Die Gartenlaube (1892)/Heft 14
Der Klosterjäger.
Die Dämmerung, welche über den Bergen die ersten Fäden spann, webte im Thale schon die grauen Schleier.
Wolfrat war aus dem Sudhaus heimgekehrt und saß mit Sepha am Tisch. Vor zwei Tagen hatte sie die Kraft gefunden, das Lager zu verlassen … es war die Kraft, die der Kummer und die Sorge giebt.
Sie hatten ihr karges Nachtmahl schon verzehrt, aber sie saßen noch, schweigend; jedes hielt die Arme über den Tisch gelehnt und grübelte mit verlorenen Blicken vor sich hin.
Lippele kniete auf der Bank und guckte zum offenen Fenster hinaus. Mit einmal rief er. „Schau, Mutterl, schau, die Berg’ thun brennen!“ Es störte ihn nicht, daß er keine Antwort erhielt. „So, so,“ schmollte er mit nickendem Köpflein, „wann die Dittibas’ verbrennen thut .. droben!“
Wolfrat erhob sich ungestüm, schritt ein paarmal in der Stube auf und nieder und warf sich im Ofenwinkel auf die Bank, daß das Brett laut krachte. Sepha schlug die Hände vor das Gesicht.
Eine stille Weile verging, dann streckte Lippele neugierig den Kopf; er hatte am Hag das Thürlein knarren hören.
„Vater! … Mannerleut’ kommen!“
Sepha erblaßte, und Wolfrat sprang auf das Fenster zu.
„Sie kommen, Seph’!“ sagte er mit heiserer Stimme und griff nach dem Tisch, als befiele ihn ein Schwindel.
„Jesus Maria!“ stöhnte das Weib, flog auf ihn zu und umschlang ihn mit zitternden Armen.
Er richtete sich auf. „Nimm Dich zusammen, Seph’,“ sagte er ruhig. „Sie dürfen kein unrechtes Wörtl hören. Komm’, setz’ Dich her, da …“ er drückte sie auf die Bank. „Und red’ keinen Laut! Vom Gesicht schaut Dir im Zwielicht keiner was ab. Und wenn es schief ausgehen sollt’ … ich glaub’s nicht, Seph’, sei ruhig … ich mein’ halt, für alle Fäll’ …“ seine Stimme dämpfte sich zu hastigem Geflüster, „so laß ich Dir eine Hilf’ zurück in der Noth … einen Schatz, der zum heben ist … mir ist er verschlossen so lang’ ich leb’ … aber wenn’s einmal aus ist mit mir, dann sollst Du was haben davon und mein Bub’ … ein goldener Schatz, Seph’ … und der Schlüssel dazu – das ist die Dirn’!“
Sie starrte ihn entsetzt an; von allem, was er sagte, verstand sie nur das eine: daß er an das Schlimmste dachte. Das Fenster wurde dunkel, als die Männer draußen vorübergingen. Wolfrat nahm hastig seinen Platz hinter dem Tisch wieder ein.
Die beiden Knechte, welche Herr Schluttemann ausgeschickt hatte, traten in die Stube; der Frohnbote, den sie mitgenommen, blieb draußen vor der Hausthür stehen.
Lippele rutschte hurtig von der Bank herunter, lief auf die Mutter zu und schmiegte sich unter ihren Arm.
„Ist der Polzer daheim?“ fragte einer der Knechte.
„Wohl wohl,“ sagte Wolfrat. „Was giebt’s?“
Der Knecht zögerte mit der Antwort; sein Blick streifte das Weib. „Geh’, komm’ ein’ Weil’ mit uns vors Haus.“
„Ich hab’ den ganzen Tag geschafft und bin müd’!“
„Wirst aber heut’ doch noch einen weiten Weg machen müssen!“
„Warum? Und wohin?“
„Warum, das wirst erfahren, und wohin, das wirst sehen.“
Wolfrat lachte. „Da bin ich aber schon neugierig. Wer will denn was von mir?“
„Der Vogt!“
„Der Vogt?“ wiederholte Wolfrat überrascht. „So? So?“ Er strich sich die Hand über die Haare und erhob sich. „Ja freilich, da muß ich schon gehen. Aber … wenn ich recht gehört hab’, ist ja der Vogt seit Feiertag auf der Jagd … freilich, hab’s ja von Euch selber
[422] gehört, wie ich auf der Alm meine Schwester gesucht hab’. Was will er denn von mir da droben?“
Die Knechte wollten ihn fassen; altein er trat zurück und machte zwei Fäuste. „Oho! So ist’s gemeint? Ich geh’ von selber mit, weil der Vogt mich haben will. Aber anrühren soll mich keiner, sonst schlag’ ich zu!“
„So komm’!“
Wolfrat nahm den Hut von der Ofenstange und ging auf sein Weib zu. „Behüt’ Dich Gott, Seph’! Bis morgen abend bin ich wohl wieder daheim.“ Er reichte ihr die Hand und hob den Buben in die Höhe.
„Vater,“ klagte Lippele, „Du thust mich drucken!" Und als der kleine Bursch’ auf der Erde stand, roltte er die Schultern und dehnte die Aermchen, als wären ihm alle KnÖchlein aus den Fugen gerathen und er müßte sie wieder einrenken.
„Also, weiter!“ sagte Wolfrat und ging den beiden Knechten voran zur Stube hinaus.
„Mutterl?“ fragte Lippele. „Wohin muß denn der Vater?“
Schluchzend warf sich Sepha über den Tisch; sie hatte ein Gefühl, als wäre ihr jählings etwas eisig Kaltes ins Herz gefahren.
Als Wolfrat aus der Hausthür trat, packten ihn die Knechte unversehens, der Frohnbote warf den Strick, und ehe Wolfrat ans Wehren denken konnte, waren ihm schon die Hände hinter den Rücken gebunden. Er sprach kein Wort mehr. Doch als sie ihn durch den Hag auf die Straße führten, warf er einen langen Blick auf das Totenbrett seines Kindes.
„Bet’, bet’,“ sagte das Brett, „vielleicht bist Du der Nächst’!“
Da kam der Knecht, den Herr Heinrich geschickt hatte, die Straße hergerannt. Keuchend blieb er vor den anderen stehen.
„Willst was?“ fragten sie ihn.
Er schüttelte den Kopf und ließ sie ihres Weges ziehen. Während er stand und ihnen nachblickte, hörte er aus dem Haus des Eggebauern lautes Geschrei und wirren Lärm, dann eine heuleude Weiberstimme. Gleich darauf kam eine Magd durch den Garten nach der Straße gerannt.
„Was ist denn los bei Euch?“ fragte der Knecht.
„Der Bäuerin ist was geschehen, ich muß zum Bader laufen.“
Er rannte neben ihr her. „So red’ doch, was ist der Bäuerin?“
„Der Krank ist schon über ein Jahr lang in ihr und hat ihr allweil unguter zugesetzt. Und da hat ihr der Bader gesagt, sie könnt’ nur gesunden, wenn man ihr ein Herzkreuzl eingeben thät’. Der Bauer hat ihr aber keins verschaffen können, und deswegen ist die Bäuerin allweil soviel schiech mit ihm gewesen und hat gezannt und gepagt[1] in einem fort. Heut’ auf den Abend sind sie wieder aneinander gerathen, und die Bäuerin im Zorn ist aus dem Bett gesprungen und hat ihm die Kunkel an den Kopf gehaut. Derweil aber ist sie ausgerutscht und der Läng’ nach hingeschlagen auf den Boden ... so ein schweres Leut ... und da muß ihr einwendig was gebrochen sein, ja, und drum muß ich zum Bader laufen ...“
Die Dirne wurde dem Knecht zu flink; er blieb hinter ihr zurück und wartete auf den Frohnboten, der die beiden Knechte und ihren Gefangenen nur eine kurze Wegstrecke begleitet hatte.
Die Dämmerung wandelte sich zur Nacht. Als die Knechte mit Wolfrat das Seedorf hinter sich hatten und den Wald erreichten, steckten sie die Fackel in Brand; der sie trug, stieg voran; dann kam Wolfrat und hinter ihm ging der andere Knecht, welcher den Strick, der von Wolfrats gebundenen Händen ausging, an seinen ledernen Gurt befestigt hatte. Nur zuweilen sprachen die Knechte ein paar Worte, die den Weg betrafen. Wolfrat ließ keinen Laut hören. Mit finsteren Augen starrte er vor sich hin auf den Pfad oder in den Wald hinein, in welchem der röthliche Schein der qualmenden Fackel einen gespensterhaften Kampf zwischen der fahlen, unruhig zuckenden Helle und den schwarzen Schatten erregte. Alles erhielt Leben; die moosigen Felsblocke waren anzusehen wie die Köpfe von Ungeheuern, die aus der Erde zu steigen schienen; Baumstrünke mit dürrem Astwerk tauchten aus der Finsterniß hervor gleich abenteuerlichen Gestalten mit borstigem Haar und zum Fang ausgestreckten Armen.
Als Wolfrat vor fünf Tagen diesen gleichen Weg in der Nacht emporgestiegen, da war es still und finster gewesen im Wald. Und langsamer war’s gegangen. Denn das Kreuzbild, das er auf dem Rücken getragen, hatte sich mit den ausgestreckten Armen bald an Bäumen, bald an Zweigen verfangen ... „grad, als hätt’s mich halten wollen,“ dachte er.
Auf den Almen rasteten sie eine Stunde; dann ging’s wieder weiter. Der Morgen dämmerte, als sie sich der Kreuzhöhe näherten. Mit scharfen, dunklen Linien hob sich das heilige Bild vom bleichen Himmel ab. Seit Wolfrat es gewahrt hatte, konnte er den Blick nicht mehr von der Erde erheben. Und als er am Kreuz vorüberschritt, geneigten Hauptes, mit scheuen Augen, rann ihm ein kalter Schauer durch das Herz. „Er lebt ja doch, ich hab’ ihn doch nicht erschlagen!“ schrie es in seiner Seele. Aber die Furcht wollte nicht von ihm weichen. Und eines wußte er: beten konnte er niemals wieder in seinem Leben, seit er an dieser Stelle, den Namen Gottes heuchlerisch auf den Lippen tragend, den Mordgedanken unter seiner Stirn geboren hatte. Er hatte nicht einmal beten können am Grab seines Kindes; so oft er auch begonnen: „Vater unser“ ... immer wieder stand das blutbefleckte Kreuz vor ihm und schloß ihm die Lippen.
Er athmete auf, als sie an der bösen Stelle vorüber waren. Ueber das Steinthal her blinkten im Morgengrau schon die Hütten. In den Felswänden hörte man die Steine gehen, welche die ziehenden Gemsen lösten. Einzelne Wölklein, tief violett, schwammen langsam am blassen Himmel.
Es begann schon voller Tag zu werden, als sie die Hütten erreichten. Auf der Bank vor dem Herrenhause ließen sie sich nieder; die Thüren waren noch geschlossen, alles war still; sogar die Quelle murmelte schläfrig, als wäre sie versiegt in der Nacht und begänne jetzt erst wieder zu fließen, da es tagen wollte. In der Jägerhütte schlummerte Haymo auf seinem Lager, und Frater Severin, der bei ihm hätte wachen sollen, schnarchte auf der Holzbank; er hatte am vergangenen Abend ein schweres Werk geleistet: er hatte sein „Pärchen“ Rechberg und Stein ganz allein bezwingen müssen, da Herr Heinrich den Vogt zu sich in die Schlafstube genommen, um den Heuboden für Gittli zu räumen.
Herr Schluttemann, dem die gewohnte „Bettschwere“ fehlte, erwachte zuerst. Lautlos öffnete er den Fensterladen, und da gewahrte er die Knechte und den Sudmann; eine Weile stand er unschlüssig und kraute sich den Kopf; dann ging er hinaus. Darüber erwachte Herr Heinrich.
Wolfrat und die Knechte erhoben sich, als der Vogt aus der Thür trat; kopfschüttelnd ging er auf den Gefangenen zu, er donnerte und blitzte nicht wie sonst, nur ernster Vorwurf klang aus seiner Stimme, als er zu Wolfrat sagte: „Polzer, Polzer! Was hast denn da jetzt angestellt! Das wird Dir einen bösen Tag bringen!“
Es wäre Wolfrat wohler zu Muth gewesen, wenn der Vogt geschrien und mit den Fäusten gefuchtelt hätte, als wollt’ er ihn niederschlagen auf dem Fleck. So aber fehlte ihm die Ruhe in der Stimme, als er, mit fiusteren Augen aufblickend, dem Vogt erwiderte: „Ich weiß nicht, was Ihr meinet, Herr! Aber wissen möchte ich wohl, warum mich Eure Leut’ überfallen und am Strick dahergeführt haben wie einen Ochs, den man metzgen will!“
„Polzer! Polzer! Thu' nicht leugnen!“ sagte Herr Schluttemann mit den sanftesten Lauten, deren er fähig war. „Sonst muß Dich einer fragen, der eine heiße Zung’ hat und eiserne Zähn’!“
Wolfrats Gesicht wurde aschfarben. „Ich brauch’ nichts leugnen und nichts eingestehen. Ich weiß nicht, was Ihr wollt von mir!“
„Polzer, Polzer! Ich will Dir in aller Güt’ nur sagen ...“ der Vogt verstummte, denn Herr Heinrich war aus der Thür getreten. Nur einen Bückling machte Herr Schluttemann und deutete auf den Gefangenen.
Lange ließ Herr Heinrich schweigend seinen Blick auf Wolfrat ruhen, und dieser ertrug den Blick und zuckte mit keiner Wimper.
„Bindet ihm die Hände los!“
Herr Schluttemann machte große Augen. „Reverendissime, ich bitte zu bedenken ...“
„Ich habe bedacht,“ sagte Herr Heinrich kurz. „Löset ihn, dann soll er mir folgen.“ Er trat in die Herrenstube.
Wolfrat athmete auf, reckte die befreiten Arme und folgte.
„Weck’ einer den Frater!“ sagte Herr Schluttemann zu den Knechten und ging hinter Wolfrat her. Kaum hatte er die Herrenstube betreten, als Gittli vom Heuboden über die Leiter niederglitt, mit verstörten Augen und totenblassem Gesicht. Die Stimmen hatten sie geweckt. Sie wankte zur Thür hinaus, sie hörte die Worte nicht, die Frater Severin ihr zurief, sie sah die Knechte nicht stehen und sie anglotzen ... mit vorgestreckten Händen [423] und fliegenden Haaren stürzte sie der Jägerhütte zu und brach vor Haymos Lager mit schluchzendem Schrei in die Knie.
„O Jesu mein! Gittli! Was hast denn?“ stammelte Haymo, dem der Schreck fast die Sprache nahm.
„Sie haben ihn, o Mutter Maria, sie haben ihn!“
„Wen, Gittli?“
„Der’s gethan hat! Mein Bruder, Haymo ... es ist mein Bruder!“ Stöhnend warf sie die Arme über das Bett und drückte, krampfhaft schluchzend, das Gesicht in die Decke.
Haymo war erblaßt. Ihr Bruder! Das Wort hatte ihn fast gelähmt, er konnte keinen Finger rühren ... er saß da und starrte mit kummervollen Augen auf Gittlis Haupt.
Jetzt hob sie langsam das Gesicht, fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn rutschte auf den Knien näher, umklammerte seine Hände und schaute zu ihm auf, mit starren Zügen, verzweiflungsvolle Angst in ihren fragenden Augen.
Sie brauchte nicht zu sprechen, er verstand diese Frage. Eine brennende Röthe flog über seine Stirn. „Ich darf’s nicht hehlen, Gittli ... ich darf nicht!“
„Haymo! Haymoli! Schau, schau doch, wie ich Dich bitten thu’!“ Sie schlug die Hände ineinander, und die glitzernden Zähren rannen ihr über die Lippen, während sie schluchzte. „Es ist ja mein Bruder, und sie hauen ihm die Hand ab und schlagen ihn zu Tod wie den Grünwieser-Conrad in Salzburg, der einen Hirsch gefangen hat ... und die arme Schwäh’rin, die muß ja versterben, wenn sie’s hört, und schau, am Ostertag ist ihr doch erst ein Kindl verschienen, so ein liebes, gutes Kindl ... Haymo, Haymoli ...“
„Ich darf nicht, darf nicht!“ stammelte Haymo.
In strömendes Weinen ausbrechend, schlug sie die Hände vor das Gesicht und wankte zur Thür hinaus. Er streckte die Arme nach ihr, aber seine Lippen wollten ihren Namen nicht finden.
Hinter der Hütte, zwischen dem tief niederhängenden Gezweig der Fichten sank sie schluchzend auf die Erde. Hätte sie lauschen können, sie hätte von der Herrenstube her durch das offene Fenster die redenden Stimmen hören müssen.
Wolfrat stand vor Herrn Heinrich, als wären seine Glieder von Stein. „Und wenn Ihr mich hundertmal fraget, Herr,“ sagte er mit kalter Ruhe, „ich weiß keine andere Widerred’! Ich hab’ den Weg gemacht, weil mir der Eggebauer das Lehent geliehen hat. Ich hab’ den ‚Herrgott‘ heraufgetragen, hab’ ihn ans Kreuz genagelt, vor Tag bin ich fertig gewesen, hab’ nichts gesehen und gehört, hab’ mich wieder aufgemacht und bin daheimgewesen vor der neunten Stund’. Wie die Dirn’ über Nacht nicht heimgekommen ist, hab’ ich mich freilich zu sorgen angefangen. Aber bis Mittag, da hab’ ich ... hab’ ich ...“ Er stockte. „Ich hab’ zu schaffen gehabt.“
„Du hast Dein Kind begraben?“
Er nickte. „Und auf den Abend hab’ ich im Sudhaus sein müssen. Erst in der Nacht hab’ ich fort können und schauen nach der Dirn’. Wie ich dann auf der Almen gehört hab’, was geschehen ist, hab’ ich mir gedacht, sie soll nur bleiben bei so was ist ein Weiberleut allweil gut, und bin heimgegangen. Und hätt’ ich’s denn ausgeredet überall, wenn ich es selber gethan hätt’?“
„Sag’, weshalb ist Deine Schwester zu Berg gegangen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wollte sie Schneerosen pflücken für das Kind? Zum Engelkränzlein?“
Er zögerte mit der Antwort. Das wäre ein Ausweg gewesen! Aber nein, lügen auf sein totes Kind, das brachte er nicht zuwege.
„Nun?“
„Ich weiß es nicht!“
Herr Schluttemann machte einen Bückling. „Reverendissime! Sollt’ ich nicht etwa die Dirn’ jetzt holen?“
Herr Heinrich wehrte mit der Hand. „Lasset das Mädchen aus dem Spiel!“
Wolfrats Augen blitzten, und seine Brust hob sich. Da winkte von irgendwo eine Hilfe! Das wußte er nun. Gittli hatte ihren Schwur gehalten. Jetzt hatte er nur eines noch zu fürchten ... und das ließ nicht lange auf sich warten. Denn Herr Schluttemann machte abermals einen Bückling und sagte:
„Reverendissime! So wär’ es wohl an der Zeit, den Haymo wider ihn zeugen zu lassen?“
„Und Ihr meinet, dadurch würden wir der Wahrheit auf die Spur kommen?“
„Ei freilich!“
„So? So?“ sagte Herr Heinrich in einem Ton, der beinahe vermuthen ließ, als wäre er anderer Meinung. „Gut, gehen wir!“ Er erhob sich. „Komm’!“ sagte er zu Wolfrat. „Wenn Du die Wahrheit sprachst, so hast Du ja nichts zu fürchten.“
Wolfrat brachte keinen Laut über die Lippen. Einen Augenblick schien die Ruhe ihn verlassen zu wollen. „Schwören kann er nicht, daß ich es war,“ sagte er sich in seiner zähen Hoffnung, „mein Gesicht war angerußt, nicht einmal mein Weib hätt’ mich erkannt.“ Er hob den Kopf und folgte Herrn Heinrich mit schweren Schritten. Sie gingen hinüber zur Jagdhütte, wobei der Vogt keinen Blick von Wolfrat verwandte, auch gab er den Knechten heimlich einen Wink, daß sie sich in der Nähe halten sollten.
Unter der Thür der Jägerhütte trat ihnen Haymo entgegen; er trug den Arm in einer Schlinge; sein Gesicht war weiß wie ein Linnen. Wolfrat senkte den Blick.
„Sieh’ Dir diesen Mann an, Haymo!“ sagte Herr Heinrich. „Der soll es gethan haben. Erkennst Du ihn?“
Wolfrat hob die Augen und erzitterte vor dem Blick, den Haymo auf ihn richtete, denn er las aus diesem Blick, daß der Jäger ihn erkannte. Doch Haymos Lippen blieben geschlossen.
„So sprich,“ mahnte Herr Heinrich, „erkennst Du ihn als jenen der es gethan hat?“
„Nein, Herr!“
Ueber Wolfrats Züge flog eine heiße Röthe. Herr Heinrich blickte um sich, als suche er jemand ... doch er sah nur, wie die niederhängenden Zweige der Fichten sich zitternd bewegten. Der Vogt aber griff sich mit beiden Händen an den Kopf, rannte auf Haymo zu, fuchtelte ihm mit den Fäusten vor dem Gesicht umher und stotterte. „Ja Meusch, wo hast Du denn Deine Augen? So schau’ ihn doch an! Ich sage Dir, er muß es gewesen sein! Schau’ ihn doch an! Gelt, Du erkennst ihn?“
„Nein, Herr Vogt!“ sagte Haymo mit bebender Stimme. „Der’s gethan hat, war geringer am Leib und hat schwarzes Haar gehabt! Der da war’s nicht.“
Herr Schluttemann hob die Arme und ließ sie auf seine Hüften fallen, als wollte er sagen. „Jetzt steht mir der Verstand still!“
„Ihr sehet, Vogt, man kann sich irren!“ sagte Herr Heinrich. „Wir müssen den Mann freigeben.“ Er nickte, als wäre die Sache für ihn erledigt, und ging der Herrenhütte zu. Unter der Thür rief er den Frater. „Die Knechte sollen packen, wir steigen vor Mittag noch zu Thal. Du, der Vogt und das Mädchen, Ihr gehet mit den Knechten über die Almen. Ich warte hier mit dem Haymo, bis das Maulthier kommt, dann nehmen wir den Abstieg nach dem See, er ist kürzer und für Haymo minder beschwerlich.“
Vor der Jägerhütte stand Haymo noch immer auf der gleichen Stelle. Als er den Propst in der Thür verschwinden sah, athmete er tief auf, wandte sich wortlos ab und trat in die Hütte.
Wolfrat und Herr Schluttemann waren allein.
„Schau, schau,“ sagte der Vogt und kraute sich das Genick, „jetzt hab’ ich Dir halt doch unrecht gethan!“
Wolfrat schwieg und blickte langsam nach den beiden Thüren.
„So sei halt jetzt zufrieden, Polzer, und thu’ Dich nicht kränken!“ stotterte Herr Schluttemann. „Und daß Dir die Schicht ausbezahlt wird, die Du heut’ im Sudhaus versäumt hast, dafür sorg’ ich schon, ja, ja!“
„Kann ich jetzt gehen, Herr?“ fragte Wolfrat mit rauher Stimme.
„Freilich, Polzer, freilich! Ja, geh’ nur heim zu Deinem Weib!“ Freundlich klopfte der Vogt den Sudmann auf die Schulter. „Und weißt, wenn’s im nächsten Jahr wieder hapert mit dem Lehent, dann komm’ nur zu mir, ja, ich laß’ schon mit mir reden.“
„Es wird’s nicht brauchen, Herr! Behüt’ Euch Gott!“ Wolfrat zog den Hut in die Stirn und ging dem Steig zu, während Herr Schluttemann kopfschüttelnd das Herrenhaus betrat.
Da rief Herr Heinrich aus dem Fenster: „Wolfrat? Wohin?“
[424] „Heim will ich, Herr! Ich kann doch gehen?“
„Wenn Du willst. Doch es wär’ mir lieb, wenn Du eine Weil’ noch bleiben möchtest. Ich hätt’ eine Arbeit für Dich.“
„Wohl wohl, Herr,“ sagte Wolfrat zögernd.
„Setz’ Dich nur da her auf die Bank und warte, bis ich komme.“
Mit finsteren Augen ging der Sudmann zur Bank; man sah es ihm an, er that’s nicht gern; unter dem Kittel rührte er die Schultern, als wär’ ihm nicht wohl zu Muth in seiner Haut.
Zwischen den Zweigen der Fichten schlüpfte Gittli hervor und huschte in die Jägerhütte. Haymo saß auf dem Bett. Sie flog auf ihn zu, umschlang seine Hand und sank leise weinend in die Knie.
„Aber Gittli, geh’, was machst denn?“ stammelte er mit umflorter Stimme und hob sie auf.
„Vergelt’s Gott, Haymo, vergelt’s Gott tausendmal, weil Du Erbarmen gehabt hast mit ihm!“
„Hab’ ich nicht müssen?“ flüsterte er. „Und wenn’s mich gleich meine Seel’ gekostet hätt’!“ Seine Augen hingen an ihr mit sehnsüchtiger Schwermuth.
„Schau, Haymo,“ zitterte es von ihren Lippen, „er hat ja freilich was Arges, Arges gethan! Aber gelt, ich hab’ es doch ein lützel wieder gut gemacht? Wie er gekommen ist und hat’s der Schwäh’rin gestanden ... und ich bin drin in der Kammer gewesen und hab’s gehört ... schau, da hat mich doch keins nimmer halten können, gelaufen bin ich und gelaufen, bis ich Dich gefunden hab’ ... und gelt, ich hab’s doch wieder ein lützel gut gemacht?“
Er ließ ihre Hände und überflog sie mit bangem Blick. „Nur weil Du’s wieder gut hast machen wollen?“ fragte er mit versagender Stimme. „Und sonst wegen gar nichts bist gekommen?“
Sie blickte mit erschrockenen Augen zu ihm auf. „Weswegen sonst denn hätt’ ich kommen sollen? ... Ja was hast denn? Was schaust mich denn so an?“
Er schwieg und strich mit der zitternden Hand über die Stirn.
„Aber so red’ doch!“ stotterte sie in herzbeklemmender Angst.
Er schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab.
„O mein Gott, ja was hast denn, ich hab’ Dir doch nichts gethan?“
Sie wollte seine Hand erfassen. Da klang von draußen die Stimme des Fraters. „Gittli, Gittli!“ Er trat in die Stube. „Da bist Du ja! So komm’ doch, Dirnlein, komm’ doch, Du sollst mir packen helfen.“ Bei der Hand zog er sie mit sich fort.
„Haymo ...“ stammelte sie noch einmal, aber da stolperte sie schon über die Schwelle hinaus.
Als sie an Wolfrat vorüber kam, senkte er den Kopf. Sie wollte zu ihm sprechen, allein der Frater hielt fest und zog, da gab es kein Bleiben. In der Küche that sie wortlos, was man ihr sagte.
„Bruder,“ flüsterte Herr Schluttemann dem Frater zu, „packet das ‚Pärchen‘, das noch übrig ist, oben auf! Dann haben wir doch eine Kurzweil, wenn wir rasten.“
Frater Severin nickte verständnißinnig.
Ein halbes Stündlein später waren sie alle zur Heimfahrt gerüstet. Als Wolfrat die beiden Knechte mit hochbeladenen Kraxen dahinschreiten sah, erhob er sich von der Bank. Die Ungeduld der Furcht zitterte ihm in allen Fibern. Er trat an das Fenster und rief hinein: „Soll ich noch allweil warten, Herr?“
„Ja, Wolfrat!“ klang Herrn Heinrichs Stimme, als eben Gittli zu ihm in die Stube kam, um Abschied zu nehmen. Er sah sie lange an mit freundlichen Augen. „Geh’ mit Gott, mein Kind!“ sagte er und bot ihr die Hand. Als sie dieselbe küßte, fiel eine Zähre aus ihren Augen.
„Gittli? Bekümmert Dich etwas?“
Sie schüttelte das Köpfchen und schlich davon. Vor ihrem Bruder blieb sie stehen. „Gelt, ich kann der Seph’ schon sagen, daß Du bald heimkommen wirst?“
„Sagen kannst ihr’s allweil!“
Sie wollte gehen. Mit unruhigen Augen blickte er ihr nach. Jetzt sprang er auf.
„Dirn’!“
Sie wandte sich zu ihm zurück, und da streckte er ihr wortlos die Hand entgegen. Mit kummervollem Antlitz, die Lippen wortlos bewegend, blickte sie zu ihm auf, als sie ihre Hand in die seine legte.
„Tummel’ Dich, Dirnlein, daß wir weiter kommen!“ mahnte Frater Severin.
„Ich geh’ schon!“ stotterte sie und eilte nach der Jägerhütte. Sie fand die Stube leer. Erschrockeu kam sie heraus gelaufen. „Ja wo ist denn der Haymo?“
„Vor einer Weil’ hat er dem Hund gepfiffen,“ rief ihr Wolfrat zu, „und ist da hinaufgestiegen nach den Halden.“
Zitternd stand sie und starrte in die leere Stube.
„Ist das ein Narr, ein unguter!“ brummte Frater Severin. „Nicht einmal warten kann er, bis man ihm ein ‚Behüt’ Gott‘ sagt! Komm’, Dirnlein, komm’!“
Zögernd, mit gesenktem Köpfchen, schritt Gittli hinter Herrn Schluttemann und dem Frater einher. Immer wieder blieb sie stehen und blickte nach der Jägerhütte zurück, so daß die beiden weit vorauskamen.
Nun führte sie der Weg in eine Mulde, und die Hütten verschwanden. Da sank sie auf einen Stein und schluchzte in ihre Hände.
„Jetzt ist er harb auf mich ... und ich hab’ ihm doch nichts gethan!“
Aus dem Thal herauf hörte sie den Frater ihren Namen rufen. Mit dem Aermel trocknete sie ihre Augen und fing zu laufen an.
„So, Wolfrat!“ sagte Herr Heinrich, als er, die Armbrust führend, aus der Thür trat. „Wir werden bald fertig sein. Ich hab’ mich ja schon zur Heimfahrt gerüstet."
Wolfrat erhob sich. „Was soll ich schaffen, Herr?“
„Geh’ in die Küche und hol’ einen Zuber!“
Der Sudmann eilte sich; das sah ja wirklich aus nach Arbeit; mit einer hölzernen Wasserkanne kam er zurück.
„Komm’!“ sagte Herr Heinrich und ging dem Pfade zu, der in das Steinthal führte. Wolfrat folgte mit raschen Schritten.
„Was er nur wollen mag?“ fragte er sich im stillen. Eine Ahnung drohender Gefahr beschlich ihn. Narretei! Der Jäger hatte doch für ihn gezeugt, und Herr Heinrich selbst hatte ihn freigegeben! Vielleicht soll ich ihm Wurzen graben? Oder ... vielleicht hat er ein Erz gefunden, das er proben will, und ich soll ihm einen Zuber voll heimbringen!“ Beruhigt schritt er weiter. Aber immer länger erschien ihm der Weg, den sie gingen. Nun waren sie wohl schon eine halbe Stunde gewandert ... und von der Höhe her winkte das Kreuz. Wolfrat blieb stehen. „Herr? Wohin gehen wir?“
„Komm’ nur!“ sagte Herr Heinrich und schritt weiter. Als er merkte, daß ihm Wolfrat nicht folgte, hielt er inne, wandte das Gesicht und fragte lächelnd: „Oder willst Du nicht kommen?“
„Wohl wohl, Herr!“
Langsamen Schrittes wanderten sie auf dem ansteigenden Pfad empor. Jetzt kamen sie zu einem rinnenden Wasser. „Fülle den Zuber!“ befahl der Propst.
Wolfrat that es. „Was weiter, Herr?“
„Komm’ nur!“
Immer mehr näherten sie sich dem Kreuz. Aus dem Gesicht des Sudmanns war jeder Tropfen Blut gewichen, seine Augen glühten und die Kanne, die er auf der Schulter trug, zitterte, daß das Wasser über den Rand schwankte. Als sie die Höhe erreichten, sagte Herr Heinrich. „Komm’ her, Wolfrat!“ Er deutete auf die Blutspuren an dem Schnitzwerk. „Sieh’ nur diese häßlichen Flecken . . . komm’, nimm das Wasser und wasche sie weg!“ Dem Kreuz gegenüber, das vom Glanz der Sonne umschimmert war, setzte er sich auf einen Stein und entblößte das Haupt. „Nun? Warum zögerst Du?“
Wolfrat stellte die Kanne nieder, schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und wusch ... und wusch ...
„Sie wollen nicht weichen, Herr,“ sagte er nach einer Weile mit dumpfer Stimme, „sie haben sich eingefressen in das Holz.“
[425]
[426] „Ja, Sünde frißt sich ein! Wie hier in das Holz, so in die Herzen. Das ist wie Rost auf Stahl; laß’ Du nur erst den bösen Flecken und tilg’ ihn nicht zur rechten Zeit, so frißt er weiter, und die gute Waffe ist zerstört, unbrauchbar für alle Zeit, und Du kannst sie ins alte Eisen werfen“ – Herr Heinrich blickte auf – „oder ins Feuer! Wasche, Wolfrat, wasche! Thu’ es dem Unglücklichen zu lieb, der das heilige Bild so schwer entweihte. Denke nur ... da läuft er umher unter den Menschen und keinem wagt er mehr ins Auge zu schauen; jeder Schritt, den er hört, macht ihn zittern; jedes Wort, das sein Ohr vernimmt, weckt seine Furcht. Das raschelnde Laub, der flüsternde Wind, das murmelnde Wasser, die stille Nacht wie der lärmende Tag – alles ist sein Feind geworden. Was er hört, alles klingt wie der Seufzer, mit dem sein Opfer zusammenbrach; was er sieht, alles hat einen blutigen Schein. Und in seiner einsamen Noth nicht Trost noch Hoffnung! Sein Herz möchte aufschreien zum Himmel – doch er sieht nur immer Gottes Bild vor sich, das er befleckt und entweiht hat, und seine Lippen haben kein Gebet mehr .... Nun? Wollen die Flecken weichen?“
„Nein, Herr!“ Die Worte klangen, als läge eine würgende Hand an Wolfrats Kehle, und die Arme sanken ihm wie gelähmt.
„Mußt nur nicht ablassen! Plag’ Dich nur noch ein lützel! So! So! Weißt, Du thust es ja für einen, der sich selber doppelt straft, weil er meint, er könne der Strafe entlaufen, die nun einmal gesetzt sein muß auf alles, was bös und unrecht ist. Laß ihn nur! Gottes zürnende Gerechtigkeit hat noch flinkeren Gang! Da läuft er ... und die Strafe ist ihm doch schon an die Füß’ gehängt wie eine lange Kette, und er läuft und läuft und schlägt dabei mit der Kette nach allen Seiten und reißt noch andere mit sich in seinen Fall! ... Warum hörst Du zu waschen auf? So! Laß nur nicht nach! ... Sag’, Wolfrat, hast Du ein Kleefeld?“
„Ein halbes Gras[2] – für meine Gaisen,“ stammelte der Sudmann.
„Hast schon einmal den Kleefraß im Feld gehabt?“
Wolfrat nickte.
„Gelt, da hast Du’s halt übersehen, wie der Krank das erste Stäudlein angepackt hat. Hättest Du es nur gleich ausgerissen! So aber hast Du es stehen lassen, und wie Du nach einer Woche wieder hingekommen bist, da war das halbe schöne Feld schon aufgefressen! Gelt, ja? Und schau! Der das gethan hat“ – Herr Heinrich deutete nach den Flecken, an denen Wolfrat mit zitternden Händen rieb – „der trägt jetzt auch einen solchen Schaden in sich herum. Zuerst frißt es in ihm alles auf, was noch gut und gesund ist, und dann kriecht es aus ihm heraus, und hat er Vater und Mutter, so frißt es an denen, und hat er Weib und Kind . . . Was hast Du, WOlfrat? Ist Dir übel?“
Der Sudmann schüttelte den Kopf und schöpfte Wasser mit den Händen.
Herr Heinrich schwieg eine Weile, dann fragte er: „Wollen die Flecken noch allweil nicht weichen?“
„Zur Hälft’ sind sie weg,“ murmelte Wolfrat mit versunkener Stimme, „aber die andern ... die andern halt ...“
„Wasch nur! Laß Dich die Zeit nicht verdrießen, ich wart’ schon, jawohl. Und jenen andern ... den kann ich auch noch abwarten, bis er kommt und die rothen Händ’ herzeigt. Wenn’s nur dann nicht zu spät ist zum Waschen. Und wenn er gar nicht reden wollt’ ... einer ist doch allweil da, der in einer bösen Stunde gegen ihn reden wird!“
Zögernd, mit scheuen Augen blickte Wolfrat auf die Lippen des Propstes.
„Einer, der es gesehen hat!“ sagte Herr Heinrich und deutete zum Kreuz empor. „Der da, Wolfrat?“
„Der?“ Ein irres Lächeln zuckte um Wolfrats Lippen, während er langsam die Augen hob. Dann schüttelte er den Kopf. „Es hat noch nie kein Holz gered’t!“
Ein Wolkenschatten flog über den Grund.
„Meinst Du?“ lächelte Herr Heinrich.
Schwer athmend beugte sich Wolfrat über die Kanne, um mit den hohlen Händen Wasser zu schöpfen. Da klang aus den Lüften ein dumpfes Murren, welches zum rollenden Donner wuchs, um mit einem krachenden Schlag zu enden. Eine Lawine hatte den letzten Schnee von den Wänden gestürzt.
Der Sudmann stand mit fahlem Gesicht, ein Schauer hatte ihn gerüttelt, und von seinen zitternden Händen tropfte das Wasser.
„Hast Du gehört, Wolfrat?“ sagte Herr Heinrich, während zwischen den Felsen der Widerhall verzitterte.
„Eine Lahn war’s ... nur eine Lahn ist gegangen ...“
„Und wer hat sie reden lassen und hat ihr Füß’ gemacht?“
„Die Sonn’!“
„Weil sie scheint, gelt? Und wer läßt die Sonne scheinen?“
Wolfrat schlug die Hände vor das Gesicht, und sein ganzer Körper erbebte wie ein Baum vor dem Sturz. Dann warf er die Arme auseinander. „Ich kann’s nimmer heben, es muß heraus!“ stöhnte er, brach in die Knie und schlug mit den Fäusten seine Brust. „Ich .. ich ... ich hab’s ja gethan! Ich bin’s gewesen, der ihn gestochen hat!“ Mit starren Augen blickte er auf; er hatte wohl gefürchtet, daß der Propst nun aufspringen würde in Zorn und mit rauhen Worten.
Herr Heinrich aber blieb ruhig sitzen. „Und weshalb hast Du’s gethan?“ fragte er.
„Weil er mich hat fassen wollen!“
„Es war seine Pflicht, denn Du hast Raub getrieben. Weshalb?“
„Für mein Kindl! Weil mir einer gesagt hat, daß die Schweißbluh’ noch helfen thät’!“
Herr Heinrich blickte betroffen auf. Nach einer Weile fragte er: „Wer hat Dir das gesagt?“
Wolfrat schüttelte den Kopf und wehrte mit der Hand. Er konnte sich selbst verrathen, doch keinen anderen.
Und Herr Heinrich fragte nicht weiter. „Sag mir nur ... hat’s auch geholfen?“
„Ach du mein Gott, das Kindl war ja schon verschienen, wie ich heimgekommen bin.“
„Ja, Wolfrat, alle Sünd’ ist umsonst! Hat Dir das, wie Du mit der blutigen Hand an das Bett getreten bist, das stumme Mündlein Deines Kindes nicht gesagt?“
Wolfrat schlug die Hände vor das Antlitz und brach in dumpfes Schluchzen aus. Mit einem Blick des tiefsten Erbarmens ruhten die Augen des Propstes auf dem Sudmann. Als Herr Heinrich sich erhob, schaute Wolfrat mit banger Frage zu ihm auf.
„Herr? Was geschieht mit mir?“ Und als er keine Antwort erhielt, stammelte er: „Er ist ja doch lebig, Herr!“
„Ist es Dein Verdienst? Du hättest ihn liegen und verbluten lassen, nur daß er nimmer reden möchte.“
Dem Sudmann sank das Haupt aus die Brust. „Was geschieht mit mir?“
„Das weiß ich nicht!“ sagte Herr Heinrich. „Das mußt Du selber wissen! Es war ja nicht Dein Fürst und Lehensherr, zu dem Du gesprochen hast, es war Dein Beichtiger! Was Du auch sagtest ... ich gehe von hier und hab’ es vergessen.“ Er bedeckte das Haupt und ging mit langsamen Schritten davon.
Wolfrat sprang auf, drückte die Faust an die Stirn und starrte dem Propste nach. Als Herr Heinrich die Tiefe des Steinthals erreicht hatte, blickte er nach dem Kreuz zurück. Er sah den Sudmann zur Quelle gehen, um frisches Wasser zu holen.
Bei der Jägerhütte angelangt, rief der Propst nach Haymo. Aber die Antwort kam nicht aus der Hütte, sondern vom Berghang her, über welchen der Jäger, von der flinken Hel begleitet, langsam herabstieg, in der Hand ein Bündel ausgegrabener Wurzeln tragend.
„Wo warst Du, Haymo?“
„Nieswurz hab’ ich gegraben für den Frater Küchenmeister,“ sagte der Jäger mit müder Stimme.
„Hat er wieder Athemnoth und Herzkrämpfe? Ein Wunder wär’ es freilich nicht. Aber Du ... Du hättest diese Arbeit einem andern überlassen sollen.“
Haymo hielt die Augen gesenkt. „Ich hab’s ihm versprochen.“
[427] „Und hast Dich übermüdet dabei, jetzt, vor dem Abstieg! Und wie bleich Du bist. Gieb Deine Hand her – sie zittert! Und Deine Augen brennen! Haymo, ich muß Dich in der Hütte lassen.“
Der Jäger erschrak. „Ich bitt’, Herr Heinrich, nur das nicht! Ich mein’, ich thät’s nimmer aushalten in der Hütte . . . vor ich nicht wieder gesund bat . . . ganz gesund!“ Er betonte die beiden letzten Worte so seltsam.
Der Propst betrachtete ihn mit forschendem Blick. „So geh’ in die Hütte und richte Dich zur Heimfahrt.“
Haymo trat in die Stube. Herr Heinrich blickte ihm nach. „Seine Wunde heilt ... und sein Herz ist siech geworden. Armer Bursch, ich fürchte, diese Blume ist nicht für Dich gewachsen.“
Er hörte Hufschlag; der Knecht mit dem Saumpferd kam. „Ist das Thier müde?“ fragte der Propst.
„Nein, Herr, ich hab’s allweil rasten und grasen lassen.“
„So können wir gleich aufbrechen. Sperr’ die Thür’ der Herrenhütte und bring’ mir mein Griesbeil!“
Haymo kam, wie zum Hegergang gerüstet, das Weidgehenk um die Hüfte, die Armbrust auf dem Rücken.
„Nein, Du!“ lächelte Herr Heinrich. „So wirst Du mir nicht reiten . . . gewaffnet und den Arm in der Schlinge! Die Waffen hindern Dich. Gieb her, der Knecht soll sie Dir tragen.“ Er nahm ihm die Armbrust und den Fänger ab. „Das Griesbeil laß heroben in der Hütte, das Pferd hat viere für eins. So, und nun steig’ auf!“
„Herr Heinrich!“ stotterte der Jäger. „Ich soll reiten, derweil Ihr zu Fuß gehet?“
„Steig auf, sag’ ich!“
Haymo fügte sich schweigend und hob sich in den Sattel. Der Knecht nahm die Armbrust und schnallte sich das Gehenk um. „So, jetzt bin ich auch ein Jäger!“ lachte er, stieß das Griesbeil in den Grund und faßte den Zügel des Pferdes. Haymo warf noch einen heißen Blick auf die geschlossene Thür seiner Hütte, dann ließ er den Kopf sinken ... und die Heimfahrt begann.
Herr Heinrich schritt hinter dem Pferde her; doch immer wieder blieb er stehen und blickte über das Steinthal aus. Wenn er dann weiter ging, schüttelte er den Kopf. Es schien als hätte er etwas erwartet, und das wäre nicht eingetroffen.
Ruhig und sicher ging das berggewohnte Pferd den rauhen Pfad; kamen schiefe Platten, dann legte es den Leib zurück und rutschte auf den vorgeschobenen Hufen. Vorerst hatte der Knecht, der es führte, leichte Arbeit. Unermüdlich plauderte er drauf los, und es störte ihn nicht, daß Haymo mit keiner Silbe Antwort gab.
Sie hatten den Wald erreicht. Die niederstehenden Aeste, denen Haymo mit dem Kopfe ausweichen mußte, rissen ihn aus seiner Versunkenheit und als seine Augen nur einmal lebendig wurden, gingen sie auch fleißig in die Runde. Da merkte er, daß die Hel, welche vorausgesprungen war, regungslos auf dem Pfade stand, mit gesträubtem Haar und funkelnden Augen. Haymo bohrte die Blicke in das Dunkel des Waldes und leise rief er über die Schulter zurück. „Herr, leget flink einen Bolz auf!“
Herr Heinrich griff zur Armbrust.
„Seht Ihr ihn ... dort ...“ flüsterte Haymo.
Aber mit aller Eile war Herr Heinrich zu spät gekommen. Wie ein grauer Schatten huschte der Wolf zwischen den Bäumen dahin.
„So ist also Meister Isegrimm schon wieder daheim in den Bergen[3]?“ lachte der Propst, die Sehne der Armbrust lösend.
„Das ist der erste, den ich seit dem Herbst gesehen hab’,“ sagte Haymo.
„Wir haben ihm sein Mittagsschläfchen gestört.“
Die Hel machte einen Versuch, dem Ausreißer nachzujagen; aber ein Pfiff des Jägers rief sie zurück.
Der Pfad wurde steiler, und der Knecht mußte nun das Saumpferd fest an die Hand nehmen. Nur langsam ging der Abstieg von statten. Einmal blieb Herr Heinrich lauschend stehen. Er schüttelte den Kopf und ging wieder weiter. Doch nein, er hatte sich nicht getäuscht. Nun klang es deutlich wie eilende Schritte weit hinter ihnen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Lippen des Propstes. Er setzte sich auf einen gestürzten Baum und wartete.
In langen Sprüngen kam Wolfrat über den Pfad heruntergestürmt. Der Schweiß troff ihm von der heißen Stirn, und keuchend blieb er vor dem Propste stehen. Fast eh’ er noch Athem fand, begann er schon zu reden.
„Herr ... Herr ... jetzt sind sie alle weg ... auch der letzt’, der schier gar nicht hat weichen wollen!“
„Wirklich?“
„Ja, ich hab’ nicht ausgelassen. Und .. und jetzt hätt’ ich eine Bitt’, Herr!“
„Sprich, Wolfrat!“
„Lasset mich mit Euch gehen, Herr! Schauet, auf mir liegt die Noth wie ein Trumm Stein, aber ich mein’, es wär’ mir nirgends so wohl als wie bei Euch.“
„So komm’!“ Herr Heinrich erhob sich.
„Und ... wenn ich heimkomm’, so red’ ich mit meiner armen, guten Seph,’ und wenn sie meint, daß sie’s tragen kann ... in Gottesnam’, so geh’ ich halt hin zum Vogt und thu’ mich angeben.“
Herr Heinrich sprach kein Wort. er legte nur die Hand auf Wolfrats Schultern. Dann gingen sie. Als sie zu den anderen kamen, eilte Wolfrat auf das Saumpferd zu. „Gieb her, ich mach’ das besser!“ sagte er und nahm dem Knechte den Zaum aus der Hand.
Haymos Züge wurden finster, seine Augen funkelten; doch schweigend ließ er alles geschehen. Mit scheuem Blick schaute Wolfrat zu ihm empor. „Jäger ... jetzt kannst auch schlafen!“
Das Pferd merkte die feste, sichere Hand, an der es ging, und setzte sich in rascheren Schritt.
Es war später Nachmittag geworden, als Herr Heinrich mit seinem Geleit den See erreichte. In den weiten Felsenkessel fiel keine Sonne mehr, aber hoch oben die Almen und Kuppen funkelten noch in goldenem Glanz. Hier unten im Schatten waren alle Farben tief und satt. An den bleigrauen Felswänden hingen die steilen Nadelwälder wie dunkler Sammet, in welchen das frische, nun schon kräftig sproßende Grün der Buchen und Ahornbäume mit lichter Zeichnung sich einstickte. Glanzlos, durchsichtig und glatt dehnte sich der See. Weit draußen schwammen einzelne Wildenten langsam umher. Drüben auf der flachen Landzunge, welche die Bartholomäer Klause trug, dampfte ein feiner Nebel aus den feuchten Wiesen. Ueberall lautloses Schweigen; denn die an Wasser schon verarmenden Gießbäche rauschten so eintönig zusammen, daß ihre gleichmäßig andauernde Stimme das Ohr wie Stille berührte ...
Haymo stieg vom Saumpferd. Der lange Ritt hatte ihn schwer ermüdet. Während er das Gebüsch suchte, in welchem der Einbaum verborgen lag, gab Herr Heinrich dem Knechte den Auftrag, das Saumpferd um das Ende des Sees herum über die Salletalpe nach der Bartholomäer Klause zu führen, von wo es die Fischknechte in einem größeren Kahn nach dem Seedorf schaffen könnten.
Wolfrat schob den Einbaum ins Wasser, und unruhig winselnd sprang die Hel in den Nachen; sie war keine Freundin von solchen Fahrten; da sie aber merkte, es mußte sein, so war sie auch die erste im Kahn.
„Wo ist der Knecht hin?“ fragte Haymo. „Er hat ja mein Schießzeug.“
„Laß es ihm nur, es geht Dir nicht verloren,“ lächelte Herr Heinrich, „und heute brauchst Du ja Deine Waffen nimmer.“
„Aber mir fehlt halt was, ich hab’ keine Ruh’!“
„Geh’ nur, steig ein!“
Die Hel hatte sich auf dem Schnabel des Einbaums ein möglichst unbeguemes Plätzchen ausgesucht. Auf dem Brett in der Mitte saß Haymo neben Herrn Heinrich, der das Wehrgehenk abnahm und mit dem Griesbeil auf den Boden legte. Wolfrat führte, im Spiegel des Schiffes stehend, das Ruder; er trieb den Nachen mit so kräftigen Stößen, daß die Hel bei jedem Ruck ins Wasser zu plumpsen drohte. Herr Heinrich rief sie vor seine Füße; sie kam auch, aber gleich wieder schlich sie zum Schnabel des Fahrzengs zurück, winselnd nach dem Lande spähend. Leise plätschernd glitt der Einbaum durch das Wasser. Niemand sprach. Immer näher rückte das flache Ufer des Felsenthals, in welchem die Seeklause stand. Plötzlich richtete die Hel sich auf, zitternd, die Nase windend vorgestreckt.
[428] „Was mag denn der Hund nur haben?“ fragte Herr Heinrich. Er hatte kaum ausgesprochen, als die Hel aufheulend mit weitem Satz in das Wasser klatschte und gierig nach dem Ufer ruderte. In heller Erregung sprang Haymo auf und deutete mit dem Arm. „Herr . . . sehet . . . dort! Der Bär! Der Bär! Er will über den See schwimmen!“
Auf einen Bolzenschuß vom Ufer entfernt sahen sie den Kopf des Raubthiers gleich einem braunen Holzklotz über das Wasser treiben. Der Bär hatte den näherkommenden Hund schon gewahrt, zögernd schwamm er weiter, dann machte er plötzlich Kehrt und suchte das Ufer zu gewinnen. Heulend, schnappend und Wasser blasend, schoß der Hund hinter ihm her.
„Herr! Herr! Wir müssen nach,“ schrie Haymo, „oder der gute Hund ist hin!“
„Tauch’ an, Wolfrat, tauch’ an!“ rief Herr Heinrich mit klingender Stimme, während er nach einem Bolz griff und die Armbrust von der Schulter riß.
Wolfrat legte sich auf das Ruder, daß die Stange knirschte, und während Herr Heinrich sich zum Schuß bereit machte, riß Haymo seiner Wunde und Schwäche nicht achtend, den Fänger aus dem Wehrgehenk des Propstes. Die rufenden Stimmen waren zur Seeklause gedrungen. Pater Desertus erschien am Ufer, und als er gewahrte, was vorging, schrie er gegen die Klause: „Walti! Walti! Mein Griesbeil!“
Der Bär hatte seichten Grund gefunden und begann zu waten. Jetzt erreichte ihn die Hel und fiel ihn kläffend an. Der Bär hob die Tatze und schlug; winselnd überstürzte sich der Hund und verschwand im Wasser.
„Tauch’ an, Wolfrat, oder die Hel ist hin, die arme Hel!“ schrie Haymo. Da hatte sich der Hund schon wieder erhoben und fuhr im aufspritzenden Wasser auf den Bären los.
„Schießet, Herr, schießet!“
Die Sehne der Armbrust schnurrte, aber das Schwanken des Einbaums hatte den Schuß gestört ... der Bolz streifte nur den Schädel des Bären und surrte über das glatte Wasser hin.
Heulend machte die Hel noch einen letzten Sprung, dann hing sie verbisseu am Gehör des Bären, der auf den Hinterpranken aufgerichtet im schäumenden Wasser sich schüttelte, daß der Hund wie eine lebendige, zappelnde Quaste um ihn herbaumelte.
„Der Hund ist hin, ist hin!“ jammerte Haymo. Da wankten sie alle im Kahn. Der Einbaum war auf einen im Wasser liegenden Wurzelstock gerathen. Aber noch im Wanken schwang sich der Jäger aus dem Nachen.
„Haymo! Haymo! Bist Du denn von Sinnen!“ schrie Herr Heinrich, doch seine Arme erreichten den Jäger nicht mehr. „Zurück, Haymo! Mag doch der Hund hin sein! Zurück! Zurück!“
Haymo hörte nicht, die Erregung, der Jammer um das treue Thier machten ihn taub. Den blitzenden Fänger in der erhobenen Faust, warf er sich durch das aufklatschende Wasser gegen den Bären. Doch eh’ er ihn erreichte, hatte das Thier den Hund schon abgeschüttelt, und als die Hel wieder aufsprang gegen seine Brust, da schlug das Raubthier mit der Tatze ... und lautlos, ein blutiger Klumpen, fiel der Hund ins Wasser.
„Meine Hel!“ schrie Haymo, mit Zähren in den Augen, und in flammender Wuth sprang er auf den ans Ufer kletternden Bären zu. Er hörte nicht den zornigen Ruf seines Herrn, er hörte nicht das warnende Wort, welches Pater Desertus, der zwischen den Bäumen waffenlos herbeisprang, ihm zuschrie mit bebender Stimme ... er stürzte dem fliehenden Bären nach, verklammerte sich mit der Hand in das zottige Fell und führte im Lauf mit dem Fänger einen Stoß gegen die Weiche des Raubthiers. Das Eingeweide quoll hervor, dumpf brummend machte der Bär einen flüchtenden Satz ... aber Felsklötze versperrten ihm den Weg. Blitzschnell wandte er sich, richtete sich empor und ging auf den Jäger los.
Ein Schrei vom Schiffe, ein Klatschen im Wasser, ein Schrei von den Lippen des Paters ... doch unerschrocken stand Haymo, und als der Bär die Tatzen zur Umarmung ausbreitete, fiel der Jäger vor mit sicher gezieltem Stoß. Aber der durch die Wunde und die kranken Tage entkräftete Arm versagte, der Stahl glitt zwischen den Rippen des Bären aus ... Haymo wollte zur Seite springen, ein Griff des Raubthiers machte ihn straucheln und stürzen ... er war verloren. Allein ehe der Bär noch über ihn herfallen konnte, war Wolfrat durch das Wasser herbeigesprungen, und mit eisernem Griff schlug er dem Raubthier von rückwärts die beiden Arme würgend um den Hals. Doch was bedeuteten die Hünenkräfte eines Menschen gegen die wilde Kraft dieses gewaltigen, um sein Leben ringenden Thieres. Der Bär schüttelte sich und war befreit; dem neuen Feind sich zuwendend, führte er einen Hieb gegen Wolfrats Schulter, und ihn mit den Zähnen an der Brust fassend, klammerte er die blutigen Tatzen um ihn her, daß Wolfrat erbleichend stöhnte, während ihm das Haupt in den Nacken fiel. Ehe sich Haymo noch aufraffen konnte, war Pater Desertus herbeigestürmt, hatte den Fänger von der Erde gerissen und stieß ihn bis ans Heft in das Herz des Thieres; ein dicker Blutstrahl schoß hervor ... und die Tatzen des Bären lösten sich von seinem Opfer.
Als Herr Heinrich jetzt das Ufer gewann und Walti mit dem Griesbeil kam, war alles vorüber. Schwer athmend und bleich stand Haymo, verendet lag der Bär, und Wolfrat taumelte ins Moos, mit den Hunden ins Leere greifend, mit lallender Zunge nach Worten ringend.
Mit lautem Schreckensruf eilte Herr Heinrich auf ihn zu. Das Grauen, das den Propst erfaßte ... wie sah diese Brust und diese Schulter aus! ... machte ihn einen Augenblick zögern. Dann warf er sich auf die Knie nieder, und während er Wolfrats Haupt auf seinen Schoß hob, rief er: „Walti! Hinauf zur Klause und ziehe die Glocke, daß die Knechte vom Seedorf kommen. Und Du, Haymo ... kannst Du noch das Ruder führen?“
„Es muß sein, Herr! Was soll ich?“ sagte Haymo dumpf.
„Fahr’ hinüber nach Bartholomä. Pater Eusebius soll kommen, er soll Verbandzeug bringen und“ – die Stimme des Propstes dämpfte sich zum Flüstern, „und das heilige Sakrament."
Walti war schon davongestürzt, Haymo sprang in den See und watete zum Einbaum.
„Wolfrat, wie ist Dir?“ fragte Herr Heinrich.
Der Sudmann wollte sprechen, aber Blut trat über seine Lippen, er streckte sich stöhnend, und die Sinne schwanden ihm.
„Gott sei Dir gnädig!“ flüsterte der Propst, und zu Pater Desertus aufblickeud: „Ich fürchte, der Mann ist verloren! Doch wir müssen thun, was in unseren Kräften steht. Dietwald! Hier, nimm meine Kappe, hole Wasser!“
Pater Desertus eilte zum See und kam mit der gefüllten Kappe zurück. Heinrich wusch dem Sudmann das Gesicht und flößte ihm Wasser über die Lippen. Aber bange Minuten vergingen, ehe Wolfrat wieder zu athmen begann und die Augen öffnete.
Da hörte man von der Klause her das Glöcklein läuten.
Der Blick des Sudmanns wurde starr, und seine Zunge lallte. „Gilt ... das ... mir?“
„Nein, nein, Wolfrat, das Glöcklein ruft nur die Knechte zu Deiner Hllfe.“
„Hilf’?“ Wolfrat schüttelte den Kopf. „Mit mir ... hat’s ein End’, Herr! Alles ... ist eingedrückt ... da drin ... “ Er preßte die zitternde Faust auf seine blutende Brust und stöhnte: „Meine Seph’ ... Jesus Maria ... und mein Bub’, mein Bub’ ...“
„Sei ohne Sorge! Was auch geschieht, ich gebe Dir mein fürstlich Wort zum Pfande, Dein Weib und Kind soll nimmer Noth leiden!“
Wolfrat tastete nach der Hand des Propstes. „Vergelt’s Gott, Herr!“ Seine Stimme begann zu erlöschen, er kämpfte um jedes Wort. „und ... und saget ... meiner Seph’ ... sie soll ... soll ... die Gittli ... die Dirn’ ... ist meine Schwester nicht ...“
Pater Desertus erbleichte, und mit irrendem Blick suchte er die Augen des Propstes.
„Rede, Wolfrat, rede, rede!“ stammelte Herr Heinrich.
Lautlos bewegten sich noch einmal die Lippen des Sudmanns, dann verlor er wieder das Bewußtsein.
„Wolfrat! Wolfrat!“
In dem Antlitz des todwunden Mannes zuckte keine Miene mehr.
„Dietwald! Er darf nicht sterben!“ rief Herr Heinrich in rathlosem Kummer, „oder er nimmt auch Dein Leben mit hinüber!“
„Herr! Ich verstehe nicht,“ zitterte es von den Lippen des Paters.
„Du hörtest doch! Das holde Kind ist nicht die Schwester dieses Mannes. Hast Du sichere Zeugschaft, daß Dein Töchterlein das Los der Mutter theilte?“
[429] „Nein, Herr!“ Das war nicht Sprache, es war ein Schrei.
„Und als jenes Mädchen Dich um alle Ruhe brachte, kam es Dir da niemals in den Sinn, daß kein Weib noch jemals so einem Weibe glich, wie ein Kind seiner Mutter gleichen mag?“
Wortlos und zitternd stand Pater Desertus. Mit beiden Händen faßte er seine Stirn, mit starren Augen hing er an den Lippen des Propstes, dann jählings stürzte er in die Knie, und Wolfrats Hand umklammernd, schrie er: „Gieb mir mein Kind! Mein Kind!“
„Dietwald!“ rief Herr Heinrich erschrocken, als er die Wirkung seiner Worte sah. „Was hab’ ich gethan! Die Erregung hat mir entrissen, was meine Lippen hätten verschließen sollen als eine scheue, schwankende Ahnung!“
Pater Desertus schien nicht zu hören; seine Blicke hingen fest gebannt an Wolfrats Antlitz. „Herr, er schlägt die Augen auf!“
Sie labten den Erwachenden mit Wasser. Wolfrat blickte suchend umher und lallte: Wo ist ... der Jäger? ... Ist ihm was ... geschehen?“
„Nein, Wolfrat! Er hat sein Leben Dir zu danken!“
Ein tiefer Seufzer quoll über Wolfrats Lippen. „Und … und wird es der Herrgott … auch annehmen … als Buß’?“
„Ja, ja, Wolfrat! Doppelt gewogen in der Schale des Guten!“
„Herr!“ stammelte Pater Desertus. „Sehet doch, wie ich zittere und bange!“
„Der Himmel hat das Vorrecht vor der Erde,“ sagte Herr Heinrich ernst. Und wieder beugte er sich über Wolfrat, dessen Blicke mit scheuer Sehnsucht emporgerichtet waren in das dämmerige Blau des Himmels.
„Wolfrat?“
„Und wenn ich … jetzt hinaufkomm’ … darf ich auch hinein, Herr?“
„Ja, ja, mein guter Wolfrat.“
„Ich hab’ doch ... blutige Händ’ ...“
„Gott sieht auf die Hände nicht, er sieht in das Herz. Die Reue hat Dein Herz gereinigt, Du hast Leben mit Leben bezahlt, mein Priesterwort darf Dich lösen von aller Sünde, und ruhig könnte Deine Seele vor Gott erscheinen. Doch sieh, Du lebst ja noch …“
Schwer schüttelte Wolfrat den Kopf. „Ich spür’s … daß ich … hin bin!“
„Herr!“ mahnte Pater Desertus und verschlang mit flehender Geberde die Hände.
„Sprich, Wolfrat, was war es, das ich Deinem Weibe sagen sollte?“
„Meine Seph’ … mein Bub’ …“ rang es sich in heißem Schmerz über Wolfrats blutige Lippen.
„Und das Mädchen?“ fiel Pater Desertus mit bebender Stimme ein. „Sie ist Deine Schwester nicht?“
„Nein … sie ist … ein Herrenkind ...“
„Wessen Kind?“
„Ich … weiß es … nicht …“
„Um Gottes Barmherzigkeit willen, wer ist ihr Vater, wer ist ihre Mutter?“
„Ich … weiß es … nicht ...“
In Qual und Verzweiflung faßte Pater Desertus das Haupt des Sudmanns in beide Hände. „Mensch! Ich beschwöre Dich! Wie heißt die Burg, in der das Kind geboren wurde?“
Kaum merklich schüttelte Wolfrat den Kopf, er wußte keine Antwort.
„Wo stand die Burg?“
„Ich … weiß es … nicht …“
„Wie kamst Du zu dem Kinde?“
„Aus dem … Feuer … hab’ ich’s …“ Er wollte weiter sprechen, doch quellendes Blut erstickte seine Stimme.
„Wolfrat! Wolfrat!“ schrie Pater Desertus aus gemartertem Herzen.
Herr Heinrich legte die Hand auf seinen Arm. „Dietwald, sieh, Pater Eusebius bringt das Sakrament!“
Desertus bedeckte das Gesieht mit beiden Händen und trat zurück. Ein großer von drei Knechten geführter Kahn hatte am Ufer angelegt. Haymo stieg ans Land; er trug das ewige Licht; einen Blick warf er auf Wolfrat und wandte sich ab mit nassen Augen. Pater Eusebius, eine kleine gebeugte Greisengestalt, ließ sich auf die Knie neben Wolfrat nieder, dessen Haupt auf dem Arm des Propstes ruhte. – Niemand sprach.
Die Knechte knieten entblößten Hauptes und mit gefalteten Händen im Schiff. Auf den Zinnen der Berge erlosch der letzte Schein der sinkenden Sonne. Tiefe Stille lag über Wald und Wasser. Als Pater Eusebius mit murmelnder Stimme das Gebet zu sprechen begann, fing drüben über dem See in der Bartholomäer Klause die Glocke zu läuten an, und von allen Felswänden klang ein leises Echo der schwebenden Töne.
Mit erlöschenden Sinnen empfing Wolfrat das Sakrament und lag schon bewußtlos, da Pater Eusebius sich erhob.
Als letzterer die volle Gefahr für den Verwundeten erkannte, da verwandelte sich der Priester rasch in den Arzt; er that, was seine Kunst an solchem Orte nur zu thun vermochte.
„Ist noch Hilfe?“ fragte Herr Heinrich, schon mit Zweifel in der Stimme.
„Nicht mehr bei Menschen!“ lautete die ruhige Antwort des Greises.
Mit matter Stimme rief Haymo einen der Knechte. „Nimm das ewige Licht!“
„Was ist Dir, Haymo?“ fragte der Propst erschrocken.
„Mir ist so schwindlig, Herr!“ Er hatte kaum ausgesprochen, als er ohnmächtig zu Boden sank.
Man hob ihn auf und labte ihn; er kam zu sich, aber die Füße wollten ihn nicht mehr tragen. Vom Seedorf waren zwei Knechte mit einem Kahn gekommen, es waren die beiden, aus deren Händen Gittli von Haymo erlöst worden war. Sie trugen den Jäger in den Nachen. „Schaffet ihn auf einer Bahre in [430] das Kloster,“ befahl der Propst, „und schweiget von allem, damit nicht ein Unberufener dem armen Weib des Sudmanns die schlimme Botschaft zutrage!“ Und auf Wolfrat deutend, sagte er zu Pater Eusebius. „Diesen da vertrau’ ich Deiner Pflege; bessere weiß ich nicht. Nimm ihn mit in die Klause, thue, was Du vermagst, opfere Deine Tage und Nächte, vielleicht läßt sich sein Leben doch noch erhalten ...“
Eusebius zuckte die Schultern, während die Knechte den Bewußtlosen achtsam in das Schiff hoben. „Er muß eine Natur haben, wie ein Baum ... doch die Säge ist zu tief gegangen! Er kann noch Stunden, noch Tage ringen, aber ...“ Eusebius schwieg.
„Sollte er noch einmal sprechen können, so frag’ ihn um alles, was er weiß von seiner Schwester.“
„Er wird nicht sprechen. Eh’ ich ihn noch in die Klause bringe, wird das Wundfieber kommen ... oder das Ende!“
„Herr!“ stammelte Pater Desertus. „Darf ich nicht mit ihm ziehen? Ich will wachen bei ihm, und wär’ es durch tausend Nächte ... und harren auf ein Wort ...“
„Nein, Desertus, Du bleibst!“ sagte Herr Heinrich, den Namen betonend, den er sonst nicht zu gebrauchen pflegte.
Der Kahn mit Haymo schwamm bereits der Seeklause zu, um Walti abzuholen. Nun stieß auch der andere Nachen in den dunkelnden See, dessen Spiegel sich im sanft anhauchenden Abendwind zu kräuseln begann.
Pater Desertus war auf einen Stein gesunken, erfüllt von wirbelnden Gedanken und stürmischem Empfinden.
Herr Heinrich trat an das Ufer und blickte den ziehenden Schiffen nach. Da sah er auf dem Wasser einen dunklen Körper treiben. Es war die Leiche der armen Hel.
„Jetzt hab’ ich sie umsonst gebrannt!“ murmelte Herr Heinrich ... und sein Blick suchte den Nachen, der den todwunden Sudmann nach der Klause trug.
Pater Desertus und Herr Heinrich waren allein. Sie mußten warten, bis das Schiff von Bartholomä zurück kam, um sie abzuholen. „Komm’, Dietwald, mir graut vor diesem Fleck Erde!“ sagte Herr Heinrich und schritt dem Pater voran der Klause zu. Schweigend folgte Desertus; doch immer wieder blieb er stehen und preßte die Fäuste auf seine wogende Brust.
Nun saßen sie auf der Bank. Herr Heinrich seufzte: „Ein böser, böser Tag! Ich glaubte, ein Menschenleben gerettet zu haben, und nun ist es verloren!“
„Und ein Mund geschlossen, der nur halb geredet!“ brach es mit fiebernden Worten von den Lippen des Paters. „Doch nein, nein, nein! Muß ich denn noch warten auf dieses Mannes Rede – es redet ja doch mein Herz. Wie blind waren meine Augen, wie taub und irrend meine Sinne, daß ich die Wahrheit nicht ahnte, nicht gleich erkannte! Es ist mein Kind! Und dennoch . . . was hätt’ ich nicht gegeben für ein klares, unumstößliches Wort. Ach Herr! Weshalb habt Ihr mich nicht gehen lassen mit diesem Manne ...“
„Weil Du noch reisen wirst in dieser Nacht!“
Pater Desertus sprang auf. „Das könntet Ihr begehren von mir? Jetzt? In dieser Stunde? Da die Brust mir springen will vor Bangen und Hoffen? Da ich in zitternder Sehnsucht die Arme strecke nach meinem Kind!“
„Pater Desertus? Ein Mönch?“ fiel Herr Heinrich mit ernsten Worten ein. „Ich verstehe Deine Rede nicht! Ein Irrwahn ist aus Deinem Herzen gerissen, und schon droht ein neuer all Dein Sinnen und Fühlen zu verschlingen und Dich vergessen zu machen, daß mit der Stunde, da Du in Gottes Haus getreten, ein eisern Thor sich geschlossen hat zwischen Dir und allem, was hinter Dir in der Welt liegt. Ich trage selbst die Schuld daran, denn ich hätte schweigen sollen von dieser Ahnung, die auch jetzt noch keine Gewißheit ist! ... unterbrich mich nicht ... und so seh’ ich für mich auch doppelte Pflicht, Dich einem neuen Kampf und Zwiespalt zu entreißen. Du wirst reisen noch in dieser Nacht. Dein Propst befiehlt es Dir!“
Pater Desertus schlug die Hände vor das Antlitz.
Herr Heinrich aber zog sie ihm nieder. „Nun komm’ und setze Dich zu mir. Jetzt will Heinrich von Inzing reden mit seinem Freunde Dietwald!“
Desertus fiel auf die Bank und drückte das Antlitz schluchzend an Herrn Heinrichs Schulter.
Eine Weile schwieg der Propst; dann sagte er: „Höre mich ruhig an. Und wenn Dein Herz nicht verstummen will, so halte die Lippen fest. Ich gebe ja zu: diese seltsame Aehnlichkeit und auch schon das halbe Geständniß, das der nahende Tod diesem armen Menschen entpreßte ... das sind verführerische Zeugen. Aber wie zweifelhaft sie doch auch wieder sind, das magst Du daraus entnehmen, daß Du selbst ohne mein unvorsichtiges Wort mit keinem Gedanken auf solchen Zusammenhang gerathen hättest. Siehst Du? Nun läßt Du den Kopf wieder hängen! Noch darfst Du keine Gewißheit hegen, kaum eine zitternde Hoffnung! Die laß’ ich Dir ... denn ich kann sie Dir nimmer nehmen. Aber sie zittert, Dietwald! Wenn dieses Mädchen schon nicht die Schwester des Sudmanns ist, muß es deshalb die Tochter jenes Grafen Dietwald von Falkenberg sein, der, wenn ich mich recht entsinne, gestorben ist ... für die Welt! Kann das Mädchen nicht auch eines anderen Vaters ... Sprich nicht, Dietwald, denn ich muß Dir weh thun, wenn die mögliche Enttäuschung Dich nicht mit doppeltem Schmerz beladen soll. Muß Deine Burg die Heimath dieses Kindes gewesen sein? In dieser mörderischen Zeit, in der man Burgen wirft wie Maulwurfshügel und Schlösser niederbrennt wie Flachs in den Kunkelstuben . . . ist es in solcher Zeit denn ein so seltener Fall, daß sich ein Herrenkind in die Bauernhütte verirrt? Doch wer nun auch der Vater dieses Kindes sein mag, eines wissen wir gewiß ... es ist ein Herrenkind, und ich will es seinem Stande zurückgeben, will ihm zu seinem Recht verhelfen. Und auch hier, Dietwald, kann ich nicht wissen, nur hoffen, daß sein Recht auch sein Glück sein wird. Schon morgen send’ ich das Mädchen in das Heim der Domfrauen nach Salzburg ...“
„Fort von hier?“ stammelte Desertus.
„Ja, Dietwald, fort . . . fort vor allem! Und aus einem zwingenden Grunde.“
„Herr ...?“
„Das Mädchen liebt den Jäger.“
Desertus erschrak. „Ein Kind!“
„Ein Kind, das ein Augenblick herzbrechender Angst zum Weibe machte. Noch aber weiß sie selbst nicht, daß sie aus Liebe that, was sie gethan. Ich hoffe nur von ihrer Jugend, daß dieses Gefühl noch nicht so fest verwurzelt ist, um sich nicht wieder zu lösen in langer Entfernung, unter neuen überraschenden Eindrücken. Um meinen guten treuen Haymo ist mir freilich leid und bang, er wird das Mädchen nie vergessen; er hat um ihretwillen gethan, was er nicht gethan hätte um sein Leben . . . er hat seiner Pflicht zuwider den Raubschützen und Mörder verleugnet. Er wird schwer gestraft, der arme Bursch’.“
„Daß doch keine Freude blühen kann, ohne Schmerzen zu reifen!“ flüsterte Pater Desertus mit bebender Stimme.
„Wir wollen sehen! Ich thue, was ich muß – alles andere liegt nicht in meiner Hand.“
„Was meint Ihr, Herr?“
„Nichts!“ sagte Herr Heinrich, wie aus Gedanken erwachend. „Morgen schicke ich das Mädchen fort. Noch aber darf niemand erfahren, weshalb. Alles soll erscheinen wie eine Laune von mir, die das Glück dieses Kindes will. Wir dürfen sie in das neue Leben nur langsam einführen, vorsichtig ... oder aus diesem scheuen Häslein wird eine junge Löwin, die sich wehrt! Es steckt Blut in diesem Kind. Weißt Du, was sie gesagt hat, als sie dem Haymo von ihrer Begegnung mit einem Bären erzählte und der Jäger erschrocken fragte, was sie wohl gethan haben würde, wenn der Bär sie angenommen hätte. Sie sagte: ‚Ich weiß es selber nicht, aber wenn er gekommen wär’, ich glaub’ wohl, daß ich zugeschlagen hätt’!‘“
Pater Desertus drückte die Hände auf seine Brust, und es blitzte in seinen feuchten Augen. Das sollte sein Kind nicht sein?
„Und ich glaube, Dietwald, wenn Du jetzt vor sie hintreten und ihr sagen wolltest, ein König wär’ ihr Vater, eine Königin ihre Mutter ... sie würde das Köpfchen schütteln, minder in Unglauben als in Unwillen. Denn selten noch hing ein Kind an seinen leiblichen Eltern mit solcher Liebe und Verehrung wie dieses Mädchen an den Bettelleuten, die seine Pfleger wurden ...“
„Und all seine Liebe genossen!“
[431] „Nein, Dietwald, sage: all seine Liebe verdienten, so sehr, daß die Stimme der Natur zum Schweigen kam und sich verwandelte. Es wird lange, lange währen, bis mit diesem Kind von einem neuen Vater zu reden ist. Sie darf, daß sie ein Herrenkind ist, nicht erfahren, bevor sie sich nicht an Herrenleben gewöhnt hat. Inzwischen . . . und während Du fort bist . . . will ich forschen und forschen. Und wenn auch der Mund, den dieser Tag geöffnet und geschlossen, nicht wieder reden sollte . . . eine Fährte wird sich doch wohl finden lassen, der ich folgen kann. Und gebe Gott, daß ich Dir gute Botschaft senden darf.“
„Und dann, dann . . .“ stammelte Desertus, „wenn ich sie auch nicht halten darf in meinen Armen, ein Vater sein Kind, so darf ich mich ihrer doch freuen in verschlossenem Herzen mich erquicken an ihrem sonnigen Dasein, darf bauen helfen an ihrem Glück!“
Es war dunkle Nacht geworden, doch hoch vom Himmel funkelte in die enge Schlucht hernieder ein heller Stern; der Wildbach rauschte, und plätschernd gingen die Wellen im See.
„Dietwald? wie lang ist es her, daß wir so wie jetzt an dieser Stelle saßen? Damals aber schien die Sonne . . .“
„Und es war Nacht in mir. Jetzt liegt die Finsterniß um mich gebreitet, und eine Freude geht auf in meinem Herzen, hell wie ein Frühlingstag.“ Weinend stürzte er auf seine Knie. „Herr Heinrich, mein Falter fliegt!“
„So? So?“ lächelte der Propst. „Mir aber scheint, er liegt erst recht zu Boden! O Du Mensch! Du Mensch!“ Zärtlich strich er mit der Hand über das Haupt des Paters.
„Als ich den Bären jagte in meinem Forst, ward mir mein Dirnlein geboren ... als ich den Bären schlug in diesem Wald, ward mein Kind mir neu gegeben! O Wege Gottes!“
„Natürlich! Der liebe Herrgott muß eigens die Bären erschaffen und von ihnen die Menschen zerreißen lassen . . . nur damit Du seine Wege erkennst! O Du Fliege Du; gieb acht, daß Du Dir die Flügel nicht versengst! Nun aber steh’ auf! Ich höre schon die Ruder klatschen. Es ist Zeit, daß Du reisest und Arbeit findest! Und wiege Dich nicht in der Hoffnung ... sie soll Dich beleben! Du nimmst ein schweres Werk auf Dich ... sie haben harte Köpfe – der Papst und seine Kardinäle. Aber schlage Dich für Deinen Kaiser, als trügest Du noch die Rüstung und das Schwert. Und wenn Du vor dem Papste stehst, so sei vorerst ein Mann . . . vergiß aber auch nicht, daß Du ein Priester bist. Und sollte er Dich fragen, weshalb sein ‚getreuer Kaplan‘ Heinrich von Berchtesgaden der Satzung zuwider die Kirchen offen hält und die Sakramente spendet, derweil der Kaiser im Bann ist, so sag’ ihm mit meinen ehrfurchtsvollen Grüßen: erstens, weil meine Bauern und Lehensleute die Kirche und die Sakramente brauchen . . . zweitens, weil Heinrich von Inzing ein deutscher Kirchenfürst ist, und also das ‚Deutsch‘ vor der Kirche steht . . . und drittens ... da kannst Du wieder von vorne anfangen. Jetzt aber komm’! Dort warten sie mit dem Schiff.“
Herr Heinrich schritt dem Ufer zu. Pater Desertus aber eilte in die Klause; als er wieder ins Freie trat, hielt er Gittlis Veilchenkränzlein in den Händen; er drückte einen heißen Kuß auf die welkenden Blüthen und barg sie an seiner Brust.
„Wie steht es mit dem Wolfrat?“ fragte Herr Heinrich.
„Er liegt in bösem Fieber, und Pater Eusebius nähet an ihm wie der Schneider an einer ledernen Hos’,“ sagte der Knecht. „Der arme Teufel hat ja Löcher, daß man sieben könnt’ durch seine Haut.“
Sie bestiegen das Schiff. Schnell ging die Fahrt vonstatten. Als sie das Seedorf erreichten, sagte Herr Heinrich: „Fahret morgen zeitig hinüber zu der bösen Stelle und suchet meine Waffen zusammen; ich weiß nicht, wo sie liegen.“
„Und was soll mit dem Bären geschehen?“
„Streifet ihm die Haut ab. Den Leib aber soll man mit Steinen in den See versenken. Niemand soll davon essen.“
Einer der Knechte ging mit brennender Fackel voran, als Herr Heinrich und Pater Desertus an der rauschenden Albe entlang die Wanderung durch das nächtige Thal begannen. In allen Hütten waren schon die Fenster dunkel, auch am Haus des Sudmanns, das sie nach einer Stunde erreichten. Pater Desertus blieb in tiefer Bewegung stehen.
„In dieser elenden Hütte lebte mein Kind!“
„Dein Kind?“ lächelte Herr Heinrich. „Ach so, Du meinst das Herrenkind, dessen Vater wir finden müssen? Nein, Dietwald, Du darfst die Hütte nicht schelten. Denn in keiner Burg hätte das Mädchen besser und holder an Gemüth und Herz gerathen können, als es in dieser Hütte geschah. Und zum Dank dafür muß ich morgen Kummer und Schmerz unter dieses Dach tragen! Komm’, Dietwald!“ Er zog den Widerstrebenden mit sich fort. –
Als sie vorübergingen, warf der Schein der Fackel eine falbe Helle durch das Fenster in die Stube. Sepha richtete sich auf im Bett und lauschte. „Noch allweil kommt er nicht!“ seufzte sie und ließ sich wieder zurücksinken.
Neben ihr schlief der Bub; er hatte Mimmidatzis Plätzchen geerbt; immer von neuem tastete Sepha zu ihm hinüber, ob er auch zugedeckt wäre. Dann lag sie wieder ruhig und starrte in die Nacht hinein. Draußen rauschte die Albe, und in dem Pfosten der Thür, welche zu Gittlis Kammer führte, tickte ein Holzwurm.
Mit jeder verrinnenden Stunde der Nacht wuchs Sephas Angst. Freilich, sie hatte sich so recht von Herzen auch nicht freuen können, als Gittli in die Stube hereingestürmt war mit den Worten: „Seph’, Seph’, sie haben ihn freilassen müssen, der Haymo hat für ihn gezeugt!“ Der schwerste Stein war ihr wohl von der Brust gefallen: ihr Mann war frei! Aber . . . gethan hatte er’s ja doch!
Und nun lag sie und wachte, warf sich hin und her, wartete und lauschte, setzte sich auf und fiel zurück, weinte in die Hände und drückte die nassen Augen wieder in das Polster. Und die Sorge um ihren Mann wechselte mit dem Kummer um ihr verlorenes Kind. Ach, solch eine Sorgennacht! Jede Minute wird zur qualvollen Ewigkeit. Jeder Kummer wächst dir ins Riesenhafte, Ungemessene. Wohin du in der Finsterniß auch blickst, überall siehst du ihn . . . das Dunkel hat ja keine Grenzen, und so weit es reicht, so weit hin stehen auch die Gespenster deiner Sorgen, eins am anderen; sie drängen näher, sie ziehen an dir vorüber, und jedes hält eine Weile still, sieht dich an mit drohenden Augen und drückt dir die knöcherne Faust auf die Brust, daß dein Athem fast ersticken will. Ach, solch eine Sorgennacht!
Sepha hielt es nimmer aus. Sie sprang auf, kleidete sich an und machte Licht. Mit erhobener Kerze leuchtete sie in Gittlis Kammer. Das Mädchen lag mit offenen Augen, ein Bild, wie aus Dietwalds Träumen herausgelöst: „... das weiße Gesichtchen auf schwarzem Kissen, nein doch, das sind ja nur die gelösten Haare, die um ihre Wangen gebreitet liegen wie schwarze Seide.“
„Gelt?“ nickte das Weib. „Kannst auch nicht schlafen?“
Gittli seufzte. „Weißt, ich muß halt auf so viel denken. Wie ein Spinnradl geht’s mir herum im Kopf und laßt mir schon gar keine Ruh’ nimmer!“
„Machst Dir auch schon Sorgen um den Polzer?“
Mit verwunderten Augen blickte Gittli zu der Schwäherin auf. „Um ihn? Ja warum denn? Sie haben ihn doch freigelassen. Ich hab’s ja doch selber gehört und gesehen.“
„Aber er müßt’ ja doch lang schon daheim sein!“
„Geh’, Du! Ich hab’ Dir’s ja doch erzählt, daß er noch ’was schaffen hat müssen für den Herrn. Er wird halt lang gebraucht haben dazu und hat nimmer heim können vor der Nacht. Wirst sehen, er hat in der Almenhütt’ geschlafen, und in der Früh ist er daheim, noch vor das Glöckl im Sudhaus läutet. Kannst mir’s glauben, um den sorg’ ich mich nicht ein lützel!“
Ihre Sorgen galten einem anderen. Jetzt war er „harb“ auf sie, und sie hatte ihm doch nichts gethan!
„Weswegen mußt Dich denn nachher sorgen?“
Gittli schüttelte das Köpfchen und schob die Hände unter den Nacken.
„Aber so red’ doch!“
„Geh’! Thu’ mich Du auch noch plagen!“ Sie drehte das Gesicht gegen die Wand, denn Thränen standen ihr in den Augen.
Sepha stellte das Licht in die Fensternische und ließ sich seufzend auf den Rand des Bettes nieder. Lange schwiegen sie. Da begann an der Thür der Holzwurm wieder zu pochen.
[432] „Hörst ihn klopfen?“ flüsterte Sepha, während ein Frösteln über ihre Schultern lief. „Das erste Mal hab’ ich ihn gehört in der Nacht, in der über mein Kindl der Krank gekommen ist. Jetzt weiß ich, was der Würbel[4] selbigsmal hat sagen wollen!“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht.
Gittli richtete sich auf, legte den Arm um Sephas Schultern und tröstete sie mit herzlicher Rede. Sie hatte sich ja Wörtlein um Wörtlein alles gemerkt, was Herr Heinrich mit ihr von dem Kinde gesprochen.
Als Sepha endlich ruhiger wurde, begannen sie von Mimmidatzi zu plaudern. Sie erinnerten sich an jeden herzigen Zug des Kindes, an jedes verstümmelte Wörtchen, das der kleine Mund geplappert, an jede drollige Gebärde … und Gittli verstand es so gut, die Weise des Kindes nachzuahmen daß zuweilen sogar ein schüchternes Lächeln über Sephas Lippen huschte. Darüber verging ihnen Stunde um Stunde, so daß sie kaum merkten, wie draußen der Tag zu grauen begann. Sie wurden es erst gewahr, als das niedergebrannte Talglicht mit hoher Flamme zu lodern begann.
„Schau, Seph’, es taget schon,“ sagte Gittli. „Geh’, thu’ Dich noch ein paar Stund’ hinstrecken. Ich mein’ doch, Du thätst die Ruh’ brauchen.“
Sepha löschte das qualmende Licht aus. „Jetzt muß er ja doch bald kommen!“ seufzte sie und wollte die Kammer verlassen. Aber noch einmal kehrte sie zurück. „Du, Gittli, sag’, was ist denn das eigentlich mit dem Schatz?“
„Mit was für einem Schatz?“
„Der Polzer hat gesagt, Du thätst einen Schatz wissen, der zum Heben wär’, und Du hättest den Schlüssel dazu?“
Gittli machte große Augen und schüttelte den Kopf …
Durch das Fenster klang von der Straße her der ferne Hufschlag mehrerer Pferde. An der Albenbrücke zogen sie vorüber und lenkten auf den Weg ein, der zur Grenzwarte des Klosterlandes, zum festen Hallthurm führte, und von dort hinunter in das Reichenhaller Thal, hinaus ins ebene Land. Zwei gewaffnete Knechte zu Pferd, jeder ein beladenes Saumthier führend. Ihnen voran ritt Pater Desertus auf einem frisch ausgreifenden Eisenschimmel, dessen violette Schabracke, fast auf der Erde schleifend, in jedem Zipfel das Wappen des Klosters zeigte. Desertus trug nicht mehr die schwarze Kutte, sondern das festliche Kleid der Chorherren: das Pelzbarett, den mit Otterfell verbrämten Mantel und darunter den seidenen Talar, der, für den Ritt berechnet, bis zum Gürtel geschlitzt war. Es klirrte bei jedem Tritt des Rosses; denn unter dem Talar trug Pater Desertus den Harnisch und das Schwert. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, und träumend blickten seine Augen in den erwachenden Tag.
Herr Heinrich kehrte von einem schweren Gang in das Kloster zurück. Welch eine Stunde des Jammers hatte er im Hause des Sudmanns erlebt! Mit zögernder Vorsicht hatte er dem armen Weibe den bitteren Trank gereicht … und doch, als Sepha das volle Unglück erkannte, da stürzte sie bewußtlos nieder, als hätte ein fallender Balken ihr Haupt getroffen. Dazu das Mädchen in seinem rathlosen Schmerz und Kummer … und das kleine Bürschlein, das sich schreiend an die Mutter klammerte! Wohl war es gelungen, die Ohnmächtige wieder zu erwecken. Aber was sollte nun weiter werden? Denn Sepha war krank, ernstlich krank, das hatte Herr Heinrich mit dem ersten Blick von ihren Wangen und Augen abgelesen. Hier war Hilfe nöthig wie Feuer im Winter.
Als der Propst das Stift erreichte, ließ er die Oberin der frommen Schwestern rufen, die in einem freundlichen Klösterlein auf dem Nonnberg hausten. Er hatte mit ihr eine lange Unterredung, welche, wie Herr Schluttemann mit Kopfschütteln bemerkte, hinter verschlossener Thür geführt wurde. Der Vogt war an diesem Morgen merkwürdig still; Frau Cäcilia hatte ihn zwar nicht sanfter behandelt als sonst, im Gegentheil, sie hatte in einer einzigen Stunde ausgegeben, was sie als gute Hausfrau während dieser Tage der Trennung sich zusammengespart hatte an spitzigen Dolchblicken und bitterscharfen Wörtlein – in Herrn Zchluttemann aber hatte die Predigt des Propstes nachgewirkt. Dazu reifte unter seiner gefurchten Stirn ein verwegener Plan. Mit rollenden Augen und gesträubtem Schnauzbart, die Arme verschränkt, wanderte er lange, lange in seiner Amtsstube rings um den Tisch. Die Sache mußte wohl überlegt werden, denn sie konnte auch ein schiefes Ende nehmen.
Endlich war er mit sich im reinen. Er ließ einen von den Schreibern des Klosters kommen und befahl ihm, einen Gänsekiel fein säuberlich zu spitzen und aus dem Pergamentkasten das schönste Blatt hervorzusuchen. Als nun der Schreiber zum Werke bereit war, stellte sich Herr Schluttemann in kühner Haltung vor den Tisch und begann zu diktieren: „Urtheil … in Sachen der zänkischen Hausfrau …“ Er unterbrach den hohen Ton und sagte: „Den Platz für den Namen laß nur einstweilen frei, den Namen wird Herr Heinrich einzeichnen, wenn er das Urtheil unterschreibt.“ Wieder diktierte er: „In nomine Reverendissimi et Celsissimi Principis Praepositi Henrici von Berchtesgaden wird anmit zu Rechtes Kraft gesprochen: weil genannte Hausfrau das Pagen und Keifen gegen den ihr von Gott zum Herren gesetzten Ehegatten gar nicht lassen will, so soll ihr der Frohnbot den Pagstein um den Hals hängen und soll sie an hohem Feiertag nach der Messe eine ganze Stund’ durch die Gassen führen, im Wiederholungsfalle aber zwei Stund’, und so immer deß mehr um eine ganze Stund’.“
Herr Schluttemann schnaufte. Er diktierte noch die übliche Schlußformel des Urtheils, dann fiel er erschöpft in den Lehnstuhl.
Als nun Herr Heinrich die Oberin durch die Vogtstube zur Treppe geleitet hatte und zurückkam, wurde ihm das Urtheil zur Unterschrift vorgelegt. Er zeichnete den Namen der Frau „Caeciliae Schluttemanae“ in die Lücke ein und unterschrieb. Herr Schluttemann warf sich stolz in die Brust; der Propst aber lächelte, als er sagte: „Das wird Eurer Hausfrau, einen gehörigen Schrecken einjagen! Ich hoffe, Ihr werdet Ruhe haben für lange Zeit.“
Eine Stunde später traf die Oberin mit zwei dienenden Schwestern im Haus des Sudmanns ein. Sepha sollte, um gute Pflege zu genießen, in das Klösterlein auf dem Nonnberg verbracht werden. Stumpf und willenlos ließ das kranke, von Kummer gebrochene Weib alles mit sich geschehen, ohne Frage ohne ein Wort. Gittli aber war ein Bild der Verzweiflung und Sorge. Was sollte denn mit Lippele geschehen? Der dürfe bei der Mutter bleiben. Und mit den beiden Ziegen, mit den Hennen? Und wer würde die Bienenstöcke und das Haus überwachen, im Garten mähen und den Klee schneiden? Sie selbst müsse doch ihre Zeit jetzt theilen: einen Tag bei der Schwäherin, den anderen beim Bruder! Es hieß, sie möge sich beruhigen, Herr Heinrich habe für alles gesorgt.
Auf einer Bahre wurde Sepha nach dem Klösterlein getragen und in einer kleinen freundlichen Stube untergebracht. Lippele versöhnte sich rasch mit seinem neuen Aufenthalt, da er den großen Garten gewahrte, den eine hohe Mauer umzog. Als Sepha versorgt war und nach dem Buben fragte, war er schon verschwunden. Nach langem Suchen wurde er im Garten gefunden; er hockte am Ufer eines kleinen Teiches und warf Steinchen nach den erschrocken hin und herschießenden Forellen.
Auf Gittli wartete im Zimmer der Oberin eine seltsame Ueberraschung. Sie solle gleich zu Herrn Heinrich kommen, hieß es; aber bevor sie ginge, solle sie die neuen Kleider anziehen, die der Herr Propst ihr geschenkt hätte.
„Aber schauet doch her, Frau Mutter,“ lispelte das Mädchen, „ich hab’ ja doch eh’ schon mein gutes Gewand an. Ich brauch’ kein neues!“
Weder durch freundliches Zureden, noch durch ernste Worte war sie zu bewegen, die schönen Kleider anzulegen. Sie schüttelte nur immer das Köpfchen, wehrte mit den Händen, und Zähre um Zähre perlte aus ihren angstvollen Augen.
Auch zu Herrn Heinrich, zu dem die Oberin sie begleitete, ging sie nicht gern; sie wäre lieber bei der Schwäherin geblieben.
[433]
Aus der Werkstatt des Bildhauers.
Mit Zeichnungen von M. Henze.
Während vom Maler jedermann weiß, daß er seine Schöpfungen mittels Pinsel und Farben auf die Leinwand bringt, vom Architekten, daß er sie mit Reißschiene, Zirkel und Winkel entwirft, stehen im Gegensatz hierzu viele der Bildhauerei fremd gegenüber. Nicht nur, daß der eigentliche Bildhauer – wir wollen später sagen, warum er besser „Bildner“ genannt würde – in einem fort Gefahr läuft, mit dem Stuccateur, dem Steinmetzen oder dem Gipsgießer verwechselt zu werden, man kennt auch durchweg nur wenig von der Art seines Schaffens, weiß nicht, welchen Weg ein Kunstwerk, das man in Marmor oder Bronze bewundert, zu durchlaufen hat. – Die Erinnerung an die vorzugsweise in Marmor schaffenden Bildhauer der Antike oder der Renaissance, nicht zum wenigsten auch der Name Bild„hauer“ selbst hat es zuwege gebracht, daß man sich den Jünger dieser Kunst stets mit Meißel und Hammer arbeitend denkt. Der Wirklichkeit entspricht das nicht. Es giebt vielmehr heutzutage manch einen Bildhauer, der kaum je einen Meißel in der Hand gehabt hat, und gewiß würden die meisten in Verlegenheit sein, wenn sie das, was sie erdacht und gebildet haben, nun auch selber in Stein umsetzen sollten.
Der Schwerpunkt des wirklich künstlerischen Schaffens liegt wie überall so auch hier im Hervorbringen, in der Gestaltung des innerlich Geschauten und Empfundenen. Da dies nur versuchend, ändernd und wieder versuchend geschehen kann, bis endlich der richtige Ausdruck gefunden ist, so braucht man natürlich zunächst ein Material, das dieser Arbeitsweise entgegenkommt, das jeden Fehler verbessern läßt und jede Abänderung gestattet. Man findet es im Modellierthon, einer grau, gelblich oder braun gefärbten fetten Erdart, von Laien nicht selten mit dem Glaserkitt – mit dem es nichts als eine äußere Aehnlichkeit gemein hat – verwechselt.
Die schmiegsam weiche und doch zugleich zähe Beschaffenheit dieses Stoffes, die durch beständiges Anfeuchten erhalten werden muß, giebt dem Künstler jede Freiheit in der Behandlung seiner Arbeit. Er kann beliebig wegnehmen und wieder hinzuthun, so oft er will.
Wie jeder andere schaffende Künstler beginnt auch der Bildhauer mit der Skizze. Sie hat nicht nur den Zweck, einen Gedanken festzuhalten – das würde schon eine gezeichnete thun, während wir es hier mit der modellierten zu thun haben – sie ermöglicht vielmehr auch, daß manches schon im Kleinen geändert wird, was im Großen nur mit vieler Mühe geschehen könnte: sie klärt und berichtigt die Vorstellung des Künstlers. Dieser wird dabei mehr andeutend als ausführend verfahren, im allgemeinen aber doch Stellung, Gewandung und Aehnliches an seinem Bildwerk soweit feststellen, daß er später nicht wesentlich davon abzuweichen braucht.
Ist das gethan, so kann er an die Ausführung im großen denken. Hier gilt es aber zunächst eine Schwierigkeit zu überwinden, die manchmal viel Kopfzerbrechen macht. Man denke sich, es sei eine überlebensgroße Figur mit frei ausgebreiteten Armen zu modellieren, und man wird begreifen, daß eine solche nicht ohne weiteres aus dem weichen und dabei schweren Thon aufzubauen ist. So muß denn zunächst für ein eisernes Gerüst gesorgt werden, stark genug, um eine Last von zwanzig bis dreißig Centnern zu tragen. Mit Hilfe genauer und mühevoller Berechnungen nach der Skizze wird dasselbe fertiggestellt, derart, daß eiserne Stäbe und, wo es angeht, starke Bleirohre, deren Biegsamkeit späteren Aenderungen besser entgegenkommt, dem Körper sammt den Extremitäten einen festen innern Halt geben. Damit aber der Thon nicht etwa durch seine Schwere am Gerüst herabrutsche, ist es noch nothwendig, überall an letzterem Bündel größerer und kleinerer Holzkreuze mit Drähten so anzubringen, daß er davon festgehalten wird. Unsere Abbildung Seite 434 zeigt uns die Fignr eines Christus mit ausgebreiteten Armen und daneben das entsprechende Gerüste mit den Holzkreuzen.
Sind sodann alle Eisentheile mit einem das Rosten verhütenden Lack überzogen, so steht das Ganze auf der Plinthe – einer starken Bohle, die ihrerseits auf einer Drehscheibe ruht – fertig zum Anfangen da. Der Künstler, dem die vielerlei nothwendigen Berechnungen schier den Kopf wirbelig gemacht haben, athmet endlich auf, greift zum wohldurchgearbeiteten Thon und „legt den Akt an“, d. h. zu deutsch, er beginnt mit der nackten Figur. Weil es besseren Anlaß zu verschiedenen Erklärungen giebt, wollen wir annehmen, er mache eine Gewandfigur. Da wird es denn vielen neu sein, daß, obgleich diese etwa einen faltenreichen Mantel tragen soll, zuvörderst doch der „Akt“, der nackte Körper, mit aller Sorgfalt durchgeführt wird. Künstlerische [434] Gründe rechtfertigen das auch vollauf. Mag der Faltenwurf einer Gestalt noch so reich sein, an einzelnen Stellen kommt dennoch der Körper zum Vorschein. Das Verhältniß dieser Punkte zu einander nun würde eine fragwürdige, nicht immer überzeugend richtige werden, wenn der Körper nicht wirklich vorher darunter modelliert würde.
Hat der „Akt“ unter der Bearbeitung mit Modellierholz, Schlinge und Fingern den Grad der Vollendung erreicht, den die mehr oder minder reiche Bekleidung erfordert – je weniger Gewand, um so feinere Durchbildung des Nackten ist naturgemäß nothwendig – so wird die Gewandung angelegt. Zuvor aber wird der Körper überall an den Stellen, die bedeckt werden sollen, mit dünner nasser Seide überzogen. Sie verhindert, daß man später bei etwa nothwendigen Aenderungen oder beim Modellieren von Gewandtiefen in den Thon hineingeräth, welcher den Körper darstellt. Ueber eine Gliederpuppe, deren Kugelgelenke gestatten, daß man ihr jede gewünschte Haltung giebt, wird nun mit geduldigem Versuchen und wieder Versuchen – nicht selten währt es tagelang, bis das Gewünschte gefunden ist – ein Gewand gelegt, dessen Faltenwurf den Absichten des Künstlers entspricht, und dann beginnt er es in Thon zu übertragen. Was jetzt folgt, die Ausführung, die bei einer lebensgroßen Figur Monate, ja nicht selten Jahre in Anspruch nimmt, ist im Grunde nichts als ein immerwährendes Verändern und Vervollkommnen der Einzelheiten. Man darf niemals denken, daß ein Bildwerk, welches so, wie es fertig dasteht, in jedem Zuge den Eindruck macht, als könnte es nicht anders sein, so völlig ausgeglichen dem Kopfe des Künstlers entsprungen wäre. Es ist ein Erzeugniß unermüdlichen Schaffens, Wiederzerstörens und bessernden Neuschaffens. Was von einer Seite schön aussah, war es oft nicht von der andern. Dinge, die der Beschauer als selbstverständlich hinnimmt, mögen den Künstler bis zur glücklichen Lösung der Verzweiflung nahe gebracht haben. Er sieht sich nicht selten genöthigt, an einem Tage zu Gunsten möglicher Verbesserungen wieder wegzunehmen, woran er wochenlang gearbeitet hat. Kurz, die Meinung, als ob der talentvolle Künstler seine Arbeiten nur so „aus dem Aermel schüttele“, ist eine durchaus irrige.
Manchem wird wohl mit dieser Schilderung seine Vorstellung von echter Künstlerschaft einigermaßen in die Brüche gehen: dies mühsame Zusammenquälen ist doch gar nicht „genial“! Es ist aber nicht schade um jene Vorstellung, denn sie entspringt nur großer Unkenntniß. Bei einem Kunstwerk handelt es sich vor allem darum, wie es schließlich ist. Ob es mit mehr oder minder Aufwand von Mühe so geworden, ist eine Sache, die nur den Künstler selber angeht. –
Endlich steht das Modell in Thon vollendet da. Das kritische Auge des Urhebers findet nichts Störendes mehr daran, und er zeichnet mit dem Hochgefühl stiller Genugthuung seinen Namen ein. Das Schöpferisch-Künstlerische der Bildhauerei ist damit abgeschlossen. Was nun folgt, bis das Bildwerk in Marmor oder Bronze vor uns steht, ist Sache des Kunsthandwerks.
Zunächst muß aber dem Modell noch Dauerhaftigkeit verliehen werden. Der Thon, der bis jetzt Tag für Tag angefeuchtet worden ist, giebt dem Bildwerk zwar einen prächtigen lebensvollen Charakter, behält diesen aber leider nicht, wenn er trocken wird. Abgesehen davon, daß er in diesem Zustande keine genügende Festigkeit besitzt, wird er dann stumpfgrau und rissig. So kommt das Werk des Bildners denn zuvörderst unter die Hände des Gipsgießers oder Kunstformers, der aus Gips eine sogenannte „verlorene Form“ darüber macht. In diese wird, nachdem das Thonmodell, das dabei zerstört wird, stückweise daraus entfernt und der Hohlraum mit Wasser gereinigt ist, Gips hineingegossen; ist dieser erhärtet, so wird die Form vorsichtig in Stücken abgeschlagen – daher der Ausdruck „verlorene Form“ – und was vorher Thon war, steht nun in dem beständigeren Gips da.
So einfach sich das liest, so ist doch der Vorgang dabei im einzelnen ein sehr komplizierter. Wir wollen darum den Verlauf dieses „Abgießens“, wie es zum Untterschied vom eigentlichen Formen genannt wird, an einem einfachen Beispiel, einer Büste, erläutern. Nachdem das Thonmodell derselben von einer außen aufgesetzten Wand dünner Zinkbleche, die, wie die obenstehende Abbildung [435] zeigt, vom Fuß der Büste über die Schulterhöhe am Ohr herauf über den Scheitel und an der anderen Seite wieder herunterführt, gleichsam in zwei Hälften geschieden ist, wird Gips mit Wasser angerührt, dem ein wenig rothfärbender Bolus zugesetzt ist. Von dieser Gipsmasse wird nun unter steter Sorgfalt dafür, daß sie in jede Vertiefung eindringe und nirgends Blasen bilde, eine etwa vier bis acht Millimeter starke Schicht nach und nach über die eine abgesteckte Hälfte des Modells gebreitet, die vom Zinkrand begrenzt wird. Ist diese erhärtet, was in fünf bis sechs Minuten geschehen ist, so kommt noch eine stärkere Lage weißer Gips darüber; alsdann wird der Vorgang an der noch unbedeckten Seite wiederholt. Die Büste ist nun „eingeformt“, ringsum von einer unförmlichen Gipsmasse umschlossen, die aber durch die Zinkbleche getrennt ist. Werden diese mit einer Zange herausgezogen, was unschwer möglich ist, so bedarf es nur noch des Eintreibens einiger Keile in die entstandene Fuge, und das weiche Thonmodell, das hierbei natürlich zu Grunde geht, giebt nach – die Form liegt in zwei aneinanderpassenden Hälften da – das genaue Negativ der behandelten Arbeit.
Die letzten Ueberreste von Thon, die hier und dort noch hängen geblieben sind, werden entfernt, das Ganze sauber ausgewaschen, leicht eingeölt und fest wieder zusammengeschnürt. Nun kommt der eigentliche Guß. Es wird wiederum Gips angerührt und dieser unter Schütteln durch eine Oeffnung in die Form hinein gegossen, bis sie gefüllt ist, sodaß also der Gips nun genau den Platz einnimmt, den vorher der Thon innehatte. Ist die Masse fest geworden, dann geht es ans Wegschlagen der Form mit Hammer und Meißel, zuerst der umhüllenden weißen Lage, dann der inneren rothen. Die letztere sagt dem Arbeiter: hüte dich, hier kommt das Modell! Wäre Form und Ausguß von derselben Farbe, so könnte man leicht mit dem Eisen in den letzteren hinein gerathen. Gleichwohl muß auch so noch mit äußerster Vorsicht verfahren werden. Mit mehr oder minder bedeutenden Abweichungen ist dies das Verfahren beim Abgießen. Es wird schwieriger bei großen zusammengesetzten Werken, weil hier die Form aus mehreren Stücken besteht, einfacher beim Relief. Für das Verständniß ist das aber belanglos.
Wir haben also, was als weicher Thon aus des Künstlers Händen hervorgegangen ist, nunmehr im beständigeren Gips vor uns. Da und dort ist noch eine kleine Beschädigung nachzubessern, sonst steht das Werk – als künstlerische That wenigstens – vollendet da. Was ihm aber noch fehlt, ist der Reiz des Materials! Der Gips, so große Vorzüge er in praktischer Beziehung bietet, hat hiervon wenig oder gar nichts. Seine kreidige Weiße läßt meist keine rechte Freude aufkommen. Wollte man ihn abtönen, so bliebe doch immer noch eine gewisse Stumpfheit. Zudem kann aber von Dauerhaftigkeit auch bei ihm nur im Verhältniß zu dem gänzlich dauerlosen Thon gesprochen werden. Im Freieu würde er gar bald verwittern, in Innenräumen jeder Beschädigung ohne großen Widerstand zum Opfer fallen. Alles das läßt uns also im Gipsmodell immer erst ein Durchgangsstadium erblicken zu der Darstellung in einem haltbaren und edleren Material – Bronze oder Stein, für Kunstwerke vornehmster Art Marmor. Es muß aber noch einmal betont werden, daß alles, was in dieser Beziehung geschieht, bloß ein Nachschaffen, ein Reproduzieren ist, Sache einer oft hochgesteigerten Kunstfertigkeit, aber kein künstlerisches Hervorbringen. Dieses ist mit dem Thon- oder, wenn man will, Gipsmodell abgeschlossen. Der schaffende Künstler, den die Phantasie zu anderen Schöpfungen drängt, giebt seine Arbeit nunmehr in die Hände des Bronzegießers oder des Steinbildhauers.
Es würde zu weit führen, wenn wir die äußerst umständliche Technik des Bronzegusses hier schildern wollten; das verlangt einen Aufsatz für sich. Besser kann das mit der Marmorarbeit geschehen. Im großen Publikum steht man dieser mit ganz besonderer Bewunderung gegenüber, ja eine gewisse Art naiver Kunstbetrachtung hält es eigentlich für das Wesentliche der Bildhauerei, daß ihre Schöpfungen dem glasharten Stein abgerungen sind, und setzt so über die künstlerische Idee, was nur einen Theil der Freude am Kunstwerk ausmachen darf. Nicht um das Verdienst geschickter Marmorarbeiter zu schmälern, sondern bloß um die Bewunderung in richtige Bahnen lenken, sei deshalb hervorgehoben, daß das Arbeiten in Marmor, abgesehen von der nothwendigen oft hohen Kunstfertigkeit in der Behandlung des Nackten, der Haare oder des Gewandes, immerhin nicht mehr ist als ein durch mannigfache mechanische Hilfsmittel erleichtertes Kopieren. „Ohne Gipsmodell kein Marmorwerk“, das gilt, den einzigen Michel Angelo und einige noch dazu fragliche Fälle aus dem Alterthum ausgenommen, für die ganze Plastik.
Die Art nun, wie dieses Uebertragen geschieht, wollen wir in den Grundzügen an einem einfachen Beispiel (vergleiche hierzu die beiden nebenstehenden Abbildungen) veranschaulichen. Bekanntlich kann man von zwei Punkten aus mittels Zirkelschlags einen Punkt in der Ebene bestimmen; fügt man einen dritten hinzu, so giebt er die Höhe an. Wäre nun ein Relief in Marmor auszuführen, das eine rechtwinklige Grundfläche hat, so würde man zuvörderst an den Endpunkten der einen Seite des Modells zwei, etwa in der Mitte der gegenüberliegendett Seite eine dritte Einsatzstelle für Zirkel schaffen. Nachdem am rohbehauenen Marmorblock alsdann die Grundfläche des Modells angeschlagen ist, werden genau an die entsprechenden Stellen die drei Einsatzpunkte gesetzt, so daß die Masse, welche das Figürliche enthalten soll, hoch dazwischen stehen bleibt. Nun wird die höchste Stelle des Modells mit einem Punkt versehen und die Entfernung von ihm zu jeder der Einsatzstellen je in einen Zirkel genommen. Werden mit diesen Zirkeln von den entsprechenden Einsatzstellen am Marmorblock Zirkelschläge nach der Mitte zu gethan, so müssen sie dort irgendwo zusammentreffen, sofern nicht noch zuviel Stein dasteht. In diesem Falle wird unter beständigem vorsichtigen Messen vom Stein weggeschlagen, bis die Zirkelbogen haarscharf in einem Punkte zusammentreffen. Das ist der Punkt, der genau der höchsten Stelle des Modells entspricht, und man kann nun sorglos [436] wegschlagen, was seitwärts über diesen hinausragt. In gleicher Weise werden weiterhin die anderen Höhenpunkte gefunden, bis Modell und Stein derart mit einem Netzwerk von Punkten bedeckt sind, daß schließlich die centimetergroßen Entfernungen zwischen den einzelnen freihändig bearbeitet und zusammengeführt werden können. Dann treten wieder mehr künstlerische Anforderungen an den Ausführenden heran, denn jetzt gilt es, mit den verschiedenartigsten Meißeln, mit Bohrer und Raspel hier der feinen Zeichnung der Haut, dort der flotten Behandlungsweise von Haar und Kleidung gerecht zu werden, mit einem Wort, das Leben, das der Künstler dem fügsamen Thon verliehen hatte, nun auch dem spröden Stein abzugewinnen.
Auf diese Weise – „mit drei Zirkeln punktieren“ heißt der fachmännische Ausdruck – können natürlich nur Reliefs und ähnlich geartete Bildwerke bearbeitet werden; große und hochaufragende entziehen sich solcher Behandlung. Sie werden mittels sinnreich konstruierter Hilfswerkzeuge (vergleiche nebenstehende Abbildung) und auf mancherlei Arten punktiert. So verschieden diese aber auch sind, alle stimmen darin überein, daß sie die Uebertragung nicht dem „genialen“ Blick, dem beliebten „Künstlerauge“ überlassen, sondern zuverlässigen Meßwerkzeugen. Wer einmal der außerordentlich mühevollen und langsam fortschreitenden Arbeit eines Marmorbildhauers zugesehen hat, der wird einsehen, daß ein schöpferischer Künstler damit seine beste Zeit verlieren würde. Die Kunst der Gegenwart stellt nebenbei so hohe Anforderungen an technische Geschicklichkeit, daß ihnen nur entsprechen kann, wer ununterbrochen mit Hammer und Meißel arbeitet.
Nachdem wir so dem Bildwerk bis zur Fertigstellung in Marmor gefolgt sind, erübrigt es noch, einiger Vervielfältigungsarten zu gedenken, insbesondere derjenigen in Gips. Sie ist wie das oben beschriebene Abgießen Sache des Kunstformers und hat zur Grundlage das Gipsmodell, das wir aus der „verlorenen Form“ haben herauswachsen sehen. Soll z. B. ein Reliefbild, das man sich als einen vergrößerten Thaler vorstellen kann, vervielfältigt werden, so ist das auf zweierlei Weise möglich. Am häufigsten geschieht es mittels einer Leim- oder Gelatineform. Ueber das schellackierte und geölte Modell wird hierbei eine etwa fingerdicke Thonschicht gebreitet und diese wiederum mit einer stärkeren Lage Gips überdeckt; man nennt die letztere die „Kappe“. Ist sie fest geworden, so nimmt man sie ab, entfernt den Thon und legt sie wieder über das Modell. Zwischen Kappe und Modell ist jetzt ein leerer Raum vorhanden, der nun durch eine Oeffnung mit zähflüssigem Leim angefüllt wird. Nach drei bis vier Stunden erkaltet dieser zu einer elastischen Masse, welche natürlich alle Einzelheiten des darunter liegenden Modells angenommen hat. Diese Masse bedarf noch des Firnissens und Oelens und giebt dann die Form ab für eine ganze Reihe von Ausgüssen, solange, bis der Leim durch allmähliche Verdunstung wieder eintrocknet. Ein Vorzug derartiger Vervielfältigung ist die verhältnißmäßige Leichtigkeit der Herstellung; auch weisen die gewonnenen Güsse keine oder, bei größeren Stücken, nur eine „Naht“ auf.
Wollte man auf gleiche Weise eine Form, die dauern soll, aus Gips herstellen, so würde sie vom Modell nicht loszunehmen sein, weil sie sich selbstverständlich in alle Tiefen, aus denen sich der Leim noch herausziehen läßt, festklemmen würde. Daraus folgt, daß eine Gipsform aus so viel Stücken bestehen muß, als sich einzeln losnehmen lassen.
Man nennt sie aus diesem Grunde Stück oder Keilform. Sie erhält sich bei guter Behandlung sehr lange, hat aber den Nachtheil, daß die Güsse mit sehr vielen „Nähten“ – Erhöhungen, die da entstehen, wo die Formstücke zusammenstoßen – bedeckt sind. Mehr oder weniger sorgsam bearbeitet, entstehen auf die angegebenen Arten besonders alle die Gipsabgüsse, die wir im Handel sehen. Manche werden nach der Fertigstellung noch einem siedenden Stearinbade ausgesetzt; der Gips wird dann als „Elfenbeinmasse“ bezeichnet.
Von anderen Vervielfältigungen wären endlich noch die Figuren aus gebranntem Thon zu erwähnen. Sie werden in einzelnen Theilen in Formen gequetscht, zusammengesetzt und dann im Ofen gebrannt. Hierfür ist es erforderlich, daß sie möglichst hohl sind. Da sie nach dem Zusammensetzen natürlich noch einmal übermodelliert werden müssen und das nicht immer von künstlerischer Hand geschieht, so ist viel Minderwerthiges darunter. Sie sind deshalb nicht mit Originalterrakotten zu verwechseln, denen wir in Kunstausstellungen begegnen. Hier haben wir es vielmehr mit der eigenen Arbeit des Künstlers zu thun, die nach dem Modellieren ausgetrocknet und gebrannt ist. Naturgemäß werden für solche Arbeiten auch ganz andere Preise verlangt als für jene.
Kommen wir nach den mannigfachen Abschweifungen noch einmal auf den eigentlichen Künstlerbildhauer zurück, so müssen wir feststellen, daß er seinen Namen, der früher nicht unberechtigt war, in unserer alles spezialisierenden Zeit mit Unrecht trägt. Er „haut“ nicht, er „meißelt nicht in Bronze“, wie man öfter in sogenannten Künstlerromanen lesen kann, sondern er modelliert. Mag hie und da eine Ausnahme stattfinden, im allgemeinen ist das Regel. Das ist der Grund, weshalb man den Bildhauer besser „Bildner“ nennen sollte.
[437]
(Zu dem Bilde von H. Corrodi.)
Nicht nur im nächt’gen Dunkel,
Auch tags im Lichtgefunkel
Ergreift Venedigs Gäste
Der stillen Prachtpaläste
Goldheller Märchentraum,
Wenn sie die Gondel leise
Die weichen Wellengleise
An des Kanales Fronten,
Den golden übersonnten,
Hinträgt zum offnen Meeresraum.
Der Traum belebt die Logen,
Draus auf den Zug des Dogen
Einst purpurschöne Frauen –
O farbenselig Schauen! –
Hernieder froh geblickt;
Bevölkert die Balkone,
Die einst der Schönheit Throne,
Als Tizians Modelle,
Von goldner Haareswelle
Umkost, den Gruß herabgeschickt.
Vom Markusplatz entflogen,
Gelockt vom Glanz der Wogen,
Umflattern weiße Tauben
Die säulenschlanken Lauben
Der stolzen Meereswacht …
Auch hier der Traum: es winken
Die Augen und es blinken
Der Schönen Prachtgewänder,
Der einst hier Liebespfänder
Solch weißer Tauben Gruß gebracht.
Johannes Proelß.
„Vom Himmel gefallen!“
Gegen das Ende des Jahres 1891 brachten die Tageszeitungen
eine tragikomische Geschichte, in welcher ein angeblicher
Meteorstein die Hauptrolle spielte. Auf dem Grundstück eines
Müllers in Süddeutschland wurde ein Stein gefunden, dem man
himmlischen Ursprung zuschrieb. Er sollte für schweres Geld
an ein Museum verkauft werden, aber bevor der Preis noch
bezahlt wurde, entzweiten sich ob der Theilung desselben der
Wirth und der Knecht. Eine nähere Untersuchung ergab, daß
der Stein eine Schlackenmasse sei und einem irdischen Eisenwerk
entstamme. Der Kauf unterblieb und der „Mann aus dem Volke“,
der Müller nämlich, liegt nun in grimmem Streite mit den Gelehrten.
Das Jahr 1892 ruft uns eine Zeit in Erinnerung zurück, in welcher das Volk und die Gelehrten über das Herabfallen der Steine vom Himmel arg miteinander stritten, bis das Volk, was auf wissenschaftlichem Gebiet seltener geschieht, gegenüber den „Aufklärern“ recht behielt. Heute zweifelt niemand daran, daß Steine und Eisenmassen aus dem Weltraum auf die Erde niederfallen; wir wissen wohl, daß die größeren Massen als leuchtende Meteore, die kleineren als Sternschnuppen unsere Atmosphäre durchschneiden, und die Astronomen belehren uns, daß dieses Ereigniß kein so seltenes ist, daß täglich etwa 10 bis 12 Millionen Sternschnuppen unsere Atmosphäre kreuzen und täglich 2 bis 3 größere Meteorsteine auf die Erde niederfallen, wenn auch nur die wenigsten von Menschen erblickt werden.
Die Völker des Alterthums waren gleichfalls mit dieser Naturerscheinung vertraut.
Griechen, Römer, Chinesen und Araber berichten in ihren Büchern oft von Steinfällen, und auch das „finstere“ Mittelalter erkannte die Thatsache an. In jenen alten Zeiten hatte man sogar die löbliche Sitte, über solche Meteorerscheinungen Urkunden auszustellen, die genau die Zeit und den Ort bezeichneten, wo die Steine des Weltraumes zu Erdenbürgern geworden waren. Viele dieser Urkunden sind verloren gegangen, einige sind noch erhalten und bilden für die Meteorsteine, die in Museen aufbewahrt werden, sozusagen Geburtsscheine. Nur die wenigsten der aufgefundenen Meteorsteine besitzen solche genaue Ausweise über ihr Alter auf Erden. Der älteste unter den legitimierten wird am 7. November 1892 seinen vierhundertsten „Geburtstag“ feiern, und da er in Deutschland niederfiel, so dürfte es sich wohl ziemen, das Fest des weithergewanderten Jubilars nicht sang- und klanglos vorübergehen zu lassen. Ein gut Stück von ihm liegt ja noch in dem Rathhause von Ensisheim im Elsaß und viele seiner Glieder ruhen in naturgeschichtlichen Museen und Mineralienkabinetten Europas. Eine Urkunde, die Jahrhunderte lang neben ihm in der Kirche von Ensisheim hing, meldet über seine Ankunft auf Erden folgendes:
„A. D. 1492 uff Mittwochen nechst vor Martini den siebenten Tag Novembris geschah ein seltsam Wunderzeichen, denn zwischen der eilften und zwölften Stund zu Mittagzeit kam ein großer Donnerklapf und ein lang Getöß, welches man weit und breit hört, und fiel ein Stein von den Lüfften herab bei Ensisheim, der wog zweihundertsechzig Pfund, und war der Klapf anderswo viel größer denn allhier. Da sahn ihn ein Knab in einen Acker im oberen Feld, so gegen Rhein und Ill zeucht, schlagen, der war mit Waitzen gesäet, und that ihm kein Schaden als daß ein Loch innen würd. Da führten sie ihn hinweg und ward etwa mannich Stück davon geschlagen: das verbot der Landvogt. Also ließ man ihn in die Kirche legen, ihn willens dann zu einem Wunder aufzuhenken, und kamen viele Leut’ anher, den Stein zu sehen, auch wurden viel seltsame Reden von dem Stein geredet. Aber die Gelehrten sagten, sie wissen nicht, was es wär, denn es wär übernatürlich, daß ein solcher Stein sollt’ von den Lüfften herabschlagen. Darnach uff Montag nach Catharinen gedachten Jahrs, als König Maximilian allhier war, hieß Ihre Königliche Excellenz den Stein ins Schloß tragen und sagte, die von Ensisheim sollten ihn nehmen und in die Kirche heißen aufhenken. Also hink man ihn in den Chor, da er noch henkt.“
Kaiser Maximilian vergaß den Stein nicht, denn laut einer Urkunde aus Augsburg vom 12. November 1503 benutzte er ihn als Vorbedeutung, um die Christenheit zu einem Kreuzzug gegen die Türken aufzufordern.
Den Ensisheimern genügte aber die trockene Urkunde bei ihrem Steine nicht. Es fand sich ein Dichter, der das Ereigniß also besang:
„Tausend vierhundert neunzig zwey
Hört man allhier ein groß Geschrei,
Daß zunächst draußen vor der Stadt,
Den siebenten Wintermonath
Ein großer Stein bei hellem Tag
Gefallen mit einem Donnerschlag,
An dem Gewicht dritthalb Centner schwer,
Von Eisenfarb, bringt man ihn her
Mit stattlicher Procession.
Sehr viel schlug man mit Gewalt davon.“
Und zu der Urkunde und dem Gedichte gesellte sich mit der Zeit ein lateinischer Spruch: „De hoc lapide multi multa, omnes aliquid, nemo satis“ d. h. „Von diesem Steine (wissen) viele viel, alle etwas, niemand genug“ – was wohl bis auf den heutigen Tag zutrifft.
Es kamen aber unruhige Zeiten, in welchen dem Steine die beschauliche Ruhe im Gotteshaus nicht gegönnt wurde, die Zeiten der französischen Revolution. Das himmlische Kind wurde der Kirche entrissen und in die öffentliche Bibliothek zu Kolmar gebracht. Hier wurde der Stein der Beutelust von Raritätensammlern und Gelehrten preisgegeben, viele Stücke wurden von ihm abgeschlagen, und das größte, etwa 91/2 Kilogramm schwer, wanderte nach Paris. Endlich waren die Stürme der Revolutionszeit vorübergebraust, ein Gesetz erschien, welches verordnete, daß den Kirchen das ihnen Genommene, wenn es noch vorhanden wäre, wiedergegeben werden sollte. Da kamen die Ensisheimer nach Kolmar und holten sich ihren Stein, den sie wieder in der Kirche aufstellten, wo ihn der Naturforscher Chladni noch sah. Er war zusammengeschrumpft. Nach einer Mittheilung des Herrn Bürgermeisters von Ensisheim wiegt der Meteorstein gegenwärtig noch 53,5 Kilogramm und wird jetzt in dem großen Saale des Rathhauses von Ensisheim aufbewahrt. Der Spruch, daß wir mit dem Alter kleiner werden, paßt also mitunter nicht nur auf berühmte Menschen, sondern auch auf berühmte Steine.
Der Stein von Ensisheim ist ein wirklicher Meteorstein; er besteht aus felsartiger Masse, in welcher Eisen und Nickel eingelagert sind.
Der nächstälteste der legitimierten Aërolithen ist derjenige von Hradschina im Agramer Komitat in Kroatien, er fiel den 26. Mai 1751, und Bruchstücke von ihm sind noch heute in Museen vorhanden. Das bischöfliche Konsistorium zu Agram ließ mehrere von denen, die auf dem Felde ganz nahe bei dem Orte des Falles gewesen waren, als Zeugen abhören, faßte eine Urkunde darüber ab und übergab diese nebst der größeren Masse von 71 Pfund Gewicht dem Kaiser, worauf sie anfangs in der Schatzkammer zu Wien aufbewahrt wurde und später in das k. k. Naturalienkabinett kam. Dieser Aërolith ist insofern von Interesse, als er aus Meteoreisen besteht und an ihm der Wiener Gelehrte Widmanstätten durch Aetzen mit Säuren die sog. Widmanstättenschen Figuren erzeugte, durch welche das kristallinische Gefüge des Meteoreisens nachgewiesen wurde.
Der Aërolith von Hradschina kam zu einer Zeit auf Erden an, da die „Aufklärung“ sich vorgenommen hatte, mit seinesgleichen aufzuräumen. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts machte die Naturwissenschaft unerwartete Fortschritte; viele Irrthümer und Fabeln der früheren Zeiten wurden widerlegt und die großen Erfolge der Wissenschaft verblendeten auch klarere Köpfe. „Jetzt glaubte man auf einmal alles, was nicht zum selbstgemachten Leisten paßte, wegwerfen und für Thorheit erklären zu müssen.“ Unglaublich, den Naturgesetzen zuwider erschien jetzt die Behauptung, daß Steine vom Himmel herabfallen könnten. Man eiferte gegen diesen lächerlichen Aberglauben mit Wort und Schrift und ging soweit, daß man an vielen Orten die aufbewahrten Meteorsteine wegwarf und die Urkunden vernichtete.
Die Steine fielen weiter vom Himmel, eine Mahnung an die [439] Naturforscher, daß man die Naturgesetze der wirklichen Beobachtung der Thatsachen und nicht eigenen Gedanken anzupassen habe, aber man war taub gegen diese Mahnung.
Als ein im Jahre 1768 gefallener Meteorstein der Pariser Akademie vorgelegt wurde, erklärte Lavoisier, der Begründer der modernen Chemie, es sei ein vom Blitz getroffener irdischer Stein. Am 24. Juli 1790 ereignete sich ein Steinfall zu Juillac im Departement Landes. Die Leute sahen abends nach 9 Uhr das leuchtende Meteor am Himmel, man hörte eine Explosion, als ob viel großes Geschütz abgefeuert würde; die Lufterschütterung war dabei so groß, daß die Fenster zitterten und einige sich öffneten und es ein Erdbeben zu sein schien; man hörte hierauf noch ein anhaltendes Getöse, bemerkte auch einen Schwefelgeruch und fand die gefallenen Steine. Die Anzahl derselben war sehr groß; manche waren über 20 Pfund schwer und 2 bis 3 Fuß tief in die Erde gedrungen. Die Gemeindebehörde ließ höchst vernünftiger- und lobenswertherweise ein Protokoll aufnehmen, welches gegen 300 Personen unterzeichneten. Das Dokument wurde der Pariser Akademie vorgelegt, aber hier erregte es nur Hohn und Spott: man fand eine obrigkeitlich beglaubigte Urkunde über einen derartigen Blödsinn sehr – unterhaltend, und Bertholon hatte Mitleid mit den armen Bethörten!
Allerdings muß man dabei betonen, daß die Berichte von den Meteorsteinen oft übertrieben waren und wirklichen Aberglauben enthielten. Der römische Kaiser Heliogabal verehrte einen Meteorstein, auf dem ein Bild der Sonne sichtbar sein sollte. Die unregelmäßigen Streifen auf der schwarzen Rinde der in Arabien gefallenen Steine wurden für eine mit arabischen Buchstaben geschriebene Adresse gehalten an den, der davon sollte totgeschlagen werden, und von einem bei Nörten unweit Göttingen gefallenen Steine hieß es, man habe auf demselben „Menschenangesichter mit dicken Krollen um den Hals, etliche mit Türkenköpfen, mit türkischen Bünden und Hüten gesehen.“ Auch Uebertreibungen der Größe und Dauer der Erscheinung kamen vor. Immerhin aber durften die hervorragendsten Naturforscher jener Zeit, deren Namen so hell am Himmel der Wissenschaft leuchten, nicht vergessen, daß es gerade ihre Aufgabe war, in diesen Berichten den Weizen von der Spreu zu scheiden.
Endlich sollte vor just hundert Jahren ein Ritter des Geistes erstehen, der sich kühn gegen den Aberglauben der Gelehrten wandte. Wittenberg a. d. Elbe, berühmt aus der Zeit der Reformation, hatte damals noch seine Universität, die erst im Jahre 1815 mit der in Halle vereinigt wurde. In Wittenberg wirkte ein Sohn des Professors der Rechte Chladenius, der berühmte Ernst Florens Friedrich Chladni, bahnbrechend auf dem Gebiete der Physik, indem er zum Begründer der Akustik wurde. Die Chladnischen Klangfiguren, welche durch losen Sand auf einer von Tönen in Schwingungen versetzten Platte erzeugt werden, sind jedem Schüler bekannt.
Chladni war mit einem andern hervorragenden deutschen Naturforscher befreundet, mit Georg Christoph Lichtenberg, der als Professor in Göttingen wirkte und nicht nur durch seine Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektricität, sondern auch durch die satirische und witzige Art, in der er schrieb, bekannt wurde. Eine Begegnung der beiden Männer sollte eine neue Aera in der Erforschung der Meteore herbeiführen. Chladni schrieb selbst darüber: „Die erste Veranlassung verdanke ich einer Unterredung mit Lichtenberg, wiewohl dieser damals noch nicht wußte, daß jemals feste Massen vom Himmel gefallen wären, und also hiervon bei ihm nicht die Rede sein konnte. Schon früher war er einmal Geburtshelfer meiner Ideen gewesen, indem er durch seine elektrischen Figuren bei mir die Vermuthung erregt hatte, daß die Schwingungen einer Fläche sich würden durch ausgestreuten Sand sichtbar machen lassen, ungefähr wie die verschiedenen Elektricitäten auf einer Harzscheibe durch ausgestreuten Harzstaub. Als ich im Jahre 1792 in Göttingen war, hatte ich öfters Gelegenheit, mich mit ihm zu unterhalten, wo er dann von seinem Reichthum origineller Ideen gern einiges mittheilte.“
Die beiden Forscher sprachen auch über die Feuerkugeln, die als Meteorerscheinungen nicht geleugnet werden konnten. Lichtenberg hielt sie für elektrische Erscheinungen kosmischen Ursprunnnnngs. Seine Ausführungen befriedigten jedoch Chladni nicht.
Er blieb drei Wochen länger in Göttingen und sammelte in der dortigen Bibliothek mit dem größten Eifer alle Nachrichten über Feuerkugeln, deren er habhaft werden konnte. Auf Grund dieser geschichtlichen Studien gewann er die feste Ueberzeugung, „daß öfters Stein- und Eisenmassen zufolge einer Feuerkugel mit vielem Getöse herabgefallen waren, wo dann aus allen Umständen sich schließen ließ, daß sie unmöglich etwas anderes als Ankömmlinge aus dem allgemeinen Weltraum sein konnten.“
Chladni, der in den wissenschaftlichen Anschauungen seiner Zeit fußte, kam das Ergebniß seiner Studien so fremdartig vor, daß er anfangs Bedenken trug, eine Abhandlung darüber zu veröffentlichen. Nach gründlicher Ueberlegung that er es aber doch in einer im Jahre 1794 erschienenen Schrift und er stellte darin die oben erwähnten Sätze nicht als Vermuthung, sondern als Behauptung auf.
Die wissenschaftliche Welt war erstaunt und zugleich betrübt. Lichtenberg, der Freund Chladnis, sagte, es sei ihm bei dem Lesen der Schrift anfangs so zu Muthe gewesen, als wenn ihn selbst ein solcher Stein am Kopfe getroffen hätte, und er habe gewünscht, daß Chladni sie nicht geschrieben hätte. Späterhin wurde Lichtenberg überzeugt, meinte, daß die Aërolithen Auswürflinge der Mondvulkane seien, und schrieb im Jahre 1797 in seiner launigen Weise, der Mond sei ein unartiger Nachbar, weil er mit Steinen nach uns werfe.
Andere vermutheten sogar, daß Chladni wohl nur eine so paradoxe Meinung hingeworfen und mit allen möglichen Scheingründen aufgestutzt haben möchte, um, wenn die Physiker es von der ernsthaften Seite nähmen, sich über sie alle lustig zu machen. Dem fetzte Chladni die schönen Worte entgegen: „Wenn mich eine solche Laune angewandelt hätte, so würde ich sie doch lieber an Thorheiten als an physikalischen Gegenständen ausgelassen haben, da meines Erachtens Naturforschung und überhaupt Untersuchung der Wahrheit gewissermaßen als etwas Heiliges anzusehen ist, das schlechterdings nicht durch muthwillige Aufstellung falscher Behauptungen entweiht werden darf.“
Von vielen Seiten angefeindet, fand Chladni dennoch Genugthuung in der Anerkennung von seiten einiger hervorragender deutscher Gelehrten. Der berühmte Astronom Zach äußerte mündlich zu Chladni, daß er mit seinen Ausführungen einverstanden sei; als Chladni die Aërolithen „Weltspäne“ nannte, lächelte er zwar, fand aber den Ausdruck nicht unangemessen. Der Astronom Olbers bekannte sich bereits im Jahre 1795 zu der Anschauung Chladnis, und Werner, der Vater der Geologie, erklärte beim ersten Anblick der ihm vorgelegten Meteorsteine, sie seien nicht irdischen Ursprungs.
Auch der Himmel unterstützte Chladni in seinem Kampfe gegen das mächtige Vorurtheil der Weisen, indem er bald darauf den Ungläubigen einige Steinfälle herabsandte. Schon am 16. Juni 1794 fielen Steiue bei Siena; Engländer kauften sie auf und untersuchten sie chemisch; am 13. Dezember wurde die Naturerscheinung in Waldcottage in Yorkshire beobachtet.
Zu den deutschen Vorkämpfern gesellten sich englische; nur in Frankreich, in der Pariser Akademie, wollte man nicht an den Wahn glauben, daß etwas vom Himmel fallen könne, bis der Himmel selbst mit den Franzosen ein Einsehen hatte und am 26. April 1803 bei l’Aigle in der Normandie mit einem Feuermeteor unter großem Getöse über 2000 Steine herabregnen ließ. Als der Maire des Ortes dieses Ereigniß amtlich meldete, wurde zwar in einer Pariser Zeitung die Gemeinde zu l’Aigle bedauert, daß sie einen so unaufgeklärten Maire habe, daß er solche Albernheiten glauben könne, aber die Pariser Akademie der Wissenschaften sandte diesmal ihr jüngstes Mitglied, den scharfdenkenden Biot, nach dem Orte des Steinfalles ab, und der Bericht Biots lautete dahin, daß die Akademie in diesem Streite die Waffen zu strecken habe. „So wich endlich,“ wie ein Zeitgenosse (Benzenberg) sich treffend ausdrückte, „die Aufklärung, die das Herunterfallen geleugnet hatte, vor der größeren Aufklärung, die das Herunterfallen der Steine glaubte.“ C. Falkenhorst.
[440]
[441] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[442]Alle Rechte vorbehalten.
Erfinder-Lose.
Wir wandern durch einen Nadelwald und blicken mit Wohlgefallen
empor zu den hohen Fichten und schlanken Tannen,
die jetzt noch stolz in die blauen Lüfte streben, deren Todesurtheil
jedoch schon gesprochen und mit Axthieben in die kräftigen Stämme
gezeichnet ist. Dort kreischt die Säge, klingt die Axt, wir sehen
einen Tannenbaum schwanken und prasselnd niedersinken. Andere
Bäume hat das gleiche Schicksal schon länger getroffen, sie liegen
kahl, ihrer Aeste beraubt, ihrer Rinde entkleidet auf der
moosüberzogenen Erde. Die Holzfäller berichten uns, daß die
gefällten Bäume hinunter nach der Holzschleiferei und Papierfabrik
gebracht, daß dort aus ihnen Holzschliff und verschiedenartige
Papiere erzeugt werden.
Ein wunderbarer Wandel, vom kräftigen Baumstamm zum dünnen Papierbogen, fast unbegreiflich für den ahnungslosen Laien. und doch hält jeder Leser einer Tageszeitung in dem grauen, billigen Druckpapier ein Stückchen Holz in der Hand, welches jenen Wandel durchgemacht hat.
Die Verarbeitung des Holzes zu Papier ist eine Errungenschaft unseres Jahrhunderts. Früher fertigte man das Papier ausschließlich aus Hadern, die in wassergefüllten Mahlwerken zu Fasern zerkleinert, gebleicht, gefärbt und dann als Brei zu dünnen Bogen geschöpft wurden. Bis zum ersten Viertel unseres Jahrhunderts genügte dieses Verfahren, die vorhandenen Hadern reichten zur Deckung des Bedarfes vollständig aus. Da gewann die neuerfundene Papiermaschine allmählich Verbreitung, die Papiererzeugung nahm eine andere Gestalt an, und die mühsame Handarbeit ward mehr und mehr durch die vielleistende Maschinenarbeit verdrängt. Das Papier konnte mit der Maschine billiger hergestellt werden, was allgemeinere Verwendung desselben zu gewerblichen Zwecken und dadurch Steigerung des Bedarfes zur Folge hatte. Dazu kam die Einführung der von König erfundenen Buchdruckschnellpresse, welche eine Vermehrung der Druckerzeugnisse, besonders der Zeitungslitteratur nach sich zog. Der Papierbedarf steigerte sich infolgedessen von Jahr zu Jahr, und bald sah man der Zeit entgegen, in welcher die vorhandenen Hadern nicht annähernd mehr zur Erzeugung des nothigen Papieres ausreichen würden. Sollten die Papiermaschine und die Schnellpresse ihre volle Macht entfalten, so war es nothig, einen Rohstoff ausfindig zu machen, welcher geeignet war, die Hadern teilweise zu ersetzen.
Nun hatte zwar bereits um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der gelehrte Superintendent Jakob Christian Schäffer in Regensburg Versuche mit pflanzenfasern gemacht und gezeigt, daß es möglich sei, aus Bäumen und Pflanzen Papier herzustellen. Diese Versuche waren aber theilweise in Vergessenheit gerathen, auch kannte man kein geeignetes Verfahren, um sie im großen bei der Massenerzeugung mit Vortheil verwerthen zu können. Und immer gebieterischer machte sich die Forderung nach einem Ersatzstoff geltend. Die Papiertechniker wendeten allen Scharfsinn auf, die Chemiker experimentierten und gingen alle Fächer ihres theoretischen Wissens durch, um dem bedrängten Papiergewerbe zu helfen, doch vergebens!
Was Technik und Wissenschaft nicht vermochten, das gelang einem schlichten sächsischen Weber, dessen Kenntnisse nicht größer waren, als sie nach dem damaligen Stande der Volksschule sein konnten, dessen Erfahrung im Papierfach gleich Null war. Dieser sächsische Weber hatte niemals Papier fertigen sehen, er hatte nie in ein chemisches Laboratorium geblickt, seine technischen und wissenschaftlichen Kenntnisse hatte er sich durch mühsames Selbstlernen in den Sonntags- und Feierabendstunden angeeignet. Wie so oft bei großen Erfindungen war ihm der Zufall günstig gewesen, und die Natur war seine große Lehrmeisterin.
Sein Name ist Friedrich Gottlob Keller. Am 27. Juni 1816 wurde er in ^Hainichen geboren, dort besuchte er auch die Volksschule. Sein Wunsch, nach Verlassen derselben seine Kenntnisse in einer guten Gewerbeschule zu erweitern und sich der Mechanik zu widmen, scheiterte leider an der Mittellosigkeit seines Vaters, der sich als Weber und Blattbinder mit seiner Familie bescheiden nährte. So mußte sich der lernbegierige Jüngling den Verhältnissen fügen; statt eine höhere Schule zu besuchen, trat er bei seinem Vater in die Lehre und erlernte dessen Handwerk, die Weberei und das Blattbinden. Doch auch während dieser Lehrjahre und später nach seiner Heimkehr von der Wanderschaft ließ er sich seine weitere Ausbildung angelegen sein, kaufte für sein Taschengeld Bücher und beschäftigte sich nebenbei mit mechanischen Arbeiten, unter anderem auch mit dem verlockenden Unternehmen, ein Perpetuum mobile zu konstruieren, d. h. eine Maschine, welche sich ohne Kraftzuschuß von außen selbständig und dauernd bewegt. Zu seinem Heile gab er indessen den unausführbaren Gedanken nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen auf und benutzte seine freie Zeit fruchtbringender mit dem Lesen technischer Schriften. Dabei kam ihm im Jahre 1839 ein Aufsatz über Papierfabrikation in die Hand, in welchem klargelegt wurde, daß es bei dem steigenden Papierbedarf unumgänglich sei, einen Stoff herauszufinden, welcher mindestens theilweise an die Stelle der Hadern treten könnte.
Keller griff diesen Gedanken eifrig auf und nahm sich vor, seine ganze Geisteskraft zur Entdeckung eines derartigen Ersatzstoffes aufzubieten. Zufäliig erregte in jener Zeit der künstliche Bau eines Wespennestes wegen der dünnen, papierähnlichen Wände seine Aufmerksamkeit: er beobachtete die Wespen beim Nestbau und entdeckte, daß diese die dünnen Wände aus Holzfasern herstellten, die sie mit ihren Kiefern abrissen und aneinanderfügten. Infolge dieser Entdeckung stieg in Keller der Gedanke auf, daß die Arbeit, welche die Wespen mit ihren Kiefern verrichten, auf mechanische Weise ausgeführt, vielleicht einen geeigneten Holzfaserstoff zur Papiererzeugung ergeben könnte. Zunächst machte er eine Probe mit Sägespähnen, die er in starker Sodalauge kochte, um die Fasern von ihren inkrustierenden Theilen zu befreien und bloßzulegen. Indessen scheiterte sein Plan an seinen unzulänglichen Einrichtungen; denn die Fasern können nicht durch einfache Siedehitze freigelegt werden, sondern nur unter starkem Dampfdruck. So gab er das Kochen auf und wählte einen anderen Weg, indem er daran ging, die Fasern durch Schleifen mittels eines hartkörnigen Steines zu gewinnen.
An einem Nachmittage des Jahres 1843 machte er die ersten Versuche mit einem gewöhnlichen Schleifsteine, den er vom anhaftenden Schmutze gereinigt hatte. Diesen Stein ließ er in Wasser laufen, drehte ihn mit der einen Hand und preßte mit der andern ein Stück Holz dagegen. Nach länger fortgesetztem Schleifen nahm das im Schleiftrog befindliche Wasser das Aussehen von dicker Milch an, und allmählich sammelte sich das abgeschliffene Holz als weiße Fasermasse. Diese that Keller in ein Gefäß, ließ es einige Zeit stehen, goß dann das obere, helle Wasser ab und begab sich hierauf an seine Berufsarbeit, um die versäumte Zeit wieder einzubringen. Am Abend nahm er das Gefäß vor dem Essen wieder zur Hand, stellte es auf den gedeckten, mit einem Tischtuch belegten Tisch und quirlte die Fasermasse kräftig durcheinander. Dabei spritzte eine Kleinigkeit der Masse heraus, fiel auf das Tischtuch und breitete sich dort flach aus, wobei das Tuch den überschüssigen Wassergehalt an sich zog und die zurückbleibende Masse das Aussehen von feuchtem Papier annahm. Keller löste den Faserstoff behutsam mit einem Messer ab, preßte ihn zwischen den Blättern eines Buches kräftig aus und ließ ihn am Ofen trocknen. Als dies geschehen war, glättete er das dünne Blättchen, welches nun alle Eigenschaften eines groben Papieres zeigte. So hielt er noch am Abend desselben Tages das erste Stückchen Holzpapier in der Größe eines Zehnpfennigstückes in der Hand.
Welch freudige Aufregung sich des siebenundzwanzigjährigen Erfinders bemächtigte, kann man sich denken. Das kleine Blättchen gab ihm die Gewißheit, daß er auf dem richtigen Wege war, es gab ihm die Gewißheit, daß die Erfindung in ihrer Grundlage bereits gelungen war, und wenn er, wie er selbst erzählt, die darauffolgende Nacht vor Aufregung nicht schlafen konnte, so ist das nur zu natürlich. Dieses erste Stückchen Holzpapier sowie ein Theil des Wespennestes, welches die Erfindung veranlaßte, befindet sich noch jetzt im Besitze Kellers.
Der große Wurf war gelungen, der Stoff gefunden, welcher die Hadern zu ersetzen vermochte; allein jetzt stand der Erfinder vor der weiteren Aufgabe, seine Erfindung so auszubilden, daß wirklich große Papierbogen aus Holzschliff gefertigt werden konnten. [443] Hier machte sich nun seine Unkenntniß der Papiertechnik fühlbar. Er hatte bisher noch keine Papiermühle gesehen und kannte aus technischen Schriften die Arbeitsweise in einer solchen nur in groben Umrissen. Wie die Werkzeuge beschaffen, woher sie zu beziehen waren, das wußte er nicht. Dennoch machte er sich an die unbekannte Arbeit, fertigte nach eigenem Ermessen einen Schöpfrahmen und schöpfte damit größere Papierblätter. Diese legte er zwischen Tuchlappen und preßte sie in einer Hobelbank aus. Indessen hatten diese Versuche mit den ganz ungenügenden Hilfsmitteln kein zufriedenstellendes Ergebniß.
Aber Keller ließ sich durch den ersten Mißerfolg nicht abschrecken, sondern ging daran, bessere Werkzeuge herzustellen. Zunächst brachte er einen grobkörnigen Schleifstein der in einem Wassertroge ging, an einer Drehbank an, um auf solche Weise den Faserstoff schneller erzeugen zu können; an diesem Steiue schliff seine Frau den Stoff. Aus Messingdraht sertigte er einen großen Schöpfrahmen mit siebartigem Boden, die Filze zu dem größeren Format schnitt er aus einem alten Tuchrocke; um die feuchten Papierblätter auszupressen brachte er an der Decke seiner Stube einen starken Pfahl an, der auf untergelegte Bretter drückte, und zwischen diese kamen dann die Blätter zu liegen. Die jetzt gefertigten Papiere von der Größe eines Viertelbogens fielen schon erheblich besser aus und konnten als brauchbare Muster gelten
Somit war die Ausführbarkeit der Erfindung bewiesen, und es war für Keller nur noch wichtig, zu erfahren, ob die Erfindung auch geschäftlich Vortheil gewähre, und sich zu unterrichten, wie sich der Preis des Holzpapiers im Vergleich zum Hadernpapiere stelle. Zu diesem Zwecke begab er sich in die Loßnitzer Papiermühle bei Freiberg, zog dort Erkundigungen ein und kam alsbald zu der Ueberzeugung, daß Holzpapier beträchtlich billiger herzustellen sei als Hadernpapier. Nunmehr trat er mit seiner Erfindung offen hervor und versuchte, sich Kapitalunterstützung zur geschäftlichen Ausbeutung derselben zu verschaffen. – Hier wiederholt sich nun die alte und immer wieder neue Geschichte: die Erfindung war in den Grundzügen gemacht, der Erfinder konnte sie jedoch wegen Mangels an Geld nicht zu Ende führen, nicht geschäftlich verwerthen, und die Kapitalisten erkannten die Tragweite derselben nicht. Zunächst wendete sich Keller an geistig rege Privatleute, in der Hoffnung, mit deren Hilfe größere Versuche anstellen zu können – jedoch vergebens. Hierauf richtete er ein Gesuch um Unterstützung an das königlich sächsische Ministerium – er erhielt eine freundliche Antwort, lobende Anerkennung seines Strebens, aber kein Geld. Es mit Papiertechnikern zu versuchen, welche den Werth der Erfindung erkannt haben würden, unterließ Keller vorläufig noch, da er fürchtete, dabei um den Ertrag seiner mühevollen Arbeit zu kommen.
Unter diesen Umständen hatte Keller keine andere Wahl, als mit eigenen Mitteln weiter zu arbeiten. Er baute einen großen Schleifstein und begann, mit Hilfe seiner Frau, die ihm treulich zur Seite stand, eine große Menge Holzschliff herzustellen. Diese anstrengende Arbeit verrichtete das Ehepaar während der Nachtzeit, da die Tageszeit den Berufsarbeiten gewidmet war, die Keller zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes ohne Unterbrechung fortsetzen mußte. Nach vielen durchwachten Nächten war eine entsprechende Stoffmenge geschliffen, und diese schaffte Keller in die Papiermühle nach Alt-Chemnitz, wo er den Holzschliff, mit dem dritten Theile Hadernstoff vermischt, zu Papier formen ließ. Er erhielt sechs Ries großes Schreibpapier, das theilweise zum Druck des „Frankenberger Kreisblattes“ verwendet wurde. Im Jahrgang 1845 dieses Blattes findet sich also das erste zum Drucken verwendete Holzpapier.
Da Keller trotz dieses Erfolges noch keine Kapitalunterstützung fand, so unternahm er im Spätherbst das Wagniß, mit seinen geringen Mitteln die Papiermühle in Kühnhaide bei Marienberg zu pachten, um dort seine Erfindung geschäftlich auszubeuten. Im November 1845 leistete er die vereinbarte Kaution, übernahm die Werkzeuge und Vorräthe käuflich und bezog mit seiner Familie die gepachtete Mühle. Allein das Unglück verfolgte ihn auch hier. Einige Wochen später gerieth der Eigenthümer der Mühle in Konkurs, Keller stand wieder auf dem alten Flecke und sah alle seine Hoffnungen gefährdet. Seine geringen Mittel waren durch den Werkzeugkauf aufgebraucht, die Kaution war verloren, und der Winter verging, ohne daß er in der Mühle arbeiten konnte. Da boten ihm einige Freunde eine kleine Kapitalunterstützung an, und Keller erwarb das Grundstück für 4000 Thaler. Aber nachdem er die Anzahlung geleistet und die nöthigen Ausbesserungsbauten ausgeführt hatte, ergab sich, daß die übrigbleibenden Geldmittel nicht genügten, um die Einrichtung zum Holzschleifen treffen zu können. In dieser Noth kam dem Erfinder ein unerwartetes Anerbieten zu Hilfe.
Ein auf Holzpapier geschriebener Brief Kellers war in die Hände Heinrich Völters, des Direktors der Bautzener Papierfabriken, gekommen. Dieser trat mit Keller in Verbindung und erbot sich, die Erfindung anzukaufen, sofern er die Ueberzeugung erhalte, daß dieselbe geschäftlichen Nutzen gewähre. Nach einem halbstündigen Probeschleifen, welches Keller in der Bautzener Papierfabrik vornahm, hatte Direktor Völter nicht nur die praktische Durchführbarkeit, sondern auch mit geschäftlichem Scharfblick den unschätzbaren Werth der Erfindung erkannt. Er schloß mit Keller einen Vertrag, zahlte ihm 700 Thaler für die Mittheilung des Fabrikationsgeheimnisses und verpflichtete sich, den Gewinn, welchen er durch Verkauf des Geheimnisses an andere Fabriken erzielen würde, mit Keller zu theilen. Letzterer behielt sich noch das Ausnutzungsrecht der Erfindung in seiner eigenen Papiermühle vor. Demnach hatten sich beide verbunden, die Erfindung gemeinsam auszunutzen, und Völter übernahm es nun, unter großen Mühen und Opfern das Holzschleifverfahreu durch den Bau geeigneter Maschinen für den Fabrikbetrieb nutzbar zu machen, die Erfindung patentieren zu lassen und allgemein einzuführen.
Wider Erwarten begegnete indessen das Holzschleifverfahren in der ersten Zeit großem Mißtrauen, und Völter mußte alle Thatkraft aufbieten und große Geldopfer bringen, um gegen das Vorurtheil der zeitgenössischen Papierfabrikanten anzukämpfen. Die Einnahmen entsprachen nicht den Ausgaben, und als nach fünf Jahren die Patente abliefen und erneuert werden sollten, war das geschäftliche Ergebniß so gering gewesen, daß Keller nicht imstande war, seinen Antheil an den Kosten der Verlängerung der Patente zu zahlen. Mit schwerem Herzen mußte er auf die weitere Ausnutzung seiner Erfindung verzichten. Diese war von da ab für ihn verloren.
Völter, dem nunmehr alleinigen Inhaber der Patente, gelang es allmählich, das Vorurtheil zu besiegen; die Erfindung brach sich Bahn, und jetzt ist die Herstellung des Holzschliffes und des daraus gefertigten Papiers eine mächtige und kapitalkräftige Industrie geworden. In Deutschland giebt es über dreihundert, auf der ganzen Erde etwa tausend Holzschleifereien, deren jährlicher Umsatz viele Millionen Mark beträgt. Der Holzschliff hat in der Gegenwart ungeheure Bedeutung gewonnen, er ist in der Papierfabrikation unentbehrlich geworden. Obwohl er zur Papiererzeugung nicht ausschließlich dient, ist er doch als billiger Zusatzstoff sehr geschätzt, und die meisten billigen Papiere enthalten mehr oder minder große Holzschliffmengen, welche mit zäheren Faserstoffen vermischt sind. Durch die Kellersche Erfindung auf die vortheilhafte Verwendbarkeit des Holzes zur Papierherstellung aufmerksam geworden, ging man später zur chemischen Behandlung über, befreite die Fasern durch Säure von ihren inkrustierenden Theilen und bereitete auf diese Art einen Holzstoff, der selbst zur Erzeugung von besseren Papieren verwendbar ist. So führte Keller dem Papiergewerbe nicht nur den werthvollsten Ersatzstoff zu, sondern er schuf auch eine neue Verwendung des Holzes, kurz, er begründete eine bis dahin unbekannte, großartige Industrie.
Keller hat aus seiner Erfindung keinen erheblichen Geldnutzen [444] gezogen. Es ist ihm davon nichts geblieben als die Erinnerung an viele sorgenvolle Stunden, viele durchwachte Nächte und das Bewußtsein, allen Kulturvölkern einen hochbedeutsamen Dienst geleistet zu haben. Einige Geschenke, die ihm der Verein deutscher Holzschleifer sowie deutsche Papierfabrikanten als Anerkennung seiner Verdienste um das Papiergewerbe zuwendeten, ferner eine Summe von 4000 Thalern, welche ihm durch die Bemühung geschäftskundiger Freunde bei Gelegenheit der Verlängerung der amerikanischen Patente ausgewirkt wurde, dürften ungefähr die Geldopfer ersetzen, welche Keller im Verlaufe seiner Erfinderarbeit brachte. Für seine geistige Anstrengung und seine Arbeitsleistung blieb die finanzielle Belohnung aus.
Mittellosigkeit, Schäden durch Hochwasser und andere Unglücksfälle zwangen Keller, seine Mühle in Kühnhaide zu verkaufen und das Unternehmen, welches er mit großen Hoffnungen begonnen hatte, unter Einbuße seines Vermögens wieder aufzugeben. Er lebt jetzt im sächsischen Dorfe Krippen bei Schandau, wo er ein freundliches Häuschen bewohnt, in dessen unterem Stockwerk er eine mechanische Werkstatt eingerichtet hat. Dort betreibt er mit einigen Gehilfen ein kleines Geschäft und verdient mit der Anfertigung eiserner Meßkluppen seinen Lebensunterhalt. Die schlimmen Erfahrungen, die er mit seiner großen Entdeckung machte, haben ihn nicht niedergedrückt. Er beschäftigt sich noch jetzt mit neuen Erfindungen, auf welche er bereits Patente erhalten hat oder nachzusuchen gedenkt. In stiller Zurückgezogenheit und in bescheidenen Verhältnissen lebt er dahin, während draußen auf dem großen Weltmarkte mit dem Holzstoff täglich beträchtliche Summen umgesetzt werden, während viele tausend Maschinen rasselnd und klirrend thätig sind, den von Keller unter Entbehrungen erfundenen Holzschliff zu erzeugen, während ein mächtiger Industriezweig sein Dasein von den Erfolgen seiner Entdeckung fristet. Das ist einer jener Gegensätze, in welchen sich das Los der Erfinder so häufig bewegt.
Lolas Töchter.
Kommen Sie, lieber Freund – der neugewonnenen Naiven zu Ehren ist ein Dutzend mir bekannter Journalisten hier, ich möchte Sie vorstellen.“
Damit zog Lola Helmuth in den Gang hinaus, wo sich bereits wandelnde und stehende Gruppen gebildet hatten und der Name des neuen Bühnenmitgliedes alle zwei Minuten an sein Ohr schlug.
Helmuth lachte und sah ihr frei ins Gesicht.
„Sie sind reizend, Lola – ich bewundere Ihre geduldige Bemühung, mich von Hedwig zu trennen. Glauben Sie etwa, ich reize die Tochter gegen die Mutter auf? Sie werden doch inzwischen eingesehen haben, daß Hedwig schwerlich in die Lage kommen wird, den bereit gehaltenen Korb an den Mann zu bringen.“
Lola warf einen raschen Blick umher und entdeckte ihre Töchter in einiger Entfernung mit dem Sandblonden gegen das Büffett vordringend.
„Sie meinen wegen der Komödie mit Resi?“ raunte sie dann, überlegen lächelnd.
„Komödie?“ wiederholte er betroffen.
„Was sonst? Ich selbst hätte ihm ein so kluges Manöver gar nicht zugetraut. Wie er nur darauf verfallen ist, Hedwigs Eitelkeit auf solche Weise zu reizen –“
„Herr Marboth ein Diplomat! Sie reden, als sei er in Ihre Schule gegangen.“
Das bitter betonte Wort war ihm fast wider Willen entfahren; er hätte es gern zurückgenommen, denn ihm selbst erschien es unedel, die neue Herzensfreiheit so schroff zu bekennen. Und doch konnte er dem Gelüste, ihr die zerrissenen Fesseln zu zeigen – ob aus Rache, ob aus Aufrichtigkeit? – nicht widerstehen.
Sie blickte groß und durchdringend zu ihm auf.
„Nun – Sie jedenfalls sind nicht ohne Nutzen in meiner Schule gewesen, das ist mir heute klar geworden!“ versetzte sie langsam und gedämpft.
„Aber zu lange,“ gab er zurück. „Es taugt nicht für den Schüler, die Kunst seines Meisters schließlich zu durchschauen. Es thut zu weh, wenn die Illusionen schwinden –“
In diesem Augenblick kam eine Gruppe von Herren und Damen heran und umringte Lola unter lebhaften Begrüßungen. Helmuth schloß und erneuerte einige Bekanntschaften und bewunderte aufs neue Lolas Kunst, trotz starker innerer Erregung ganz und gar liebenswürdige Weltdame zu sein. Von der anderen Seite nahten die beiden Mädchen mit ihrem Begleiter, den die schöne Frau ebenfalls ihren Freunden vorstellte. Mit unerschütterlichem Ernste ließ Marboth die zehnfache Vorstellung über sich ergehen, versicherte auf die üblichen Fragen, daß Berlin, das Theater und die neue Schauspielerin ihm ausgezeichnet gefielen, und wandte sich, sobald die Höflichkeit es erlaubte, wieder Resi zu, der er, wie Helmuth zu verstehen glaubte, halblaut und geheimnißvoll die Einrichtung seiner Fabrik schilderte. Helmuths belustigte Blicke begegneten denen Hedwigs, welche ebenfalls mit augenscheinlichem Vergnügen das Pärchen beobachtet hatte.
„Das Lustspiel scheint Ihren Beifall zu haben,“ sagte er, zu ihr tretend.
Ihr schalkhafter Aufblick zeigte ihm sofort, daß sie ihn verstand.
„Kein Wunder,“ erwiderte sie fröhlich; „der gute Ausgang i scheint mir nicht länger zweifelhaft.“
Sie lachte auf eine eigenthümliche Art, indem sie die Mundwinkel ein wenig herabzog; es war, als wage sie in ihrer natürlichen Zurückhaltung selbst ihre Heiterkeit nicht offen einzugestehen.
Langsam schritten sie nebeneinander den Gang hinunter.
„Haben Sie nicht Gelegenheit gefunden, mit Resi ein vertrauliches Wort zu wechseln?“ fragte er halblaut.
Sie zögerte einen Augenblick. „Ja,“ gab sie dann zu, „zwei Minuten lang.“
„Nun?“ forschte er weiter.
Hedwig blickte lächelnd vor sich nieder. „Das bescheidene gute Geschöpf!“ sagte sie erröthend. „Sie glaubt noch immer, er – er thue es mir zum Tort, und – und – sie opfere sich für mich auf –“
Sie brach ab und begann ziemlich unvermittelt über die heutige Vorstellung zu sprechen. Jetzt, da ihre Angst und Erregung sich gelegt hatten, schien ihre Scheu vor vertraulicheren Gesprächen zurückzukehren. Helmuth verstand und achtete diesen Zug. Lebhaft ging er auf das neue Thema ein und freute sich ihrer behenden, feinsinnigen Auffassung. Sie uberraschte nicht durch blendende Einfälle; dafür schmiegte ihr Geist sich willig und mit verständnißvoller Anmuth den Absichten des Verfassers an. Ein überblickendes Urtheil gab sie nur zögernd und anspruchslos ab und horchte aufmerksam auf die reifere Kritik ihres Begleiters.
Sehr befriedigt kehrten beide auf den Ruf der Glocke in den Theatersaal zurück. Hedwig war es wie die meisten jungen Mädchen ihres Kreises wenig gewohnt, daß ein gereifter Mann sich zu einem ernsthaften, eingehenden Gespräch mit ihr herabließ; sie fühlte sich geehrt und gehoben.
Nach Schluß des Theaters stellte Lola den Bitten der beiden Herren noch gemeinsam ein Restaurant zu besuchen, trotz Resis flehenden Blicken ein entrüstetes „Nein“ entgegen. Sie erklärte, noch nicht genug Berlinerin zu sein, um eine solche Unsitte statthaft zu finden. So nahm man Abschied bis zum nächsten Vormittag; und während eine herbeigerufene Droschke die drei Damen nach Hause trug, fanden die Herren Platz auf dem Hinterperron eines Pferdebahnwagens, der sie nach der Friedrichstraße führte. Fast taghell zog sich die glänzende, bunt belebte Zeile der Straße hin; die Herren sprangen ab und wandten sich dem nächsten Restaurant zu, um Hunger und Durst zu stillen.
Die Unterhaltung drehte sich um öffentliche Tagesfragen und zeichnete sich keineswegs durch besondere Lebhaftigkeit aus. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt – Helmuth vielleicht auch ein wenig mit denen seines Gefährten. Die Zerstreutheit des jungen Mannes schien zuzunehmen; aus längerem Nachsinnen raffte er sich von Zeit zu Zeit wie zu einem Entschluß auf, zog den Athem kurz an und öffnete den Mund, ohne das, was ihm [445] auf dem Herzen lag, auszusprechen. Endlich erhoben sich beide zum Fortgehen. Draußen auf der Straße blieb der Brauuschweiger stehen und sagte zögernd, indem er seinen Rockkragen in die Höhe schlug:
„Wenn Sie nicht durch irgend eine Verabredung gebunden sind, so möchte ich wohl um die Erlaubniß bitteu, Sie bis an Ihren Gasthof begleiten zu dürfen.“
Helmuth versicherte höflich, er stelle seine Zeit wie seine Aufmerksamkeit Herrn Marboth zur Verfügung.
Dieser blickte mit einem Athemzug der Erleichterung nach dem glühlichterhellten Lokal zurück, dessen durch Tabaksrauch und Speisegerüche verdorbene Luft sie soeben verlassen hatten.
„Entschuldigen Sie,“ nahm er etwas beklommen wieder das Wort und begann mäßig auszuschreiten, „ich wollte Ihnen schon vorhin – aber es ist eine etwas – etwas zarte Angelegenheit, und da drinnen ist wohl nicht der rechte Ort.“
Helmuth, welcher schon wußte, was kommen würde, murmelte eine Ermuthigung.
„Es ist sehr hübsch von Ihnen,“ sagte Marboth. „Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, daß Sie gekommen sind; man kann nun doch frei von der Leber weg sprechen – Mann zu Mann – und Sie sind da nun schon so lange Hausfreund. Immer nur mit den Damen – offen gestanden, das ist nichts für mich. Und die Mutter, die hat so eine Art – ach, die macht einen reinweg mundtot.“ – Wieder ein tiefer Athemzug. Helmuth sah nach dem Himmel, an dem sich eben das Gewölk theilte und einigen Sternen Raum gab. O ja, er kannte diese Art, „einen mundtot zu machen“.
„Sie werden es wohl gemerkt haben, daß ich nicht bloß so – so zum Zeitvertreib hier bin, sondern weil – ja, sehen Sie, Sie müssen sich nicht wundern, ich bin auf Veranlassung meines Onkels Konrad Marboth hier, der da auch Hausfreund ist – unter uns: ich glaube, er hat ein Auge auf die Mutter. Na, das ist Geschmackssache. Nun sitz’ ich da in meinem Braunschweig – ich bin nicht weit davon zu Hause, vom Lande, wissen Sie, mein Vater war Gutspächter und ich sollte auch – bin auch zwei Jahre auf die Landwirthschaftsschule gegangen und stehe noch mit unserem Direktor in Briefwechsel. Aber der Kaufmann steckte nun ’mal in mir, und so habe ich denn noch rechtzeitig umgesattelt. Hat sich ja auch gezeigt, daß es das Richtige war; ich kann Gott sei dank zufrieden sein; nur das Häusliche – das fehlt, und das kann ich nicht gut missen. Der Gesangverein – na ja, das ist ja ganz schön; aber wenn man dann so nach Hause kommt – und mit dem Familienverkehr – Sie haben es ja gesehen: ein Weltmann bin ich nicht, und wenn einem auch manche Damen sehr entgegenkommen – das kann ich erst recht nicht ausstehen. Und so sprach ich denn letzthin mit Onkel Konrad darüber – er war vor sechs Wochen in Berlin und Braunschweig – und da fing er gleich von Fräulein Hedwig an und zeigte mir das Bild der Mutter und sagte, die Tochter wäre auch so ähnlich, nur blond. Na, das konnte einem ja schon gefallen, nicht wahr?“
Helmuth war vollständig der Meinung des Redners.
„Er setzte mir so zu,“ fuhr dieser fort, „daß ich kaum das Ende der Inventurarbeiten abwarten konnte. Vor drei Tagen kam ich hier an, aber –“
Die tiefen Athemzüge folgten einander in immer kürzeren Pausen.
„Daß es mit Hedwig nichts war, das sah ich gleich. Ein hübsches Mädchen ist sie, dagegen ist nichts zu sagen. Aber diese Unfreundlichkeit! Ob ihr nun meine Person nicht gefällt oder die Art, wie ich ins Haus gekommen bin – ich weiß es nicht; vielleicht hat sie auch einen anderen im Sinne. Das sind nicht meine Angelegenheiten. Aber wenn sie nur ins Zimmer kommt, so friert mir schon die Zunge im Munde fest. Na, Sie haben es ja gesehen – das heißt, eigentlich nicht, denn heute, seit Sie hier sind, ist sie ganz menschlich. Vielleicht daß sie sich vor Ihnen geniert, oder – wer weiß! Wie gesagt, ich wäre den nächsten Tag wieder abgereist, denn diese Art paßte mir natürlich nicht. Aber die Kleine! Sehen Sie, die Kleine – das ist nun doch das Reizendste, was man sich denken kann. Zuerst hab’ ich sie häßlich gefunden – ich begreif’ es gar nicht mehr. Die schönen freundlichen Augen und das herzliche Lachen und immer so gut und so munter und immer um mich herum, als ob sie mich trösten wollte. So hat sie es wohl auch zuerst gemeint; aber jetzt – ich hoffe wenigstens, daß – daß es ihr auch Vergnügen macht; kokett ist sie ja nicht die Spur – und – sie muß es auch merken, wie – wie sehr ich –“
Dem guten Jungen kam etwas in die Kehle; er machte einige so große hastige Schritte, daß Helmuth ihm kaum folgen konnte.
„Warum sagen Sie es ihr denn nicht?“
„Wenn ich das könnte!“ entgegnete der Verliebte nach bedenklichem Schlucken und Räuspern. Vielleicht ist es doch nur Mitleid – und einen Korb – nein, Herr Stolz! Und dann die Mutter, die immer noch zu glauben scheint, ich sei Hedwigs wegen hier geblieben – es wäre doch nicht anständig, so ohne ihr Vorwissen – und darum – darum sollen Sie es ihr sagen; ja, Sie müssen das für mich thun, ich kann es wahrhaftig nicht! Sie hat so eine Art, und es könnte mir zustoßen, daß ich heulen müßte wie ein Schuljunge!“
Auch jetzt schien er nicht allzuweit von diesem bedenklichen Augenblick entfernt; die Stimme brach ihm zuweilen bis zur Unverständlichkeit, und sein Athem ging in keuchenden unregelmäßigen Stößen – kein Wunder auch bei dem Sturmschritt, in den er verfallen war. Helmuth fühlte sich lebhaft berührt durch das warmherzige kindliche Vertrauen des jungen Mannes, dem eine natürliche Vornehmheit des Gefühls nicht abging. Gern versprach er, Lola vorzubereiten; ja er freute sich darauf, sie zu überführen, daß ihre verkünstelte Empfindung immer auf das Fernliegende verfalle. Julius Marboth ein Diplomat!
Unfähig, die heute so vielfach angespannten Seelenkräfte länger zu zügeln, horchte er nur noch zerstreut auf die Worte seines Begleiters, durch dessen einmal geöffnete Redeschleusen sich [446] jetzt unaufhaltsam die Fluth seines Vertrauens ergoß. Jedes Wort aus Resis Munde schien sich seinem Gedächtniß eingeprägt zu haben, und das unbedeutendste davon hatte Reiz und Bedeutung für ihn. Immer wieder fragte er Helmuth, ob er wohl glaube, daß „das niedliche Ding nicht ‚Nein‘ sagen würde.“ Helmuth suchte ihn möglichst zu beruhigen. Den Redefluß seines neuen Freundes, der immer noch etwas zu berichten wußte und durchaus noch mit ihm in ein Café gehen wollte, dämmte er durch ein freundliches Abschiedswort zurück und stieg durch das glänzend erleuchtete Treppenhaus seines Gasthofs in sein Zimmer empor. Dienstfertig zündete ihm ein sauberes Zöfchen die dünne Stearinkerze an und überließ ihn einer ungewohnt frühen Ruhe.
Ach, diese Gasthofsruhe! Draußen schallten Reden und Gegenreden, über die Läufer hasteten gedämpfte Schritte, Stiefel wurden mit lautem Gepolter vor die Thüren befördert, und von Zeit zu Zeit rauschte und gluckste eine nahe Wasserleitung. Mehr aber als diese äußeren Störungen, auf die Helmuth schon während des Auskleidens mit nervösem Ingrimm lauschte, erregte ihn der Rückblick auf seine heutigen Erlebnisse. Ein Lebensabschnitt lag hinter ihm: er hatte seine Hoffnungen auf eine Zukunft an Lolas Seite für immer verabschiedet. Nun galt es, ein neues Ziel zu finden, sollte nicht sein Lebensschiff haltlos, planlos auf den Wellen irren. Seine Eltern waren nicht mehr am Leben, die Geschwister, hierhin und dorthin verstreut, bedurften seiner nicht; sein altes solides Geschäft nahm nur einen Theil seiner Kräfte in Anspruch. Auch seine Liebhabereien – er galt für einen tüchtigen Reiter und besaß eine berühmte Waffensammlung – füllten seine Seele nicht aus. Er konnte sich öffentlichen Angelegenheiten widmen, Wohlthätigkeit in großartigerem Maßstab üben als bisher – indessen war er denn wirklich schon alt und befriedigt genug, um auf jedes eigene Glück zu verzichten? Eine gleichgültige Ehe eingehen, nur um eine Häuslichkeit und eine eigene Familie zu besitzen, dazu fühlte er sich außer stande. Zu lange hatte die Ehe ihm als glückseliges Endziel vorgeschwebt, als das gelobte Land, das ihm die vieljährige einsame Wanderung lohnen sollte. Und nun plötzlich ließ er dieses Endziel fahren. Hatte Lola ihm heute eine früher geweckte Hoffnung geraubt – war er der Wanderschaft müde? Oder hatte er sie etwa von neuen Seiten kennengelernt? Nein, immer hatte er sie gefunden wie heute: selbstsüchtig ihre Ziele verfolgend, ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhaltend; allein der blendende Glanz, in dem er früher ihre Gestalt gesehen hatte, war zerflossen, und ohne diesen Schimmer erschienen ihm ihre Fehler abstoßend und unverzeihlich. Die Liebe war dahin, und nur die Erinnerung an soviel Schmerzen konnte es sein, was ihn noch quälte. Doch – was es auch sei, eine fremde Macht hatte in sein Leben eingegriffen, hatte die Schrift gelöscht, die er unvergänglich glaubte. Oder war trotz allem diese Schrift nur auf Augenblicke unsichtbar, um plötzlich aufs neue in erhöhter Klarheit und Helle hervorzutreten? Denn die gähnende Leere, die nach dem Verlust einer langen Liebe das beraubte Herz mit ihrer Trostlosigkeit heimzusuchen pflegt – er fühlte sie nicht in sich. Im Gegentheil, eine sonderbar erwartungsvolle Stimmung war in ihm, er war begierig, etwas Neues, Wundervolles zu erfahren, wie ein Kind neugierig ist auf die nächste Seite im neuen Bilderbuch.
Grübelei und kein Ende!
Helmuth tastete nach den Streichhölzern und zündete das Licht wieder an. Gleich darauf war er aus dem Bette und in den Kleidern; dann hob er seinen kleinen Handkoffer empor und leuchtete hinein, so daß einige Stearintropfen auf dessen Inhalt fielen. Es mußte doch da sein, nie war er ohne diesen Talisman gereist – richtig, da war’s. Ein flaches Ledertäschchen kam zum Vorschein, das, entfaltet, eine Reihe Ausschnitte mit Kabinettphotographien zeigte. Lola, Lola, und immer wieder Lola. Lola im Ballkostüm, im Hauskleid, im Promenadenanzug, Lola auf der Maskerade, Lola als zärtliche Mutter – immer schön, immer in bewundernswürdiger Pose, in der modernsten Kleidung des betreffenden Jahrganges – eine wahre Geschichte der Mode aus den letzten dreizehn Jahren.
Helmuth stellte den Leuchter auf die grüne Plüschdecke des Tisches, setzte sich auf das Sofa und betrachtete lange und aufmerksam prüfend jedes einzelne Bild. So sah sie aus, als er sie zum ersten Male erblickte; so schwermüthig sinnend schaute sie drein, als er ihr den „Ekkehard“ vorlas. Und beim Anblick jeder Photographie, beim Heraufbeschwören jeder dieser alten Erinnerungen lauschte er in sich hinein, ängstlich fast, ob die wohlbekannte Stimme sehnsüchtiger Leidenschaft nicht wie immer laut würde.
Und plötzlich zieht er den Leuchter näher heran. Er hat die letzte Falte des Täschchens geöffnet, und wie eine Ueberraschung blickt ein Bild ihn an, das er vor Monaten erhalten und vielleicht nicht ein einziges Mal wieder betrachtet hatte. Ein Schreck, ein süßer fremder, und ach! so wohlbekannter Schreck durchzuckt ihn, und sein Herz beginnt so schnell, so ängstlich zu klopfen, als ertappe er sich auf einem Unrecht – –
Vor seinen Augen wird es klar, aber um so schwerer legt es sich auf sein Herz. Wozu nun all das! Beklommen athmend, starrt er brennenden Blickes auf das Bild. Er drückt es verstohlen an seine Lippen und blickt hastig um sich, als fürchte er, beobachtet zu werden – dann schiebt er es beschämt von sich, um es im nächsten Augenblick wieder zu betrachten. Er wird des Ansehens nicht müde. Der Docht des Lichtes wird lang und biegt sich zur Seite; Tropfen auf Tropfen löst sich durchsichtig neben der Flamme, fließt an der Kerze herab und erstarrt zu hügeligen Streifchen. Helmuth merkt es nicht; er blickt auf das Bild, bis bunte Kreise sich vor seinen Augen drehen.
Was hatte er nun gewonnen? Er glaubte sich aus dem Abgrund gerettet und war nur noch tiefer hineingestürzt. Nur Flucht, eiligste Flucht konnte ihn vor einer gefährlichen Thorheit bewahren. Mit beiden Händen hielt er die schmerzende Stirn. Draußen schlurfte bereits der verschlafene Hausknecht, mit Stiefeln beladen, über die Gänge, als Helmuth endlich einschlief. Der Stumpf der Kerze war tief in den Leuchter hineingeschmolzen. –
Als er am nächsten Vormittag die Klingel an der Winterschen Wohnung in Bewegung setzte, versuchte er sich einzureden, es sei ihm mit dem Fluchtgedanken wirklich Ernst gewesen, und nur sein Versprechen dem jungen Marboth gegenüber, Frau Lola von der veränderten Lage der Dinge in Kenntniß zu setzen, habe ihn verhindert, abzureisen. Nun, da er doch einmal hier war, konnte er auch in seiner eigenen Sache ein wenig beobachten.
Er traf Lola allein im Speisezimmer, beschäftigt, einen Fruchtkorb mit heimischem und ausländischem Obste zu füllen. Sie war noch in einem einfachen Hauskleid von grauem Flanell, dessen schwarzer Sammetbesatz ihre heute morgen etwas matte Gesichtsfarbe ein wenig hob. Unter einem zierlichen Morgenhäubchen quollen einzelne dunkle Löckchen hervor.
„Sie scheinen sich zum Nachtwandler ausbilden zu wollen,“ begrüßte sie ihn, ohne sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen. „Ich glaubte, es sei die Friseurin. Kommen Sie so früh, um Abschied zu nehmen?“
„Diesen Wunsch erfülle ich Ihnen heute noch nicht,“ erwiderte er und lehnte sich, ihr zusehend, an das Büffett. „Sie werden doch nicht so ungastlich sein, mich vor der feierlichen Verlobung über die Grenze zu befördern?!“
„Sie haben sich also für die nächsten Monate in Berlin niedergelassen?“ gab sie in etwas spitzem Tone zurück.
„Behüte, schönste Frau – soviel Geduld können Sie von Herrn Julius Marboth nicht erwarten,“ lächelte Helmuth. „In seinem Auftrag bin ich hier. Er läßt Sie höflichst um die Erlaubniß bitten, Ihrer jüngsten Tochter, Fräulein Therese Winter, seine Liebe erklären zu dürfen.“
Lolas Hände sanken so plötzlich herab, daß der rothwangige Apfel, den sie eben mit einem weißen Tuche abgerieben hatte, zur Erde fiel. Helmuth bückte sich danach und überreichte ihn Lola mit einer tiefen Verbeugung.
„Gnädigste Frau Venus – Ihr ergebener Paris erlaubt sich gehorsamst –“
Mechanisch nahm Lola den Apfel. Ihr Gesicht war erblaßt; ihre Augen, noch größer und dunkler als gewöhnlich, blickten achtungsvoll und doch fast feindselig zu Helmuth empor.
„Ah,“ sagte sie langsam, „also haben Sie es durchgesetzt – das muß Sie viel Mühe gekostet haben!“
„Nicht die mindeste!“ lachte Helmuth. „Nur ein bißcheu Geduld. Herrn Marboths Verliebtheit ist etwas wortreicher Natur –“
Lola beachtete den Einwurf nicht. „Gut, mir kann es einerlei sein,“ fuhr sie fort, „ja, ich gönne Hedwig die Demüthigung. Nur eins möchte ich wissen –“
Sie ergriff plötzlich Helmuths Hand und führte ihn gegen [447] das Fenster. Ihre Blicke maßen seine ruhig dastehende Gestalt und hefteten sich durchdringend auf seine Züge.
„Was ist mit Ihnen vorgegangen?“ fragte sie mit leiser, weicher Stimme. „Seit gestern – die Stunde könnt’ ich Ihnen nennen – – ich habe etwas in Ihnen entdeckt, was Ihnen bisher zu fehlen schien: Sie haben einen Willen!“
Helmuth verbeugte sich verbindlich.
„Einen Willen sogar, der den meinen kreuzt,“ setzte sie hinzu, und die Spannung ihrer Züge löste sich in ein feines, kokettes Lächeln. „Wissen Sie nicht, daß das Neue mich reizt? Ich könnte wahrhaftig Lust bekommen –“
In der ihr eigenen halb herausfordernden Weise brach sie ab. Diese Art, verheißungsvoll anzudeuten, ohne etwas Bestimmtes zu versprechen, hatte noch selten ihre Wirkung verfehlt, am wenigsten auf Helmuth. Und heute?
„Verzeihung – Sie meinten?“ fuhr er plötzlich wie aus einem Traume auf.
Lola sah ihn groß an. War das berechnetes Spiel, war es Wahrheit? Ihr Herz begann zu klopfen. Die beleidigte Eitelkeit wollte den gesichert geglaubten Besitz, den sie so lange aus Herrschlust und Eigennutz festgehalten hatte, so leichten Kaufes nicht fahren lassen. Und es konnte ja nicht sein; er war nur in der That zu lange in ihrer Schule gewesen, hatte gelernt, sie mit ihren eigenen Waffen herauszufordern noch gestern morgen hatte er mit feurigem Blicke und Worte ihre Hand ergriffen –
„Mir fiel ein,“ sagte sie mit vollkommener Haltung, „daß ich Sie um einen Rath bitten könnte; Sie wissen, daß ich nicht gewohnt bin, einen wichtigen Schritt zu thun ohne Ihre freundschaftliche Meinung gehört zu haben.“
Er sah sie fragend an.
„Der Gutsbesitzer Konrad Marboth hat um meine Hand angehalten. Es ist ein glänzendes Los, das er mir bietet, wir würden im Sommer auf seinen Gütern, im Winter in Paris oder im Süden leben. Aber er ist ein wunderlicher Junggesell von fünfzig Jahren, eine etwas tyrannische Natur – was rathen Sie mir?“
In mühsam beherrschter Erwartung stand sie vor ihm. Die sieggewohnte Eitelkeit lechzte nach ihrem Triumph mit einer zitternden Begierde, die ihr ganzes Wesen wie eine neue Leidenschaft ergriff. In diesem Augenblick hätte sie alles drum gegeben, ihn zu ihren Füßeu zu sehen, ihn bebend stammeln zu hören. Keines anderen sollst Du werden, sei mein, endlich mein!
Er stand wieder ans Büffett gelehnt und strich sich bedächtig das dunkle Bärtchen. Eine Weile herrschte so tiefe Stille, daß das schwere Ticken der Uhr hörbar ward; dann hob Helmuth den Kopf und sagte mit einer Ruhe, der ein ironischer Beigeschmack nicht fehlte: „Sie haben ja heute Ihren Kolumbus-Tag: in mir haben Sie einen Willen entdeckt – vielleicht entdecken Sie in sich ein Herz. In diesem Falle rathe ich Ihnen: folgen Sie Ihrem Herzen!“
Abermals zurückgeschlagen! War das auch noch Spiel?
„Sie fangen an, sehr boshaft und amüsant zu werden,“ bemerkte Lola mit geschickt erheuchelter Munterkeit. „Wie schade, daß diese Begabung so spät zur Geltung kommt! Für jetzt erlaube ich Ihnen, mir Resi zu schicken und Ihre Freundin Hedwig von dem erfochtenen Siege in Kenntniß zu setzen. Die Kinder sind in ihrem kleinen Zimmer – Sie wissen ja – die vorletzte Thür im Gange!“
Als Helmuth an die bezeichnete Thür klopfte, erscholl ein kleiner Schrei, dann wurde sehr geräuschvoll mit Papier geraschelt, und schließlich riefen zwei helle Stimmen zu gleicher Zeit „Herein!“
Beide Mädchen, in einfachen Hauskleidern und Schürzen, standen ein wenig verlegen vor dem Eintretenden, doch sogleich ging über Hedwigs Gesicht eine lichte Röthe, und freundlich reichte sie ihm die Hand. Er behielt diese Hand in der seinen und sagte, zu Resi gewendet, daß ihre Mama sie zu sprechen wünsche.
„Sie sind’s – wie hübsch! Aber erschreckt haben Sie uns, weil wir gerade unsere große Arbeit für Mamas Geburtstag vorgenommen hatten. Wollen Sie einmal sehen? Es giebt eine Fensterdecke; ein Zweig ist schon fertig – schön, nicht wahr?“
Resi hob einen großen Papierbogen vom Mitteltisch, und ein riesiger Stickrahmen wurde sichtbar; der eingespannte blaßgelblich schillernde Seidenplüsch zeigte eine gestickte Blumenranke.
„Reizend,“ sagte Helmuth. „Aber nun gehen Sie zu Ihrer Mama, Sie ungehorsames Kind, sie hat zur Revanche auch solch eine sandfarbene Ueberraschung für Sie bereit.“
Resi riß die Augen weit auf, zuckte die Achseln und schlenderte vergnüglich und ahnungslos aus dem Zimmer.
„Es wird doch nicht schon – ist – ist Herr Marboth bei Mama?“ fragte Hedwig erregt und versuchte vergebens, ihm ihre Hand zu entwinden.
Helmuth schüttelte den Kopf und hielt Umschau in dem behaglichen Raume, der mit den zierlichen, in Schwarz und Gold lackierten Möbeln, den fächergeschmückten Wänden und dem Ueberfluß an Nippes den Typus eines Mädchenzimmers darstellte.
„Wie hübsch Sie es hier haben!“ sagte er fast beklommen und athmete andächtig den unbestimmten Duft ein, der jedem Gegenstand dieses Zimmers anzuhaften schien.
„Sie waren doch früher schon öfter hier,“ versetzte Hedwig verlegen und blickte zagend auf ihre gefangene Hand.
„Ja – früher! Da war auch alles anders. Der Schreibtisch zum Beispiel stand früher da, wo jetzt der Blumentisch steht.“
„O nein, Sie täuschen sich – der stand immer dort.“
„Dann fehlten die Fächer und die Vasen mit Wetterdisteln.“
„Nur zwei der Fächer sind neu – die großen japanischen. Die Vasen haben Sie uns ja selbst vor zwei Jahren mitgebracht; wissen Sie nicht mehr?“
„Nein wahrhaftig, das weiß ich nicht mehr. Uebrigeus sind sie nicht sehr schön, Sie sollen andere dafür haben. Was mögen Sie am liebsten? Meißener?“
„O – Herr Helmuth –“
„Und mein Bild habe ich Ihnen auch geschenkt?“
Er nahm von einem Borte ein neues Stehrähmchen mit einer etwas verblaßten Photographie. Hedwig wurde glühend roth und mit verdoppelter Anstrengung bemühte sie sich, ihre Hand aus der seinigen zu befreien.
„Das ist – Sie müssen es Mama nicht übelnehmen – als Sie ihr das neue Bild schenkten, da haben wir – da hat sie uns das alte gegeben – wir hatten ja keins von Ihnen – sind Sie Mama böse?“
„Nein!“ Er sah sie an, sie wandte hastig das Gesicht ab.
„Hören Sie nur, wie laut der Kanarienvogel singt,“ stammelte sie in steigender Verwirrung. „Er merkt, daß ein Fremder da ist – da vermuthet der eitle kleine Künstler ein besonders dankbares Publikum –“
Er hielt unverwandt den Blick auf sie gerichtet. Sie vermuthete, daß er sich innerlich über sie lustig mache, und fügte heftig hinzu: „Warum sehen Sie mich denn so an, wie – wie ein Hofmeister?“
Da wurde plötzlich die Thür aufgerissen, und laut weinend stürzte Resi ins Zimmer. Sie warf sich in die Sofaecke, verbarg das Gesicht im Polster und schluchzte herzbrechend.
Im selben Augenblick hatte Hedwig sich freigemacht und stand an der Schwester Seite, sich voll Schrecken über sie beugend.
„Um Gotteswillen – Resi – Resi –“
Die Kleine fuhr eine Weile fort, ununterbrochen zu schluchzen. Mit einem Male richtete sie sich empor und enthüllte ein vom Weinen verschwollenes rothfleckiges Gesicht von erschütternder Komik. Unter zusammengezogenen Brauen hervor trotzte ein Paar gerötheter Augen bitterböse auf die Schwester, und ein Querfältchen über der kleinen Nase machte die drolligste Wirkung.
„Du bist schuld!“ rief sie, noch halb weinend, „Du ganz allein mit Deinem – Deinem abscheulichen Hochmuth! Aber ich thu’ es nicht – ich will nicht – und wenn Mama Hi – Hi – Himmel und Erde in Bewegung setzt!“
Bestürzt blickte Hedwig abwechselnd auf die Weinende und auf den belustigt dreinschauenden Helmuth.
„So gut hab’ ich’s gemeint – ich wollte all Deine Unfreundlichkeit wieder gut machen,“ fuhr Resi fort, „und nun – nun meint er, ich hätte ihn Dir wegfischen wollen – ich hätte es drauf angelegt – oder gar will er mich aus Mi – Mitleid heirathen, weil er glaubt, ich – ich hätte mich in ihn ver –“
Ein wildes Schluchzen schnitt das Wort mitten entzwei. Hedwig, noch von eigener Herzensnoth erregt, war nicht imstande, die heitere Auffassung Helmuths zu theilen, der lächelnd ans Sofa herantrat.
„Sie unvernünftiges kleines Mädchen!“ sagte er. „Alles, was Sie da vorbringen, ist reine Einbildung. Herr Marboth hat mir sein ganzes Herz ausgeschüttet, es war sehr inhaltsreich; er betet Sie an, er denkt von Ihnen so gut, wie man von seinem Ideal [448] nur denken kann. Und Sie – Sie lieben ihn auch – wenigstens finden Sie ihn ‚amüsant‘ oder ‚himmlisch‘ – warum wollen Sie ihn nun aus kindischem Eigensinn kränken und fortschicken?“
Er hatte in ein Wespennest gestochen. Resis Zorn wandte sich plötzlich gegen ihn.
„Kindisch? Eigensinn?“ sprudelte sie hervor. „Und wie hat sich denn Hedwig benommen? Wie Luft – puh! – hat sie ihn behandelt, den armen lieben Menschen – aber das war natürlich kein ‚kindischer Eigensinn‘, wie? O – aber ich, das ist freilich etwas anderes; was mein Fräulein Schwester nicht mag, ist für mich noch lange gut genug! Allein Ihr irrt Euch, ich halte mich doch für zu kostbar, um die – Ersatzreserve zu spielen!“
Hedwig, zwischen Lachen und Weinen, fühlte ihre Kehle sich zusammenschnüren. Wankend stützte sie beide Hände auf den Tisch. Langsam ging Helmuth zur Thür.
„Ist das Ihr letztes Wort, Resi?“
Das Mädchen nickte.
Er hob die Achseln. „So bleibt mir nichts anderes übrig als die beneidenswerthe Aufgabe, Herrn Marboth, dem ‚armen lieben Menschen‘, entgegenzugehen und ihm Ihren Entschluß mitzutheilen. Ich möchte ihm doch wenigstens den peinlichen Abschiedsbesuch in diesem Hause ersparen.“
Er hielt den Drücker in der Hand und blickte erwartungsvoll zu Resi hinüber. Sie hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und preßte ihr Tuch gegen die Augen.
„Resi –“ begann Hedwig, „Du hast ihn doch so gern –“
„Was kümmert’s Dich?“ rief Resi wüthend.
„Und haben Sie ihm nichts mehr auszurichten, keinen Gruß?“ fragte Helmuth.
„Einen Gruß, meinetwegen!“ murrte die Kleine. Dann, als sie ihn wirklich die Thür öffnen sah, schnellte sie vom Sofa empor und stammelte verwirrt:
„Und – und – auch noch, daß es mir so schrecklich leid thut – und – er soll mir nicht böse sein –“
Lächelnd ging Helmuth hinaus. Hedwig breitete plötzlich in heftiger Bewegung ihre Arme aus, und Resi flüchtete hinein. So standen sie fest umschlungen und weinten, weinten – ob vor Leid, vor Glück, vor Liebe? Sie wußten es selber nicht. –
Beim Durchschreiten des „Berliner Zimmers“ fand Helmuth Lola in vollem Aerger mit gekreuzten Armen auf und abgehend. Einen Augenblick hielt er ihren Klagen über die empörende Unvernunft der beiden Mädchen stand, dann versicherte er sie ernsthaft seines Beileids über den Besitz zweier ihrer Mutter so ungleicher Töchter und verließ eilig Zimmer und Haus.
Draußen lachte ein heller Himmel; ein leichter Frost überzog die Straßen, auf denen das geräuschvolle Gewühl der hin und her eilenden Menschen, der Wagen und Pferdebahnen in jedem Augenblick sich bunt und fröhlich erneute. Helmuth spähte rechts und links, wanderte ein Weilchen vor dem Hause auf und nieder und blieb endlich vor dem Schaufenster eines nahen Blumenladens stehen. Ein blaßlila Fliederzweig, aus gleichfarbiger spitzer Papierdüte seine zarten Dolden vorstreckend, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er stellte sich vor, wie gern Hedwig ihr niedliches Zimmer mit dem zarten Frühlingsboten schmücken würde, und nachdem er sich nochmals überzeugt hatte, daß der Erwartete sich noch nicht nähere, trat er schnell in den Laden. Zu seiner Ueberraschung fand er hier Herrn Julius Marboth auf einem Stuhle, einen strahlend blanken Cylinderhut zwischen den Knien, die Hände von ebenso neuen, gelben Handschuhen bedeckt, welche genau nach seiner Haarfarbe ausgesucht zu sein schienen.
„Sie Unglücksvogel!“ begrüßte Helmuth den sich erfreut Erhebenden, „Sie lassen hier wohl den Verlobungsstranß binden?“
„Warum nicht?“ schmunzelte der Blonde.
„Mein lieber Freund,“ sagte Helmuth gelassen, „selbst hier in Berlin giebt es noch Gebiete, auf denen die elektrische Geschwindigkeit sich einstweilen nicht nutzbar machen läßt. Bezahlen Sie Ihren Strauß und hoffen Sie mit mir, daß wir ihn später zur Erfüllung seines eigentlichen Zweckes abholen lassen können!“
Gleich darauf trat Marboth halb betäubt neben seinem Gönner auf die Straße und horchte verstört auf die Beschreibung der Scene von vorhin. Resis Gruß und ihre letzte Bestellung nahm er mit einer Miene entgegen, in der es voll zärtlicher Rührung und schmerzlicher Bitterkeit verdächtig zuckte.
„Und nun,“ schloß Helmuth, „werde ich mich hüten, Ihnen irgend einen Rath zu ertheilen. Ein anderer würde Ihnen vielleicht sagen: die Welt ist übervoll von Mädchen; reisen Sie ab und halten Sie sonstwo Umschau –“
„Und das thäte ich auch,“ fiel Marboth mit bewegter Stimme ein, „wenn – wenn sie es mir nicht angethan hätte. Und außerdem – sehen Sie – ich glaube es nicht.“
„Was glauben Sie nicht?“
„Daß sie es ernst meint mit dem ‚Nein‘. Das muß ich erst aus ihrem eigenen Munde hören. So kann sie sich nicht verstellen. Sehen Sie – gestern im Theater –“
Und er machte Miene, die gestern unterbrochene Wiedergabe von Resis Aeußerungen fortzusetzen. Helmuth jedoch, den es drängte, ein ganz anderes Gespräch, das er vor einer halben Stunde hatte unterbrechen müssen, wieder aufzunehmen, führte ihn gegen das Haus zu.
„Aufrichtig gestanden,“ sagte er, „bin ich ganz Ihrer Meinung. Wissen kann man es freilich nicht; ich gehöre nicht zu den Narren, die behaupten, die Frauen zu kennen. Als ob die Frauen nicht untereinander ebenso verschieden wären wie wir – und als ob nicht jede einzelne von ihnen unberechenbar wäre!“
Oben erfuhr Helmuth von dem Dienstmädchen, daß die gnädige Frau mit ihrer Toilette beschäftigt sei. Nachdem er seinen vor Erregung bleichen Schützling im Salon untergebracht hatte, klopfte er unverweilt an das Zimmer der beiden Mädchen.
Diese waren, einander mit den Armen umschlingend, auf und ab gewandert und hatten sich im Drange der stürmenden Gefühle die vertraulichsten Geständnisse gemacht. Hedwig trug Helmuths Bild in der Hand und stellte es bei seinem Eintritt eiligst auf den nächstbesten Tisch, freilich zu spät, um die verrätherische Bewegung seiner Beobachtung zu entziehen. Mit einem trostlosen Blick ihrer verweinten Augen suchte Resi in den Zügen des Eintretenden zu lesen.
„Ist er abgereist?“ fragte sie in einem Tone, als erkundige sie sich nach seiner Beerdigung.
„Er benutzt den nächsten Zug,“ antwortete er ernsthaft.
Resis Augen füllten sich aufs neue mit Thränen.
„Wenn er nur gesund nach Braunschweig kommt!“ fuhr Helmuth mit einem übertriebenen Ausdruck von Mitleid fort, welcher Hedwigs Aufmerksamkeit erregte, so daß sie mit steigender Spannung und zum Lächeln sich öffnenden Lippen ihn anblickte. „Ich verließ ihn in einem Zustand – es war zum Erbarmen!“
Schluchzend warf Resi sich in einen Stuhl; über sie hinweg trafen sich zwei verständnißvolle Blicke. Leise trat Helmuth zu der Weinenden und legte seine Hand auf ihren Scheitel.
„Armes Kind!“ sagte er weich. „Drüben im Salon liegt sein Abschiedsbrief – gehen Sie, weinen Sie sich in der Einsamkeit aus!“
Resi sprang auf und tastete sich, das Tuch vor die Augen gedrückt, aus dem Zimmer. Hastig ergriff Helmuth Hedwigs Hand und führte sie leise bis zur Thür, welche er öffnete. Sie sahen die weinende Resi langsam das Speisezimmer kreuzen und die Schiebethür zum Salon zurückstoßen – dann ertönte plötzlich ein Schrei, ein Schluchzen, halb erstickte jubelnde Laute einer männlichen Stimme. –
Erglühend riß Hedwig ihre Hand aus der des Freundes und stürmte in wilder Flucht zurück in ihr Zimmer; hinter ihr drehte sich der Schlüssel im Schlosse.
Helmuth eilte ihr nach. „Hedwig!“ rief er flehend, „Hedwig!“
Aber alles blieb still; nur aus der nahen Küche hörte er das unterdrückte Kichern der Dienstboten.
Drinnen stand das junge Mädchen, beide Hände auf das laut pochende Herz gepreßt. Was war das – wollte er sie demüthigen, weil er sein Bild in ihrer Hand gesehen hatte? Wollte er studieren, ob sie ihrer Schwester das plötzlich gewonnene Glück gönnte? Oder – – nein, o nein! Er hatte sie ein wenig gern, weil sie die Tochter ihrer Mutter war, die er verehrte; es machte ihm Vergnügen, die thörichten kleinen Mädchen zu necken oder zu hofmeistern, je nachdem. Und nun ärgerte es ihn, daß sie nicht wieder kam. Aber sie wollte nicht – nein, um keinen Preis konnte sie ihm jetzt in die Augen sehen. Mochte er nur rufen!
Und er rief – bis sich mit einem Male eine andere Thür aufthat und Lola frisch frisiert in ihrem grauen Plüschgewand vor ihm stand und ihn verwundert ansah.
„Helmuth – wie sehen Sie aus! Was machen Sie denn da?“
[449]
[450] Er strich mit bebender Hand über sein Haar und seine feuchte Stirn.
„Ich muß Sie sprechen, Lola, sofort – kommen Sie!“
Er sagte es ernst, fast befehlend, obwohl Mund und Kehle ihm kaum gehorchen wollten. Betroffen blickte sie ihn an; dann ging sie ihm rasch voran ins Speisezimmer. Sollte ihr doch noch der ersehnte Triumph beschieden sein?
Auf einem Stuhle am Fenster nahm sie Platz, während er hastig auf und nieder schritt. Jetzt blieb er stehen und deutete auf die wieder geschlossene Schiebethür, die in den Salon führte.
„Dort driunen ist ein glückliches Brautpaar – Resi und der junge Marboth,“ begann er. „Bleiben Sie!“ fuhr er fort, als sie sich in freudigem Schrecken erheben wollte, „die werden schon kommen, sobald sie Sehnsucht nach Ihrem mütterlichen Segen verspüren werden. Ich habe Ihnen noch etwas anderes zu sagen. Es drängt mich, Frieden mit Ihnen zu machen, Lola. Sie haben mir übel mitgespielt, jahrelang – Sie haben meine Liebe nicht einschlafen lassen, mich mit eitlen Hoffnungen hingehalten, ohne die Absicht, sie zu erfüllen – ist das so?“
Sie strich mit der Hand schmeichelnd über den weichen Plüsch ihres Gewandes.
„Mein Gott, lieber Freund, Sie werden tragisch. Vielleicht hatte ich dennoch so halb und halb die Absicht, das heißt, ich ließ mich von den Verhältnissen treiben und war schließlich selber neugierig, an welchem Ufer ich landen würde. Eigentlich konnte es ja für Thomas Winters Witwe nichts Verlockendes haben, nach Hamburg zurückzukehren und den Lästerzungen Gelegenheit zur Erneuerung eines alten Themas zu geben. Und Sie zu veranlassen, Hamburg und Ihrem Beruf den Abschied zu geben, dazu waren Sie zu jung. Ein junger Mann ohne geregelte Berufsthätigkeit ist eine Qual für sich und seine Umgebung.“
„Wenn Sie mich geliebt hätten, wie Sie mich manchmal glauben ließen – doch das liegt nun hinter uns. Ich danke Ihnen für das, was Aufrichtiges in Ihren Worten war – es thut mir nicht mehr weh. Aber für die langen schweren Leidensjahre, die ich Ihnen jetzt von Herzen verzeihe, sind Sie mir eine Genugthuung schuldig, eine Entschädigung, die, wenn Sie sie mir gewähren, Sie selbst Ihrem Ziele näher bringt –“
Weit vorgebeugt, ihm mit erwartungsvollen Blicken die Worte vom Munde holend, saß sie da.
„Geben Sie mir Hedwig!“ fuhr er tief bewegt fort. „Ich glaube hoffen zu dürfen, daß ihr Herz an mir hängt – vielleicht haben Sie das gewußt, vielleicht nicht, es kommt auch nichts darauf an. Was mir dies Mädchen ist, ich kann es nicht ausdrücken. Alles Glück, das ich je erhoffte, erwarte ich jetzt von ihr – alles, was rein und schön und innig ist, verkörpert sich mir in Hedwig. Wollen Sie uns glücklich machen?“
Ein Schatten gekränkter Eitelkeit lag auf Lolas Zügen; sie preßte die Lippen zusammen und sah eine Weile vor sich hin. Doch sie fühlte, daß das Gute und das Nützliche hier zusammenfiel; es war leicht, das Nothwendige mit Liebenswürdigkeit zu thun. Sie stand auf, und mit sonnigem Lächeln reichte sie Helmuth die Hand.
„Ich freue mich, daß ich eine Gelegenheit finde, wieder gut zu machen, was ich mit oder ohne Absicht an Ihnen verbrach,“ sagte sie mit einer Freundlichkeit, der eine kokette Schelmerei beigemischt war. „Zugleich fühle ich, wie seltsam es ist, daß mein allzeit hilfsbereiter Freund selbst in dem Augenblick, da er sich von mir abwendet, mich in meinem Wünschen und Wollen unterstützt. Geständniß gegen Geständniß – und ein bißchen Rachegefühl müssen Sie mir dabei noch gönnen – vor sechs Wochen habe ich Konrad Marboth mein Wort gegeben.“
Leicht kopfschüttelnd sah er sie an. „So hätten Sie, als Sie mich herbeiriefen, absichtlich die falsche Voraussetzung in mir verstärkt, ich solle Hedwig in meinem Interesse überreden –“
Lola lachte. „Keine Bitterkeit, mein Freund! Sie werden glücklich werden, vielleicht glücklicher als ich – lassen Sie das Vergangene vergangen sein! Haben Sie schon mit Hedwig gesprochen?“
„Noch nicht; sie hat sich geflüchtet, in ihr Zimmer eingeschlossen.“
„Kommen Sie!“
Sie ging ihm voran und klopfte an Hedwigs Zimmer.
„Mach’ auf, Hedwig, ich bin es, Deine Mama!“
Der ungewohnt weiche Ton der Stimme Veranlaßte Hedwig, die Thür zu offnen. Vor ihr stand die Mutter, die Augen freundlich auf sie gerichtet. Und ein anderer tauchte dahinter auf und drang ins Zimmer und zog das scheu zurückweichende Mädchen in seine Arme.
„Hedwig – Geliebte!“
Sie wehrte sich nicht mehr. Stumm und selig duldete sie seine Liebkosungen, während die Mutter sich still zurückzog.
Als Lola den Salon betrat, wand sich Resi aus Marboths Armen und warf sich lachend und weinend an ihre Brust.
„Mama – Mama – denk’ nur, ich bin verlobt! Ist das nicht – nicht köstlich?“
Und Lola lachte und weinte mit ihrem Kinde.
Blätter und Blüthen.
Max von Forckenbeck †. (Zu dem Bildniß S. 42l.) Der Oberbürgermeister der deutschen Reichshauptstadt Max von Forckenbeck ist am 26. Mai zu Berlin gestorben. Mit ihm ist ein Mann dahingegangen, der in der Geschichte des preußischen Staats wie des Deutschen Reichs wiederholt eine hervorragende Rolle zu spielen berufen war, den insbesondere die Stadt Berlin dauernd als einen ihrer vornehmsten Förderer in dankbarem Gedächtniß behalten wird. Vierzehn Jahre hat er an der Spitze der ersten Stadt im Reiche gestanden, und wie unter seiner Verwaltung dieses Gemeinwesen emporblühte, wie es unter seiner sicheren Leitung alle Errungenschaften der Neuzeit sich zu eigen machte, wie sorgsam es seine Pflichten als Millionenstadt und als Sitz der Reichsgewalten erfüllte, das haben die Zeitgenossen bewundernd miterlebt. Man mag sich einen Begriff machen von der Größe der Last, welche auf den Schultern dieses Mannes ruhte, wenn man bedenkt, daß während seiner Amtsthätigkeit die Bevölkerung von Berlin sich um eine halbe Million vermehrte!
In der Politik ist er in den letzten Jahren wenig mehr hervorgetreten. Am bedeutsamsten war auf diesem Felde wohl jene schwierige und verantwortnngsvolle Aufgabe, als er in der preußischen Konfliktszeit die ablehnenden Beschlüsse der Budgetkommission gegenüber den militärischen Forderungen der Regierung zu vertreten hatte. Stets aber hat er sich als einen Mann erwiesen, der die in ehrlichem Ringen gewonnene Ueberzeugung mit mannhaftem Muthe verfocht, immer nur das eine Ziel im Auge, dem Ganzen zu dienen. Und solch ein Charakter wird stets über den Parteien stehen. So war denn auch die Theilnahme eine weitverbreitete, als der Einundsiebzigjährige so jäh aus dem Leben abberufen wurde, und sein Andenken wird in Ehren bleiben im deutschen Vaterland noch lange Zeit!
Seehunde im Hagenbeckschen Thierpark zu Hamburg. (Zu dem Bilde S. 429.) Der Seehund gehört zu den stehenden Gästen in unseren Thiergärten. Hagenbeck in Hamburg, der diese Gärten mit einem großen Theile ihrer Bewohner versieht, unterhält deshalb seit einer Reihe von Jahren eine ständige Jagd anf Seehunde. In besonderen Wasserbecken werden die oft mit Lebensgefahr für die Jäger gefangenen Thiere nach Hambnrg gebracht und dort sofort in verdeckten Wagen, zehn bis zwölf Stück auf einmal, nach dem am Neuen Pferdemarkt gelegenen Thierpark übergeführt, wo ihnen ein geräumiger Teich zur Verfügung steht. Unsere Abbildung vergegenwärtigt uns diesen Teich mit seinen merkwürdigen Insassen, deren er im Augenblick der photographischen Aufnahme nicht weniger als fünfundvierzig beherbergte.
Man kann die Seehunde am besten beobachten da, wo sie mit ihrem gefährlichsten Feinde, dem Menschen, noch so gut wie gar nicht in Berührnng gekommen sind, an entlegenen Küsten, auf einsamen fernen Inseln, die der Seehundjäger noch nicht zum Jagdplatz erkoren hat; oder aber da, wo der Mensch sie hegt und schützt. Die Seehunde bringen den Tag am liebsten auf dem Lande zu, schlafend und sich sonnend, das vollendetste Bild der Faulheit. Jede Störung ihrer bequemen Lage ist ihnen höchst verhaßt: mit Wonne dehnen und recken sie sich auf ihrem Lager, das sie in mühsamem unbehilflichen Klettern und Kriechen erreicht haben, und bieten bald den Rücken, bald die Seiten, bald den Unterleib den freundlichen Strahlen der Sonne dar, kneifen die Augen zu, gähnen und zeigen sich überhaupt mehr toten Fleischmassen als lebenden Geschöpfen gleich. Nur die regelmäßig sich öffnenden und schließenden Nasenlöcher geben Kunde von ihrem Leben. Insbesondere die alten Seehunde erscheinen auf dem Lande unglaublich träge, während sich die Jungen lebhafter und spiellustiger gebärden. Ganz anders im Wasser! Hier ist, das merkt man sogleich, ihre eigentliche Heimath. Sie schwimmen und tauchen mit größter Meisterschaft. Es gilt ihnen gleich, ob ihr Leib mit der Oberseite nach oben oder nach unten liegt, sie bewegen sich sogar nach Brehms eigenen Beobachtungen rückwärts; jede Wendung und Drehung führen sie mit erstaunlicher Gewandtheit aus. Mit der Schnelligkeit eines Raubfisches schießen sie durch das Wasser, wälzen sich blitzschnell um sich selbst herum, sind auch imstande, solange es ihnen beliebt, auf einer und derselben Stelle zu verweilen – kurz, ein vollkommen entgegengesetztes Bild.
Kaiserswerth. (Mit Abbildung S. 451.) Das „Amen des Rheins“ hat man das Siebengebirge schon genannt. Es ist gleichsam der großartige Schlußaccord eines feierlichen Hymnus, in welchem der Komponist noch einmal alle Kraft zusammennimmt und die ganze Tiefe seiner Empfindung ausströmt. Wer dann über Bonn hinaus den Rhein zu Thal fährt, muß sich [451] mit bescheideneren einförmigeren Reizen begnügen. Und doch fehlt es auch hier nicht an Stätten, die des Beschauens und Bewunderns werth sind. Menschenkunst und Menschengeschichte haben sie bedeutsam gemacht, und der gewaltige Strom verleiht auch ihrem Bilde immer einen Zug des Machtvollen und Großartigen. Da tauchen uber die endlose Ebene die Riesenthürme des Kölner Domes empor und bald begrüßen wir sie selbst, die volkreiche, geschäftige Stadt mit ihrer eindrucksvollen Silhouette. Am freundlichen Düsseldorf geht es vorüber, und jetzt stoßen wir auch auf das liebliche Bildchen, das unser Künstler festgehalten hat.
Es ist Kaiserswerth, die uralte Siedlung, deren Geschichte auf beinahe zwölfhundert Jahre zurückreicht. Einst lag dort eine Insel im Strome. Der heilige Suitbert kam ins Land, das Christenthum zu predigen, und um das Jahr 710 soll er auf der Insel ein Kloster gegründet haben, bei dem sich bald eine Stadt entwickelte. Eine kaiserliche Pfalz kam hinzu, der jene gewaltthätige Entführung des jungen Königs Heinrich IV. durch die Mannen des Erzbischofs Anno von Köln in den Maitagen des Jahres 1062 eine abenteuerliche Berühmtheit verliehen hat. Kaiser Rothbart errichtete später auf der Stelle des alten Palastes einen Neubau; aber auch er ist dem Sturme der Zeiten zum Opfer gefallen, kümmerliche Reste nur erinnern noch an den uralten Kaisersitz. Noch heute aber überragen ihn die Thürme der uralten Stiftskirche, eines schönen Bauwerks aus dem Ende des 12. Jahrhunderts, eines jener vorzüglichen Denkmale des romanischen Stils, deren es den Rhein entlang so viele giebt.
Kaiserswerth ist heute keine Insel mehr. Bei einer Belagerung durch den Grafen Adolf V. von Berg im Jahre 1214 wurde der Rheinarm, welcher die Stadt von dem Festland trennte, durch einen Damm abgeschnitten, und seitdem ist die „Insel des heiligen Suitbert“ trockenen Fußes zu erreichen.
Vor dem Revolutionstribunal. (Zu dem Bilde S. 440 u. 441.) Das Revolutionstribunal, einen der furchtbarsten Gerichtshöfe, von denen die Geschichte aller Zeiten Kunde giebt, sehen wir auf dem Bilde von Cain in voller Thätigkeit. Auf Robespierres Antrag war dieses Tribunal am 11. März 1793 eingesetzt worden, doch erst nach dem Sturze der Gironde im September 1793 erhielt es seinen Namen und seine vollständige Einrichtung. Es galt die schnellste Justiz, denn ihre Opfer waren ja unzählig; deshalb gab es keine Vertheidigung, kein Zeugenverhör – der Ankläger sprach und die Richter fällten das Urtheil. Nachdem das Gesetz über die Verdächtigen erlassen worden war, das an die schlimmsten Zeiten der römischen Kaiserwirthschaft erinnerte, gab es für die Verhaftungen und Anklagen keine Schranken mehr, denn wer war den Schreckensmännern nicht verdächtig? Dazu genügte vornehme Herkunft, eine bedenkliche Miene, ein unbedachtes Wort – und der Privatrache war der weiteste Spielraum gelassen. Bis zu Robespierres Sturz am 27. Juli 1794 soll das Tribunal 2774 Personen unter die Guillotine geliefert haben – und auch dann noch hörte seine Thätigkeit nicht auf. Erst am 23. Mai 1795 wurde es durch eine Militärkommission ersetzt, welche meistens über soldatische Verbrechen abzuurtheilen hatte.
Das Bild von Cain versetzt uns mitten in eine Sitzung des Tribunals. Am meisten wird unser Blick durch die Gruppe der Angeklagten gefesselt, hinter welcher, auf ihre Gewehre gestützt, die Soldatenwache steht. Und aus jener Gruppe selbst trat besonders die junge schöne Aristokratin hervor, die mit stolzer und fester Haltung den Richtern Rede steht. Aus der erregten Zuschauermenge heraus ballt man die Fäuste gegen sie. Daß es sich aber nicht um Besiegte im Kampfe der sich gegenseitig zerfleischenden und aufs Schaffot schickenden Republikaner handelt, das beweist vor allem der auf dem ersten Stuhle sitzende Angeklagte, offenbar ein Marquis aus der Zeit der alten Regierung, der nach Kleidung und Haltung noch dem Hofe der Marie Antoinette anzugehören scheint. Die dritte in der Gruppe ist gewiß die Mutter oder eine ältere Verwandte des schönen jungen Mädchens. Das Alter schützte nicht vor dem Beile der Guillotine: einmal wurde sogar ein 97jähriger Greis hingerichtet. Den Angeklagten steht der öffentliche Ankläger gegenüber, der mit fanatischer Beredsamkeit seines Amtes waltet. Es ist das jedenfalls Fouquier-Tinville; denn solange das
Revolutionstribunal in Thätigkeit blieb, hat dieser grausame Schreckensmann die Befehle der Ausschüsse ausgeführt und Tausende der Guillotine uberliefert. Juristischen Scharfsinns bedurfte dieser Ankläger nicht, es genügte die Frakturschrift, mit der sein blutdürstiger Sinn seine Opfer zeichnete. Doch er entging seinem Schicksal nicht: zehn Monate nach Robespierres Tode wurde auch er hingerichtet. Mit düsterem Fanatismus blicken die Richter auf ihre Opfer hin, von deren Schuld sie von Hause aus überzeugt sind, nur über das Benehmen derselben flüstern sie sich Bemerkungen zu. Ueber dem ganzen Bilde schwebt der dumpfe Druck jener Schreckenszeit, welche den ersten schönen Aufschwung der Revolution in Blut und Greueln erstickte. †
Der letzte Kriegszug des Hauptmanns von Gravenreuth. (Mit Abbildung S. 445.) In dem weiten, wohlgepflegten Parke, welcher das Gouvernementsgebäude von Kamerun umgiebt und der sich auf der steil zum Kamerunfluß abfallenden Josplatte ausbreitet, ward ein junger Held zur ewigen Ruhe eingebettet, dessen Name für immer mit der Afrikaforschung und Afrikakolonisation eng verknüpft sein wird. Es ist Hauptmann Freiherr von Gravenreuth, der am 4. November vorigen Jahres so jäh aus seiner vielversprechenden Laufbahn herausgerissen ward.
Karl Freiherr von Gravenreuth war am 12. Dezember 1858 als Sohn eines hohen bayerischen Beamten geboren. Am 30. Juni 1877 trat er in das 3. bayerische Infanterieregiment ein, wurde auch am 7. Mai 1879 zum Sekondelieutenant in demselben Regiment befördert, ließ sich aber im Februar 1885 zu den Offizieren der Reserve versetzen, um sich einer Expedition nach dem Innern Afrikas anzuschließen. Er trat zunächst in den Dienst der Ostafrikanischen Gesellschaft, dann zu Beginn des Jahres 1889 in den des Reichskommissars und wurde gleichzeitig zum Premierlieutenant befördert. Nachdem er eine Zeitlang die Vertretung des Reichskommissars in Berlin geführt hatte, begab er sich wieder nach Ostafrika zurück, wo er an der Niederwerfung des Araberaufstandes wesentlichen Antheil nahm, z. B. bei der Erstürmung des Lagers von Buschiri bei Bagamoyo am 8. Mai, sowie bei der Einnahme von Saadani am 6. Juni 1889. Und noch oft fand er in diesem und dem folgenden Jahre Gelegenheit, sich auszuueichnen, so lieferte er im Oktober während des Zuges des Majors Wißmann nach Mpwapwa den Mafiti das Gefecht bei Jombo, das als seine glänzendste Waffenthat bezeichnet wird. Aber auch außerdem hat Gravenreuth in Hunderten von Fällen sein Leben mit einer Waghalsigkeit eingesetzt, die ihm bei der Küstenbevölkerung den Namen „simba mrima“ (der Löwe der Küste) verschaffte. Es lebte in ihm etwas von der Berserkerwuth der alten Germanen; er war, was man einen „Draufgänger“ nennt, dabei von großer körperlicher Leistungsfähigkeit und unermüdlich.
Im April 1890 aber sah doch auch er nach so vielen Strapazen sich genöthigt, einen längeren Urlaub anzutreten. Ueber ein Jahr blieb er in Europa, mannigfach ausgezeichnet, unter anderem auch durch die Beförderung zum Hauptmann, welche ihm im September 1890 zutheil wurde. Dann aber, nachdem er einige Zeit im Auswärtigen Amte gearbeitet hatte, wurde er mit der Leitung einer Forschungsexpedition im Hinterland von Kamerun betraut und reiste am 5. Juli 1891 an seinen Bestimmungsort ab.
Im Monat Oktober unternahm er mit den in Kamerun angeworbenen Leuten, unterstützt durch die Marine, einen Zug gegen den unweit des kaiserlichen Gouvernements ansässigen Abostamm, um diesen für seine [452] Feindseligkeiten zu züchtigen. Eine aus den Besatzungen des Kreuzers „Habicht“ und des Kanonenbootes „Hyäne“ gebildete Landungsabtheilung nebst drei Compagnien angeworbener Neger unter Premierlieutenant von Stetten, Dr. Richter und Lieutenant von Volkamer bildeten die zum Kampfe gegen die Schwarzen bestimmte Streitmacht. Auf mehreren Booten fuhr dieselbe den Abofluß hinauf.
Die Matrosen des „Habicht“ und die Compagnie Volkamer unter Kapitänlieutenant Krause griffen das stark verpallisadierte Miang (Dorf) der Abos von der Ostseite an, Gravenreuth mit dem Landungscorps der „Hyäne“ und den beiden Compagnien Stetten und Richter stieß gegen die Südseite vor und zerstörte es mittels Feuer.
Am 4. November begann dann der zweite gegen den eigentlichen Herd des Aufstandes, d. h. gegen Buea gerichtete Theil der Unternehmung. Auf schmalen und vielfach gewundenen Waldwegen gelangte man in die Nähe des verschanzten feindlichen Lagers bei dem Orte Fenz. Gravenreuth ließ sofort die Fahne schwenken und wollte nochmals friedlich verhandeln, auf ungefähr 150 Meter Entfernung aber gaben die Feinde die erste Salve ab. Da ließ Gravenreuth das Maximegeschütz, welches die Expedition mit sich führte, kommen und rief Lieutenant von Stetten an dasselbe vor, da es grundsätzlich nur von deutscher Hand bedient werden sollte. Der Mechanismus war indessen in Unordnung gerathen, und trotz aller Versuche wollte kein Schuß losgehen. Die Schutztruppe, welche das Geschütz gewissermaßen als Fetisch betrachtet hatte, war sehr niedergeschlagen, als es im kritischen Augenblick versagte, und zudem erhielten während der vergeblichen Bemühungen Stetten einen Prellschuß und Dr. Richter drei Schüsse. Die fast ganz zusammengeschossene Maximekanone wurde endlich in einen Busch getragen, um dort weiterer Behandlung unterzogen zu werden.
In diesem Augenblick stürmte Gravenreuth trotz des heftigen Feuers der Feinde vor. Aber nur drei Schwarze folgten ihm, alle anderen blieben zurück. Einer der Tapferen der Schutztruppe wurde sofort in den Kopf getroffen und blieb tot, und auch die anderen zwei erhielten Schüsse. Da das Maximegeschütz durchaus nicht gefechtstüchtig zu machen war, verließ es Lieutenant Stetten, eilte zu seiner Compagnie und griff den Feind von der Flanke an, ein Manöver, das durch einen Sumpf erschwert wurde. Unterdessen ging Gravenreuth nochmals mit nur zwölf Schwarzen vor. Fünfzehn Schritte vor der Boma, der feindlichen Verschanzung, erhielt der Muthige drei Schüsse ins Herz. Er brach tot zusammen, ohne noch ein Wort sprechen zu können.
Nach dem Tode Gravenreuths übernahm Stetten das Kommando und führte das Gefecht glücklich zu Ende. Die Toten, im ganzen vier, brachte man in das nahe gelegene Missionshaus; Wachen wurden aufgestellt, und die Truppe richtete sich für die Nacht ein. Die Expedition selbst aber hatte ihren Zweck erreicht, wenn auch ihr Abschluß ein überaus schmerzlicher war.[5]
- ↑ Zannen und pagen = keifen und schelten.
- ↑ Ein Flächenmaß, nach welchem in früheren Zeiten in den Alpen gerechnet wurde; ein „Gras“ d. i. soviel Feld oder Weide, als ein Stück Hornvieh das Jahr oder den Sommer über zur Nahrung braucht.
- ↑ Die Bergwölfe pflegten mit Einbruch des schweren Winters in das flache Land auszuwandern, um erst mit dem Frühling wieder in das Hochgebirg zurückzukehren.
- ↑ Totenwurm.
- ↑ Wie wir hören, beabsichtigt eine Anzahl Freunde Gravenreuths und Theilnehmer an den Gefechten bei Buea, ihm auf seinem Grabe ein Denkmal zu errichten.
Buchstabenräthsel.
Nur stufenweise führe ich
Zu einer höh’ren Stellung dich,
Ist mir ein i zu eigen; –
Mit t jedoch an seiner Statt
Kann jedes Buch und Zeitungsblatt
Mich tausendfach dir zeigen.
Charade.
Gar manche Menschen, leider, sind,
Was meine Erste dir verkündigt,
Und haben oft an dem, der blind
Sich ihnen anvertraut, gesündigt.
Von meiner Zweit’ und Dritten kann
Man die Geschichte melden hören,
Wie wahnbefangen einst ein Mann
Das Volk bewog, sich zu empören.
An frevelhaftem Werke schafft
Das Ganze heimlich in Verstecken,
Und seiner harrt des Kerkers Haft,
Gelingt’s, sein Treiben zu entdecken.
Oscar Leede.
Räthsel.
Mich bringt hervor der Erde Schoß,
Verspeist zu werden ist mein Los,
Nimmst du mir den Artikel fort
Und fügst zum Schluß ihn meinem Wort,
So leg’ es an – beut gute Zeit
Dir hierzu die Gelegenheit –,
Damit, wenn dich die Noth bedrückt
Es dich derselben rasch entrückt.
Diagonalarithmogriph.
1 2 3 4 Körpertheil,
1 4 7 2 in Früchten,
1 3 2 9 ein junger Mensch,
1 8 4 4 Nutzpflanze.
4 3 5 4 2 Metall,
3 5 6 7 Fluß (Bayern),
2 3 4 ist niemals,
3 8 8 Fluß (Elsaß),
2 6 5 4 Körpertheil,
9 6 2 10 4 italienischer Dichter.
Inhalt: Band 1. Aus dem Leben meiner alten Freundin. Mit Illustrationen von W. Claudius. – Band 2. Lumpenmüllers Lieschen. Mit Illustr. von R. Wehle. – Band 3. Kloster Wendhusen. – Ursula. Mit Illustr. von A. Zick. – Band 4. Ein armes Mädchen. – Das Fräulein Pathe. Mit Illustr. von A. Mandlick. – Band 5. Trudchens Heirath. – Im Banne der Musen. Mit Illustr. von E. Ravel. – Band 6. Die Andere. – Unverstanden. Mit Illustr. von W. Claudius. – Band 7. Herzenskrisen. Mit Illustr. von C. Zopf. – Band 8. Lore von Tollen. Mit Illustr. von M. Flashar. – Band 9. Eine unbedeutende Frau. Mit Illustr. von R. Gutschmidt. – Band 10. Unter der Linde. (Am Abgrund. Unsere Hausglocke. Unser Männe. Jascha. In der Webergasse. Großmütterchen. Nachbars Paul. Aus meinen vier Pfählen: 1. Dorotheens Bild. 2. Onkel Leos Verlobungsring. 3. Flickdorchen. 4. Großvaters Stammbuch. Auf schwankem Boden.) Mit Illustr. von A. Zick, C. Koch, R. Wehle, C. Zopf und W. Claudius.
Die Lieferungs-Ausgabe erscheint vollständig in 75 Lieferungen zum Preise von je 40 Pfennig. Bis jetzt erschienen: Lieferung 1–39.
Die meisten Buchhandlungen nehmen jederzeit Bestellungen auf die neue illustrierte Ausgabe von W. Heimburg’s Schriften entgegen und senden auf Verlangen den ersten Band oder die erste Lieferung zur Ansicht.