Saum von deinem Kleide,
Kindheit, möcht’ zum Kuß ich fassen,

15
Eh’ ich von der Stätte scheide,

Wo ich dich zurückgelassen.
 Karl Müller.


Der geschichtliche Don Carlos.

Von Eduard Schulte.

Die Gestalt des Don Carlos haftet in den Vorstellungen und im Gedächtniß der gebildeten Deutschen so, wie Schiller sie gezeichnet hat, und keine geschichtliche Kenntniß wird dies Bild, wie wir es nun einmal mit dem Dichter festhalten, je verdrängen oder ersetzen. Die geschichtliche Kritik, so mächtig sie in ihrem eigentlichen Wirkungskreis sein mag, ist ohnmächtig gegen eine große und volksthümliche Dichtung und würde, auch wenn sie mächtiger wäre, deren gutes Recht nicht stören wollen und sollen. Nur die Grundzüge im Leben sehr bekannter Persönlichkeiten darf der Dichter, der ein historisches Drama schaffen will, nicht ändern; in untergeordneten Dingen und gegenüber unbedeutenden und unbekannten Personen hat er freie Hand. Der unglückliche Sohn König Philipps ragte nur durch seinen Rang hervor, seine Geschichte war, als Schiller seinen „Don Carlos“ schrieb, sehr wenig bekannt und durch Fabeln entstellt, und so konnte der Dichter sie für seine Zwecke verwenden und zurechtlegen. Zu erfahren, wie diese Geschichte sich in Wirklichkeit abgespielt hat, wird dem Leser, welcher von Schillers Drama herkommt, Enttäuschungen bereiten; aber ohne Interesse ist es nicht.

Die Hauptquelle, welche Schiller benutzt hat, war eine zuerst im Jahre 1672 erschienene geschichtliche Novelle, die den französischen Abbé Saint Réal zum Verfasser hatte. Der meisterhafte Stil der Schrift und die politische Lage nach ihrem Erscheinen gewann ihr viele Leser. Ranke sagt im Hinblick auf sie: „Die spanische Macht war nicht mehr furchtbar; doch der allgemeine Haß, den sie einst in ganz Europa wider sich erweckt hatte, war noch sehr lebendig. Er konnte um so mehr litterarisch werden, weil er sich bloß in Erinnerungen bewegte. Dies Rachegefühl wußte Réal aufs geschickteste anzuregen.“

Erfindungen wie die, daß Philipp in Elisabeth die Braut seines Sohnes geheirathet und dann wegen ihrer Neigung zu dem Prinzen habe töten lassen, wurden durch Réal entweder aufgebracht oder doch verbreitet.

Den Forschungen unseres Jahrhunderts ist es vorbehalten geblieben, die echten und entscheidenden Belege für die Geschichte des Don Carlos, wie sie namentlich in den sorgfältigen Berichten der venetianischen und anderer Gesandten vorliegen, aus einer Reihe von Archiven ans Licht zu ziehen und kritisch zu sichten. Sie ist heute in fast allen Punkten mit ausreichender Sicherheit und Genauigkeit bekannt.

König Philipp II. von Spanien regierte von 1556 bis 1598. Er stammte aus der Ehe Kaiser Karls V., der in Spanien König Carlos I. hieß, mit Isabella von Portugal und war im Jahre 1527 in dem alten Schlosse der kastilischen Könige zu Valladolid geboren. Er war viermal verheirathet, nämlich mit Maria von Portugal und dann mit Maria Tudor, die beide seine Basen waren, dann mit Elisabeth von Valois und endlich mit seiner Nichte Anna von Oesterreich. Alle vier Frauen sind jung gestorben. Nur von der zweiten Frau hatte er keine Nachkommen; aber die meisten seiner Kinder starben früh. Der einzige männliche Sprößling, der ihn überlebte, war der Sohn der Anna von Oesterreich, der als König Philipp III. sein Nachfolger wurde.

Don Carlos, das einzige Kind der ersten Ehe Philipps, wurde am 8. Juli 1545 geboren. Seine Mutter, Maria von Portugal, starb vier Tage nach seiner Geburt. Während der Knabenjahre Karls, zwischen seinem vierten und vierzehnten Lebensjahr, konnte der Vater, der sich jahrelang in den Niederlanden und in England aufhielt, sich wenig um ihn bekümmern, und unter den Händen Fremder wuchs er auf. Er lernte spät sprechen und seine Sprache blieb stammelnd. Den Unterricht ertheilte und leitete ein Edelmann aus Valencia, ein vertrauenswürdiger Mann mit tüchtigen Kenntnissen, der in den Niederlanden studiert und Deutschland und Italien bereist hatte, und [401] sein leibliches Gedeihen überwachte von seinem neunten Jahre an seine Tante Juana oder Johanna, die Schwester Philipps, die nach dem Tode ihres Gemahls, des Kronprinzen von Portugal, an den heimischen Hof zurückgekehrt war. Der Knabe zeigte sich oft ungeberdig, heftig und anspruchsvoll, und man erzählte sich Züge von seiner Grausamkeit gegen Thiere. Aber er verrieth auch Ehrgeiz und Muth und träumte von künftigen kriegerische Großthaten. Sein Großvater, Kaiser Karl V., sah ihn auch nach seiner Abdankung einige Male bei sich. In seiner Ruhebedürftigkeit mochte der müde Herrscher den lebhaften Knaben nicht dauernd um sich haben, aber er fand Gefallen an ihm, und der Prinz hörte gern dem Kaiser zu, wenn er von seinen Erlebnissen erzählte. Eine Weltstellung, wie der Kaiser sie gehabt hatte, schien dem Knaben ein würdiges Ziel seiner Wünsche. Er war freigebig, und mehreren seiner Lehrer bewahrte er sein ganzes Leben hindnrch Dankbarkeit und Vertrauen. Freilich lernte er nur wenig. Wie sein Vater sprach er nur spanisch. Zu planmäßiger und selbstverleugnender Arbeit hatte er keine Ausdauer, und sein schwächlicher Körper wurde häufig von Fieberanfällen heimgesucht. Die Wirkungen der ungesunden Lage von Madrid wurden noch durch eine kaum glaubliche Unreinlichkeit in den Straßen verschlimmert. Als König Philipp im Jahre 1559 aus den Niederlanden nach Spanien zurückkehrte, da fand er einen kränklichen und nach seinem ganzen Bezeigen nicht eben vielversprechenden Sohn vor. Auch das Aeußere des Prinzen hatte wenig Gewinnendes, sein Kopf war verhältnißmäßig groß, er hatte eine hohe Schulter, und das eine Bein war etwas zu kurz.

Verkauf von Fleischabfällen in einem Berliner Fleischerladen.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.

Philipp ließ es seine erste Sorge sein, seinem Sohne die Thronfolge zunächst in den Reichen der Halbinsel, welche zur spanischen Monarchie vereinigt waren, durch die Cortes oder Stände bestätigen zu lassen. Zwar beruhte das Recht zur Thronfolge jetzt auf dem Erbrecht, aber die Erinnerung an die Zeiten, wo der König sein volles Herrscherrecht erst durch einen bei der Thronbesteigung zu schließenden Vertrag mit den Ständen erlangt hatte, war noch lebendig. Der ständisch-aristokratische Einfluß war durch die monarchische Gewalt zurückgedrängt, doch noch keineswegs machtlos. Die Könige glaubten, die Zukunft ihres Erben besser zu sichern, wenn sie bei ihren Lebzeiten auch schon für ihn den Eid der Treue und Unterthänigkeit von den Ständen schwören ließen und damit deren alte Gerechtsame wenigstens in den äußeren Formen anerkannten.

So versammelten sich denn im Febrnar 1560 die Stände von Kastilien in Toledo. Don Carlos nahm, in reicher Kleidung zur Linken seines Vaters sitzend, zuerst den Eid der Donna Juana entgegen, der bisherigen Regentin. Dann schwuren die Prälaten mit dem Erzbischof-Primas des Landes an der Spitze, die Granden und die Vertreter der Städte, ihm als dem rechtmäßigen Erben des Reiches zu gehorchen und zu dienen, ihn mit Gut und Blut, mit ihren Verwandten und Untergebenen zu vertheidigen.

Durch diesen feierlichen Akt war der Infant als die erste Person nach dem König anerkannt, ja er galt sogar als das Oberhaupt der Stände und als der Vermittler zwischen ihnen und dem König; Dekrete, welche dieser an die Stände gelangen lassen wollte, wurden fortan in der Regel an den Infanten gerichtet. Für den Verlauf, welchen die Geschicke des Prinzen Karl genommen haben, ist diese Eidesleistung bedeutungsvoll: sah der König in ihr eine für die Dynastie nützliche und zweckmäßige Förmlichkeit, so betrachtete sie der ehrgeizige Prinz trotz seines jugendlichen Alters als einen Akt, der ihm persönlich Rechte und Pflichten gab und ihn mit selbständiger Machtvollkommenheit bekleidete. [402] Darum erbitterte es ihn, daß der Konig seine Vorstellungen und Ansprüche völlig mißachtete und fortfuhr, ihn wie ein Kind zu behandeln. Philipp war im Rechte; aber daß er in seinem pedantischen Sinne den Jugendmuth des Prinzen auch unnöthig einengte und unterdrückte, ist ebenso zweifellos wie die Schädlichkeit einer solchen Eidesleistung und Huldigung für die Entwicklung eines nicht bloß unreifen, sondern auch überspannten Knaben.

Die zweite Sorge Philipps war, für die Gesundheit des Prinzen etwas zu thun. Er entschloß sich endlich, ihn aus Madrid zu entfernen, was schon längst hätte geschehen sollen. Im Jahre 1561 wurde Don Carlos auf die hohe Schule nach Alcala geschickt, und das erste Jahr, das er dort zubrachte, ist das glücklichste seines Lebens gewesen. Karls V. natürlicher Sohn, der unter dem Namen Don Juan d’Austria und als Sieger von Lepanto bekannt geworden ist, und ein Enkel Karls, Alexander von Parma, zwei begabte und unternehmungslustige junge Männer, waren seine Gefährten. Seine Gesundheit wurde besser, das Fieber verlor sich.

Leider fand der Genuß akademischer Freiheit ein frühzeitiges Ende. Der Prinz hatte ein zärtliches Verhältniß mit der Tochter seines Haushofmeisters, und als er eines Tages – es war im April 1562 – aus dem oberen Geschoß, wo er wohnte, eine Treppe hinabeilen wollte, um das Mädchen zu sprechen, kam er zu Fall und zog sich eine erhebliche Verletzung am Kopfe zu. Sofort kehrte auch das Fieber wieder. Die spanischen Aerzte, deren Verfahren den Hohn der fremden Gesandten herausforderte, wandten wie gegen alle Krankheiten treibende Mittel und starke Aderlässe an. Der Konig eilte selbst mit Vesalius, dem berühmten niederländischen Arzte, an das Krankenbett. Vesalius entfernte auch glücklich ein Stück des verletzten Schädels, aber die Heilmethode der übrigen Aerzte bekämpfte er vergeblich. Nach einigen Wochen konnte sich der Kranke wieder erheben, allein sein Befinden hinderte ihn noch nach Monaten, die beabsichtigte Huldigung der Cortes von Aragonien zu empfangen, und völlig gesund wurde er nie wieder.

Das absonderliche Benehmen, welches der Prinz schon früher gezeigt hatte, trat nach dieser Kopfverletzung noch auffälliger hervor. Durch geringfügige Anlässe ließ er sich zu Wuthausbrüchen und Gewaltthätigkeiten hinreißen, und dann folgten wieder Stunden, wo seine Willenskraft erlahmt und sein Lebensmuth gebrochen schien. Im Gespräch mit ihm konnte man zuweilen bemerken, daß seine Gedanken etwas Abspringendes hatten und daß er sich in der Aeußerung derselben überhastete. Den Gewohnheiten der Südländer zuwider war er häufig unmäßig im Essen, und wenn seine Fieberanfälle kamen, so trank er soviel Eiswasser, daß er davon noch kränker wurde.

Nicht ganz normale seelische und geistige Veranlagung war in Karls Familie zuweilen beobachtet worden, und wenn es auch erwiesen ist, daß die Mutter Karls V., die „Johanna die Wahnsinnige“ genannt wird, nicht eingesperrt wurde, weil sie wahnsinnig war, sondern daß sie umgekehrt wahnsinnig wurde, weil man sie aus politischen Gründen eingesperrt hielt, so ist hier doch ein Keim zum Wahnsinn vorhanden gewesen. Man würde zu weit gehen, wenn man den Prinzen für unzurechnungsfähig halten wollte. Aber allerdings entbehrten seine Geistes- und Willenskräfte des rechten Gleichgewichts, sein Seelenleben der Harmonie und der ungetrübten Gesundheit. Zu nicht günstigen Naturanlagen kam eine Erziehung, welche dem Prinzen zeitweilig unbegreiflich viel Freiheit ließ, ihm aber noch weit häufiger übermäßigen Zwang auferlegte. Manche Eindrücke und Einflüsse der Staatsaktionen und des Hoflebens waren für ihn nicht heilsam. Die Etikette dieses Königshofes paßte für finstere, mönchische, dem Volke nach orientalischer Weise entrückte Könige, wie die Spanier sie gern hatten und wie Philipp einer war; aber sie paßte nicht für einen jungen, unruhigen und tatendurstigen Kronprinzen wie Don Carlos.

Am schädlichsten aber war für den seit seiner Kopfverletzung doppelt reizbaren Prinzen der Gegensatz, in den er sich zu seinem Vater und in den sein Vater sich zu ihm stellte. Philip war bedächtig, auf seine Macht eifersüchtig, unbeugsam, engherzig; Karl war leidenschaftlich, herrschsüchtig, unzufrieden. Philipp war sparsam; Karl neigte zur Verschwendung. Philipp war in der Ausübung kirchlicher Pflichten pünktlich und peinlich; Karl hatte, obwohl er ganz auf dem Boden seiner Kirche stand, wenig kirchlichen Sinn. In dem natürlichen Widerstreit in politischen Fragen, in den ein Thronfolger zu dem Herrscher zu treten pflegt, zeigte der Prinz gegenüber dem Despotismns seines Vaters zwar nicht etwa weltbürgerlichen Sinn, aber er hielt es mit der aristokratisch-ständischen Seite; in allen wichtigen und unwichtigen Dingen standen Vater und Sohn gegeneinander. Der Prinz fühlte sich nur dann leiblich wohler und geistig freier, wenn er von seinem Vater getrennt lebte wie in Alcala. Aber Philipps kleinliche und mißtrauische Sinnesweise gefiel sich darin, jede Selbständigkeitsregung auch in diesem Falle zu unterdrücken. Wäre dem Prinzen, als er die Kinderjahre hinter sich hatte, gestattet worden, allein und womöglich an einem anderen Orte als der König Hof zu halten, unter der milden und verständigen Leitung und dem Beirath von Männern, die dem Herrscher ergeben, aner auch dem Prinzen nicht verhaßt waren – und solche gab es – so würde sich vielleicht ein erträgliches Verhältniß zwischen Vater und Sohn hergestellt haben, und der Prinz wäre einer anderen Zukunft entgegengegangen. Philipp jedoch verfügte, daß sein Minister und Oberhofmeister Ruy Gomez, Fürst von Eboli, auch des Prinzen Hofhalt leite, und dadurch war ein beständiges, zu vielen Aergernissen führendes Zusammenwohnen des Königs und des Kronprinzen bedingt. Philipps Einmischung in das alltägliche Leben seines Sohnes steigerte dessen Erbitterung, und die Aeußerung dieser Empfindung bestimmte dann wieder den Konig, die Zügel noch straffer anzuziehen und z. B. den Prinzen in seinen Ausgaben in der unfürstlichsten und drückendsten Weise zu beschränken.

Als der Prinz zwanzig Jahr alt wurde, ermächtigte ihn der König, an den Sitzungen des Staatsraths theilzunehmen. Nachdem Don Carlos einigen Berathungen beigewohnt hatte, blieb er den Sitzungen fern, entweder weil er einsah, daß der Einfluß des Staatsraths überhaupt gering war, oder weil das Zuhören ihm nicht behagte. Eine mehr geordnete, lehrreichere und zu eigener Arbeit mehr anregende Beschäftigung wäre ersprießlicher gewesen. Aber Philipp wies ihm eine solche nicht zu. Der Mangel an geeigneter Thätigkeit steigerte des Prinzen Unzufriedenheit und Unruhe.

Eine günstige Wendung schien das Schicksal des Prinzen nehmen zu wollen, als man seine Vermählung ernstlich ins Auge faßte. Er war noch ein Kind, als die Frage, welche Prinzessin dieser Erbe des mächtigsten Reiches jener Zeit einst heimführen werde, bereits alle europäischen Höfe beschäftigte. Noch ehe er zwölf Jahre zählte, ist einmal zwischen spanischen und französischen Diplomaten die Möglichkeit erwogen worden, ihn mit Elisabeth von Valois zu vermählen, aber diese Möglichkeit war nur eine unter mehreren anderen, die man ebenfalls in Betracht zog, und es kam zu keinem festen Abkommen. Philipp selbst heirathete diese Elisabeth, als Don Carlos noch nicht fünfzehn Jahr alt war, und dieser hat von jenem früheren Plane kaum erfahren. Als er heranwuchs, ist daran gedacht worden, ihn mit Maria Stuart zu verheirathen, die im Jahre 1560 ihren ersten Gemahl, den Konig Franz II. von Frankreich, verloren hatte und seitdem in ihr ererbtes Königreich Schottland zurückgekehrt war. Aber auch dieser Vorschlag wurde aufgegeben, weil man die Gegnerschaft Englands, Frankreichs und selbst des deutschen Kaisers fürchtete, die den künftigen Konig von Spanien nicht gern auch in Schottland hätten herrschen sehen.

Obwohl der körperliche Zustand des Prinzen manche Bedenken wachrief, einigte man sich endlich mit dem österreichischen Kaiserhof dahin, daß Don Carlos seine Base, die Erzherzogin Anna von Oesterreich, Tochter Kaiser Maximilians II., heirathen sollte. Es wurde bekannt gegeben, daß Philipp im Frühjahr 1567 in Begleitung des Prinzen nach den Niederlanden gehen werde, um die zwischen den Niederlanden und seiner Regierung ausgebrochenen Streitigkeiten selbst zu schlichten, und schon zu Ende des Jahres 1566 wurden Reisevorbereitungen getroffen. Bei der Durchreise durch Deutschland sollte eine Zusammenkunft mit dem Kaiser stattfinden und die Vermählung des Prinzen mit der Erzherzogin gefeiert werden. Don Carlos versprach sich von dieser Reise viel, denn die Braut war ihm als liebenswerth geschildert, und er hoffte, daß der König ihm als einem verheiratheten Prinzen größere Freiheit gewähren, ja daß er ihm die Statthalterschaft in den Niederlanden übertragen werde. Sein Vorsatz war, die [403] ständischen Rechte der Niederländer mehr zu achten und in kirchlichen Fragen weniger streng zu sein als sein Vater. Aber König Philipp verschob die Reise von Monat zu Monat, und endlich zeigte es sich, daß er sie nur vorgeschützt hatte, damit man in den Niederlanden an seine Versöhnlichkeit glaube, bis Herzog Alba, dessen Entsendung den Prinzen, seinen Gegner, tief verstimmt hatte, in den Niederlanden angekommen war. Nun begann das Schreckensregiment Albas. zugleich wurde die Vermählung des Prinzen in eine ungewisse Zukunft hinausgerückt. Don Carlos hatte sich an der Seite einer Kaisertochter eine glänzende und machtvolle Stellung erträumen dürfen; die völlige Enttäuschung, die er nun erlitt, erfüllte ihn mit tödlichem Hasse gegen seinen Vater.

Der Folgezeit vorgreifend, wollen wir an dieser Stelle erwähnen, daß König Philipp die Erzherzogin Anna, die Braut seines Sohnes, von der hier die Rede ist, später selbst geheirathet hat, aber erst zwei Jahre näch dem Tode des Prinzen. Die Erzählung, daß zwischen Karl und seiner Stiefmutter vor der Heirath der letzteren ein Verlöbniß und nachher noch eine Neigung bestanden habe, ist eine Erfindung, welche überdies nur durch ein Zusammenwerfen der Schicksale Elisabeths und Annas zustande kommen konnte. Elisabeth, die Stiefmutter des Prinzen, war niemals seine Braut gewesen, und er war schon längst tot, als seine frühere Braut Anna die Gemahlin seines Vaters wurde.

Die Vorbereitungen, welche der Prinz zur Reise getroffen hatte, konnte er, ohne Aufsehen und Verdacht zu erregen, noch fortsetzen, da die Reise nach Deutschland angeblich nicht aufgegeben, sondern nur bis zum Frühjahr 1568 aufgeschoben war. Thatsächlich traf er Maßregeln, um sich heimlich aus Spanien zu entfernen. Um geringere Geldsummen, die er sich für jene Reise borgte, wußte sein Vater; viel größere verschaffte er sich heimlich. Sein Kämmerer wies mehreren reichen Leuten Briefe von ihm vor, worin er sie unter Hinweis auf ihre Vasallenpflicht aufforderte, ihm Geld vorzuschießen. Wirklich kam auf diese Weise bis zum Jannar 1568 eine Summe von 150000 Dukaten zusammen; weitere Beträge sollten folgen, wenn Don Carlos das Land erst verlassen habe. Eine Anzahl von Granden erinnerte er brieflich an den Eid, den sie ihm geschworen; sie möchten sich für eine wichtige Unternehmung bereit halten. Sie antworteten, sie ständen ihm jederzeit zu Diensten, vorausgesetzt, daß sein Unternehmen nicht widergöttlich sei noch auch gegen den König gehe.

Wohin er sich wenden wollte, stand noch nicht fest, die Umstände sollten entscheiden; in jedem Falle wollte er sich die unabhängige und gebietende Stellung, welche der Vater ihm daheim versagte, aus eigener Machtvollkommenheit außerhalb Spaniens erwerben.

Man würde irren, wenn man einen solchen Plan für die Ausgeburt eines kranken Hirnes halten wollte. Mochte Don Carlos immerhin ein mit allerlei Sonderbarkeiten behafteter Schwächling sein – den Gegensatz, der die Welt bewegte, den Gegensatz zwischen monarchischer und hierarchischer Gewalt auf der einen und ständischer Selbständigkeit in politischen und kirchlichen Dingen auf der anderen Seite, hatte er hinreichend begriffen; er sah, daß diese beiden Richtungen im Kampfe lagen, und er hatte das richtige Vorgefühl, daß er an dem zweiten dieser Gegensätze einen mächtigen Rückhalt haben würde, wenn er für den Kampf mit dem Vater nur eine erste feste Stellung gefunden, d. h. im Ausland die unzufriedenen Elemente um sich gesammelt hätte.

Die Briefe, welche später in den Zimmern des Don Carlos gefunden wurden und an die Fürsten der Nachbarländer, an die vornehmsten Granden und an die ersten Stadtgemeinden in Spanien gerichtet waren, bewiesen, daß der Prinz die schwachen Seiten der spanischen Monarchie wohl kannte. Philipps Herrschaft war noch keine Despotie, aber Philipp war bemüht, sie in eine Despotie umzuwandeln, und während die Arbeit dieser Umwandlung in Spanien und Italien ganz erst seinen Nachfolgern gelang, scheiterte er damit schon in den Niederlanden. Große Unzufriedenheit mit seinem selbstherrlichen Regiment herrschte selbst in Kastilien, geschweige in Neapel und Mailand, und schwer bedrückte geheime Bekenner des Islams, des Judenthums und des Protestantismus lebten in Spanien überall zerstreut. Der arme Don Carlos war gewiß nicht der Mann, um einen Aufstand als Staatsmann oder als Feldherr zu leiten, aber unter der Mitwirkung überlegener Männer konnte seine Person und sein Name sehr wohl der Mittelpunkt für eine Erhebung werden. Wenn zunächst außerhalb Spaniens entweder Don Carlos selbst oder kluge Rathgeber, die in seiner Umgebung und in seinem Namen handelten, für die Erhaltung ständischer und sonstiger überkommener Rechte das Banner des Thronfolgers entrollten, dann erhob sich nach menschlichem Ermessen ein Aufstand, der die Monarchie Philipps schwer erschüttern, wenn nicht ganz umstürzen konnte.

Zur Ausführung sollten diese bedrohlichen Pläue nicht kommen. Einige der Granden, deren Beistand Don Carlos angerufen hatte, und auch Don Juan d’Austria, dem er sein besonderes Vertrauen schenkte, hinterbrachten dem König, was im Werke war. Philipp erfuhr zu Anfang des Jahres durch Don Juan, daß der Prinz sich noch im Januar zu den Galeeren begeben wollte, die in Carthagena lagen und die dem Oberbefehl Don Juans unterstellt werden sollten. Ebenfalls im Januar bekannte der Prinz, voll kirchlicher Ehrlichkeit und zugleich voll glühender, jedes Gefühl der Kindesliebe übertäubender Rachsucht, dem Prior von Atocha, daß er dem König nach dem Leben stehe, und der Prior machte dem König Anzeige. Die Geduld des längst mißtrauischen, aber bedächtig zuwartenden Königs war nun erschöpft.

In diesem Augenblick war die Frage müßig geworden, ob die wechselseitige und bis zu dieser Höhe gediehene Feindseligkeit mehr dem König oder dem Prinzen zur Last fiel. Wie jetzt die Dinge standen, vollzog Philipp einen Akt der Nothwehr, wenn er seinen Sohn gefangen setzte.

Am Abend des 18. Januar betrat der König, den Helm auf dem Haupte und den Degen in der Hand, von Ministern, Granden und Gardisten und von einem Diener begleitet, der eine Fackel trug, das Schlafzimmer des Prinzen. Die kunstvolle Vorrichtung zum Thürverschluß, welche dieser in dem Wahne hatte anbringen lassen, daß sie ihn vor einer Verhaftung schützen könne, hatte man vorher heimlich entfernt. Die Begleiter des Königs bemächtigten sich der Papiere des Prinzen; die Gardisten beseitigten die Waffen, welche ihm zur Hand lagen, und nagelten die Fensterflügel zu. Von dem Geräusch erwachte der Prinz und zog die Gardinen zurück, welche sein Bett umgaben. Beim Anblick seines Vaters und der Begleiter, der Waffen und Vorkehrungen versuchte er, sich in das Feuer zu stürzen, das im Kamin brannte; man hielt ihn zurück. „Nicht ein Verrückter,“ rief er aus, „aber ein Verzweifelter, das bin ich.“ Der König sagte, was geschehe, geschehe zu seinem eigenen Besten; er bleibe bis auf weiteres in Haft. Damit entfernte sich Philipp mit seinen Begleitern, nachdem er die Ueberwachung des Prinzen und der Zugänge zu seinem Zimmer durch Bewaffnete angeordnet hatte. Der Fürst Ruy Gomez mußte in die Wohnung des Prinzen ziehen und war für ihn verantwortlich. Ferner wurden sechs Granden angewiesen, den Gefangenen abwechselnd zu besuchen und zu unterhalten, doch durften sie keinerlei Waffen bei sich führen. Weder der Königin Elisabeth, noch der Donna Juana, noch den fremden Gesandten wurde gestattet, den Prinzen zu sprechen.

Die Verhaftung des Thronfolgers war eine so ungewöhnliche Maßregel, daß Philipp sich beeilte, den Verwandten seines Hauses, den angesehensten Adeligen und Stadtgemeinden und den fremden Gesandten Eröffnungen darüber zu machen. Er that das freilich nur in sehr zurückhaltender Form, indem er angab, die Verhaftung sei durch gerechte Gründe veranlaßt, welche den Dienst Gottes und das öffentliche Wohl des Reiches beträfen. Den Stadthäuptern verbot er, weitere Erkundigungen einzuziehen. Später wurde er offener gegen die nächsten Verwandten und die Botschafter, die Näheres zu wissen wünschten. Er erklärte ihnen gegenüber dasselbe, was er nach Ausweis eines erst in unseren Tagen wieder aufgefundenen Briefes an den Papst schrieb, nämlich, daß im Erkenntnißvermögen und im Charakter des Prinzen Fehler lägen, welche ihm die Fähigkeit nähmen, einen Staat zu regieren.

Daß Karl dem Vater nach dem Leben getrachtet habe, wurde bestritten; man konnte über die erwähnte Eröffnung des Priors, welche im Publikum Entsetzeu hätte erregen müssen, mit einigem [404] Rechte hinweggehen, da der tödliche Haß des Prinzen gegen den Vater doch keine greifbare Gestalt angenommen hatte und bis zu einem eigentlichen Attentat nicht gediehen war. Vorläufig wurde eine aus dem Kardinal Spinosa, dem Fürsten Ruy Gomez und einem Licentiaten bestehende Kommission gebildet, um die Sache des Prinzen zu untersuchen und abzuurtheilen. Die Inquisition ist, wie jetzt feststeht, an seinem Prozesse in keiner Weise betheiligt gewesen.

Die Wendung, welche die Schicksale des Prinzen nahmen, überhob die Kommission eines Spruches. Harte Behandlung, Mangel an Luft und Bewegung und ein starkes, periodisch wiederkehrendes Fieber raubten ihm den Rest von Lebensmuth und Lebenshoffnung. Er unternahm einige vergebliche Versuche, sich selbst zu töten, auch durch Hunger. Der Kamin war vergittert worden, und beim Decken des Tisches wurde kein Messer aufgelegt. Im Mai wurde er gefaßter und ruhiger. Er beichtete und ließ seinen Vater um Verzeihung bitten. Einige Abgeordnete, Mitglieder der Stände von Aragonien, Valencia und Katalonien, kamen, um ihn zu sprechen und sich für seine Freilassung zu verwenden. Der König bemerkte mit großem Mißfallen diesen neuen Beweis des Zusammengehens der Stände mit dem Prinzen und ließ sie abweisen. Unmittelbar darauf trat bei dem Kranken Erbrechen ein. Im Juli trank er, wie später den Gesandten in einem amtlichen Bericht bekannt gegeben wurde, zur Bekämpfung seines Fiebers nach früherer Gewohnheit nüchtern eine große Menge von Eiswasser, nahm Eis selbst in sein Bett, ließ Eiswasser in sein Zimmer gießen, daß es hoch darin stand, und watete darin mit nackten Füßen umher; dann verzehrte er eine stark gewürzte Pastete und trank wieder Eiswasser dazu. Sein Zustand wurde darauf, wie der Arzt ihm erklärte, hoffnungslos. Er sah dem Tode mit Ruhe entgegen und verfügte letztwillig über sein geringes Besitzthum. Den König bat er in seinem Testament, die Gläubiger zu befriedigen, die er nicht befriedigen konnte, und für seine Diener zu sorgen. Nach Erfüllung seiner letzten kirchlichen Pflichten ließ er seinen Vater bitten, ihm persönlich seinen Segen zu geben. Des Prinzen Beichtvater aber fürchtete, daß der Anblick des Mannes, den der Prinz so glühend gehaßt hatte, störende Erinnerungen bei dem Sterbenden wachrufen könnte. Philipp hatte seinen Sohn, obwohl er mit ihm im Schlosse zu Madrid unter einem Dache wohnte, seit der Verhaftung nicht wiedergesehen und kam auch jetzt nicht.

Friedlich verschied Don Carlos am 24. Juli des Jahres 1568.

Unter den Zeitgenossen, auch unter gut unterrichteten Personen, welche am spanischen Königshof Zutritt hatten – wir nennen z. B. den französischen Gesandten Baron von Fourquevaulxs – ist nach Ausweis ihrer Aufzeichnungen der Glaube verbreitet gewesen, daß der König seinen Sohn eines gewaltsamen Todes habe sterben lassen. Daß dies geglaubt wurde, ist begreiflich genug. Als Prinz Karl gefangen saß, hatte Philipp außer ihm an Kindern nur zwei kleine Mädchen, die beiden Töchter Elisabeths, nämlich die Infantinnen Clara Eugenia und Catalina, von denen jene im Angust 1566, diese im Oktober 1567 geboren war. Starb Philipp um diese Zeit, so würde er nicht haben verhindern können, daß, trotzdem er den Prinzen für regierungsunfähig hatte erklären lassen, sich viele seiner Unterthanen für die Thronfolge des Don Carlos und gegen die Thronfolge der von einer französischen Prinzessin bevormundeten ältesten Infantin ausgesprochen hätten; dann war der Bürgerkrieg unvermeidlich. Und ob bei Lebzeiten des Königs die Stände die dauernde Gefangenschaft des Kronprinzen still ertragen hätten, ist fraglich. Der gefangene Thronfolger war dem König gefährlich, der tote war es nicht. Wessen aber Philipp fähig war, wenn ihm jemand im Wege stand, das ist durch die erst im Jahre 1844 erfolgte Auffindung einer Reihe eigenhändig von ihm ausgestellter oder unterzeichneter Befehle an einem furchtbaren Beispiel von neuem festgestellt worden.

Im Jahre 1566 schickte nämlich der niederländische Adel zwei seiner angesehensten Mitglieder, den Markgrafen von Berghen und den Freiherrn von Montigny, nach Spanien, um den König zu einiger Nachgiebigkeit gegen die niederländischen Stände zu bewegen. Philipp empfing die Abgesandten gütig und hielt sie hin, ohne sie aus den Augen zu lassen. Als im September des folgenden Jahres die Nachricht von der Gefangennahme der Grafen Egmont und Hoorn, welch letzterer ein Bruder Montignys war, nach Madrid kam, beschloß der König, die beiden in seiner Hand befindlichen, einflußreichen Mitglieder des ihm verhaßten Adels zu beseitigen, in Uebereinstimmung mit den Befehlen, welche er dem Herzog Alba nach den Niederlanden mitgegeben hatte und welche zur Hinrichtung der Grafen Egmont und Hoorn führten. Der Markgraf von Berghen starb um diese Zeit, und so hatte Philipp sich nur noch mit dem Freiherrn von Montigny zu befassen. Montigny wurde unter der hinfälligen Anklage, das Verhalten eines aufständischen Adels vor den königlichen Staatssekretären vertheidigt zu haben., erst in Segovia und dann in Simancas gefangen gesetzt. Der Gouverneur mußte einen Arzt holen und bekannt werden lassen, daß der Gefangene an Fieber leide. Dann ließ man erst mehrere Wochen verfließen. Am 14. Oktober des Jahres 1570 trat ein Geistlicher zu ihm ein, bereitete ihn zum Tode vor und brachte ihm die letzten Tröstungen der Kirche. Am 16. erdrosselte ihn der Henker in aller Heimlichkeit. Der Gouverneur erklärte, der Gefangene sei am Fieber gestorben. Montignys Leiche wurde im Gewand eines Franziskaners und mit übergezogener Kapuze, welche die Spuren des gewaltsamen Endes verhüllte, öffentlich ausgestellt und mit großer Feierlichkeit im Dome von Simancas begraben. Jede Einzelheit in diesem Vorgehen gegen Montigny ist, wie wir wiederholen, durch eigenhändige, noch heute erhaltene Anweisungen Philipps vorgeschrieben worden. Allerdings würde die Tötung des eigenen Sohnes eine noch viel ungeheuerlichere That sein, und so hat sich Ranke auf die Seite des venetianischen Gesandten Cavalli gestellt, welcher, obwohl er das Verfahren Philipps gegen Don Carlos ausdrücklich für grausam erklärte, doch – im September 1568 – an seine heimische Regierung schrieb:

„Weil man aus verschiedenen Orten von Italien von dem Verdacht Meldung thut, der Prinz von Spanien möge an Gift gestorben sein, so will ich nicht versäumen, hinzuzufügen, und sozusagen unbedenklich, daß dieser Prinz an keinem anderen Gifte gestorben ist als an den starken Unordnungen, die er beging, und an der großen Unruhe seines Gemüthes.“

Ranke, der die Menschen immer so milde wie möglich beurtheilt, meint eben, daß die erwähnten Anordnungen und Maßlosigkeiten den Tod eines leiblich und seelisch so tief erschütterten Kranken wohl erklären; hindern habe man, so fügt er in Uebereinstimmung mit dem amtlichen Bericht hinzu, diese Unordnungen nicht mögen, weil dann noch schlimmere Ausschreitungen zu befürchten gewesen seien. Aber der französische Geschichtschreiber Forneron erhebt dagegen einen Einwand, den man schwerlich abweisen kann. Forneron weist zunächst darauf hin, daß schon in einem der gleichzeitigen Berichte ein Zusammenhang zwischen dem Versuch der Abgeordneten, sich dem Prinzen während der Haft zu nähern, und den unmittelbar darauf eingetretenen, vielleicht auf Vergiftung deutenden Erscheinungen in seinem Befinden vermuthet wurde; und zu den offiziellen, etwas sonderbaren Angaben über Ausschreitungen im Gebrauch von Eiswasser und im Essen und Trinken bemerkt er: seien sie unwahr, so habe man eben Anlaß gehabt, die wahre Todesart zu verschweigen und zu verschleiern; seien sie aber wahr, so treffe den König, der im Gefängniß des Prinzen alles regelte, die Schuld, diese Unordnungen, die das Leben offenbar verkürzen mußten, nicht gehindert zu haben, da er sie, trotz der im amtlichen Bericht vorgeschützten Furcht vor größeren Ausschreitungen, unzweifelhaft habe verhindern können. Philipp ist hiernach von dem Verdacht nicht freizusprechen, den Tod seines Sohnes entweder veranlaßt oder doch mittelbar beschleunigt zu haben.

Die Spanier beklagten den Tod des Thronfolgers. In der Befürchtung, daß das Reich, dessen Zukunft jetzt nur auf den Schicksalen zweier kleinen Prinzessinnen beruhte, an eine andere Herrscherfamilie übergehen könnte, sagte einer der vornehmsten Granden, der Herzog von Infantado, bei der Leichenfeier zu dem venetianischen Gesandten. „Bei Gott, Herr Ambassador, müssen wir immer auswärtige Könige bekommen? Glücklich Ihr Herren Venetianer, die Ihr stets einen natürlichen Fürsten habt und von Edelleuten regiert werdet. Da darf doch einer, der eine Beschwerde hat, sich freimüthig beklagen, und man gewährt ihm Gerechtigkeit.“


[405]

Reykjavik.

Kreuz und quer durch Island.

Von Carl Küchler.
Mit Zeichnungen von Hans Bohrdt.

„Es ist ein Land, das ist so anspruchslos,
Doch birgt es heilig Gut im Geistesschoß:
     Ist heut noch groß
     An Ehr’ und Muth,
Wie’s seinen Vätern stand so gut.“

So singt der nordische Dichter in begeisterter Vaterlandsliebe von jener einsamen Insel am Polarkreis, von der schon die Alten Kunde hatten, die sie aber nie erreicht haben, deren Bewohner, fern allem Lärm der Welt, heute noch ein urgermanisches Völkchen bilden, dessen litterarische Sprachschätze fast einzig und allein uns wieder hineingeführt haben in die altgermanische Heldenzeit und den Schleier gehoben von der erhabenen Götterwelt unserer Vorfahren, dessen Sprache heute noch ein gewaltiges Denkmal echter, rechter altgermanischer Kraft und Kernigkeit bildet. Dieses Völkchen und sein Leben und Treiben, dieses Land und seine gewaltige, großartig schöne Natur sind es, die wir heute in Wort und Bild an uns vorüberziehen lassen wollen.

Schon die äußere Form der Insel Island, die in politischer Beziehung zu Dänemark gehört, ist äußerst reich an Abwechslung. Im Süden finden wir kaum eine nennenswerthe Bucht, nur erweiterte Flußmündungen und Strandseen wie an den Küsten Pommerns. Im Westen dagegen stoßen wir auf zwei bedeutende Buchten, den Faxafjördur und den Breidifjördur, die wieder in zahlreiche, tief einschneidende Fjorde auslaufen. Im Nordwesten ist jene vielzackige, zerrissene Halbinsel angesetzt, die, dreigetheilt, die Dreitheilung in jedem ihrer Glieder fortsetzt. Der Nordrand, schon von den kalten und kältenden Flächen des Eismeeres umspült, zeigt fünf Buchten, die von West nach Ost an Größe abnehmen und immer flacher werden; am Skialfandi und Axarfjördur sieht man auch sofort die Ursache der Verflachung; es ist eine durch die mächtigen Ströme bewirkte fortgesetzte Ablagerung von Sand aus eruptiven Gesteinen. Das Ostufer endlich mahnt namentlich in seinem südlicheren Theile an die Küsten Norwegens, nur daß diese reiches Leben gestatten, während jenes, umtost von furchtbarer Brandung, kaum einigen Dörfern Platz und Weidegrund bietet.

Nur wenig ist von dem Innern der Insel besiedlungsfähig, die äußersten Küstenstreifen, dann etwa noch ein Strich Landes vom südlichsten Kap Portland im Bogen bis zur nordwestlichen Halbinsel und allenfalls noch die Ufer einiger Flüsse, – dies zusammen bildet den weitaus größten Theil des bewohnbaren Gebietes. Alles übrige ist Einöde, schauervolle Wüste. Grabesruhe herrscht über den erstarrten Massen; kein organisches Leben, nur der Donner der Wasserfälle, das Geheul der Winde, die Stöße der Vulkane mannigfacher Art erinnern den Wanderer daran, daß „hier das Leben tot und das Tote lebend“ sei. Hunderte von Quadratmeilen hat noch nie eines Menschen Fuß betreten, kaum wird es je einem gelingen, von dem Riesenlavafeld der „Odada Hraun“ nach dem 170 Quadratmeilen umfassenden Gebiet des „Vatna Jökull“, des größten Gletschers der Insel, vorzudringen. Die ganze Insel ist ein Gebirgsland; schon unmittelbar an der Küste erheben sich hier und da gewaltige Gletscher, wie dies unsere Abbildung auf Seite 409 veranschaulicht; das Innere ist, wie gesagt, eine schauerliche Einöde, unfruchtbar, von großen Sand- und Lavastrecken durchfurcht. Der Sand, durch seine Feinheit oft äußerst gefährlich, wird durch die rasenden Stürme und die wasserreichen Ströme von den Abhängen der Berge weit weggeführt und da und dort in Massen aufgespeichert; häufig genug sinkt das Pferd bis an den Hals im Triebsand ein und mancher Wanderer wurde unter ihm begraben. Dies Land ist noch nicht zur Ruhe gekommen, und „Lavaland“ hat man es schon genannt. Da hört man im Innern der Erde ein dumpfes Donnern – der Boden wird von Erdbeben erschüttert, an vielen Stellen wallt Dampf auf – und nun öffnen sich an einem oder mehreren Orten, auf Bergen oder in Thälern, Krater, aus denen Lavaströme fließen; vulkanische Asche steigt auf, welche, vom Winde gefaßt, über die ganze Insel ausgestreut wird. Auf diese Weise sind wohl Hunderte von Quadratmeilen ehemaliger fetter Wiesengründe in unfruchtbare, unzugängliche Oede verwandelt worden.

Das eintönige Gepräge der ganzen Insel unterbrechen dann und wann jene Flüsse, die nur auf einer Spezialkarte als das erscheinen, was sie sind: als Ströme von bedeutender Tiefe und Breite. Sie vermehren aber fast alle den unheimlichen, beängstigenden Eindruck; sie steigern im Menschen das Gefühl der Verlassenheit und der Ohnmacht. Pfeilschnell schießen sie über den Lavaboden hin, an den Rissen und Klüften gefährliche Wirbel bildend. Die schwarze Lava ist ein gar zu düsteres Bett, selbst wenn milchweißes Wasser, wie dies bei manchem der Flüsse der Fall ist, über sie hinwegströmt. Keine [406] Brücke führt über den zwar kurzen, aber breiten Stromlauf; wo eine solche doch zu finden ist, da ist der Uebergang über sie gefährlicher als das Durchreiten oder Durchschwimmen der Gewässer. Zahlreiche Wasserfälle von beträchtlicher Höhe, von denen wir einen der prächtigsten auf ganz Island, den der Öxará bei Thingvöllur, auf der untenstehenden Abbildung vorführen, unterbrechen den Lauf; die Flüsse, von der aufgethürmten Lava oder dem zertrümmerten Basalt gestaut, springen in tausend Kaskaden hinab in die Tiefe. Bald führen sie das Eiswasser der Gletscher, bald lauwarmes Naß aus den kochenden Quellen: wenig angenehm für den Reisenden, der in dem einen vor Kälte beinahe erstarrte und gleich darauf im andern ein lauwarmes Bad nehmen muß. Bemerkenswerth ist dabei, daß die von den Gletschern herabeilenden Flüsse in ihrer Fluthhöhe täglich sich zwischen einem höchsten und niedrigsten Stande hin und her bewegen. Der höchste Punkt wird erreicht, wenn bei der Mittagshitze der Schnee und das Gletschereis reichlich schmelzen; darum reitet es sich am besten in der Nacht oder gegen Morgen über die Ströme – immerhin eine unbequeme Sache, wenn man bedenkt, daß der schlüpfrige Untergrund genug der Klüfte und Klippen bietet.

Neben den Strömen und Bächen ist ein „Vatn“ (Wasser, Binnensee) nichts Seltenes; vor allem ist der Myvatn bekannt wegen seiner ungeheuren Mückenschwärme.

Der See liegt in dem steinigen Wellenlande des öden Myvatnsandur, in einer trostlosen Ebene; den Hintergrund in weiter Entfernung bilden die schwarz-blauen Kegelberge: Sellandafjall, Blafjall, Namafjall etc. Sehr feiner vulkanischer Sand bedeckt weithin den Boden in seiner Umgebung, überstreut mit größeren und kleineren Lavablöcken; die Straße zum See ist durch zwei parallele Reihen dicht nebeneinander gelegter größerer Steine kenntlich gemacht. Die Gegend ist gänzlich vegetationslos. Professor Zirkel schreibt über den See: „Nie hat die geographische Bezeichnung irgend einer Oertlichkeit besser das Wesen und die Eigenthümlichkeit derselben wiedergegeben als der Name ‚Myvatn‘, ‚Mückensee‘. Unsere Pferde waren fast wahnsinnig durch die Mücken; man kann sich in einem Kubikfuß Luft kaum mehr lebende Wesen denken, als hier sind: ihre Schwärme sind so dicht, daß man oft einen nebenher reitenden Gefährten nicht zu erblicken vermag, daß man die Augen nicht öffnen, nicht athmen kann: kurz, es ist eine der entsetzlichsten Plagen, welche nur mit der ägyptischen der Heuschrecken zu vergleichen ist. Dazu brannte die Sonne glühend auf unsere Häupter, der Sandstaub wirbelte um uns her, so daß es keiner sehr lebhaften Einbildungskraft bedurfte, sich aus Island in die Wüste Sahara versetzt zu wähnen.“

Wasserfall in der Öxará bei Thingvöllur.

Der Mückensee läßt zugleich am besten die verheerenden Aeußerungen vulkanischer Gewalten in ihrem ganzen Verlauf und in ihren schrecklichsten Wirkungen erkennen: Vulkane, Krater, Schwefelgruben und Schlammsprudel finden sich in seiner nächsten Nähe in großer Anzahl, viele in voller Thätigkeit. Mit mehr Recht als beim Toten Meere kann man hier von einer Stätte des Grauens sprechen; die ganze nördliche Seite des Myvatn besteht jetzt aus furchtbaren starrgewordenen Lavaströmen, welche die nahe gelegenen Vulkane Krafla und Leirhnukur in den Jahren 1724 bis 1730 über früher üppiges Weideland ergossen haben. „Die zusammengestürzten, riesigen Schlackenstücke sind Eisschollen beim Frühlingsthauwetter vergleichbar,“ sagt ein Reisender. Die Lava ergoß sich auch in den Myvatn, der einige Tage lang förmlich kochte; er wurde durch die Lava so ausgefüllt, daß seine größte Tiefe jetzt nicht über 10 Meter beträgt; zahlreiche, schwarzgebrannte Inselklippen ragen aus dem lauwarmen Wasser hervor. Der See gefriert nie, und das will viel sagen in einem Lande, wo selbst die Häupter der ausgedehntesten Vulkane mit dichtem Schnee bedeckt sind, die gewaltigsten Gletscher sich ausbreiten, der Winter häufig schon Anfang September seinen Einzug hält – in einem Lande, dessen Ost- und Nordostküste oft von Treibeis starrt. Island ist aber von jeher berühmt gewesen wegen dieses Umstandes; die riesigen Gletscher, die weithin sichtbaren Schneehäupter lassen oft genug an ihrem Abhang heiße Quellen, aussetzende und dauernd fließende, entspringen. Es ist der Feuerherd Vulkans, der sich unter den Basalt-, Trachyt- und Tuffmassen hinzieht und der das überhitzte Wasser mit mächtiger Dampfkraft in die Höhe treibt.

Einige Worte mögen auch den Schlammvulkanen, den „Makaluben“ oder „Salsen“, gewidmet sein, ehe wir den Erscheinungen der Geysire uns zuwenden. Der Höhenzug des Leirhnukur weist mehrere Spalten auf, und aus den zerborstenen Felsenwänden dringen heißes Wasser und bleiche Dampfstrahlen mit Zischen und Sausen, oft sogar mit dröhnendem Brüllen hervor; kochende Quellen springen allerwärts aus dem Boden und verwandeln den weichen Thon in einen bodenlosen Morast. Sieben größere Löcher, je etwa fünf Meter im Durchmesser haltend, umgeben von einem niedrigen, nach außen abschüssigen Wulste, angefüllt mit flüssigem Schlamme, die ganze Masse brodelnd, alle drei bis vier Sekunden eine Explosion, welche die Schlammmassen bis zu fünf Meter Höhe emporschleudert: das ist im wesentlichen das Bild einer solchen „Hexenküche“.

Die Geysire oder die heißen Springquellen sind von Reykjavik, der Hauptstadt Islands, zu Pferd in einem Tage zu erreichen; in einer über zwei Meilen breiten Ebene am Südwestfuße des Blafell und einiger kleinerer Hügel liegen sie ganz dicht nebeneinander, der Große und der Kleine Geysir, der Strokkur (Butterfaß) u. a. m., 40 bis 50 an der Zahl. Von Zeit zu Zeit erlebt man einen jener wunderbaren Ausbrüche, von dem unser Bild S. 410 eine Vorstellung zu geben versucht.Unter mächtiger Dampfentwicklung, welche den Boden erzittern macht und ein tosendes Geräusch verursacht, schießt der Wasserschwall empor, ein Schauspiel von wunderbarer, unbeschreiblicher Großartigkeit. Kieselsinter und Tuff erhöhen allmählich die Röhren an den Ausbruchstellen, die nächste Umgebung besteht nur aus solchen Mineralien, auch die kleinen Bäche, welche das ausgebrochene Wasser weiterführen, setzen in ihrem Bette und besonders stark an den Ufern Rinden von papierdünnem Kieselsinter ab, alle Körper, auch die zartesten, mit einer Kruste überziehend. Die Springquellen stehen weder mit dem Hekla, noch einem anderen [407] Vulkane, nicht einmal unter sich in unmittelbarer Verbindung, wohl aber können Erdbeben ihrem Spiele ein Ende machen.

Isländischer Bauernhof. Kirche von Reykjahlidar.

Island liegt, bis auf eine kleine Spitze im Norden, diesseit des Polarkreises. Die Mitternachtssonne ist deshalb nur auf jener äußersten Spitze und auf der nördlich von Eyjafjord gelegenen Insel Grimsey zu sehen. Sie bleibt dort um Johanni etwa acht Tage und Nächte lang über dem Horizont, Land und Meer mit ihrem milden Rosalicht übergießend, verschwindet dafür aber um Weihnachten eine Woche lang gänzlich. Die Nächte vom Mai bis August sind indessen auch im Südland fast tageshell. Die Sonne verbirgt sich dort zur Zeit der Wende nur auf etwa drei Stunden, und auch dann streicht sie so nahe unterhalb des Gesichtskreises hin, daß die Nacht eigentlich nur aus einem Verschmelzen des Abend- und Morgenrothes besteht. Wunderbar schön ist dann das wechselnde Farbenspiel, welches Berg, Thal und Meer belebt. Und kaum weniger genußreich sind für ein empfängliches Gemüth die nordischen Winter. Doppelt groß und hell als bei uns flimmern und glitzern da Mond und Sterne. Mit rothen, gelben, grünen Farben malt das Nordlicht die in weißes Gewand gekleidete Landschaft. An kalten Tagen zeigen sich Nebensonnen in allen Farben des Regenbogens; unter Schneegestöber erhellt plötzlich ein unheimlicher, bleicher Lichtschein die Luft. Ja, das intensive Blau des Himmels kann der Schneelandschaft Farbe geben, so daß alles ringsum blau erscheint. Doch an diesen Farbeneffekten läßt sich Islands Natur nicht genügen. Mit seltsamen, zauberischen Luftspiegelbildern neckt sie den Reisenden, durch die Nacht flackernde Irrlichter locken ihn auf falsche Wege, rings um seine Bahn senden die vulkanischen Elemente des Bodens ihre Rauchsäulen hoch in die Luft. Wenn aber die Stürme rasen, Sand und Steine von den Bergen fegen und als prasselnden Regen über die Niederlassungen dahinjagen, dann scheint in den Lavahöhlen, Felsschluchten und Klüften ein seltsames Leben zu erwachen, wunderbar klagende Töne durchziehen die Luft, bange birgt sich Mensch und Vieh vor den Geistern der Wildniß.

Das Grauenhafteste ist, wenn ein Erdbeben die Eingeweide der Insel zerreißt, der Boden sich wie die Meereswelle hebt und senkt, den Vulkanen himmelhohe Feuergarben entsteigen, die ungeheure Eisdecke der Bergriesen sich ungeschmolzen in Bewegung setzt und thurmhoch herniedergleitet, glühende Lavaströme sie durchbrechen und durch die bewohnte Niederung brausen, Flüsse und Seen im Innern der Erde verschwinden oder sich aufbäumen zum gewaltigen Kampfe gegen das feindliche Element. Ein unerträglicher Schwefelgeruch, giftige Gase und Dämpfe verpesten die Luft. Finsterniß deckt das Land, gespensterhaft leuchten die flammenden Berge. Dunkelgeballte Wolken von Asche und glühenden Funken, durchzuckt von falben Blitzen, wälzen sich mit breiter Front vorwärts. Die Bewohner packt Entsetzen, sie fliehen bald da-, bald dorthin, überall droht ihnen Verderben. Hier der Aschenregen, dort die Lava. Hier brechen siedende Wasser hervor, dort gleiten alles verheerende Gletscher mit Windeseile näher. Das Thal erfüllt der tosende Strom. Am Hange krachen Bergstürze und Lawinen. Durch die Lüfte gellt die unwiderstehliche Windsbraut. –

Das ist Island und seine Natur! Und doch liebt der Isländer sein Vaterland über alles in der Welt, doch glaubt er, daß es nirgends schöner sei als daheim auf dem nordischen Eiland.

Ich lebte vor einigen Jahren in Kopenhagen mit dem berühmten Isländer Steingrimur Thorsteinsson zusammen, einem namhaften Gelehrten und wohl dem anmuthigsten der heutigen isländischen Dichter. Er hatte auf seiner Reise von Reykjavik nach der dänischen Residenz manche Naturschönheit geschaut, war auf Seeland selbst am Oeresund hinaufgewandert, einem unbeschreiblich prächtigen Stücke Natur, war später auch nach Deutschland gereist, um dessen Schönheiten kennenzulernen – und doch konnte er mir nach seiner Rückkehr nach Island schreiben: „Wie freute mich der Anblick meines Vaterlandes, als das Dampfschiff am Abend in die Faxabucht einlief! Der hohe, sternenklare Himmel, das Meer im Glanze des Vollmondes und die dunkelblauen, majestätischen Gebirge, alles in feierlicher Stille, machten auf mich den tiefsten Eindruck. Ich hatte doch auf der Reise nichts Schöneres gesehen!“

Einsam und fern von der übrigen Welt lebt das kleine Völkchen droben im hohen Norden dahin, auf 104 785 Quadratkilometern, d. h. auf einem Raum, der etwas größer ist als die preußische Rheinprovinz, Westfalen, Hessen-Nassau und Hannover zusammengenommen, kaum 70 000 Seelen.

Die Isländer sind im allgemeinen ein kräftiger Volksschlag; wie wollten sie auch sonst das gefahrvolle, mühereiche Leben durchkämpfen, welches sie zu führen haben! Freilich, die heldenhafte Größe, in der uns die altnordischen Sagen die Islandsmannen des Alterthums vorführen, erreichen sie bei weitem nicht mehr. Die Isländerinnen haben meistens ein rothes, bausbackiges Gesicht, doch trifft man auch blasse, hagere Wangen. Schönheiten finden sich [408] ziemlich selten. Eine stumpfe Nase ist typisch; dagegen besitzen die Mädchen oft ein reiches, lichtgelbes Haar, welches ihnen, gewöhnlich nur zum Theile in Zöpfe gebunden und im übrigen frei über die Schultern herabwallend, neben den blauen Augen gut steht. Ebenso rühmen sie sich einer schlanken Taille und kleiner Füße.

Die Wohnungen auf Island sind, außer in den Städten, meist aus übereinander gelegtem breiten Grastorf mit dazwischen ruhenden großen Feldsteinen gebaut und haben nur nach der Front eine mit Brettern verkleidete und mit Fenstern versehene Giebelwand. Zu einem Bauernhof gehören sechs und mehr solcher Erdhäuser, welche, mit den breiten Seiten nebeneinander stehend und mit Grasdächern versehen, sich in der Landschaft wie eine Reihe grüner Hügel ausnehmen. In den Städten und Handelsorten baut man Häuser wie bei uns aus Stein und Holz. Die Kirchen sind selten aus Erde, meist von Holz, einige auch aus Steinen aufgeführt. Von wie kunstloser Bauart dieselben oft sind, führt die Abbildung des Gotteshauses von Reykjahlidar auf S. 407 deutlich vor Augen. Steinbauten sind übrigens nicht praktisch für die so weit nördlich gelegenen Länder, da in den kurzen, kühlen Sommern die Sonne nicht die Kraft hat, die massiven, vom Winter mit Feuchtigkeit durchzogenen Wände genügend auszutrocknen. In den Häusern sind alle Räume neben-, nicht übereinander angebracht; nur die Wohnstube befindet sich hier und da in einem Bodenraum; sonst aber gilt die Regel: soviele Gemächer, ebensoviele durch breite Mauern gesonderte Hütten. Drei oder vier derselben stehen nach vorn in einer geraden Linie. Davon ist immer eine die Schmiede und eine andere die Fahrnißhütte. Küche und Vorrathskammer liegen überall rückwärts. Im Südland befindet sich die Wohnstube gewöhnlich vorn in der Mitte, im Nordland im hintersten Hause. Ueberall stehen Wohnstube, Küche, Vorrathskammer und Fremdenstube durch einen Gang in Verbindung, während die übrigen Räume nur durch gemeinsame Mauern zusammenhängen. Auch der Haupteingang führt gewöhnlich durch einen finsteren Gang.

 Isländerin
 im Werktagsgewand.

Isländische Braut. Auf der Reise.

Was die Kleidung der Isländer betrifft, so ist die der Männer ganz dieselbe wie bei uns, nur daß sie selbstverständlich etwas wärmer und überhaupt „handfester“ sein muß. Eigenthümlicher ist die Nationaltracht der isländischen Frauen. Für gewöhnlich besteht sie aus einem wollenen Hemde und dunkelblauen oder rothen wollenen Strümpfen, weißleinenen Unterröcken; darüber wird eine enganliegende und engärmelige Jacke und ein Rock von blauem oder schwarzem Vadmal (Fries) gezogen; ein seidenes Halstuch vollendet den Anzug nebst einer blauen oder schwarzen Mütze, deren Spitze mit einer rothen oder grünen Quaste versehen ist und an einer Seite herabhängt. Die Festtagsjacke ist hinten und vorn mit silbernen Tressen, silbernen Haken und künstlich gearbeiteten silbernen Knöpfen versehen, der untere Rand des Rockes mit Sammetstreifen besetzt. Der Rock wird mit einem silbernen oder einem Sammetgürtel befestigt, welcher mit vielen Zieraten und den Anfangsbuchstaben des Namens der Trägerin versehen ist. Um den Hals kommt ein mit Silber gestickter Kragen oder eine Krause, der Kopfputz aber besteht aus einem mit einer unzähligen Menge von Nadeln 40 bis 50 Centimeter hoch aufgesteckten „Faldur“ (Turban) von weißer Leinwand, der, wo er den Kopf verläßt, rundlich ist, dann aber flach wird, sich mit seinem schmäleren, viereckigen Ende wie ein Helmkamm nach vorn biegt und um den Kopf mit einem schwarzen oder dunkelfarbigen seidenen Tuche befestigt wird. Der Brautanzug ist noch üppiger, vorzüglich der Faldur, welcher alsdann sehr zierlich mit einem reich mit Gold gestickten Netze geschmückt wird. Ein solch stattlicher Anzug erreicht oft einen Werth von 400 Reichsthalern, vererbt sich aber auch 200 Jahre hindurch von einer Generation auf die andere.

Leider ist diese Volkstracht der isländischen Frauen jetzt bereits im Verschwinden begriffen und weicht mehr und mehr der modernen Kleidung. Nur die Zipfelhaube ist noch überall, auch in Reykjavik, in Gebrauch. Eigenthümlich ist auf Island seit alter Zeit die Vorliebe für die schwarzblaue Farbe. Aus der Ferne erscheint dieselbe schwarz, was einen düsteren Eindruck macht; „wenn man auf der Insel ans Land steigt, wähnt man beim ersten Anblick, die ganze Bevölkerung trüge Trauer.“

Die hauptsächlichste Beschäftigung der Isländer ist Viehzucht. Der Bauer spekuliert jedoch auch nebenbei in den reichen Fischereien, macht Jagd auf Vögel – deren Fleisch und Eier er ißt, deren Federn er benutzt – auf Füchse, Renthiere und zuweilen auf Eisbären. Während des Sommers treibt man das Vieh, vor allen Dingen die Schafe, hinaus auf die Hochweiden, wo es von Knaben oder Mädchen gehütet wird, zum Theil aber auch ohne jedwede Bewachung halbwild lebt und sich dahin und dorthin zerstreut. Im Herbste zieht man dann aus, um das Vieh zu sammeln und in die Niederungen zurückzutreiben, und dieses „Begehen“ der Hochweiden gehört zu den lustigsten Geschäften der Isländer. Unter der Leitung des Gemeindevorstehers oder auch eines eigens zu solchem Behufe gewählten „Bergkönigs“, so erzählt Konrad Maurer, zieht die jugendliche Mannschaft ganzer großer Bezirke, jeder Mann von einem tüchtigen Schafhund begleitet, nach dem Sammelplatz. Hier wird Musterung gehalten, und je nach Bedarf theilt der Bergkönig seine Leute in kleinere Haufen, denen er eigene Führer vorsetzt; jedem Haufen wird sein Ausgangspunkt, die Richtung des Ganges und der Ort, wo für die Nacht das Zelt aufzuschlagen ist, bezeichnet. Nun beginnt, sei es zu Fuß oder zu Pferde, eine Art von Kesseltreiben, indem man von obenher die Thiere zu umstellen und dann durch allmähliches Schließen des Kreises abwärts in die Thäler zu treiben sucht; an einem bestimmten Punkte werden sie gesammelt und von denen, die bei der Bergbegehung selbst nicht mitwirkten, in Empfang und Hut genommen, um dann nach Ausweis der in die Ohren eingeschnittenen Erkennungszeichen unter die einzelnen Eigenthümer vertheilt zu werden. An dem Sammelplatz pflegt ein fröhliches Fest gefeiert zu werden, das sich wohl mehrere Tage lang hinziehen kann, wenn die Menge des Viehes die Auseinandersetzung erschwert.

[409]

Gletscher an der Küste von Island.

[410] Der größte Schatz des Isländers sind seine Pferde, die, dem Klima und der Witterung angemessen, meist rauhhaarig sind und nur eine geringe Größe erreichen; dagegen sind sie unermüdlich, an Strapazen und Entbehrungen gewöhnt und vermögen lange zu hungern oder mit der elendesten Nahrung sich zu begnügen. In einen Stall kommen sie jahraus jahrein nicht, immer sind sie im Freien, ihre Nahrung sich selbst suchend. Fast jeder Isländer besitzt zum mindesten zwei Pferde; das beste Reitpferd kostet nicht mehr als 200 Mark, ein Pack- oder Lastpferd bedeutend weniger. Auffällig ist bei den isländischen Pferden, daß ihr Kopf fast durchgängig im Verhältniß zu der übrigen Körpermasse zu groß erscheint.

Der Werth des Pferdes für den Isländer beruht darin, daß man auf Island Reisen nur zu Pferde oder zu Schiffe unternehmen kann. Wagen kennt man selbst in der Hauptstadt Reykjavik nicht, und jede Beförderung von Waren geschieht auf Pferderücken. Große Karawanen beleben darum im Sommer das öde Innere oder ziehen längs den Küsten dahin. Straßen nach unseren Begriffen giebt es nicht, ebenso wenig wie Brücken über die vielen tiefen und reißenden Ströme. Die Wege bestehen meist nur aus den Furchen, welche die in langer Reihe einherziehenden Lastpferde – der Kopf des nächsten immer an den des vorhergehenden gebunden – im Laufe der Jahre mit ihren Hufen getreten haben. Die Nachtquartiere auf den zuweilen Wochen dauernden Reisen werden, wo es angeht, in der Nähe eines Bauernhofes, in den Wüsten jedoch bei einer grünen Oase aufgeschlagen, die den Pferden Gras und Wasser liefert.

Die andere Art des Reisens ist die zu Schiffe.

Der große Geysir auf Island.

Zwischen benachbarten Küstenorten kann man, sofern es Wind und Wetter erlauben, Ruder- und Segelboot benutzen. Sonst geschieht die Beförderung durch die Postschiffe, welche zwölfmal im Jahre von Kopenhagen nach Reykjavik kommen, oder mit englischen Dampfern, die im Sommer ebenfalls eine regelmäßige Fahrt einhalten. Die dänischen Postschiffe, von deren zwölf Fahrten nur zwei auf die fünf Wintermonate D[ezembe]r bis April fallen, umdampfen im Sommer fünfmal, di[e englisc]hen Fahrzeuge ungefähr dreimal die ganze Insel, laufen [die haupt]sä[ch]lichsten Häfen an und stellen dadurch eine einigermaßen [r]egel[mäßig]e Verbindung derselben untereinander her. Da jedoch Eis, Wetter oder Meeresströmung den Besuch des einen oder anderen Ortes, ja der ganzen Nordküste verhindern können – was leider häufig genug geschieht – so ist diese Verbindung stets eine unsichere.

Im übrigen ist ein jeder in Island auf sich selbst angewiesen. Darum ist auch jeder in allen Stücken sein eigener Handwerker; vorzüglich geschickt sind die Leute allesammt in der Bearbeitung des Eisens, meisterhaft beschlagen sie ihre Pferde selbst und verfertigen sich Sättel und andere Lederarbeiten. Nur in Reykjavik giebt es einige berufsmäßige Handwerker, die nach dem Grundsatz der Arbeitstheilung ihrer Beschäftigung obliegen; so findet man dort einen Buchbinder und einen Goldschmied. Herbergen und Gasthäuser giebt es auf der ganzen Insel nur in den Hafenplätzen, die allgemein in großartigem Maßstab geübte Gastfreundschaft läßt solche Einrichtungen nicht aufkommen; wem man heute sein gastliches Dach anbietet, der kann morgen schon den Wirth von gestern mit Speise und Trank erquicken müssen. Vor allem sind es die Pfarreien, an welche der Wanderer nicht vergebens anklopft.

Was die Bildung der Isländer anbetrifft, so ist bekannt, daß „damals, als die ganze Welt in Barbarei versunken war, die Wissenschaften und die schönen Künste eine Freistätte in diesem entlegenen Lande fanden und daß man von einem Isländer, der fremde Länder besuchte, immer voraussetzte, daß er nicht bloß ein tapferer Mann, sondern auch ein Dichter sei.“ Dieser poetische Zug ist jedem Eingeborenen in ungewöhnlichem Maße heute noch eigen, wie sich denn überhaupt dieses germanische Völkchen im hohen Norden durch eine reiche Bildung auszeichnet.

Knaben und Mädchen genießen gleiche Schulung im elterlichen Hause, denn die Eltern selbst ertheilen in gewissenhaftester Weise den Unterricht. Junge Leute, welche später eine höhere Schule besuchen wollen oder denen besondere Verhältnisse die natürlichen Lehrer genommen haben, erhalten gewöhnlich Unterricht durch den Pfarrer, bei dem sie oft auch die Hälfte des Jahres hindurch in Pension sind. Bemitteltere Familien schicken ihre Söhne auf die Gelehrtenschule nach Reykjavik, die 1846 von Bessastadir dahin verlegt wurde. Der Unterricht daselbst ist vorzüglich, namentlich werden die „Humaniora“ stark getrieben; die meisten Schüler studieren Theologie, da sie in ihrer Heimath so am besten wirken können. Hinsichtlich des Bauernstandes auf Island darf man sagen, daß es einen aufgeklärteren in ganz Europa nicht giebt. Ph. Schweitzer bezeugt: „Ich habe auf meinen Ritten im Lande ein paar Bauern kennengelernt, die das Gymnasium in Reykjavik besucht hatten, mehrere, die drei Sprachen (Isländisch, Dänisch, Deutsch) sprechen oder wenigstens verstehen konnten, viele, welche neben ihrer Mutterspräche Dänisch verstanden; alle aber waren sie bewandert in Geschichte und Litteratur, nahmen regen Antheil am politischen Leben des Vaterlandes und hatten infolge der Lektüre populär geschriebener Bücher, an denen die isländische Sprache gar nicht arm ist, und ihrer Zeitungen und Zeitschriften ganz gesunde und durchaus nicht auf den nächsten Gesichtskreis beschränkte Begriffe und Anschauungen. Wenn nun viele Reisende den Mangel an äußerer Bildung beim isländischen Bauern hervorgehoben und von diesem, da sie seine Sprache nicht verstanden, auch auf eine tiefstehende geistige Bildung geschlossen haben, so ist das sehr unrecht, jener Mangel aber zu entschuldigen durch die vom Weltverkehr entfernte Lage der Insel und die tyrannische Behandlung, welche ihre Bewohner lange, lange Zeit zu erdulden hatten. Erst in den letzten Jahrzehnten ist hierin eine Aenderung eingetreten.“

[411] Wie sich der isländische Dichter in der von Schneegestöber und Stürmen durchbrausten Winterfinsterniß die Sonnenblicke der Poesie gewahrt hat, so weiß auch der Isländer im allgemeinen sich auf mancherlei Weise das stille Leben im einsamen Norden zu erheitern. Dieselben Tage, die wir feiern, werden zum größten Theile auch auf Island festlich begangen, besonders Weihnachten, wenn es dort auch an einem strahlenden Christbaum fehlt; denn Island ist ein waldloses Land, von Tannen vollständig entblößt, und neben der Birke, die aber stets Zwergholz bleibt, findet sich hier und da nur die Eberesche, die eine etwas bedeutendere Höhe erreicht. Auch das Tanzen ist auf Island bekannt, und nicht allein in der 3000 Einwohner zählenden Hauptstadt Reykjavik und auf den Handelsplätzen, sondern ebenso draußen auf dem Lande unter den Bauern, bei ihren Festen und Hochzeiten wird in der Regel getanzt. Sogar Konzerte werden bisweilen in Reykjavik gegeben, wie überhaupt Musik, namentlich das Klavierspielen, gern getrieben wird.

Eine ausgesprochene Vorliebe haben die Isländer für den – Schnupftabak. Sie kaufen Tabak in Rollen und Blättern, zerreiben ihn selbst und führen ihn in Gefäßen bei sich, welche an Form und Größe mittelmäßigen Pulverhörnern gleichkommen. Zu Hause streuen sie davon in langen Zeilen auf die Hand, gerade wie es die Bewohner des bayerisch-böhmischen Waldgebirges mit dem sogenannten Presiltabak machen. Auf der Reise, wenn sie zu Pferde sind, bringen sie mit zurückgeneigtem Kopfe die Mündung des Hornes unmittelbar an die Nase. Auf diese Weise verlieren sie keinen Tabak, was beim Reiten umsomehr der Fall sein würde, als in Island fast beständig ein heftiger Wind weht.

Eine ganz eigenthümliche, aber echt altgermanische schöne Sitte – die manchem von uns freilich nicht immer behagen, aber manchem vielleicht auch recht angenehm sein würde – ist die der Begrüßung auf Island. Sowohl beim Zusammentreffen als beim Abschiednehmen ist ein herzlicher Kuß auf den Mund, ohne Unterschied des Ranges, des Alters und des Geschlechts, die einzige Art der Begrüßung, welche die Isländer unter sich kennen. Nur in der unmittelbaren Nachbarschaft der Faktoreien begrüßt der Isländer einen Fremden, den er im Vergleich zu sich selbst als etwas Vornehmeres betrachtet, dadurch, daß er seine rechte Hand auf den Mund oder die linke Seite der Brust legt und dann eine tiefe Verbeugung macht. Wenn man eine Familie auf Island besucht, muß man die Mitglieder derselben nach ihrem Range und Alter begrüßen, indem man mit dem höchsten anfängt und dann, so gut es sich beurtheilen läßt, in richtiger Abstufung bis zu dem niedrigsten hinabsteigt, selbst die Dienstboten nicht ausgenommen. Beim Abschied aber geschieht dasselbe in umgekehrter Ordnung: man fängt bei den Dienstboten an, geht dann zu den Kindern über und endigt mit der Hausfrau und dem Hausherrn.

Damit nehmen auch wir für heute Abschied von dem kleinen, unbeachteten Volke im hohen Norden. Mögen diese Zeilen dazu beitragen, mehr und mehr Theilnahme für jenes „äußerste Thule“, für Island und sein Volk zu wecken!


Nachdruck verboten. 
Alle Rechte vorbehalten.
     

Lolas Töchter.

Novelle von Leo Hildeck.

Bitte, kommen Sie sofort; brauche Ihre Hilfe in persönlicher Angelegenheit! Lola Winter.“ 
Mit sehr gemischten Gefühlen blickte Helmuth auf das Berliner Telegramm, das auf dem breiten Schreibtisch des gediegen eingerichteten Privatcomptoirs lag. Die braunen Augen, in denen es einen Augenblick aufblitzte, schienen zu sagen: Ich möchte wohl, aber gescheiter wär’s, ich ginge nicht!

Natürlich ging er trotzdem. Eine Stunde später saß er in dem Hamburg-Berliner Schnellzug. Er war niemals ein Odysseus gewesen, der sich vorsichtig an den Mast binden ließ, wenn die Sirenen sangen. Immer hatte er sich ins Feuer gewagt – und sich manchmal verbrannt. Vorzüglich an diesem Feuer, welches Lola hieß. Manches Jahr war verflossen, seit er mit seiner erwachenden Leidenschaft für sie gerungen hatte. Ihr Gatte war, wie Helmuth selbst, ein großer Hamburger Geschäftsmann gewesen, ein unruhiger Geist und toller Spekulant, und seine bildschöne junge Frau hatte es meisterlich verstanden, ihm und seinen über Nacht verdienten Millionen die Honneurs zu machen. Solange diese Millionen vorhielten oder doch vorzuhalten schienen, gab es sogar Frauen, welche Lola Winter alles verziehen: ihre Schönheit, ihren Geist, ihr Glück – selbst ihre Koketterie. Denn sie besaß Takt und Anmuth genug, um Nachsicht zu finden. Außerdem – man unterhielt sich eben „himmlisch“ bei Winters. Die Geselligkeit dieses Hauses war glänzend ohne den geringsten Beigeschmack von Protzenthum; auch die Künstler, die Schriftsteller und Gelehrten, die man dort traf, schienen nicht zur Verzierung, sondern zu ihrem eigenen Vergnügen eingeladen zu sein. Erzwungen, gewollt schien nichts in Frau Lolas Zauberkreis; aus jedem der Stoffe, die unser heutiges Dasein durchsetzen, mußte ein Tröpfchen ausgepreßt und auf dem Herde des Hauses verflüchtigt sein, um seine entzückende Atmosphäre zu bilden. Daß bei all der verborgenen Arbeit, welche diese scheinbar sich von selber fügende, reizvolle Geselligkeit dennoch kostete, Frau Lola auch Augenblicke fand, in denen sie ihren beiden Töchterchen eine verständige Mutter war, mußte wunder nehmen. Sie hatte eine Perle von einem Kinderfräulein gefunden, deren einziger Fehler in übergroßem Pflichteifer bestand; ihr allzu häufiger Tadel verlor auf die übermüthige kleine Resi seine Wirkung und machte Hedwig, die ältere und schönere der beiden, herb und verschlossen. An der reizenden jungen Mutter dagegen hingen beide Kinder mit abgöttischer Verehrung. Voll eifersüchtigen Ehrgeizes trugen sie die von ihr gedichteten graziösen Verschen vor, mit denen sie, als Gärtnerinnen oder Zigeunermädchen ausstaffiert, Blumen vertheilend oder wahrsagend, die Gäste ihrer Eltern zu begrüßen pflegten, und mehr als die Liebkosungen der Fremden beglückte sie dann ein lobendes Lächeln der liebreizenden Mama.

Dies irae, dies illa – wie Helmuth sich der Ereignisse, die plötzlich hereinbrachen, so genau erinnerte! Er hatte es gesehen, schon seit längerer Zeit, daß das Haus Thomas Winter zu schwanken begann, daß es sich immer wieder stützte, sich zu halten schien, um schließlich doch mit einem furchtbaren Krache zusammenzubrechen. Unter ihm knickten die zu spät gewonnenen Stützen, neben ihm die Nachbarhäuser haltlos zusammen. Ja, Helmuth hatte es kommen sehen und vorgebeugt, so daß sein solides altes Haus nur leicht und nicht allzu nachhaltig erschüttert wurde. Aber noch jemand mußte diesen Sturz geahnt haben, eine Persönlichkeit, die sich also doch nicht nur mit ihren geselligen Angelegenheiten beschäftigt hatte – Lola. Als ein Schlaganfall dem Leben Thomas Winters ein plötzliches Ende bereitet hatte, fanden sich die Angelegenheiten der jungen Witwe in so musterhafter Ordnung vor, daß niemand, der ihres Gatten zerfahrenen Geist gekannt hatte, ihm selber diese Vorsorglichkeit zuschreiben konnte. Ein Jahr zuvor war die Gütergemeinschaft zwischen den Eheleuten aufgehoben worden; ihr Eingebrachtes und die künftige Mitgift ihrer Töchter hatte Lola bei der Reichsbank unantastbar sichergestellt. Diese „unangenehme Klugheit“ gab damals Helmuths verzehrender Leidenschaft einen kleinen Stoß, von dem sie sich jedoch unselig schnell wieder erholte. Lola war ernst und ruhig. Sie hatte mit dem Verstorbenen keine unglückliche Ehe geführt; in der ihm eigenen zerstreuten Weise hatte er während seiner seltenen geschäftslosen Stunden zu ihren ergebensten Anbetern gezählt, mit dem Vorzug, dableiben zu dürfen, wenn die übrigen das Haus verließen.

Um sich das Einleben in die wenn auch noch reichlichen, so doch wesentlich veränderten Verhältnisse zu erleichtern, siedelte die junge Witwe mit ihren Töchtern nach Berlin über, die Trümmer eines umgestürzten Hauses unbekümmert hinter sich zurücklassend. Wußte sie doch, daß treue Freunde, Helmuth voran, sich die Entwirrung des gordischen Knotens unter eigenen Opfern angelegen sein ließen. Mit einem wehmüthig dankbaren [412] Lächeln, in welchem Helmuth etwas wie eine Verheißung las, nahm sie Abschied.

Als er sie jedoch in Berlin nach Jahr und Tag mit ungebrochener Leidenschaft an diesen verheißungsvollen Blick mahnte, wollte sie nichts dergleichen wissen. Sie hielt ihm eine freundschaftliche kleine Predigt und wies auf die heranwachsenden Töchter hin. Hedwig, ein langaufgeschossener Backfisch von fünfzehn Jahren, immer noch sehr zurückhaltend, mit großen aufmerksamen Augen, machte Miene, sich bei zunehmender Fülle in ein ungewöhnlich schönes Mädchen zu verwandeln; Resi, lebhaft und freundlich, aber von unbedeutender Erscheinung, zählte nur ein Jahr weniger. Konnte Lola als gute Mutter sich selbstischen Gedanken hingeben, da die Mädchen in ihrem jetzigen Alter ihrer mehr als je bedurften? Und dann, aufrichtig gesagt, sie genierte sich vor ihnen. So große Töchter im Hause – Hedwig’s beobachtende Augen – es war zu peinlich. Ja, wenn die Kinder sich früh verheirathen würden, so lange der Mutter noch ein Rest von Jugend verbliebe, dann – wer weiß! – vielleicht wäre sie thöricht genug, sich ein zweites Mal ins Joch zu begeben.

Und immer dieselbe Antwort, Jahr um Jahr. Er konnte ihr nicht einmal Unrecht geben. Ihn selber verwirrte häufig der fragende Blick aus Hedwigs blaugrauen Augen, den er so oft, so beharrlich auf sich ruhen fühlte. Das Mädchen hatte sich in der That zu einer Schönheit entwickelt, nicht so pikant wie die der Mutter, dafür aber zarter, ernster, seelischer – eine Uebersetzung Lolas ins Blonde und Aufrichtige. Infolge ihrer Wortkargheit hatte sie nur wenig Freunde und Verehrer, und die unscheinbare, aber zuthuliche Resi erfreute sich einer weit größeren Beliebtheit als ihre schone, stolze Schwester. Von einem ernsthaften Freier war keine Rede. Stand die schönere Mutter den Töchtern, standen diese sich gegenseitig im Lichte?

Ob jetzt der Zeitpunkt gekommen war, der den lang gehegten Traum verwirklichen sollte? Wohl zwanzigmal während der Reise zog Helmuth das Telegramm hervor. „Brauche Ihre Hilfe in persönlicher Angelegenheit“ – – konnte sich das nicht auf eine Geldsache, einen gerichtlichen Handel beziehen? Doch das hatte nichts Wahrscheinliches. Auch in Berlin besaß Lola bereits einen näheren Freundeskreis; sie hatte nicht nöthig, sich um einer vorübergehenden Unannehmlichkeit willen einen freundschaftlich geprüften Beistand aus Hamburg zu verschreiben. Dann hatte sie ja auch noch den Gutsbesitzer Marboth, eine Reisebekanntschaft, die zu großer Freundschaft gediehen sein mußte; wenigstens wurde sein Name im Winterschen Hause oft genannt. Dieser Mann, welcher seine Besitzungen in der französischen Schweiz bewirthschaftete, war für den eifersüchtigen Helmuth ein verhaßter Begriff gewesen, bis er erfuhr, daß jener bereits fünfzig Jahre zähle. Helmuth selbst war nur um wenige Jahre älter als Lola; konnte sie ihm, der ihr schon lange Zeit in treuer Liebe und opferbereiter Freundschaft ergeben war, den älteren Mann vorziehen?

Die Nacht war hereingebrochen; in ihrem Dunkel verschwand die öde flache Winterlandschaft. Nur ein Streifchen des beschneiten Bahndammes flog, im Lichte des Wagens sichtbar, vorbei, und droben stiegen die Telegraphendrähte auf und nieder, schoben sich übereinander, verschwanden in der Finsterniß und tauchten wieder empor. Ein kalter Nachtwind drang durch die Ritzen der feucht beschlagenen Fenster; drinnen war die Luft schwer und warm, die Sitze fast heiß. Ein trübes halbverdecktes Gasflämmchen erfüllte das Coupé mit düsterer gelbröthlicher Dämmerung. Die Reisegefährten schlummerten, bis auf ein junges Ehepaar, das in herausfordernd neuen Reisemänteln dicht aneinandergeschmiegt in leisem Geflüster Helmuth gegenüber saß; beider Hände begegneten sich in dem zierlichen Pelzmuff der jungen Frau. Helmuth versuchte zu schlafen, aber seine Augenlider brannten, sein Kopf schmerzte ihn. Er lehnte sich in die Ecke und blinzelte, unwiderstehlich angezogen, wieder und wieder zu dem Pärchen hinüber. Mehrere beobachtende Blicke von drüben trafen seine gesenkten Lider; endlich schien man sicher zu sein, daß er schlafe. das schleierumrahmte Gesichtchen der jungen Frau hob sich, und ein langer, geräuschloser Kuß vereinigte die Lippen der Glücklichen. Hastig schloß Helmuth jetzt die heißen Augen; ein Schreck war ihm in die Brust gefahren, und wie ein Hungriger, der andere prassen sieht, fühlte er sein Herz von einem sehnsüchtigen Mitleid mit sich selber beklemmt. Bilder der Vergangenheit, der erhofften Zukunft jagten an seinem inneren Auge vorüber. Seit fünf Jahren hatte er niemals diese Strecke zurückgelegt, ohne sich lockenden Zukunftsgedanken hinzugeben, und immer hatten sie ihn genarrt. Dennoch kehrten sie auch diesmal zurück, und gewohnheitsmäßig unterlag er ihrem Zauber. Und ein neues Bild trat hinzu. Nicht mehr die beiden Fremden saßen ihm gegenüber: sich selber und Lola sah er drüben sitzen, Hand in Hand; er fühlte ihren zarten durchwärmten Handschuh, das weiche Seidenfutter des Muffs, der diskret und doch so verrätherisch die beiden ungleichen Hände verbarg.

Aber dieses innigen hingebenden Blickes, mit dem jene Frau dem Gatten ihre Lippen gereicht hatte, war Lola nicht fähig. Er kannte ihre schönen dunklen Augen so gut; sie konnten Blitze sprühen, Blitze des Geistes, der Heiterkeit, des Zornes – auch der Leidenschaft; aber Demuth, weibliche Unterordnung unter einen stärkeren Willen vermochten sie nicht auszudrücken. Und wie unsäglich müßte doch die Hingebung diese wundervollen Augen verschönen! Wer es verstünde, ihnen solch einen Blick zu entlocken! Er nicht, er ganz bestimmt nicht – sonst wäre es ihm wohl schon längst gelungen. Ein Thor war er, daß er ihrem Rufe gefolgt war; er wußte ja, sie liebte ihn nicht – und doch ließ sie ihn nicht los, sagte ihm kein bestimmtes „Nein“ auf immer. Weshalb? Nun, man konnte ihn vielleicht noch brauchen; solch einen grenzenlos gutmüthigen Freund durfte man nicht verscheuchen, schon aus praktischen Gründen nicht. Und schließlich, wenn sich durchaus kein besserer fand – er war der einzige, der warten würde, bis sie beide alt und grau geworden!

Gereizt und zornig sprang Helmuth auf, besann sich und öffnete etwas verlegen die Lüftungsschieber über den Fenstern. Im selben Augenblick waren die Köpfe der Liebenden auseinander gefahren und lehnten sich wie auf Kommando mit geschlossenen Augen gegen die Polster. Wäre es möglich gewesen, noch umzukehren, Helmuth hätte sich jetzt dazu entschlossen. – –

Am nächsten Vormittag verließ er in der Potsdamerstraße den Pferdebahnwagen; in einem stattlichen Hause stieg er zum zweiten Stock empor. Kaum hatte er das Einlaß gewährende Dienstmädchen nach der gnädigen Frau gefragt, als die Thür eines Vorderzimmers sich hastig öffnete und Hedwig erschien, um mit schneller fluchtartiger Bewegung den Vorplatz zu kreuzen. Auf Helmuths Anruf kehrte sie ihm ein erschrecktes Gesicht zu, zwei in Thränen schwimmende Augen blickten ihm freudig überrascht entgegen, dann wandten sie sich mit einem Ausdruck von Pein und Verwirrung von ihm ab.

Die Zofe verschwand im „Berliner Zimmer“, während Helmuth Hedwigs Hand ergriff und sie zurückhielt. Sie standen vor dem Garderobespiegel, in welchen Licht genug fiel, um Hedwig ihr verweintes Antlitz zu zeigen. Vor Beschämung erröthend, versuchte sie, es zu verbergen und ihre Hand aus der seinen zu befreien, während sie mit den kleinen Zähnen auf die volle untere Lippe biß. Ein dunkelrothes Wollkleid umschloß die biegsame Gestalt, deren mädchenhafte Anmuth ihm nie so lebhaft aufgefallen war als in diesem Augenblick.

„Was giebt es, Hedwig?“ fragte er besorgt. „Ihre Mama –“

„Ist wohl,“ entgegnete sie mühsam, mit halberstickter Stimme. „Bitte, treten Sie ein sie wird sehr angenehm überrascht sein.“ Sie deutete auf eine Thür. „Mich – entschuldigen Sie wohl – ich habe – ich muß –“

Sie wandte sich verwirrt gegen das „Berliner Zimmer“, aber er vertrat ihr den Weg.

„Darf ich nicht wissen, was Ihnen Kummer macht?“ fragte er warm und eindringlich.

Rasch zu ihm aufblickend und ebenso schnell die Augen wieder senkend, fragte sie zurück:

„Seit wann interessiert Sie das?“

Es war der herbe stolze Ton den er schon früher von ihr gehört hatte. Er fühlte sich ein wenig getroffen, denn er war sich bewußt, die Tochter über der Mutter stets vernachlässigt zu haben. Trotzdem versetzte er schnell gefaßt:

„Seit ich mir vorgenommen habe, mich nicht länger durch Ihre abweisende Art zurückschrecken zu lassen – Sie könnten sonst leicht dazu kommen, sich auch noch Ihre letzten besten Freunde zu verscherzen.“

Sie sah unsicher zu ihm auf, leicht erstaunt, aber voll Hoffnung und Erwartung.

[413] „Ist das wahr?“ fragte sie leise und hastig. Kommen Sie nicht mehr ausschließlich Mamas wegen – kommen Sie auch ein wenig um – um unsertwillen?“

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern öffnete die Thür zum „Berliner Zimmer“ und trat mit ihm in die Dämmerung des großen Raumes, der sein Licht nur von einem einzigen, auf den Hof sich öffnenden Fenster empfing und die stattlichen Reste des einst so berühmten Winterschen Speisesaales zur Geltung kommen ließ. Auf dem gestickten Polsterbänkchen, das sich an zwei Seiten des riesigen Kachelofens hinzog, nahm sie Platz und winkte ihn zu sich.

„Sie haben recht,“ sagte sie mit verschleierter Stimme, die jeden Augenblick abzubrechen drohte, um sich in Weinen aufzulösen, „ich habe niemand mehr, gar niemand. Bis jetzt hatte ich doch Resi – aber die – die nimmt nun auch gegen mich Partei. Sie begreift gar nicht – aber ich kann doch nun einmal nicht – ich kann nicht!“

Jetzt brach das verhaltene Schluchzen wirklich hervor, mit einer wilden Leidenschaft, die den seltsamsten Gegensatz zu ihrer sonstigen Zurückhaltung bildete. Helmuth fühlte sich bewegt; von neuem ergriff er tröstend des Mädchens Hand. Sie zuckte zurück, überließ ihm dann aber willig die zitternden Finger, und er hatte die sonderbare Empfindung, daß diese schlanke schneeweiße Hand mit den bläulichen Adern in der seinen erkalte. Ihm war, als kenne er Hedwig erst seit den wenigen Minuten seines Hierseins; er warf sich vor, nie daran gedacht zu haben, daß diese Kinder, die von ihm unbeachtet neben der glänzenden Erscheinung ihrer Mutter wie schmächtige Schößlinge im Schatten eines vollblühenden Rosenstrauchs emporgewachsen waren, auch ein Seelenleben führten – vielleicht ein regeres und zarteres als die sich nach außen hin fortwährend ausstrahlende Mutter.

Betender Mohammedaner.
Nach einer Zeichnung von Max Rabes.

„Was begreift denn Resi nicht – was können Sie nicht?“ fragte er sanft, das kalte Händchen unausgesetzt streichelnd.

Hedwig sprang plötzlich empor, und ihr Taschentuch mit beiden Händen vor das Gesicht pressend, stürmte sie ans Fenster.

„O ich kann Ihnen ja nicht – es ist unmöglich –“ murmelte sie kaum verständlich.

„So glauben Sie nicht an meine Theilnahme? Soll ich gehen?“

Er hatte sich gleichfalls erhoben. Etwas wie Ungeduld war in ihm, zugleich eine wirkliche Furcht, sein jäh erwachtes Interesse an Lolas Tochter möchte eine Ablehnung erfahren. Nun wollte er auch einen tieferen Blick in diese junge Seele werfen; vielleicht ihr wohlthun, ihr helfen.

Langsam wandte sie das reine Profil vom Fenster ab; das kalte grauweiße Licht, welches von dem beschneiten Hofe hereinfiel, verschwand von ihrer Stirn und floß hell über das krause dunkelblonde Haar. Sie that ein paar Schritte ins Zimmer hinein und blieb dann unsicher stehen.

„Ich – nein – bleiben Sie! Mama wird ihnen ja doch – Sie sind ein bewährter Freund –“

Um ihn nicht ansehen zu müssen, trat sie ans Büffett und schien dort etwas zu ordnen. Ihr Gesicht war im Schatten.

„Sie wollen mich verheirathen,“ sagte sie absichtlich trocken und kurz abgebrochen. „Mit einem wildfremden gleichgültigen Menschen, mit einem, der von seinem Onkel hergeschickt wurde, um sich ein fremdes Mädchen zur Braut geben zu lassen. Wenn ich nur wüßte, warum! Sind wir denn auf eine so unwürdige Art der Versorgung angewiesen? Ich bin doch noch jung – nicht einmal ganz neunzehn. Weshalb quält Mama mich so – und Resi, die doch sonst –“

Helmuth fühlte, wie er erblaßte. Das also war es! Ein Gefühl der Beschämung stieg in ihm auf und zwang ihn, vor dem Mädchen die Augen niederzuschlagen. „Deine Mutter will glücklich sein, und deshalb sollst Du unglücklich werden!“ Das wäre die rechte Autwort auf ihr „Warum?“ gewesen. „Mit mir möchte sie glücklich sein, darum hat sie mich hergerufen, ich soll ihr helfen, Dich zu diesem Schritte zu bestimmen, denn sie hofft, die Selbstsucht werde mich beredt machen –“

Ein nagender Grimm gegen sich selbst, gegen Lola erfaßte ihn. Hatte dies Kind etwa weniger Anrecht auf Glück als er, als ihre Mutter, die doch schon manchen Becher schäumender Lebensfreude geleert hatte? Und um selber schnell zum Ziele zu gelangen, war die immer noch Lebensdurstige mit kalter Berechnung bereit, ihre Tochter gegen deren eigenes Gefühl zu verheirathen! Er selbst – er hatte ebenfalls eine möglichst schnelle Versorgung der Töchter gewünscht, ohne sich zu fragen, ob sie das als ein Glück ansehen würden! Aber – mein Gott – junge Mädchen sind eben dazu da, sich zu verheirathen, und je jünger sie sind, um so weniger wählerisch pflegen sie zu sein. Junge Mädchen – das ist so ein Allgemeinbegriff, zusammengesetzt aus Tanzlust, Schlittschuhlaufen, Theaterschwärmerei und Autographenalbums; giebt man ihnen einen beliebigen Bräutigam, so sind sie plötzlich närrisch verliebt und glücklich, erfinden die barocksten Kosenamen und sind nur noch in Konfektions- und Weißwarengeschäften anzutreffen. Allein dieser Schmerz der Kleinen! Es scheint also doch Ausnahmen zu geben – oder ob wirklich jedes dieser niedlichen Geschöpfchen so etwas wie eine Individualität besitzt?

Hier stand jedenfalls eine solche vor ihm, die ihren Antheil an Glück oder doch das Recht der freien Selbstbestimmung für sich in Anspruch nahm. Und er war gerecht genug, um gegen seine eigene Berechnung dieses Recht anzuerkennen. Sie sollte sich ihm nicht vergebens anvertraut haben, er wollte Lola klar machen – – was? Daß er das langersehnte gemeinsame Glück wieder auf unbestimmte Zeit, vielleicht auf Jahre, hinausschieben wolle?

[414] Ach – aber war das überhaupt ein Glück für ihn, sein Leben an der Seite einer Egoistin zu verbringen, die um eigenen Vortheils willen ihre nächsten Angehörigen preisgab?

Helmuths langes Schweigen[WS 1] veranlaßte Hedwig endlich, sich nach ihm umzublicken. Sie sah ihn bleich und erschüttert dastehen und eilte mit rascher Bewegung zu ihm.

„Weshalb sagen Sie nichts?“ fragte sie fast athemlos und sah mit zitternder Spannung zu ihm auf. In diesem Blicke lag soviel erwartungsvolles Vertrauen, daß es Helmuth wunderbar warm ums Herz wurde.

„Beruhigen Sie sich, Hedwig,“ sagie er herzlich. „Man wird Sie nicht zwingen. Ich will sofort mit Ihrer Mama reden –“

Er drückte ihr die Hand und verließ das Zimmer. Er hatte genug gehört. Um sein Glück auf dem Leiden anderer aufzubauen – dazu war er nicht der Mann. Und das wollte er Lola sagen, sofort. Mochte dann kommen, was wollte; hatte er dies Leben bis hierher ertragen, so war es wohl auch noch länger möglich. Wie sie ihn angeblickt hatte, diese Hedwig! Welche klaren guten gläubigen Kinderaugen! Und er sollte ihnen Thränen erpressen?

Er klopfte flüchtig an und trat in den Salon. Bei seinem Eintritt erhob sich Resi von einem niedrigen Sitz und eilte ihm mit einem Rufe der Ueberraschung freundlich entgegen. Ein sandblonder junger Mann verließ gleichfalls seinen Sessel und stand, die Vorstellung erwartend, ein wenig steif und ernsthaft, mit durchgedrückten Knien in Positur.

„O – Herr Helmuth – uns so zu überraschen – wie wird Mama sich freuen!“ rief die Kleine. „Die Herren erlauben: Herr Julius Marboth aus Braunschweg, der Neffe unseres Schweizer Freundes – Herr Helmuth Stolz, ein alter Freund unseres Hauses.“

Helmuth faßte den jungen Mann scharf ins Auge. Ein gewöhnliches Gesicht: wasserblaue weißbewimperte Augen, unter einer etwas formlosen Nase ein langausgezogener rother Schnurrbart, ein hübscher Mund und ein längliches Kinn; der Teint luftgebräunt und großporig. Eine nicht üble Gestalt, an der nur die Beine etwas lang und dünn gerathen waren, vervollständigte den Eindruck einer ziemlich männlichen, nicht unangenehmen Mittelmäßigkeit.

Neben ihm erschien Resis unbedeutender Wuchs fast noch kleiner. Sie trug gleich ihrer Schwester ein dunkelrothes Kleid, welches auf ihre graugelbliche Hautfarbe vortheilhaft einwirkte. Ihr schlichtes braunes Haar, das eingedrückte allzu kleine Näschen und das etwas vortretende Kinn wären nicht imstande gewesen, den Eindruck ihrer Erscheinung zu heben, wenn nicht die ungemein gutherzigen fröhlichen Augen und die blinkenden Zähne ein freundliches Licht über die unregelmäßigen Züge gebreitet hätten.

Alle diese Einzelheiten glaubte Helmuth bisher niemals beachtet zu haben; jetzt, während er des jungen Mädchens munterem Geplauder zuzuhören schien, studierte er sie – er wußte selbst nicht, weshalb – mit dem Scharfblick eines Malers. Sein Interesse an Lolas Töchtern war urplötzlich erwacht.

„Und wo finde ich Ihre Mama?“ fragte er schließlich.

Resi sprang auf, klopfte an die Thür des anstoßenden Zimmers, öffnete sie und ließ Helmuth eintreten; sie selbst kehrte zu dem sandblonden Braunschweiger zurück. Lola saß am Schreibtisch des mit raffinierter Behaglichkeit ausgestatteten Raumes.

„Guten Tag, lieber Freund,“ sagte sie lächelnd, ohne aufzublicken, indem sie mit fliegender Eile noch einige Worte auf den vor ihr liegenden, nahezu vollgeschriebenen Briefbogen warf. Dann erhob sie sich und streckte ihm mit bezaubernder Herzlichkeit die Rechte entgegen; die Linke wendete inzwischen wie spielend den vor ihr liegenden adressierten Briefumschlag mit der unbeschriebenen Seite nach oben. Helmuth war selbst verwundert, daß er diese kleine bezeichnende Bewegung im ersten Augenblick des heißersehnten Wiedersehens bemerkte. Was hatte plötzlich sein Auge für solche kleinliche Züge geschärft?

„Also wirklich, es war Ihre Stimme?“ fuhr sie mit Wärme fort. „Wie soll ich es Ihnen danken, daß Sie gekommen sind! Freilich, ich darf mich nicht über den neuen Freundschaftsbeweis wundern. Sie verwöhnen Ihre Freunde so sehr, daß es nur natürlich ist, wenn sie unbescheiden werden.“

Zerstreut seinen kurzen dunklen Bart streichend, horchte Helmuth mehr auf ihre helle Stimme als auf ihre Worte. Sein Auge überflog ihre feingebaute Gestalt. Wie schön sie war! Das zierliche Köpfchen mit dem Kameenprofil wuchs aus einer dichtgefältelten schwarzen Spitzenkrause empor, aus welcher der schlanke Hals schneeweiß hervorleuchtete. Ueber die üppigen Falten eines eleganten Negligées von grauem Plüsch floß bei jeder ihrer Bewegungen ein weiches silbernes Licht. Gehoben durch die vortheilhafte Kleidung, strahlte das schöne Gesicht in einer Frische, der man die herannahenden Siebenunddreißig nicht glauben mochte. Die Seele, die in diesem wohlerhaltenen Körper wohnte, hatte ihr Haus nicht abgenutzt, nicht gerungen und gelitten – kühl und ruhig hatte sie in ihrem Raume gewaltet, und was aus diesen dunklen Augen blitzte, war nichts als die Lust am Leben, am Herrschen – geistig verfeinert zwar, doch nicht seelisch durchwärmt.

Manchmal schon hatte er ähnliche Gedanken verscheucht, nicht nur, weil es ihm fast sündhaft erschienen war, an einem so herrlichen Gottesgeschöpf zu mäkeln, auch weil seine warmherzige Natur das Bedürfniß fühlte, den Gegenstand seiner Liebe zu idealisieren. Und die Liebe zu Lola schien ihm zur Lebensgewohnheit geworden. Woher nur heute, und gar in ihrer Gegenwart, diese kritische Stimmung, die von Minute zu Minute wuchs?

Er wurde erst aus diesen Beobachtungen aufgeschreckt, als er ihr gegenüber in einer der phantastisch arrangierten Zimmerecken saß und die Worte hörte:

„Und nun zu dem Zwecke Ihres Kommens!“

Hedwigs Bild trat vor seine Seele, ihre rührenden thränenvollen Augen. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und sagte, mit einer Möbelquaste spielend, im Geschäftston:

„Ja, lassen Sie uns davon reden! Ich fürchte, Lola, daß Sie mich vergebens gerufen haben.“

Sie richtete sich überrascht auf und ihre dunklen Augen spähten scharf zu ihm hinüber.

„Ich habe Hedwig gesprochen,“ fuhr er fort, „und bin durchaus nicht gesonnen, sie gegen ihr Gefühl in eine unpassende Heirath hineinzureden. Denn dazu hatten Sie mich ja doch ausersehen? Das Mädchen findet diese Art der Versorgung unwürdig, der Mann ist ihr fremd und gleichgültig. Mein Gewissen ist nicht weit genug, um die Verantwortung für die Folgen zu übernehmen.“

Lola sah ihn einen Augenblick stumm an. Er saß noch zurückgelehnt und hielt die Augen eigensinnig auf die in seiner Hand sich drehenden Fransen der Quaste gerichtet, als fürchte er, der Anblick der schönen Frau mochte ihn in seiner Weigerung wankend machen. Da schlugen leise Worte an sein Ohr, in denen ein räthselhafter Ton zitterte – war es Enttäuschung, war es Verheißung?

„Ich – ich glaubte, Sie selber wünschten –“

Helmuth fuhr empor. Da saß sie vor ihm, die Frau, deren Besitz ihm seit Jahren als das höchste Gut erschienen war. Sie hatte den Kopf abgewendet, so daß ihm nur die zarte lichtgeränderte Wangenlinie sichtbar war. Aber er sah ihre Brust sich in raschem Athem heben und senken – ein Taumel faßte ihn, und mit hastiger Bewegung riß er ihre Hand an sich.

„Lola – o Gott – Lola –“

Sanft entzog sie ihm die Hand. „Nein, mein Freund,“ sagte sie, wie er zu vernehmen glaubte, mit unterdrückter Bewegung, „wenn wirklich Ihr Gewissen in Frage kommt – ich bin nun schon fertig damit. Ich dachte nur, weil Hedwig stets eine solche Vorliebe für Sie gezeigt hat, und dann – habe ich mich denn auf andere Weise verheirathet und bin ich als Toms Gattin je unglücklich gewesen?“

Er sprang auf und schritt erregt hin und her.

„Sie sind eine andere als Hedwig, das Mädchen hat ein empfindliches vereinsamtes Gemüth, und Sie sind eine Weltdame!“

Ein erstauntes Lächeln flog über ihre Züge; dann legte sie den Finger auf den Mund und deutete auf die Thür zum Nebenzimmer, wo eben Resis helles Lachen erscholl.

„Etwas leiser, bitte, mein verehrter Psycholog!“ lächelte sie. „Ei, ei, da entdecke ich ja eine neue Tugend an Ihnen! Aber urtheilen Sie nicht zu schnell; ich bilde mir ein, meine Tochter auch ein wenig zu kennen. Diese drei verunglückten Tage wird sie Herrn Marboth und mir noch abbitten. Vielleicht hat sie eine sogenannte ‚Neigung‘ – wir alle leiden ja mit neunzehn Jahren an diesen erhabenen Thorheiten! Und wie viele von uns erleben die Erfüllung ihrer ersten Herzensträume? Nicht eine unter Hunderten! Und das ist gar kein Unglück! Guter Gott – man kennt ja diese am meisten angeschwärmten Männer! Allein da steift sich der romantische kleine Eigensinn auf einen Konzertmeister oder Posa-Darsteller und tobt gegen die elterliche Tyrannei, um ein Jahr später auf den Knien dafür zu danken.“

[415] Helmuth war am Fenster stehen geblieben und blickte finster hinaus. Der rechte Zeitpunkt war verrauscht; aalglatt wie immer war sie ihm entschlüpft – nachdem sie versucht hatte, neuen Brennstoff auf das schon erlöschende Feuer seiner Liebe zu häufen.

„Mein Himmel, wozu sage ich Ihnen das alles!“ fügte sie in leichtem Tone hinzu. „Ihr Gewissen läßt sich nicht überzeugen, das weiß ich ja; aber ich möchte Ihnen wenigstens erklären – muß ich Sie erst versichern, daß ich aufs gewissenhafteste zu Werke gegangen bin? Der junge Marboth ist der Neffe unseres schweizer Freundes – mit sechsundzwanzig Jahren schon als kaufmännischer Direktor in einer bedeutenden chemischen Fabrik angestellt, dabei der treuherzigste Charakter von der Welt. Doch das ist ja nun gleichgültig, er kann nur wieder abreisen. Und ich“ – sie lachte leise und bitter – „nun ja, ich will gar nicht leugnen, daß auch ein wenig Egoismus dabei war –“

„Quälen Sie mich nicht!“ sagte er gepreßt. „Quälen Sie auch Hedwig nicht! Warum haben Sie nicht an Resi gedacht? Sie ist anschmiegender, leichtlebiger –“

„Resi!“ fiel Lola mit fast geringschätzigem Mitleid ein. „Resi ist häßlich. So lange Hedwig im Hause ist, kommt Resi nicht in Betracht. Sie ist ja ein gutmüthiges offenherziges kleines Ding, nicht ohne Liebenswürdigkeit – das alles wird ihr einstweilen aber wenig nützen und mir auch nicht.“

Leise aufseufzend erhob sie sich, trat an den Schreibtisch und überlas den vorhin geschriebenen Brief; wie um noch ein Wort hinzuzufügen, ergriff sie die Feder, legte sie aber wieder fort und schloß den Brief in den Umschlag. Dann schellte sie und übergab ihn dem Dienstmädchen zur Besorgung. Mit einem eigenthümlichen Lächeln trat sie dann zu Helmuth und sah ihm ganz nahe in die Augen.

„Also – Sie wollen nicht mein Bundesgenosse sein? Um keinen Preis?“

Deutlich sah er in ihren Augen sein Spiegelbild.

„Um keinen Preis, Lola!“

Eine tiefe lastende Traurigkeit war in ihm. Er fühlte, daß er sie verloren hatte – nicht jetzt, schon lange, lange. Doch nicht nur diesem inneren Abschied galt seine Trauer, auch den warmen echten Gefühlen galt sie, die er jahrelang an ein schönes Bild ohne Seele verschwendet hatte. Das Glück, das er in ihrer Gegenwart empfunden, war so mit Qual gemischt gewesen, mit so großen Opfern erkauft worden, daß er nur mit dem Bewußtsein eines großen Verlustes den Strich unter die abgeschlossene Rechnung setzen konnte.

Und wozu lebte er jetzt, zu welchem Ende widmete er seine ganze Kraft seinem Geschäft, das nur seinem Thätigkeitstrieb Genüge that und sein Herz nicht befriedigte? Für Lola hatte er bisher gearbeitet. Und nun?

„Wie lange bleiben Sie in Berlin?“ unterbrach Lolas Stimme seinen Gedankengang.

Sofort war er wach. Durfte sie keinen Bundesgenossen in ihm sehen, so war er wohl für sie mehr als überflüssig, war er schädlich – sie wollte ihn fort haben! Aber nun blieb er, nun erst recht, wenn auch zu eigener Qual! Hedwig würde ihn vielleicht nöthig haben.

„Ich habe mir kein bestimmtes Ziel gesetzt,“ erwiderte er ausweichend. Dann folgte er ihr in den Salon. Dort war man ohne Zweifel bei einer äußerst lustigen Unterhaltung angelangt. Resi, mitten im Zimmer stehend, führte einige groteske Bewegungen aus und lachte von Herzen dazu, während der Sandblonde seinen hübschen Mund bedenklich in die Breite zog und sich mit hochrothem Gesicht und thränenden Augen aufs wohlerzogenste bemühte, nicht laut hinauszulachen.

„Mama, ich erzähle Herrn Marboth von unserer Tanzstunde!“ rief die Kleine, ein wenig beschämt, ertappt zu sein, und eine lebhafte Röthe stieg ihr bis zur Stirn empor. „Weißt Du – wie ich den Walzerschritt nicht herauskriegen konnte – und wie Hedwig mich zu Hause eindrillte – und wie ich vor Aerger weinte und gerade ein Tanzstundenherr zu Besuch kam –“

„Ach so,“ lächelte Frau Lola. Aber das Lächeln hatte etwas Gezwungenes, und in ihrer Stimme klang ein gereizter Ton. „Und Hedwig? Du thätest gut, sie zu rufen.“

Das Lachen erstarb auf Resis Munde. Wie konnte sie auch die Sachlage soweit vergessen! Nun erinnerte die Mutter sie daran, daß sie hier nur eine Nebenrolle, den Lückenbüßer, zu spielen hatte. Verschüchtert blickte sie zu der schönen Mama hinüber, welche mit der liebenswürdigsten Miene neben dem jungen Manne Platz nahm und sofort ein Gespräch begann. Er ging zerstreut auf ihr Geplauder ein, und verstohlen folgten seine Augen der neuen kleinen Freundin bis zur Thür.

Helmuth, den Lola vergebens in die Unterhaltung zu ziehen versuchte, verließ bald nach Resi das Zimmer. – –

Hedwig saß mit einer Handarbeit am Fenster des Speisezimmers; sie hatte die Stickerei in den Schoß sinken lassen und blickte zu der eifrig auf sie einredenden Resi empor, welche, den Rücken gegen die Thür, vor ihr stand.

„Ein Närrchen bist Du, ein wahres Närrchen!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Sitzest hier allein und schmollst! Du sollst nach vorn kommen – Mama ist so böse! Und so ein lieber, netter Mensch – himmlisch habe ich mich eben mit ihm unterhalten – zu amüsant!“

Mit trübem Lächeln sah jetzt Hedwig an ihr vorbei nach Helmuth; von Resi unbemerkt, war er eingetreten und hatte ihren Erguß mit angehört. Auch diese wandte sich jetzt und erröthete lebhaft bei seinem Anblick.

„Du brauchst nicht zu erschrecken, Herr Helmuth weiß –“ sagte Hedwig mit ihrer weichen Altstimme. „Nun, was haben Sie bei Mama ausgerichtet?“

Er zuckte die Achseln. „Wir kennen jetzt gegenseitig unseren Standpunkt, das ist alles.“

Sinnend betrachtete er ihren schönen Kopf, in der Linie des Profils Lola so ähnlich, ihr so unähnlich in Ausdruck und Farbe. Es war ihm ein Trost, seinen lieblichen Schützliug zu sehen, ihren vertrauenden Blick zu fühlen. Unter der Wirkung desselben schien ihm die Wunde, welche die Mutter ihm geschlagen hatte, weniger schmerzhaft.

„Wollen Sie nicht in den Salon kommen?“ fragte er mit freundlichem Ernst.

Gehorsam legte sie ihre Arbeit zusammen und erhob sich. Voll Staunen nahm Resi die plötzliche Gefügigkeit ihrer sonst so halsstarrigen Schwester wahr, doch wagte sie keine Bemerkung und ging beiden voran in den Salon.

Das Aufleuchten, mit welchem die Augen des Sandblonden Resis Wiedererscheinen begrüßten, erlosch sofort, als er hinter ihr die schlanke Gestalt ihrer Schwester auftauchen sah. Augenscheinlich beklommen, wandte er rasch den Blick von ihr, und die stotternde Antwort, welche er in diesem Augenblick an Frau Lola richtete, legte Zeugniß ab von der unbehaglichen Verwirrung, in welche Hedwigs Gegenwart ihn versetzte. Ohne ihn anzusehen, schritt sie an ihm vorüber und nahm mit ihrer Arbeit am Fenster Platz. Trotz Resis freundlicher Bemühung, seine Laune wiederherzustellen, blieb Marboth verstimmt und einsilbig, so daß schließlich auch die Kleine betreten verstummte. Die Versuche der Mutter, Hedwig zur Theilnahme am Gespräch zu bewegen, wurden von dieser hartnäckig zurückgeschlagen. Auch Helmuth verhielt sich ziemlich schweigsam; wie von weitem hörte er Lolas Geplauder, die fast allein mit Gewandtheit und Tapferkeit gegen die allgemeine Verstimmung ankämpfte. Er blickte verträumt auf Hedwigs feine Finger und die unaufhörlich bewegte blinkende Nadel. Mit einer Ruhe, der er selbst nicht recht traute, parierte er von Zeit zu Zeit einen zornigen Blitz aus Lolas Augen. Nach einer Weile trat er zu Hedwig, und während er einen herabhängenden Zipfel ihrer Stickerei ergriff und angelegentlich zu betrachten schien, sagte er halblaut:

„Fühlen Sie nicht, daß Ihre Uebellaunigkeit auf uns alle geradezu lähmend wirkt?“

„Man hätte mich draußen lassen sollen,“ versetzte sie kurz, ohne den Blick zu erheben.

„Als Tochter des Hauses sollten Sie sich verpflichtet fühlen, Ihre Mutter in der Unterhaltung der Gäste zu unterstützen.“

„Mama hat meine Hilfe bisher nie vermißt. Sie wissen, daß ich nicht liebenswürdig bin – ich kann mir nicht geben, was mir die Natur versagt hat.“ Ihr Ton war schroff wie vorhin beim Empfang. Und den Kopf noch tiefer auf die Arbeit senkend, setzte sie mit bebender Stimme hinzu: „Uebrigens hätten Sie mir, als Sie mich hierher holten, gleich eingestehen sollen, daß Mama Sie umgestimmt hat.“

Erstaunt blickte er auf sie nieder. Er mußte lächeln.

[416] „Jetzt wissen Sie selbst, wie ungerecht Ihr Mißtrauen Sie macht, Hedwig. Woher denn diese pessimistische Anschauung vom Wankelmuth der Männer?“

Er bereute seine Worte auf der Stelle, denn er sah ihre vorwurfsvoll zu ihm aufblickenden Augen sich mit Thränen füllen.

„Glauben Sie nicht, daß – man zuweilen Gelegenheit hat, zu beobachten – –“

Sie unterbrach sich und fügte mit einem mißlungenen Versuch, einen trockenen Ton anzuschlagen, hinzu: „Mama hat bislang noch immer ihren Willen durchzusetzen verstanden.“

Er schwieg und fuhr fort, ihre Hände zu betrachten. Sie waren sehr weiß, nur die Nägel und die feinen Knöchel zeigten eine rosige Färbung, und er ertappte sich darauf, daß er ganz ernsthaft darüber nachdachte, ob sie in der Ruhe oder in der Bewegung schöner seien. Von der Mutter hatte sie diese zarten Hände nicht geerbt; Lolas Fingergelenke waren grob, die Nägel breit und flach – ein Schönheitsfehler, den sie sehr beklagte.

Ueberrascht fuhr Helmuth aus seinem thörichten Gedankenspiel empor, als er neben sich Hedwigs Stimme hörte, die sich plötzlich in das von ihm nicht beachtete Gespräch mischte.

„Ich kenne das Duett,“ sagte sie kühl und höflich. „Meiner Ansicht nach ist es das schönste, das Schumann geschrieben hat. Wenn Sie es mit meiner Schwester singen wollen, Herr Marboth, will ich gern die Begleitung übernehmen.“

Sich erhebend, legte sie die Handarbeit fort, und als sie an Helmuth vorüberging, schien ihr Blick zu fragen: „Bist Du mit mir zufrieden?“

Er lächelte und seine Augen begegneten Lolas mißtrauisch forschendem Blicke.

Herr Marboth war jetzt in seinem Element; er wurde beinahe lebhaft. Mit einem hübschen, wenn auch unausgebildeten Bariton begabt, dabei taktfest wie ein Tambourmajor, spielte er in einem Gesangverein seiner Heimath keine geringe Rolle. Da Resi mit dem Takte auf dem Kriegsfuß stand, brachte sie mehrmals Verwirrung in den Gesang, und mit Kopf, Fußspitze und Zeigefinger taktierend, bemühte sich der Sandblonde, das schöne Duett zu retten. Seine Grimassen erregten Resis Heiterkeit; sie brach ab, verschluckte sich, gerieth ins Husten, lachte und weinte zugleich über ihre Ungeschicklichkeit und eilte, dunkelroth vor Verlegenheit, aus dem Zimmer.

Marboth lachte in seiner geräuschlosen Art, daß ihm die hellblauen Augen voll Thränen standen, und äußerte: „Ich werde öfter mit dem gnädigen Fräulein üben; es liegt am Lehrer.“

Aus welchen Anzeichen er die mit solcher Sicherheit verkündete Ueberzeugung geschöpft hatte, war nicht recht ersichtlich. Jedenfalls war die Stimmung hergestellt, und verlor sich auch Hedwigs kühle Haltung nicht völlig, so verlief doch der Mittag in ziemlich heiterer Weise. Frau Lolas Gewandtheit gelang es, Herrn Marboth dauernd zum Mittelpunkt der Unterhaltung zu machen und seine schüchterne Steifheit ein wenig zu besiegen. Er nahm sogar einigemale einen Anlauf, Resi zu necken; gutmüthig keck hielt sie ihm Widerpart und blickte nur zuweilen etwas ängstlich nach ihrer Mama. Allein sie konnte doch wahrhaftig nichts dafür, daß Hedwig sich so ablehnend verhielt und daß inzwischen für des armen jungen Mannes Unterhaltung gesorgt werden mußte – es war wirklich zu nett von ihm, daß er sich so lange mit der ihrigen begnügte. Denn wenn Hedwig nur wollte – –

Aber sie wollte nicht. Auch abends während der Fahrt nach dem Theater hielt sie sich zu ihrer Mutter und zu Helmuth. Beim Verlassen der Pferdebahn nahm Lola sofort des Freundes Arm, und Hedwig beeilte sich, an seine linke Seite zu kommen. Einzelne Schneeflocken trieben sich in der Luft umher; Wagen auf Wagen fuhr vor dem Theater auf; und seine langen Beine zu kleinen Schritten zwingend, geleitete Herr Marboth die lustig plaudernde Resi sorglich durch das Wagen- und Menschengewirr dem Musentempel zu. Er deutete auf die elektrische Lampe, die wie ein bläulicher Stern über der Kuppel des Gebäudes schwebte, und Helmuth hörte, wie er mit tiefbewegter Stimme flüsterte:

„Sehen Sie das schöne Bogenlicht! Oder mögen Sie lieber Glühlicht? In unserer Fabrik haben wir –“

Helmuth mußte an der Kasse längere Zeit warten, ehe er ein Billet erlangen konnte. Als er den Saal betrat, hatte seine Gesellschaft bereits ihre Sperrsitze eingenommen, ziemlich entfernt von dem seinigen; er selber blieb bis zum Beginn der Vorstellung

stehen und beobachtete sie von weitem. Diesmal war es Lola gelungen, Hedwig neben Marboth zu bringen, während sie selbst mit Resi die Plätze dahinter in der folgenden Reihe einnahm. Wie suchend wandte Hedwig einigemal verstohlen den Kopf, und Helmuth meinte, ihre Augen aufleuchten zu sehen, als sie ihn entdeckt hatte; sie lächelte ihm flüchtig zu und vertiefte sich dann in das Lesen des Theaterzettels. Trotz der unbequemen Halsverrenkung war Marboths Kopf meist nach der hinter ihm sitzenden Resi gewendet, deren seltsames, fast immer lachendes Profil von Zeit zu Zeit neben dem ihrer Mutter auftauchte. Helmuths Auge schweifte von der einen zur anderen. Immer noch überstrahlte Lolas Schönheit selbst die ihrer ältesten Tochter um ein bedeutendes; ihre leuchtenden Farben, durch den Gegensatz zu den dunklen Haaren und Brauen noch wirksamer, zogen alle Blicke auf sich. Hedwigs Reiz, obwohl ihre Züge nicht minder schön waren, lag tiefer. Bis auf die blühend rothen Lippen ermangelte das Gesicht der Farbe und Fülle. Dafür bot es dem aufmerksamen Beobachter den wechselnden Ausdruck einer reichen Seelenthätigkeit; etwas wie eine fortwährende Aufmerksamkeit leuchtete still aus den langbewimperten graublauen Augen, eine Bereitwilligkeit, in Ernst und Scherz mit ihrer Umgebung zu empfinden – zugleich eine Scheu vor allem Zudringlichen und unedlen. Helmuth ertappte sich heute schon zum öfteren darüber, daß er Hedwigs Eigenart zu ergründen suchte. Vielleicht hatte seine Natur hier unbewußt ein Mittel gefunden, um sich von dem unfruchtbaren Schmerze über Lolas Verlust abzulenken.

Indessen, wer sagte ihm denn, daß Lola für ihn verloren sei! Eine augenblickliche Meinungsverschiedenheit hatte eine Abkühlung zwischen ihnen hervorgerufen; um so verheißungsvoller konnte die Versöhnung enden. Aber wünschte er denn eine solche Versöhnung? Was konnte sie ihm anderes bringen als eine Erneuerung der alten Ketten! Sie quälte ihn nur noch, diese alte Liebe, sie war ihm zur Last geworden; er fühlte eine trotzig frische, fast jugendliche Kraft in sich aufsteigen, eine Neigung, die alte ungesunde Leidenschaft abzustoßen, wie die Buche das überwinterte alte Laub abstößt, sobald im Lenze die jungen Triebe keimen. Ja, es war mehr als eine Meinungsverschiedenheit, was sich trennend zwischen Lola und ihm aufgerichtet hatte: es war der große, einschneidende Gegensatz zweier Naturen, die sich auf verschiedenster Grundlage aufbauen.

Grüblerisch wie er war, ward er plötzlich stutzig über seinen eigenen Gedankengang. Die Leidenschaft philosophiert nicht. War er denn wirklich seiner Bande ledig, da er sie sachlich zu betrachten vermochte? War er zum Begräbniß seiner eigenen Liebe hierher nach Berlin geeilt?

Er blickte zu Lola hinüber – ängstlich fast, als könne ihr Anblick ihn wieder in die ehemaligen Fesseln schlagen. Da saß sie, schön wie nur je; auf ihrem Haare spielte das gelbe Licht und zog gleißende Funken aus den darin verstreuten Brillantsternchen, einem Andenken an vergangene glänzende Zeiten. Ihr Profil mit den zum Lächeln leicht geöffneten Lippen hob sich fein und scharf von einem nahen weißen Bogenpfeiler; der reizende Theatersaal war wie geschaffen zum Schmuckkästchen für dieses Juwel. Und in vollem Genuß an ihrer Schönheit, der sich mit jeder Minute zu verstärken schien, studierte er das wundervolle Gesicht in allen seinen Einzelheiten. Zuweilen glitt sein Auge zu Hedwig hinüber, auf deren Zügen sich die Vorgänge des Lustspiels in Scherz und Ernst wiederspiegelten. Erst jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß die Vorstellung längst begonnen, daß er mechanisch seinen Sitz eingenommen und verständnißlos die mehr oder minder geistreichen Wendungen des oft gesehenen Lustspiels an seinem Ohre hatte vorüberrauschen hören. Ja, jetzt fiel ihm ein, daß der Vorhang schon einmal gefallen war und er gewohnheitsmäßig mit dem übrigen Publikum Beifall geklatscht hatte. Um nachher auch seinerseits etwas über die Darsteller sagen zu können, zwang er jetzt seine Aufmerksamkeit auf die gewandt gruppierten Ereignisse des Stücks und fand sich rasch und angenehm genug in das wohlbekannte Gefüge hinein, um ihm bis zum Aktschluß zu folgen.

In der Pause verließ er seinen Sitz und wartete vor dem Eingang auf seine Freundinnen. Den übrigen voran bahnte Lola sich ihren Weg durch die nach außen drängende Menge und nahm mit einschmeichelnder Freundlichkeit Helmuths Arm.

(Schluß folgt.)

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Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Lage der Mondsichel.

Von Dr. C. Cranz.. Mit Zeichnungen von H. Nisle.

Und man erzählte mir etwas, was andere glauben mögen, ich wenigstens glaube es nicht: daß nämlich die Phönizier bei der Umschiffung Libyens die Sonne zur Rechten hatten.“ So berichtet Herodot im vierten Buche seiner Geschichte; es erschien ihm unmöglich, daß den phönizischen Schiffern, die von dem Pharao Necho mit der Umschiffung Afrikas beauftragt wurden und die ihre dreijährige Reise vom Rothen Meer her, also am südlichen Ende des afrikanischen Festlandes in der Richtung von Ost nach West ausführten, die Sonnenscheibe im Norden, statt im Süden gestanden haben sollte.

Und doch hat es damit seine volle Richtigkeit.

Während auf der nördlichen Erdhalbkugel für den Beobachter, welcher den Blick nach dem Ort des höchsten Stands der Sonne gerichtet hält, die Sonne bekanntlich ihren täglichen scheinbaren Lauf von links nach rechts vollendet, erfolgt dieser für einen Beobachter auf der südlichen Halbkugel von rechts nach links, und gleichermaßen ist die tägliche Bewegung aller Sterne derjenigen auf der nördlichen Hemisphäre entgegengesetzt. Geht man in Gedanken von Norden über den Aequator nach Süden, so nähert sich die Sonne, die zuerst nach Süden zu stand, immer mehr und mehr dem Zenith und geht dann nach der anderen Seite.

Zugleich kehren sich alle Sternbilder um, die zugleich auf beiden Erdhälften sichtbar sind. War zu einer bestimmten Abendzeit der Gürtel des Orion wagrecht, so wird, je weiter wir nach Süden kommen, die Verbindungslinie dieser drei Sterne sich aufrichten und auf der südlichen Halbkugel gerade umgekehrt sich vorfinden, der Gürtel wieder wagrecht, aber Beteigeuze unten, Rigel oben. (Siehe das Sternkärtchen S. 753 des letzten Jahrgangs.)

Unser Mond theilt dieses allgemeine Schicksal; auf der südlichen Halbkugel besitzt also der abnehmende Mond dieselbe Gestalt wie bei uns der zunehmende, und umgekehrt.

a. Morgenlandschaft mit richtigem Mond.

c. Abendlandschaft mit richtigem Mond.

b. Morgenlandschaft mit falschem Mond.

d. Abendlandschaft mit falschem Mond.

Wir erwähnen dies aus Anlaß einer Zuschrift, die uns von seiten eines Lesers der „Gartenlaube“ zugegangen ist und welche bestätigt, daß die beschriebene Thatsache nicht nur unter Laien, sondern auch unter naturwissenschaftlich Gebildeten auffallend wenig bekannt ist. Das mag daher rühren, daß die allermeisten der üblichen astronomischen Leitfaden die Erscheinung nicht erwähnen, unter zehn solchen Lehrbüchern, welche der Verfasser auf diesen Gegenstand durchmusterte, ist dasjenige von Littrow („Wunder des Himmels“) das einzige, welches die kurze Bemerkung enthält, es scheine Marko Polo auf seinen Reisen zuerst bemerkt zu haben, daß die Mondsichel auf der südlichen Halbkugel umgekehrt liegt. Und man sollte doch denken, daß diese Erscheinung den Reisenden nothwendig in die Augen fallen müßte.

Daß in der That die Mondsichel die umgekehrte Lage haben muß, erkennt man sofort durch folgende Ueberlegung. Man denke sich erstens einen Beobachter A auf dem Nordpol der Erde stehend; ihm erscheine die Sichel aufrecht und derart, daß die hohle Seite nach rechts gekehrt ist, sein Horizont ist gleichgerichtet mit der Ebene des Aequators, andererseits ist auch für einen Beobachter B auf dem Südpol der Horizont parallel dem Aequator, aber da er als „Gegenfüßler“ gerade umgekehrt steht wie A, so ist – wenn wir uns der Einfachheit halber gestatten, von oben und unten zu sprechen - für B oben, was für A unten war, und umgekehrt, folglich ist für B die hohle Seite des Monds nach links gekehrt. Würde ein Beobachter plötzlich vom Nordpol nach dem Südpol versetzt, so würde ihm das ganze Himmelsgewölbe gewissermaßen auf den Kopf gestellt erscheinen.

Beim allmählichen Uebergang von der nördlichen zur südlichen Halbkugel vollzieht sich diese Umkehrung natürlich nach und nach; erschien auf der nördlichen Halbkugel der Mond z. B. als eine nahezu aufrechte Sichel mit der hohlen Seite nach rechts (abnehmender Mond), so legt sich die Verbindungslinie der Sichelspitzen, je weiter wir uns dem Aequator nähern, um so mehr wagrecht; später kehrt sich die Sichel um. Am Aequator selbst wird die Sichel nur zu gewissen Zeiten völlig wagrecht liegen, da dort die Sonne bald etwas nördlich, bald etwas südlich und nur zu gewissen Zeiten im Zenith selbst culminiert.

Man pflegt den Mond einen „Lügner“ zu nennen, mit Rücksicht darauf, daß man die Sichel des zunehmenden Mondes zu einem D ergänzt (Decrescit, er nimmt ab) und die des abnehmenden zu C (Crescit, er nimmt zu). Diese Eigenschaft unseres Trabanten trifft also auf der südlichen Halbkugel nicht zu, und unter dem Aequator selbst wird er in der einen Hälfte des Jahres lügen, in der andern nicht.

Es liegt hier eine passende Gelegenheit vor, einen Fehler zu erwähnen, dem man bei den Malern nur allzu oft begegnet. Neben einem Regenbogen in der Mitte eines Bildes mit der Sonne rechts oder links, neben Mondreflexen auf dem Wasserspiegel, die nicht nach dem Augpunkt hin gerichtet sind, sondern entweder auseinander gehen oder nach einem andern Punkte hinzielen u. s. w. – trifft man besonders häufig falsche Darstellungen der Mondsichel, wie dies z. B. auf unseren Landschäftchen b und d der Fall ist. Ja, der Verfasser erinnert sich, in einer ausländischen Gemäldegalerie eine als solche bezeichnete „Abendlandschaft“ gesehen zu haben, auf welcher durch eine hellere Färbung des Himmels rechts angedeutet war, daß die Sonne seit etwa einer halben Stunde unter dem Horizont verschwunden sei, während zugleich der Mond nicht allzu weit davon entfernt und nahezu als Halbkreis gezeichnet, mit der kreisförmigen Seite nach oben und links gewendet, ein auf einer Bank sitzendes Liebespaar belauschte; hierin liegt eine ganze Summe von Fehlern.

Die Sache ist im Grunde überaus einfach. Nehmen wir als Beispiel zunächst die Zeit um den Neumond. Einige Tage nach demselben ist der Mond, der anfangs bei der Sonne stand, schon erheblich links und östlich von derselben sichtbar; denn bekanntlich findet man den Mond täglich um annähernd 13 Grade von West nach Ost aus der vorhergehenden Stellung zur Sonne abgerückt, weshalb er auch jeden folgenden Tag fast eine Stunde später aufgeht. Da nun die beleuchtete Seite der Sonne zugekehrt sein muß – weil ja der Mond sein ganzes Licht von der Sonne erhält – so wendet derselbe der Erde einige Tage nach Neumond nicht mehr die ganze dunkle Seite zu, sondern es ist bereits auf der rechten [418] oder westlichen Seite des Mondes ein Theil der beleuchteten Hälfte sichtbar, weshalb der Mond, wie in unserer Landschaft c, als eine helle Sichel mit der kreisförmigen Seite nach der Sonne, also nach rechts zu, sich darstellt. Jetzt geht der Mond erst einige Stunden nach der Sonne, also bei Tage, auf und nach der Sonne, also in der Abenddämmerung, unter.

Ist der Mond in das erste Viertel getreten, d. h. hat er den vierten Theil seines synodischen Umlaufs vollendet, was nach 72/5 Tagen der Fall ist, so ist die eine beleuchtete Halbkugelfläche für uns zur Hälfte sichtbar geworden; wir sehen also den Mond, der jetzt um 90 Grade von der Sonne absteht, um Mittag auf- und um Mitternacht untergehen, in Gestalt einer halben Kreisscheibe, mit dem kreisförmigen Theil rechts, der geraden Verbindungslinie der Hörner links.

In seinem weiteren Umlauf gelangt nach Verfluß eines halben Monats der Trabant in Opposition mit der Sonne, wobei er um Mitternacht im Meridian steht, aufgeht, wenn die Sonne untergeht, und umgekehrt (Vollmond). Von jetzt ab zieht sich der rechte Rand der Scheibe ein, während die linke Seite kreisförmig bleibt; und zur Zeit der „zweiten Quadratur“ oder des „letzten Viertels“ ist der Ostrand ein Kreis, der Westrand eine gerade Linie; zu dieser Zeit geht der Mond etwa um 6 Uhr morgens durch den höchsten Punkt seiner Tagesbahn, weshalb die ersten Nachtstunden ohne Mondschein sind. Die westliche, also rechte Begrenzung zieht sich immer mehr ein, und schließlich hat der Mond wieder die Gestalt der schmalen Sichel angenommen, wobei jedoch jetzt, im Gegensatz zu den Tagen nach Neumond, die hohle Seite nach rechts gekehrt ist (wie bei a); so geht der Mond noch einige Tage vor der Sonne auf und unter; worauf er, dem Tagesgestirn wieder nahe gerückt, für drei bis vier Tage unsichtbar wird – und der Kreislauf beginnt von neuem.

Für den Maler, der sich vor Irrthümern schützen will, genügt es, sich die Regel zu merken, die übrigens schon Geminus (um 70 v. Chr.) bekannt war: „die über den Bogen hinaus verlängerte Senkrechte auf der Verbindungslinie der Hörner ist stets nach der Sonne zu gerichtet.“ Bei Befolgung dieser Regel sind Darstellungen des Mondes wie bei b und d unmöglich.

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Blätter und Blüthen.


Zum Gedächtniß Gustav Schwabs. Der 19. Juni dieses Jahres erneuert die Erinnerung an einen Mann von liebenswürdigem Geist und ausgedehnter dichterischer Wirksamkeit, welcher neben Uhland und Kerner der Hauptvertreter war der „schwäbischen Dichterschule“ oder – nach dem Worte eines übelwollenden Kritikers – jener „süddeutschen Dichter, die im schwäbischen Winkel sitzen“: am 19. Juni 1792 wurde zu Stuttgart Gustav Schwab geboren als der jüngste Sohn des „Herzoglich Wirtembergischen Geheimen Hofraths“ Joh. Christ. Schwab. Durch seine Familie trat er frühe in Beziehungen zu den Mittelpunkten des geistigen Lebens in der kleinen Residenz. Der Vater, Philosoph und Mathematiker und einstiger Lehrer an der Hohen Karlsschule, besaß Bedeutung genug, um einen Ruf an die Berliner Akademie zu verdienen, den er 1784 erhielt, aber nicht annahm; die Mutter war eine Tochter des Kaufmanns Rapp, der durch lebhaftes geistiges Interesse, durch feines Verständniß namentlich für die Kunst eine besondere Anziehungskraft ausübte und Schiller und Goethe in seinem Hause begrüßen durfte. Zu diesen Einflüssen der Familie traten die des philosophischen und theologischen Studiums, dem sich Gustav Schwab 1809–1814 im Tübinger „Stift“ widmete. Hier in Tübingen kam seine poetische Begabung zur ersten Entfaltung, gefördert durch die Bekanntschaft mit Kerner und Uhland, genährt an der stillen Flamme einer Liebe, die ihn nach langen Jahren ans ersehnte Ziel führte.

Das Leben des Dichters verlief in ruhigem Geleis: er wurde früh zum Gymnasialprofessor in Stuttgart ernannt, zog sich von dort mehrere Jahre in die ländliche Stille einer Pfarrei zurück und nahm dann seinen Aufenthalt wieder in der Vaterstadt, wo er besonders in der Oberleitung der württembergischen Gelehrtenschulen als Oberstudienrath eine reiche Wirksamkeit fand, bis am 4. November 1850 seinem Schaffen durch den Tod ein Ziel gesetzt wurde. Aber neben dem Beruf waren es immer zugleich dichterische Ziele gewesen, denen seine Kraft gewidmet blieb. Als Redakteur für den poetischen Theil des „Morgenblattes“ von 1827–1837 und als Herausgeber des „Deutschen Musenalmanachs“, den er in Gemeinschaft mit Chamisso ins Leben gerufen hatte, führte er manchen Namen, der später berühmt wurde, in die Litteratur ein; Lenau, Freiligrath und andere wurden damals durch das „Morgenblatt“ den Lesern vorgestellt. Das Haus des jungen liebenswürdigen Professors gestaltete sich so bald zu einem „litterarischen Sammelpunkt“, wo eine Reihe bedeutender Männer freundschaftlich verkehrte.

Inmitten solch vielfacher Arbeit verstummte Schwabs eigene Muse nicht; Uhlands Vorbild war es, das ihm dabei die Richtung wies. Neben dem lyrischen Liede sind es vor allem Sage und Legende, denen er sich zuwendet, und die Ballade und Romanze ist ihm denn auch am besten gelungen. Obgleich indessen seine Gedichte Schönes genug enthalten, sind doch nur wenige in weiteren Kreisen bekannt geblieben; zu ihnen gehört vor allem das oft gesungene: „Bemooster Bursche zieh’ ich aus,“ das mit seinem wehmüthigen Humor schon manchem Studentenherzen den Abschied erleichtert hat von der Zeit akademischer Freiheit und Jugendlust. „Im schwäbischen Winkel“ freilich, wo das Leben des Dichters verlief, hat man ihm ein treueres Andenken bewahrt. Hier kennt man ihn nicht bloß aus einigen seiner Gedichte oder als Herausgeber der „Deutschen Volksbücher“, als Erzähler der „schönsten Sagen des klassischen Alterthums“ – neben Wilhelm Hauff feiert man ihn hier als den Sänger der schwäbischen Alb, deren kühn aufstrebende Bergrücken er so oft durchwandert hat, das Geschaute mit klingendem Liede verklärend. Und auf einer Bergwiese der Alb, nahe dem freundlichen Urach mit seiner alten Burgruine, soll auch die hundertjährige Wiederkehr seines Geburtstages festlich begangen werden – inmitten der Berge, denen er einst den frohen Wandergruß zurief:

„O blau Gebirg, dort winkst du ja
Mit frischer Jünglingsmahnung,
Mit allen Nebeln bist du da,
Mit aller Sonnenahnung.

Kein Wald senkt sich in Thalesschoß,
Der mir nicht schon gerauschet,
Kein Bächlein springt aus Fels und Moos,
Das ich nicht einst belauschet.

Kein Steg ist, der nicht unterm Tritt
Mir schon gezittert hätte,
Kein Bergpfad, den ich nicht beschritt,
Kein Gipfel in der Kette.“

Die Geheimmittelkrämer wenden oft einfache Kunstgriffe an, um ihre Erzeugnisse, welche unter irgend einem Namen verdächtig geworden sind, wieder flott zu machen. Sie wandeln einfach den Namen um und der Schwindel segelt unter andrer Flagge weiter. Jüngst ist der altberüchtigte „Homeriana“-Thee in einem angeblich neuen Mittel entlarvt worden. Der Karlsruher Ortsgesundheitsrath erläßt darüber folgende Bekanntmachung:

„Unter den Ueberschriften ‚Lunge und Hals‘, ‚Brust- und Halsleiden‘ u. dergl. wird in vielen Blättern, sowie in Broschüren und Flugblättern als Heilmittel gegen Lungentuberkulose und Influenza der ‚russische Brustthee‘, zu haben bei Ernst Weidemann in Liebenburg a. Harz, in marktschreierischer Weise angepriesen. Der ‚russische Brustthee‘ ist identisch mit dem früher unter dem Namen ‚Homeriana‘ vertriebenen ‚Heilmittel‘ und besteht, wie wir schon früher nachgewiesen haben, einfach aus getrocknetem ‚Vogelknöterich‘ (polygonum aviculare), welcher nicht nur in Rußland, sondern überall, auch bei uns, an Wegen, auf Aeckern und in Gärten in großer Menge wächst. Selbstverständlich kommt dieser Pflanze die ihr zugeschriebene Heilwirkung nicht zu. Der Vertrieb derselben erweist sich vielmehr als Ausbeutung der Leidenden, indem eine Kur mit dem Mittel auf etwa 30 ℳ zu stehen kommt. – Wir warnen daher wiederholt vor dieser Ausbeutung, welche um so bedenklicher ist, als bei der langen Dauer der angepriesenen Kur die kostbarste Zeit für eine sachgemäße Behandlung leicht versäumt wird.

Bei dieser Gelegenheit möchten wir auf ein anderes Unternehmen zurückkommen, das leider auch bereits seit längerer Zeit sein Unwesen treibt und, wie wir aus zahlreichen Anfragen aus den Kreisen unserer Leser ersehen, auch heute noch auf Beute auszieht. Es ist die Sanjana-Company. Wir wiederholen hier die Warnung, welche derselbe Karlsruher Ortsgesundheitsrath bereits vor fünf Jahren erließ. Sie lautet:

„Sanjana-Heilmethode ist der Name eines angeblich von einem Miquel Sanjana erfundenen Heilverfahrens, dem durch eine in Egham in England bestehende Gesellschaft, Sanjana-Company, allerwärts Eingang verschafft werden soll. Die Mittel dieser Gesellschaft werden gegen die verschiedensten Krankheitsarten in einer scheinbar wissenschaftlich abgefaßten Schrift als ‚unfehlbar‘ empfohlen; um Vertrauen zu erwecken, wird mitgetheilt, daß die Sanjanaheilmittel nur nach genauer Diagnose und in Berücksichtigung des speziellen Krankheitsfalles seitens des Direktoriums verordnet würden. Die Diagnose wird aber lediglich auf Grund eines schablonenmäßigen, ganz unvollständigen und ungenügenden Fragebogens von dem in Egham befindlichen Direktorium gestellt, so daß natürlich von einer wissenschaftlichen Behandlung keine Rede sein kann. Charakteristisch ist, daß sämmtliche Konsultationen ‚kostenfrei‘ erfolgen, die Preise der Mittel aber unverhältnißmäßig hoch sind.

Wir ließen zwei Mittel der Sanjana-Company, und zwar solche gegen Schwäche des Nervensystems, speziell der centralen Theile Gehirn und Rückenmark, untersuchen. Die eine Flüssigkeit war ein mit Chloroform parfümierter wässeriger Auszug von Faulbaumrinde, die andere eine mit Bittermandelöl aromatisierte Lösung von Bromammonium und Bromnatrium. Beide Präparate sind in den Apotheken zum Preise von 1 Mark 80 Pfennig herzustellen, während die Sanjana-Company sich 6 Mark dafür bezahlen läßt, wobei noch zu bemerken ist, daß dieselbe auf die Uebersendung einer Flasche nicht eingeht, sondern sofort die Abnahme von mindestens fünf Flaschen zum Preise von 30 Mark verlangt. Die angepriesene unfehlbare Heilwirkung kommt beiden Mitteln nicht zu.“

Der Kirchgang. (Zu dem Bilde S. 392 u. 393.) Einen Sonntag in ländlicher Stille führt uns das anmuthige Bild von Salentin vor, einen wunderschönen Sommersonntag; die Rosen blühen und die Bewohner des reizend im badischen Schwarzwald, im sogenannten Hauensteinerland gelegenen Dorfes wandern im Sonntagsstaat zur Kirche: die Männer angethan mit dem „Mutschenhemd“ und ausgelegter Halskrause, kurzen gefältelten Pumphosen oder „Hotzen“, dem eigenartigen rothen, unten mit einer breiten Goldborte besetzten „Brusttuche“, der langen schwarzen Jacke, der Pelzmütze, mit weißen Strümpfen und Schuhen – die Mädchen in der schwarzen „Plunderkappe“ mit goldgesticktem Boden, im rothen Leibchen mit gesticktem „Brustlatz“ und in dem grünen [419] „Schopen“, einer kurzen Jacke mit Aermeln. Eine lange schwarze Seidenschürze, breite, in die Zöpfe geflochtene Bänder und weiße Strümpfe nebst rothen Laschenschuhen vervollständigen ihre malerische Tracht.

In solchem festlichen Putze sehen wir eine Familie, einen noch jungen Mann, statt seiner kranken Frau sein altes Mütterlein am Arme, mit seinen beiden Kindern und seiner sittsam voranschreitenden Schwester zur Kirche wallen. Es ist noch ziemlich früh, denn noch sind außer ihnen nur wenige Kirchgänger sichtbar. Gleichwohl haben sich schon einige frische Burschen hart neben dem Eingang zum Kirchhof auf die Mauer gesetzt, um über die jungen Mädchen, die hier vorbei müssen, eine ehrsame und stille, aber äußerst vergnügliche Parade abzunehmen. Und sie haben heute Glück, die Drei! Da kommt ja gleich zu Anfang die schöne Monika, auf die im geheimen schon mancher ein Auge geworfen hat. Die reizende Blondine kennt ihre Leute wohl und weiß auch, weshalb sie dasitzen, aber sie blickt nicht auf, sondern geht mit züchtig niedergeschlagenen Augen an ihnen vorüber. Zwei der jungen Bursche schauen ihr nun mit offenbarer Bewunderung ins erröthende Antlitz. Der erste hat sogar die Pfeife aus dem Munde genommen und denkt wohl: „Dunder und ’s Wetter, ischt des Maidli sufer (sauber, hübsch)!“ Der zweite aber weiß, daß die Pfeife ihren Mann ziert, und schmaucht deshalb ruhig weiter. Auf seinem hübschen Gesicht kann man jedoch lesen, daß er bei sich beschließt: „Bi Gott, die g’fallt m’r – die muß mi Schate werde!“

Der dritte guckt nach der andern Seite, wahrscheinlich weil er meint. „Die will doch nix von mir!“ Vielleicht hat ihm die hübsche Hauensteinerin dies schon zu verstehen gegeben und er „trutzt“ deshalb und denkt: „Die b’sieh’ i nimmer mehr!“ Wer kann überhaupt wissen, was so ein junger „Hotze“ – diesen Uebernamen giebt man gewöhnlich scherzweise den Hauensteinern – alles denkt!

Vercingetorix. (Zu dem Bilde S. 397.) Die siegreichen Legionen Cäsars hatten Gallien unterworfen, doch noch einmal erhoben sich seine vereinigten Völkerschaften unter Führung des Arverners Vercingetorix gegen die römische Herrschaft. Cäsar eilte über die Alpen herbei, um den Aufstand zu Boden zu werfen. Die entscheidenden Kämpfe fanden im Jahre 52 v. Chr. bei Alesia statt, einer hochgelegenen Bergfeste, geschützt durch zwei Flüsse, welche den Fuß des Berges bespülen. Hierher war Vercingetorix von Cäsar zurückgedrängt worden und hatte sich dicht bei der Stadt mit 80000 Mann verschanzt. Cäsar folgte ihm mit 60000 Mann und schloß ihn durch Errichtung eines Bollwerkes von 11000 Fuß im Umfang ein, um ihn auszuhungern. Durch eine noch ausgedehntere Reihe von Befestigungen schützte er das eigene Heer gegen die gewaltige Uebermacht der gesammelten Truppen des ganzen übrigen Galliens, deren Zahl sich auf 257000 belief und welche heranrückten, um die Feste zu entsetzen. Als es Cäsar gelungen war, diese Streitmacht vollständig aufs Haupt zu schlagen, da blieb Vercingetorix keine Wahl, als sich und sein Heer dem römischen Feldherrn zu übergeben. Auf dem Bilde Mottes sehen wir den gallischen Führer auf seinem Rappen, in der Hand das Schwert, das er dem mächtigen Gegner im Hintergrund des waffenstarrenden Spaliers von Kriegern überreichen soll. In seiner ganzen Haltung ist es ausgedrückt, wie schwer es dem Tapferen fällt, sich dem Unvermeidlichen zu fügen. Zu beiden Seiten stehen die römischen Truppen aufmarschiert – man sieht die Feste in der Ferne, man sieht die Belagerungsthürme der Römer, aus denen die Wurfmaschinen und die Schleuderer Verderben in die Reihen der Feinde sandten, man sieht die Riesenpallisaden der Lagerbefestigungen. In der Geschichte des gallischen Kriegs ist dieser Augenblick, den der französische Maler herausgegriffen, der entscheidende – es ist das Bild einer ruhmvollen Niederlage.

Vercingetorix wurde gefangen nach Rom gebracht und sechs Jahre später, nachdem er in Cäsars Triumphzug mitaufgeführt worden, von diesem hingerichtet. Der gekrönte Biograph des Julius Cäsar, Napoleon III., glaubte indeß dem tapferen, wenn auch unglücklichen Führer der großen gallischen Volkserhebung ein ehrendes Denkmal setzen zu müssen.

Das alte Alesia ist von den Römern bei der Einnahme zerstört worden, die wiederaufgebaute Stadt 864 von den Normannen. Bei dem Flecken Alise in dem Departement Côte-d'Or finden sich Trümmer der alten Stadt, Ueberbleibsel von Brunnen, Wasserleitungen. Auf dem Mont-Auxois bei Alise nun ließ Napoleon III. eine 6,5 Meter hohe, aus Kupfer getriebene Kolossalstatue des Vercingetorix errichten, mit der Inschrift, die aus Cäsars Werk über den gallischen Krieg entnommen ist: „Das geeinigte Gallien, eine einzige Nation bildend, von demselben Geiste beseelt, kann der ganzen Welt Trotz bieten.“ †     

Kinderheilstätten. Es ist eine der schönsten Aufgaben der sorgenden Menschenliebe, Krankheit und Siechthum schon in den Kindern zu bekämpfen und den armen Kleinen, soweit es in menschlicher Macht steht, das hohe Gut einer gesunden kräftigen Jugend zu erobern. Die Noth des Lebens, ungesunde Wohnungsräume, Mangel an genügender Nahrung, oft auch erbliche Belastung legen so vielfach in dem empfindlichen Körper des Kindes den Keim zu schweren, langwierigen, ja lebenslänglichen Leiden, ohne daß es den mittellosen Eltern möglich wäre, die zur Heilung nöthigen Maßregeln selbst durchzuführen, für Aufenthalt in gesunder Luft, kräftigende Speisen und ärztliche Behandlung zu sorgen. Da treten denn die von den Spenden wohlthätiger Menschen unterstützten Kinderheilstätten in die Lücke und öffnen ihre Pforten für die armen hilflosen Wesen.

Schon früher, im Jahrgang 1888, Halbh. 16, konnten wir Mittheilungen über die Kinderpflegeanstalt in Norderney machen. Dieselben Ziele verfolgt die „christliche Kinderheilstätte“ in dem Soolbade Königsdorff-Jastrzemb in Oberschlesien. Auch dort finden skrophulöse, blutarme, rachitische und zurückgebliebene Kinder ohne Unterschied der Konfession billige, je nach Umständen sogar unentgeltliche Aufnahme, Pflege durch die Breslauer Bethanien-Schwestern und sachgemäße ärztliche Behandlung durch den ersten Badearzt, Dr. Karfunkel aus Breslau. Die Anstalt verfügt in einem von der Badeverwaltung ihr überlassnen Hause über ausreichende Räume, in welchen sie im vergangenen Jahre 53 Kinder während einer vier- bis sechswöchigen Kurzeit beherbergte und aus welchen sie eine große Anzahl geheilt entlassen konnte. Vielleicht sind diese Zeilen manchem von Werth, der für ein krankes Kind Sorge zu tragen hat: er wird von der Vorsteherin, Frau Helene Langer in Königsdorff-Jastrzemb, gewiß gern jede weitere Auskunft erhalten; vielleicht geben sie aber auch diesem oder jenem, der seiner Dankbarkeit für eines eigenen Kindes Genesung Ausdruck verleihen möchte, Veranlassung, das barmherzige Werk durch eine Gabe zu unterstützen.

Die „Wacht am Rhein“.
Bronzestatue für das Schneckenburger-
Denkmal in Tuttlingen von Adolf Jahn.

Ein Denkmal für Max Schneckenburger. (Mit Abbildungen.) Zu Thalheim bei Tuttlingen in Württemberg ruhen in einer würdigen Gruft die Gebeine des Dichters der „Wacht am Rhein“. Dorthin, an seinen Geburtsort, hat man sie in der Mitte der achtziger Jahre von Burgdorf in der Schweiz übergeführt, treu seiner „Letzten Bitte“, die er in den schönen Vers gekleidet:

„Wenn ich einmal sterben werde
Weit von meinem Vaterland,
Legt mich nicht in fremde Erde,
Bringt mich nach dem heim’schen Strand.
Meines Herzens Flamme lodert
Einzig Dir, Germania,
Drum, wenn einst mein Leib vermodert,
Sei mein Staub den Vätern nah!“

In Tuttlingen aber, der Oberamtsstadt von Thalheim, wird ihm am 19. Juni ein schönes Denkmal enthüllt, dessen hochragende Idealfigur der „Wacht am Rhein“ wir nebst dem am Sockel angebrachten Medaillonporträt des Dichters unseren Lesern in Abbildung vorführen.

Das Denkmal, ein Werk des Berliner Bildhauers Adolf Jahn, steht auf einem durch Verlegung der Donau gewonnenen großen freien Platz, den zur Zeit schon eine „Bismarck-“ und eine „Moltke-Eiche“ schmücken und der im Laufe der Jahre zu einer wirklich schönen Anlage größeren Stils werden wird. Auf einem dreieinhalb Meter hohen granitnen Sockel, dessen Vorderseite das treffliche Reliefbild des Dichters trägt, erhebt sich die Statue, drei Meter hoch, in Bronze gegossen.

Adolf Jahn ist am 17. Dezember 1858 zu Stettin geboren. Früh verwaist, wuchs er bei einem Oheim zu Berlin auf, wo er erst die Gewerbeschule, dann die Kunstakademie besuchte und mehrfach Preise sich erwarb. Anfangs der achtziger Jahre arbeitete Jahn zu Wien in den Ateliers mehrerer hervorragender Bildhauer und später ebenso in Berlin bei Kruse, Breuer und Kaffsack. Gewiß darf man von dem begabten Künstler noch manches schöne Werk erwarten.

Der deutsche Handwerkerverein in Konstantinopel. Vor drei Jahren (Jahrgang 1889, Halbheft 4) haben wir in der „Gartenlaube“ unseren deutschen Landsleuten in Konstantinopel einen Besuch abgestattet und uns berichten lassen von ihrem Leben und Treiben, ihrem Streben und Gedeihen. Wir erfuhren dabei, daß sich das Deutschthum Konstantinopels hauptsächlich in zwei Vereinen zusammenschließt, in der „Teutonia“ und in dem „Deutschen Handwerkerverein“, die sich beide einer gesunden Blüthe erfreuen und, jeder in seiner Art, zur Erhaltung und Förderung deutschen Wesens inmitten der fremdartigen orientalischen Welt zusammenwirken.

Von dem Handwerkerverein ist uns in neuester Zeit wieder ein Lebenszeichen zugekommen. Trotz mannigfacher widriger Verhältnisse – es ist ihm z. B. nicht weniger als dreimal all sein Hab und Gut verbrannt – hat er es heute soweit gebracht, daß er an die Errichtung eines eigenen Heims denken kann, wie es die „Teutonia“ bereits seit Jahren besitzt. Zu diesem Anstreben eines eigenen Hauses sieht sich der Verein nicht bloß durch ideale Gründe veranlaßt, ihn zwingen dazu auch die immer mehr steigenden Miethpreise und die Unsicherheit der Besitzverhältnisse.

So hat er denn ein Grundstück erworben, auch einen Baufonds gesammelt, aber der letztere genügt noch nicht für die Ausführung, und allein aus eigenen Kräften könnte der Verein erst in einer Reihe von Jahren zum Ziele gelangen. So wendet er sich denn an den hilfreichen Sinn der deutschen Handwerksgenossen, insbesondere der Handwerkervereine, mit der Bitte, ihm bei der Erreichung seines Zwecks durch Veranstaltung von Sammlungen, von Vorstellungen oder in irgend einer andern angemessenen Weise behilflich zu sein, und wir unsererseits unterstützen gerne eine Bitte, welche wie diese auf Förderung und Belebung [420] des Deutschthums im Ausland abzielt. Der Vorsitzende des Deutschen Handwerkervereins, Herr Rafael Malik (Konstantinopel, Deutsche Post), ist bereit, Beiträge in Empfang zu nehmen.

Fleischverkauf an Berliner Arme. (Zu dem Bilde S. 401.) Wen der Zufall einmal in den frühen Morgenstunden durch die Hauptstraßen Berlins, etwa durch die Leipziger- oder die Friedrichstraße, führt, der kann dort eigenthümliche Gruppen beobachten. Vor den Thüren der großen Schlächterläden sieht er ärmlich gekleidete Frauen und Kinder, mitunter wohl auch Männer sich drängen: sie warten oft schon seit der dritten Morgenstunde anf den Augenblick, da der Schlächter seine Thür öffnet und ihnen Fleischabfälle und Knochen um ein billiges Geld verkauft. Mancher Familie, auf deren Tisch sonst Fleisch ein unbekannter Gast bliebe, ist durch diese Einrichtung in der Lage, sich wenigstens ab und zu und in geringeren Mengen das kräftige Nahrungsmittel zu verschaffen, denn das Pfund wird bei diesen morgendlichen Ausverkäufen im Durchschnitt nur mit 25 Pfennig berechnet, und dabei handelt es sich nicht etwa um schlechte Ware, sondern um jene kleineren Brocken und Schnipsel, die beim Zuwägen der schönen großen Stücke in Abfall kommen. Nur ist der verfügbare Vorrath natürlich nicht allzu groß, und deshalb geschieht es immer, daß einige mit getäuschten Hoffnungen und leerem Korbe wieder abziehen müssen.

Unser Bildchen führt uns in einen gedrängt vollen Laden. Auf dem Tische stehen bereits Schinken und andere Delikatessen für die feineren Kunden des Tages, auf dem Hackblock zur Seite aber macht der Fleischergeselle die Portionen für die frühen Besucher zurecht, während die Ladnerin den Einzug der Nickel- und Kupfermünzen besorgt.

Max Schneckenburger.
Bronzemedaillon für das Schneckenburger-Denkmal in Tuttlingen
von Adolf Jahn.

Betender Mohammedaner. (Zu dem Bilde S. 413.) Man braucht nur in das Antlitz des ehrwürdigen Greises auf unserem Bilde zu schauen und man erkennt sofort, daß der Künstler uns einen Gottesfürchtigen vorführt, der in einer der Moscheen Kairos in Gebet versunken ist. Und der Alte ist zugleich strenggläubig; er betet genau nach den Vorschriften, welche der Prophet gegeben hat.

In den Satzungen der mohammedanischen Religion nimmt das Gebet eine wichtige Stellung ein. Der Bekenner des Propheten soll sein „Adan“ fünfmal am Tage verrichten: einige Zeit nach dem Sonnenuntergang, zur Zeit, wo es vollständig Nacht geworden ist, bei Tagesanbruch, zu Mittag und nachmittags etwa 11/2 Stunden vor Sonnenuntergang. Wie dies bei allen orientalischen Religionen der Fall, ist auch bei den Mohammedanern das Beten mit vielen äußerlichen Vorschriften verbunden.

Der Gläubige muß sich vor dem Gebet reinigen; er läßt sich nicht auf dem bloßen Erdboden nieder, sondern stellt sich vor Beginn der Andacht auf einen Teppich oder seinen eigenen Mantel; er ist barfuß und wendet sein Gesicht gegen Mekka. Die Worte des Gebetes muß er durch eiue Reihe von genau vorgeschriebenen Stellungen des Körpers, die sogenannten „Rekahs“, d. h. Neigungen, begleiten. Der Betende beginnt damit, daß er die Hände an die Ohrläppchen hält, dann etwas unter den Gürtel, hierauf läßt er sich auf die Knie nieder, wirft sich auf die Erde, steht wieder auf, erhebt die Hände etc. – So ist auch die Stellung des frommen Moslem auf unserem Bilde keine zufällige; sie entspricht einer der streng vorgeschriebenen Rekahs. *     

Giralda. (Zu unserer Kunstbeilage.) Venedig ist der unerschöpfliche Quell, aus dem Eugen von Blaas seine Studien schöpft; venetianisches Blut rollt auch in den Adern der schwarzlockigen und schwarzäugigen Schönen, die ihm zu seiner „Giralda“ Modell gestanden. Seit Jahren ist der Künstler in Venedig ansässig, dort hat er einst von seinem eigenen Vater, dem Wiener Historienmaler Karl von Blaas, die erste Anleitung in seiner Kunst erfahren – auch seine Wiege hatte auf italienischem Boden, zu Albano, gestanden – und so ist er mit jener malerischen Schatzkammer, der schönen Lagnuenstadt und ihren Bewohnern, aufs innigste vertraut worden.




Auflösung des Bilderräthsels auf S. 388:0 Ein tadelnder Feind ist oft besser als ein schweigender Freund.


Auflösung der Dechiffrieraufgabe auf S. 388:

Gesteh’ dir’s selbst, hast dn gefehlt,
Füg’ nicht, wenn Einsicht kam,
Zum falschen Weg, den du gewählt,
Auch noch die falsche Scham.
  Franz Grillparzer.



Auflösung der Logogriphaufgabe auf S. 388:

Dahn, Beet, Ems, Bote, Hela, Ritter, Seine, Band, Welle, Enkel, Ahr, Ali, Falle, Haff, Kante, Alk, Schale, Meile, Kinn, Erbe, Gabe, Eder, Eile, Liter, Halm, Eis. (Dem Blinden hilft keine Brille.) Hahn, Bett, Eos, Note, Hera, Retter, Seide, Bann, Wille, Enkel, Aur, Alm, Falte, Hauf, Kanne, Ale, Schalk, Merle, Kien, Erbe, Gade, Eden, Eule, Eiter, Harm, Fis. (Freunde erkennt man in der Noth.)

Auflösung der geometrischen Mosaikaufgabe auf S. 388:

Auflösung des Quadraträthsels auf S. 388:

Auflösung der Skataufgabe Nr. 4 auf S. 388:

Wie sich aus den Dispositionen der Aufgabe ergiebt, war die Vertheilung der Karten folgende: Vorhand hatte gD tourniert, sZ gefunden und, nachdem er c8, c7 gedrückt, folgende Karten:

eW, gW, rW, gD, gZm g9, rD, sZ, sK, sO.
Mittelhand: g7, g 8, gO, gK, sW, sD, s9, s8, s7, eO.
Hinterhand: r7, r8, r9, rO, rK, rZ, eD, eZ, eK, e9.

Das Spiel nahm folgenden Verlauf:

1. eW, g7, r7 0 (+ 2)
2. rW, g8, r8 0 (+ 2)
3. gW, gO, r9 0 (+ 5)
4. g9? gK, rZ 0 (–14)
5. sW, eD, gZ 0 (–23)
6. eO!, eZ, gD 0 (+24)
7. sK, s7, e9 0 (+ 4)
8. sO, s8, rO 0 (+ 6)
9. rD, s9, rK 0 (+15)
10. sZ, sD, eK 0 (-25)

Der Spieler hätte aber schon aus dem ersten Stiche ersehen können, daß Mittelhand 5 Trümpfe hatte, und hätte deshalb im 4. Stich sofort gZ anstatt g9 vorspielen sollen. Nach

4. gZ! sW, eD 0 (–23) folgt dann:
5. eO! eZ, g9! 0 (+13)
6. gD, gK, e9 0 (+15)
7. rD, s7, rO 0 (+14)
8. sK, s8, rK 0 (+ 8)
9. sO, s9, eK 0 (+ 7)
10. sZ, sD, rZ 0 (–31)



manicula 0 Hierzu Kunstbeilage VII:0 Giralda.0 Von Eugen v. Blaas.


Unseren Abonnenten machen wir die Mittheilung, daß wir uns infolge vielfach laut gewordener Wünsche entschlossen haben,

Sammel-Mappen für die Kunst-Beilagen der Gartenlaube

herstellen zu lassen. Diese Mappen sind in englischer Leinwand mit reicher Gold- und Farbenpressung elegant und geschmackvoll ausgeführt und zu dem mäßigen Preise von 2 Mark durch die Buchhandlung zu beziehen, welche die „Gartenlaube“ liefert. Post-Abonnenten erhalten die Mappe gegen Einsendung des Betrags in Briefmarken direkt von der Verlagshandlung.

Die Mappe ist zur Aufnahme von ca. 50 Stück der Kunst-Beilagen, welche die Abonnenten der „Gartenlaube“ seit vorigem Jahr regelmäßig erhalten, berechnet, reicht also für drei Jahre aus; nach Ablauf dieser Zeit bildet die gefüllte Mappe ein vollständiges, werthvolles Prachtwerk, und es kann dann eine neue Sammel-Mappe für die folgenden Kunstblätter bezogen werden.

Abonnenten der „Gartenlaube“, welche die Kunst-Beilagen am Schlusse des Jahres mit den Heften zusammen einbinden lassen, können die Mappen auch zur Aufbewahrung der neuesten Hefte verwenden und dadurch zur Schonnng derselben beitragen.

Die Verlagshandlung der Gartenlaube.     



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Den der Durst am meisten plagt.
  2. Welcher goldklare Weine hat.
  3. Aus dem Faß in den Humpen.
  4. Bis die Nacht zu Ende geht.
  5. Ein krankes Kind, Pflegling.
  6. Alter Weidmannsausdruck für das Herz des Wildes.
  7. Das Mühldorfer Stadtrecht im 14. Jahrhundert bestimmte: „Welleich leicht weib pagent (zanken) mit den Worten, di si vermeiden sollen, der soll man den pagstein an an Hals hengen und soll si von gazzen ze gazzen traiben.“
  8. Auge.
  9. Zwei Stunden südwestlich von Passau.
  10. Gekleidet.
  11. Kleine Bündel aus dürren Reisern, in welche beim Feuermachen der brennende Schwefelfaden gesteckt wurde.
  12. Oktober. – Im 14. und 15. Jahrhundert lautete in Ober- und Niederbayern die Reihenfolge der Monate: Jenner, Hornung, Mertz, Abrill, May, Andermay, der Augst, der ander Augst, der Herbst, der ander Herbst, der Winter, der ander Winter.
  13. Den 9. Oktober.
  14. Fünf Wegstunden südlich von Landshut.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schweiges