Die Gartenlaube (1889)/Heft 9
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No. 9. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Lore von Tollen. |
Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten. | |
(Fortsetzung.) | Roman von W. Heimburg. |
Lore,“ begann die Majorin nach einer langen Pause, „bleib
heute noch hier; ich werde ihm sagen, du seist elend – Du
bist es auch, der Schrecken um Papa hat dich so mitgenommen.
Du glühst ja, Du hast gewiß Fieber.“
Aber Lore drängte die Hände der Mutter zurück und ihre Blicke flogen nach der Thür, als müsse sie dort hinaus laufen, um sich irgendwo zu verstecken. Aber sie besaß keinen Platz mehr, der ihr allein und zu eigen gehörte, ihr kleines Stübchen hatte Käthe eingenommen, als sie noch kaum das väterliche Haus verlassen; sie empfand das wie einen Diebstahl, wie eine Pietätlosigkeit sondergleichen, denn alle die Träume von Glück und Seligkeit hatte sie dort geträumt, die einfachen vier Wände hatten ihren Jubel, ihre Thränen sehen dürfen. Sie würde auch jetzt vielleicht wieder Ruhe gefunden haben, wenn sie dort hätte hinaufflüchten, den Riegel hinter sich zuschieben können, um ihre Verzweiflung auszuweinen, ungesehen, unbelauscht! Sie stand trotzdem auf. In den Garten? Aber der lag unter tiefer Schneedecke. Sie kam zurück und setzte sich wieder. – Die Majorin raffte die Papiere zusammen, um sie in den Schrank zu legen. Sie war beleidigt durch Lores liebloses Wesen; aus ihren rothgeweinten Augen sprangen wieder große helle Tropfen. Und dazu die Sorgen, diese drückenden Sorgen! – Wenn Rudolf doch käme, wenn er ihr sagen könnte, ob Becker ihm für die nächste Zeit einen Zuschuß zahlen wollte! Was sollte der arme Kerl anfangen, wenn Becker nicht – –. Sie konnte es nicht mit den paar Groschen Witwengeld.
Unten klang die Schelle, Rudolfs Schritte kamen die Treppe herauf, und gleich darauf trat er ein. Er sah erregt aus, warf den nassen Ueberzieher auf einen Stuhl und die Mütze auf den Tisch.
„So!“ sagte er, „soweit wären wir! Dein Herr Gemahl, Lore, bot sich an, mir in Amerika eine Stelle auf dem Bureau seines früheren Compagnons zu verschaffen; und da er heute abend noch Geschäfte halber nach drüben reist, so schlug er mir vor, gleich mit zu kommen – wegen der Reisegesellschaft vermuthlich.“
Lore wandte das Haupt, und ihre
[134] schönen finstern Augen sahen verständnißlos zu ihm hinüber. Sie glaubte, er rede im Weinrausch.
„In allem Ernst!“ betheuerte der Lieutenant, „Dein Mann packte eben den Handkoffer für eine kleine Reise nach New-York; ich habe mich vor dem Schwall seiner zornigen Flüche rückwärts konzentrirt. Jedenfalls hat er seiner Mutter, die ihn bewegen wollte, zu bleiben, fast den Kopf abgerissen.“
„Wie kam es?“ fragte Lore, und ihr Kopf sank an die Lehne des Sessels.
„Er erhielt eine Depesche, weiter weiß ich nichts. Ich verhandelte gerade mit ihm über eine Zulage, die er mir natürlich nur leihen sollte – da fiel das Kabeltelegramm hinein und er lief Hals über Kopf zur Frau Elfriede hinunter. Wahrscheinlich doch geschäftliche Interessen –.“
„Und ich bleibe hier?“ flüsterte Lore.
„Ja, es war wenigstens absolut nicht die Rede von Deiner Begleitung. Ich soll Dir nur sagen, daß er in einer Viertelstunde kommt, um Abschied zu nehmen.“
Frau von Tollen hatte sprachlos dabei gesessen. „Giebt er Dir das Geld?“ fragte sie jetzt.
Der Lieutenant zuckte die Schultern. „Er läßt gar nicht mit sich reden, er ist furchtbar gereizt und verstimmt; schließlich antwortete er mir, warum es denn Viktor nicht thue?“ – Der junge Offizier lachte kurz auf. „Es ist eine reizende Situation. Da höre ich übrigens den Schlitten, er kommt schon.“
Vor dem Hause verstummte das Geläut, die Thürglocke erscholl und im Flur stampfte jemand den Schnee von den Stiefeln. Dann knarrte ein schwerer Tritt die Stiege herauf.
Lore war aufgestanden und hatte sich hinter dem Ofen auf einen Stuhl gekauert; sie saß da mit emporgezogenen Schultern. Frau von Tollen ging dem Schwiegersohn bis zur Thür entgegen: „Guten Tag, lieber Becker; ich höre, Sie verreisen so eilig?“
„Es geht unsereinem wie dem Soldaten,“ erwiderte er, „wir müssen immer auf dem Posten sein. Wo ist meine Frau?“
Lore neigte sich vor. „Hier!“ sagte sie, ohne ihn anzusehen.
„Was sagst Du zu der Ueberraschung?“ fragte er, und jetzt blickte er an ihr vorüber. „Nette Hetzerei! Morgen früh neun Uhr geht zum Glück erst der Dampfer. Aber so ist’s, wenn man Pläne macht! Ich dachte, wir würden morgen zusammen abfahren, jetzt –. Meine Mutter wird Dich heute abend abholen,“ wandte er sich zu ihr, „und Dich, wenn ich zurückkomme, nach Hamburg begleiten. Wir reisen von dort aus nach Italien; März, April sind noch die besten Monate an der Riviera. Es thut mir leid, daß ich jetzt ohne Dich fortgehen muß, aber die Geschäfte drüben sind derart, daß ich Dich beständig allein lassen müßte; da möchtest Du Grillen fangen.“
Dann ging er zwischen Tisch und Ofen zu Lore hinüber, und indem er sie unter das Kinn faßte, hob er ihr Gesicht in die Höhe.
Frau von Tollen winkte dem Sohne, und beide gingen hinaus.
Die junge Frau rührte sich nicht, sie war nur noch blasser geworden, und die Augen hielt sie halb geschlossen, die Lippen fest auf einander gepreßt.
„Es ist eine verdammte Geschichte, Lore,“ sagte er. „He? Als wäre es verhext mit uns. Und zu allem behandelst Du einen noch niederträchtig schlecht, bei Gott, unverdient, Lore! Ich bitte Dich dringend, mein Schatz, laß diesen hochadligen Zug um Deinen Mund weg, hörst Du? Ich möchte Dir bei dieser Gelegenheit ein für allemal sagen, daß ich mir ein anderes Benehmen ausbitte; ich will freundlich, ich will liebevoll behandelt werden!“
„Ich habe Ihnen bei unserer Verlobung der Wahrheit gemäß erklärt, daß ich Sie nicht liebe,“ sagte sie laut und fest.
„Allerdings hattest Du die liebenswürdige Ehrlichkeit, aber Du fügtest hinzu, Du glaubtest mir eine pflichtgetreue Frau sein zu können.“
„Ja – damals! Ich wollte es auch,“ flüsterte sie.
Er verstand es nicht. „Was sagst Du?“
Sie antwortete nicht.
„Nun, kurz und gut,“ fuhr er fort, in einen polternden Ton übergehend, „ich hoffe, Dich in anderer Verfassung wiederzufinden. Ich bin nicht der Mann, der sich von seiner Frau auf der Nase herumtanzen läßt, absolut nicht, mein Kind. Wenn Du geglaubt hast, mir eine Gnade zu erweisen, indem Du mir Deine aristokratische Hand hinunter reichtest, so –“
Er brach ab, sie hatte sich erhoben und stand da an dem alten Ofen, hoch aufgerichtet, entschlossen, in ihren Augen glühte es wie Kampflust.
„Es war keine Gnade von mir,“ sagte sie ruhig, „es war einfach ein Handel, den Sie mit meinen Angehörigen eingegangen sind, und ich – ich ließ mich verschachern, um meinem Vater einen herben Kummer zu ersparen. Ich bedachte nicht, daß es so schwer ist, sich zu opfern. Ich wollte Ihnen dies bereits am Hochzeitsabend in Berlin sagen, nur etwas anders. Da hatte ich noch den Willen, neben Ihnen zu leben, Ihrem Hause vorzustehen; ich wollte Sie bitten, mir Gelegenheit zu geben und Frist, das Vertrauen, das Sie von mir forderten, gewinnen zu können, nach und nach. – Ich bin keine Natur, die leicht vertraut und glaubt. Nun ist mein Vater todt und ich finde nicht mehr die Kraft, das, was ich in der Verzweiflung gelobte, zu tragen ein ganzes Leben hindurch, denn ich fühle es, ich werde nie ein Herz zu Ihnen fassen, werde Ihnen nie vertrauen können, von Liebe gar nicht zu reden. – Und darum – geben Sie mich frei!“
Einen Augenblick blieb es still in dem Gemach, nachdem ihre Stimme verklungen war. Seine kleinen runden Augen hatten sich seltsam vergrößert. Nun schlug er eine helle Lache auf.
„Ich dachte allerdings nicht, daß ich Dich so zum Scherzen aufgelegt finden würde,“ sagte er endlich, noch immer mit kleinen Lachanfällen kämpfend. „Also, Du wirst mich nie lieben können? Und das wolltest Du mir schon in Berlin sagen? – Und wen liebst Du denn, wem vertraust Du? Dem andern – dem – dem –? Ihr seid doch klassisch, Ihr Frauen!“
Er wischte sich die Thränen aus den Augen, die das Lachen hinein getrieben, nahm seine Uhr heraus, that einen Blick darauf, und in einen ernsthaften, fast geschäftsmäßigen Ton übergehend fuhr er fort: „Du wirst von heute ab bei meiner Mutter wohnen. Damit Du kein Heimweh bekommst, stelle ich Dir frei, Deine Angehörigen so oft einzuladen, wie es Dir beliebt. Ich habe auch nichts dagegen, daß Du abends beim Mondschein am Fenster seufzest, so viel Du Lust hast. Eifersüchtig bin ich nicht, trotz des interessanten ‚Gegenüber‘! Und wenn Du Appetit auf irgend einen lyrischen Dichter verspürst, der zufällig nicht in Deiner Bibliothek vorhanden ist, so laß ihn Dir vom Buchhändler kommen. Kurzum, amüsire Dich auf Deine Art während meiner Abwesenheit, aber – scheiden lassen oder, wie Du Dich so zart ausdrückst, Dir die Freiheit zurückgeben nach vier Tagen des Verheirathetseins –“ und wieder brach er in Lachen aus – „das kannst Du nicht verlangen, Schatz! Aber, es ist niedlich, es ist originell und gäbe einen hübschen Stoff zu einem Lustspiel.“
Er hatte das Lineal des Verstorbenen, das vor ihm auf dem Tische lag, genommen und hieb pfeifend durch die Luft damit. „Ein sehr hübscher Stoff zu einem Lustspiel,“ wiederholte er.
Sie stand noch immer da, den verächtlichen Ausdruck in den großen Augen. „Ich sprach nicht im Scherz,“ sagte sie kühl.
Er hielt inne mit Lachen und sah sie an, und das Blut schoß ihm in das Gesicht. „Ah!“
„Ich bitte Sie allen Ernstes, lassen Sie mich bei meiner Mutter! Es paßt so gut, wenn Sie jetzt reisen, und es wird somit weniger Aufsehen machen, wenn wir uns trennen.“
Er hielt sie plötzlich mit eiserner Faust an der Schulter gepackt und schüttelte sie wie ein schwaches Bäumchen hin und her. Lore starrte in ein von Leidenschaft und Wuth verzerrtes Gesicht, als er sie freiließ. Sie hatte keinen Versuch gemacht, sich zu wehren.
„Warum?“ fragte er heiser, und das Lineal durchschnitt die Luft.
„Ich weiß es nicht,“ stammelte sie fast ohnmächtig, „ich weiß nur das Eine, ich kann nicht mit Ihnen sein – geben Sie mir mein Wort zurück!“
Das Lineal zerbrach mit lautem Krach auf der Tischkante. „Niemals!“ sagte er heiser, „hörst Du – niemals! Und wenn Du und ich daran vergehen sollten!“
Es trat eine lange Pause ein. Die wahnsinnigste Eifersucht packte ihn plötzlich. Sie stand da, so hilflos, sie erschien ihm so schön wie nie in ihrer zornigen Verwirrung. – Wenn er hier bleiben könnte! Es war, als treibe ein Dämon sein Spiel mit ihm – diese verdammte amerikanische Geschichte! Er faßte hastig in seine Tasche, dort steckte die Depesche, die fatale Depesche, er kannte sie auswendig; er hatte längst so etwas gefürchtet:
„Erfahre soeben, daß El. beabsichtigt, Sie in Deutschland aufzusuchen. Kommen Sie und ordnen Angelegenheit sofort. C.“
Er mußte hinüber, es konnte ein Höllenspuk sonst werden, und er durfte Lore nicht mitnehmen, er mußte sie hier lassen. Er murmelte etwas Unverständliches und sah wieder nach der Uhr.
[135] „Na, Lore, nun sei vernünftig,“ sagte er einlenkend. „wir gehören nun einmal zusammen und werden uns einleben. Ich bin ein guter Kerl – wer weiß, ob Du mit dem andern glücklich geworden wärst. Was ist er denn? Was hätte er Dir geboten?“
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen,“ unterbrach sie kühl.
„Na, den Herrn Doktor Ernst Schönberg, zum Donnerwetter! Hol’ ihn dieser und jener!“ polterte er.
„Ich verlange zu wissen, woher Sie erfahren, daß Doktor Schönberg mir nahe stand?“ sagte sie, den Kopf erhebend.
„Hm!“ Er zog langsam eine Brieftasche aus dem Jackett und nahm einen Zettel heraus und in dem sinkenden Tageslichte hielt er ihr das Blättchen, ihren Abschiedsgruß an den Geliebten, unter die Augen. „Eine Verwechslung wie im Lustspiel.“
„Und Sie lasen das, Sie wußten, daß ich ihn liebe, und Sie streckten dennoch die Hand nach mir aus?“ schrie sie verzweifelt und griff nach dem Papier.
„Oho!“ Er wich zurück und legte das Blättchen in sein Portefeuille, ohne in das von dunkler Scham erglühte Antlitz zu sehen. „Das ist werthvoll für künftig,“ sagte er gelassen. „Du weißt nun, woran Du bist, mein Schatz.“
Sie strich sich das Haar aus der feuchten Stirn. „Gut,“ sprach sie wie zu sich selbst, „so komme denn, was kommen muß!“
„Was heißt das?“
Sie zuckte die Schultern „Ich trage allein die Schuld,“ sagte sie dumpf.
„Siehst Du es ein? und siehst Du ein, daß Du kein Recht hast, solchen Blödsinn zu fordern, wie Du vorhin gethan?“
„Ich sehe ein, ich habe keinerlei Rechte.“
„Du gehst in Dein Hans, heute noch?“
„Ja!“
„Und wirst vernünftig?“ Sie antwortete nicht. Er wußte nicht, was er noch fragen sollte, er fürchtete sich vor ihren starren Augen. „Komm her, und gieb mir die Hand!“ sagte er befehlend.
Sie nahm ihr Kleid zusammen und ging an ihm vorüber zum Fenster. „Niemals!“ klang es in sein Ohr.
Niemals! Er verstand sie plötzlich und zuckte leicht die Schultern „Pah! – Weibergrillen!“ Er sah wieder nach der Uhr. Tausend noch einmal, er mußte eilen „Du könntest mich nach der Bahn begleiten,“ bat er, „es sähe doch wenigstens aus, als ob wir beide zusammengehörten.“
Sie hob unmerklich die Schulter und schwieg.
„Adieu!“ sagte er unsicher. „Vertrage Dich gut mit Mama. Verzeih, wenn ich heftig wurde, aber – da soll ein Lamm die Geduld nicht verlieren!“
Sie rührte sich nicht, sie wandte sich erst um, als ein paar Sekunden später die Thür krachend ins Schloß fiel. Dann stand sie auf und lauschte, wie er im Flur noch mit ihrer Mutter sprach; sie konnte nicht verstehen was, aber es klang ruhig und verbindlich.
„In vier Wochen bin ich zurück,“ scholl es jetzt, „trösten Sie unterdeß meine kleine Frau!“
Sie ließ den Arm sinken. „An unzerreißbarer Kette!“ flüsterte sie. „Ein Leben der Lüge, der Verstellung, des Elends!“ Und als der Schlitten fortgeklingelt war, da nahm sie Mantel um und Hut und lief im letzten Grauen des Wintertages hinaus nach dem Kirchhof. – Sie kehrte naß und fröstelnd nach einer Stunde zurück, sie hatte keinen Trost gefunden an dem stummen Grabe.
Rudolf kam just vom Bahnhofe, wohin er den Schwager begleitet hatte. „Ich soll noch einmal grüßen“ sagte er verdrießlich zu Lore.
Frau von Tollen sah ihn fragend an.
Er strich den Schnurrbart. „Essig! Er könnte sich doch nicht zum Bankier für die ganze Familie machen, erklärte er mir.“
„Lore,“ fragte die Majorin, „Du sprachst wohl nicht mit Deinem Mann über Rudolfs Angelegenheit?“
„Ich?“ erwiderte die junge Frau so empört, als habe man ihr eine Beleidigung zugefügt.
Die Majorin senkte den Kopf, der Lieutenant biß sich auf die Lippen. „Na, laß nur, Mama,“ sagte er, „ich muß wieder zum Juden; mag’s denn so lange gehen wie es geht –.“
Lore ging aus dem Zimmer; sie sagte, sie wolle die Lampe holen, kam aber nicht zurück. Als um acht Uhr der Wagen vorfuhr, der sie holen sollte, suchte man im ganzen Hause nach ihr, endlich fand man sie im Garten, in den verschneiten Wegen umhergehend ohne Tuch und Hut, mit Wangen, die wie im Fieber glühten. Und nun sollte sie fort aus dem Vaterhause, wirklich fort!
Mutter und Geschwister hatten sich zu dem einfachen Abendbrot gesetzt in der kleinen Eßstube, während sie sich Hut und Mantel holte. Sie trat dann zu ihnen und ihre Blicke flogen über den Tisch. Für sie war kein Platz mehr. Sie hätte ihr Leben dafür gegeben, hier sich niedersetzen zu dürfen und die Brotscheiben aus der Mutter Hand zu empfangen, wenn alles noch gewesen wäre wie sonst, in Noth und Kummer – und daneben die Hoffnung auf goldene Zeit.
Das kleine Dienstmädchen kam mit rothgeweinten Augen herein und fragte, ob die gnädige Frau noch nicht bereit sei. Der Diener behaupte, die jungen Pferde ständen so schlecht.
„Warum weinen Sie denn?“ fragte Käthe.
„Frau Majorin haben mir eben gekündigt,“ stotterte es.
Die alte Dame sah auf ihren Teller. „Ich kann sie doch nicht behalten,“ murmelte sie.
„Adieu!“ sagte Lore rasch mit fast heiserer Stimme. „Ich komme morgen wieder.“ – Der Lieutenant brachte sie an den Wagen.
Drinnen im Zimmer weinte Frau von Tollen, nur Käthe aß und trank. In ihr glühte und blühte es trotz Eis und Schnee, trotz des frischen Grabes da draußen auf dem Kirchhofe und trotz der Thränen der Mutter. Sie setzte sich, nachdem abgeräumt war, an den Tisch zur Lampe, hielt sich die Ohren zu und las mit glühenden Wangen. „Was liest Du da?“ fragte die Majorin aus alter Gewohnheit.
„Die Frithjofssage, Mama. Doktor Schönberg hat mir das Buch geliehen.“
Frau Elfriede Becker war über die plötzliche Abreise ihres
Sohnes so erregt, daß sie ihr liebes Schwiegertöchterchen nicht selbst
abholen konnte. Sie hatte sich auf eine Chaiselongue gelegt und
Tante Melitta saß neben ihr und half ihr bei den Klagen über
dieses dumme Geschick der armen jungen Leutchen.
Lore kam eben mit ihrem heißen Gesicht über die Schwelle in das wohldurchwärmte, sanfterleuchtete Gemach, in welchem es nach Patchouli und Baldriantropfen duftete; es schien ihr, als müsse sie ersticken, so hämmerte ihr das Blut in den Schläfen.
Frau Becker weinte ein wenig. „Ich habe die Tante Melitta holen lassen, Goldherzchen, damit es Dir nicht zu einsam ist beim Souper,“ klagte sie und reichte der jungen Frau die Hand. „Bitte, liebstes Fräulein von Tollen, sorgen Sie doch, daß es der kleinen Strohwitwe behaglich wird in ihrem netten Heim.“
Lore ging mechanisch hinter Tante Melitta her nach dem oberen Stock. Man hatte ihre Zimmer erleuchtet, die Jungfer war da, um ihr Hut und Mantel abzunehmen, der ganze Apparat einer reichen Häuslichkeit begann um sie zu spielen.
Tante Melitta saß unter einem riesigen Oelgemälde in schwerem Goldrahmen, ein Waldidyll darstellend, auf dem blaßblau und weiß geblümten, von lichten Silberfäden durchzogenen Atlaspolster und schwatzte in ihrer eintönigen Weise.
„Du siehst entsetzlich echauffirt aus, Lorchen, aber gelt, Du hast es doch superb hier oben. Sieh nur diese entzückenden Rokokomöbel, und wie sich der dunkelblaue Sammet reizend macht zu dem hellen Stoff – und wie graziös sind die Portieren aufgenommen! Weint die Mutter noch viel, Lore? – Ach Gott, es ist ja auch hart, und Leo war ein braver Mann, ich kannt’ ihn wie keiner, er war ja mein Bruder –. Das ist recht, Herzchen laß Dir warme Schuhe anziehen. Und sieh nur das Schlafzimmer,“ fuhr sie fort und folgte Lore, „auch ganz wundervoll! Es ist wohl Mode jetzt, daß es so dunkel gehalten wird? Eigenthümlich, dieses Roth – ist es das sogenannte Pompejanische Roth?“
„Kupfer heißt die Farbe,“ erklärte die Zofe, die das vom Tapezierer gehört hatte, und half ihrer Herrin in ein warmes Morgenkleid.
„Friert Dich, Lore?“ erkundigte sich Fräulein Melitta und befühlte die Schnitzerei der aus schwarzem Holze gefertigten, mit Gold inkrustirten Möbel.
„Ja, und ich habe so furchtbares Kopfweh.“
„Du siehst auch so roth aus, die Augen ganz verschwollen. Du solltest Dich bald nach dem Essen legen.“
„Ich will nicht essen, Tante.“
„Aber wir haben ja ein so nettes kleines Souper,“ klagte die alte Dame.
„Ich bitte, Tante, entschuldige mich bei Frau Becker,“ stammelte Lore. Ihr war so schwindlig, daß sie sich an dem geschnitzten Bettpfosten halten mußte.
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[137] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [138] „Herr Gott, Kind, Du bist wahrhaftig krank!“
„Ja, Tante!“ Und sie sah auf einmal seltsam stier in dem Schlafzimmer umher. „Wo bin ich denn?“ flüsterte sie und sank auf den Teppich.
Das gewandte Mädchen hob sie empor und brachte sie zu Bett, während Tante Melitta lamentirend in den unteren Stock lief, um Frau Becker zu benachrichtigen, daß Lore ohnmächtig geworden sei. Der Arzt saß nach einer halben Stunde am Lager der jungen Frau und darum standen Schwiegermutter, Tante und Mutter.
„Ich komme morgen ganz früh wieder,“ sagte der Doktor, nachdem er Eisumschläge auf den Kopf verordnet, „ich kann heute noch nicht entscheiden, ob diese Ohnmacht der Vorbote einer Krankheit gewesen ist. Jedenfalls muß jemand bei der Patientin wachen. Die Alteration, meine Damen, über den Tod des Vaters und an solchem Tage – hoffen wir das Beste!“
Frau von Tollen wachte an dem prächtigen Himmelbette, in dem die junge Frau regungslos lag, die ganze Nacht hindurch.
Tante Melitta, die am andern Morgen kam, fand ihre Schwägerin eingeschlafen, Lore noch immer mit wachen starren Augen. Sie fragte flüsternd nach dem Ergehen, erhielt aber keine Antwort. Sie weckte die Schwägerin und eröffnete ihr im Nebenzimmer, Lore sei entschieden sehr krank, man müsse an ihren Mann telegraphiren. Frau Becker, die ebenfalls eintrat, meinte zögernd, die Depesche werde ihn nicht mehr erreichen.
„Aber man kann es doch versuchen!“ drängte das alte Fräulein, und Frau Becker willigte ein, es zu thun. Sie lief hinunter in ihre Räume, das Taschentuch in der geballten Faust.
„Dieses Geschöpf! Diese Ellen!“ murmelte sie, aber sie schrieb kein Wort an dem Schreibtisch, vor dem sie stand, sie zog aus dessen eben von ihr erschlossenem Schränkchen ein Päckchen zusammengebundener Papiere und nahm ein Bild heraus, eine Photographie, das Porträt einer Frau mit einem Kinde, eng an einander geschmiegt, unverkennbar Mutter und Sohn, so lieblich wie eine Blume neben der Knospe. Das Bildchen hatte wohl früher in einem Rahmen gesessen, man sah es noch an den Rändern, die verletzt waren. Sie betrachtete die Rückseite. „Lieber Papa,“ stand da mit den Krakelfüßen eines Kindes, dem die Hand geführt wurde, „ich gratulire Dir zum Geburtstage und bitte Dich, daß Du meine Mama und mich lieb behalten willst.“
Es war da ein Tropfen hineingefallen, der sicher aus den Augen der Frau stammte, die das Kind beim Schreiben auf dem Schoß gehalten hatte. Frau Becker fühlte nicht das Rührende dieser einfachen Worte, eine dunkle Zornesröthe überflammte ihr Gesicht. – War denn diese Person wahnsinnig mit ihren Ansprüchen? – Gott im Himmel, das hätte eine nette Geschichte werden können, wenn die hier hereinschneite, in diese kleine Stadt, wo jeder wußte, was der andere zu Mittag aß!
Die starke, hastig athmende Frau in dem schwarz- und weißgestreiften Morgenkleide, in das sie dem verstorbenen von Tollen zu Ehren – man konnte ja nicht anders, er gehörte nun mal zur Familie – schwarze Spitzenkrausen geheftet hatte, nahm das Bild und riß es mitten durch. – „So!“ sagte sie und warf es in den Papierkorb. Sie sah dabei so gehässig aus, als bedaure sie nur, mit den Kopien nicht auch die Originale vernichten zu können „Eine Lappalie! Eine Liaison wie alle jungen Männer sie haben! Nur seine Gutmüthigkeit war schuld, daß er – –. Mein Himmel, das kostet wieder einen schönen Groschen, um diesen Mund zu stopfen!“ Und sie schüttelte dabei das rothe ärgerliche Gesicht. „Natürlich!“ rief sie mit ihrer lauten Stimme, die immer kreischender wurde, je liebenswürdiger sie klingen sollte, der Tante Melitta zu, die eben wieder eintrat, um zu fragen, ob die Depesche fort sei. „Ich habe sofort telegraphirt, liebstes Fräulein von Tollen – – ach Gott, wenn es nur nichts Schlimmes wird! Adalbert überlebte diesen Verlust nicht. Sie glauben nicht, Tollenchen, was für ein tiefes Gemüth mein Sohn hat. Er legte sich mit ins Grab, wenn sie stürbe –“
„Aber sprechen Sie doch nicht so etwas Gräßliches!“ wehrte das kleine Fräulein, und sie kauerte sich in einen Lehnstuhl am flammenden Kamin, trocknete sich die Augen und holte aus ihrer Tasche eine Unmasse schwarzer Läppchen und Fleckchen hervor. Sie nähte Trauerkleider für eine Puppenfamilie, und wie sie so dasaß und mit ihren verweinten Augen und dem vergrämten Gesichte, um das die Seitenlöckchen zitterten, sich mit ihrem kindischen Kram beschäftigte und dazwischen aus Herzensgrund seufzte, da sah sie so unendlich komisch aus, daß Käthe, die eben herein kam, um zu fragen, wie es der Schwester gehe, Mühe hatte, nicht zu lächeln.
„Sehr schlecht!“ riefen beide Damen wie aus einem Munde.
„Ach, Lore fiebert immer so leicht,“ sagte Käthe, sah aber doch ein wenig blaß aus ob dieser Nachricht.
„Fieber und Fieber ist ein Unterschied!“ erklärte Tante Melitta.
„Der Sanitätsrath machte ein so ernstes Gesicht,“ sekundirte Frau Becker und begann im Zimmer auf und ab zu wandern; sie war in gereizter Stimmung.
„Ich will hinaufgehen,“ sagte Käthe und verabschiedete sich. Sie kam durch die Wohnzimmer unhörbaren Schrittes bis in die Schlafstube und trat an das untere Ende des Bettes.
Die Kranke hatte jetzt die Augen geschlossen und lag völlig bewußtlos. Sie sah aus wie eine Sterbende, so verzerrt war das Gesicht in Schmerz und Qual. Langsam öffnete sie endlich die Augen und das erschrockene Gesicht Käthes erblickend sagte sie: „Ich bin nicht krank, mir thut nichts weh; nur müde bin ich, entsetzlich müde.“
Die Mutter, die eben wieder hereintrat mit einer Erfrischung für Lore, schickte Käthe fort.
„Geh’ nur heim,“ flüsterte sie, „sieh’, daß Rudolf etwas zu essen vorfindet und hilf ihm den Koffer packen, ich kann hier nicht fort.“ Und sie suchte in ihrem Kleide nach dem Portemonnaie und reichte der Tochter zwei Zehnmarkstücke. „Gieb ihm das, mehr habe ich nicht übrig, und grüße ihn!“
Doktor Schönberg saß in seinem Zimmer am Schreibtische
und arbeitete. Es war noch dasselbe altmodische Möbel, das
schon in seines Vaters Studirstube in der Oetzer Pfarre gestanden
hatte, ein sogenanntes Cylinderbureau aus Mahagoniholz. Drüben
an der Wand hing das Bild des Pastorhauses, uralt, mit moosbewachsenem Schindeldach und nach altsächsischer Bauart die zwei
gekreuzten Pferdeköpfe am Giebel tragend, lugte es unter hohen
knorrigen Eichen hervor, wie ein Idyll von Voß.
Er sah von dem Hefte, das er eben korrigirte, auf. Es lag ihm drückend schwer im Sinn, selbst bei der Arbeit spürte er die dumpfe Gegenwart des Leides, das ihn betroffen. Von dem Aufsatze über Cornelius Nepos flog sein Blick zu dem Bilde empor. Auf jener Schwelle da hatte er als Kind gespielt, und Sonntag abends waren die Mädchen des Dorfes unter den Eichen in langer Reihe, Arm in Arm, hin und her gewandert, die alten Liebeslieder singend, die sie von Eltern und Ureltern ererbt. Er hatte einmal Lore von der Poesie erzählt, die über dem kleinen weltfernen Pfarrhause lag, die in den Eichen rauschte, in seinem schattigen Garten lauschte und um die alten Hünengräber wob auf der „Wische“ hinter dem Dorfe. Ihre Augen hatten dabei so innig in die seinen gesehen.
„Ich führe Dich einmal hin in das kleine Dorf!“ hatte er stillschweigend gelobt, denn damals war noch kein Wort von Liebe zwischen ihnen gesprochen worden; aber sie mochte es wohl aus seinen Mienen gelesen haben, denn sie sagte:
„Ich möchte es sehen das alte Haus, in dem Sie als Kind gespielt haben. Es bleibt immer etwas hängen am Menschen von seiner Heimath.“
Er warf die Feder heftig auf das Schreibzeng, daß ein rother Tintentropfen wie ein Blutfleck auf dem sauber geschriebenen Hefte schimmerte, stand auf und ging vom Schreibtisch weg zum Ofen hinüber, in dem eben die letzte Gluth erlosch, und da strich er sich über die Stirn. Es war ja doch nun einmal so, sie hatte ihn verlassen! – – Wenn er beschreiben sollte, wie ihm die Wochen vergangen seit dem Tage, da er aus M. zurückkehrte und die Mutter ihn mit einem so merkwürdig fragenden Gesicht empfing, wie sie endlich mit zornbebender Stimme hervorbrachte, daß Lore von Tollen die Braut eines andern sei, wie er oben auf seinem Schreibtisch den Brief fand, der ihn in M. vergeblich gesucht hatte und schon seit zwei Tagen seiner hier harrte, und daneben die elegante Verlobungsanzeige – er wäre es nicht im stande gewesen.
Er hatte sich nicht entschließen können, Lores Brief zu öffnen; ungelesen war er in den Ofen gewandert. Was hatte sie ihm auch noch zu sagen? Womit sich zu entschuldigen? – Er wollte es nicht wissen; da lag die gedruckte Bestätigung ihres Treubruches, alles andere war überflüssig. Ja freilich, man mochte ihr zugeredet haben, sie hatte wohl auch gekämpft, aber – sie unterlag doch.
Deutschlands Narrenresidenz.
Wer von Offenburg aus mittelst der Schwarzwaldbahn die herrliche Fahrt über Triberg und die Sommerau nach Donaueschingen und weiter durch den romantischen Hegau mit seinen unvergleichlich schönen Burgruinen Hohenhöwen, Hohenstoffeln, Mägdeberg, Hohenkrähen und Hohentwiel nach den Bodenseegegenden gemacht hat, der hat eine solche Fülle großartiger Eindrücke in sich aufgenommen, so viel kühngeführte, die Wildheit der Natur bewältigende Bauten gesehen und so herrliche landschaftliche Schönheiten genossen, daß die Meinung, die Weiterfahrt nach Sigmaringen könne kaum mehr etwas gleich Interessantes bieten, ziemlich gerechtfertigt erscheint. In der That ist auch die Gegend, durch welche die Bahn nunmehr führt, viel einförmiger und weit weniger anziehend als seither. Nur an dem reizend gelegenen Stockach erfreut sich vielleicht der Blick des Touristen; daß ihn jedoch das freundliche, durch die sogenannte Kirchhalde in zwei Theile geschiedene und von der stattlichen Ruine Nellenburg überragte Städtchen zu einem Besuche oder gar zu längerem Bleiben reizen werde, steht immerhin zu bezweifeln. Und doch böte Stockach, zumal zur Faschingszeit, so manches, was eines Besuches und kurzen Aufenthaltes wohl werth wäre, denn das kleine, kaum 2000 Einwohner zählende Städtchen ist – was freilich wenige wissen – zu der genannten Zeit besonders merkwürdig durch die Ueberbleibsel einiger alter Gebräuche aus der Zeit, da es noch „Deutschlands Narrenresidenz“ genannt wurde.
Das badische Landstädtchen Stockach hat sich diesen Namen erworben wegen eines eigenthümlichen, verbrieften und seit Jahrhunderten ausgeübten Rechtes, im Fasching ein öffentliches „Narrengericht“ abzuhalten, in welchem alle von den Bewohnern der Stadt und Umgebung etwa begangenen Thorheiten zur Sprache gebracht und gehörig lächerlich gemacht werden durften. Es stammte der Sage nach von Erzherzog Albrecht dem Weisen von Oesterreich her, welcher es der Vaterstadt des lustigen Rathes und Hofnarren seines Bruders Leopold, des Hans Kuoni, nach der Schlacht bei Morgarten (1315) verlieh, „weil der Narr klüger gewesen als Leopolds gesammter Kriegsrath.“ Spaßes halber bei Besprechung des Kriegsplanes um seine Meinung befragt, soll nämlich der lustige Rath warnend den mit der Schellenkappe gezierten Kopf geschüttelt und gesagt haben: „Euer Gerede gefällt mir fast übel, Ihr Herren, denn Ihr sorget und denket nur daran, wie Ihr hineinkommen möget ins Land, nicht aber, wie Ihr wieder herauskommen wollt.“ Eingedenk dieses klugen Ausspruches ertheilte Albrecht, nachdem Leopold vollständig geschlagen und dem Tode nur wie durch ein Wunder entronnen war, dem Narren das Recht, in seiner Vaterstadt alljährlich am Fasching „über kluge Leute zu Gericht zu sitzen“, und stattete dieses „Narrengericht“ mit vielen Gerechtsamen aus.
Dies seltsame Gericht, das sogar noch im Laufe unseres Jahrhunderts zusammentrat, war zusammengesetzt aus dem „Narrenvater“ als Vorsitzendem und einer unbeschränkten Zahl von „Narrenräthen“ als Beisitzern und Richtern. Stets in den ersten Tagen nach Neujahr kamen diese Mitglieder des Gerichts in einem schon vorher bestimmten und durch ein besonderes, außen angebrachtes Schild als „Narrenherberge“ bezeichneten Gasthause zu regelmäßigen Sitzungen, zur Sichtung der zur Verhandlung eingelaufenen „Gerichtsakten“ und zum Entwurf eines Programms für ein nach Erledigung der Geschäfte abzuhaltendes „Narrenfest“ zusammen. Am Sonntag vor dem Fastnachtsonntag hielt sodann der „Narrenschreiber“, phantastisch aufgeputzt, in einer vierspännigen „Narrenkutsche“ mit Bedienten, Mohren und Heiducken seinen Umzug durch das Städtchen und verkündete der aufmerksam, zum Theil wohl auch ängstlich lauschenden Einwohnerschaft, welche Vorkommnisse bei der am Fastnachtdienstag stattfindenden Gerichtsverhandlung zur Aburtheilung kommen würden. Diese Ankündigung war entweder in launiger Prosa oder häufiger in witzigen Versen abgefaßt, denn unter der Zahl der Narrenräthe fand sich stets einer, der „verslen“ konnte. Unter dem Beifallrufen der Menge wurde diese Ankündigung in beiden Stadttheilen und besonders vor den Häusern der „Verklagten“ verlesen.
Am Donnerstag darauf, dem sogenannten „schmutzigen Donnerstag“, wurde alsdann in feierlicher Weise, stets an derselben Stelle, in der Nähe des ungefähr in der Mitte des Städtchens gelegenen „Narrenbrunnens“,[1] eine starke Tanne aufgerichtet, welche an dem von Zweigen entblößten Stamme eine Tafel trug mit der Inschrift: „Stammbaum aller Narren“. Dieser „Narrenbaum“, an welchem außerdem noch das Verzeichniß der zur Verhandlung kommenden „Narrenprozesse“ und das Festprogramm befestigt wurden, blieb dann in der Regel mindestens noch vier Wochen vom Gerichtstage an gerechnet stehen.
Der Faschingsonntag und -montag gehörte in Stockach ausschließlich der „Narrenjugend“, den Kindern nämlich, welche, wie dies an andern Orten ebenfalls üblich war und noch ist, in allerlei Verkleidungen sich auf den Straßen umhertrieben. Eine Anzahl kleiner Hanswürste übernahm jedoch eine Art von Wache bei dem Narrenbaum und trieb unter Herz und Ohren zerreißendem Geschrei und beständigem Knallen mit kurzstieligen Peitschen alles, was nicht närrisch – nämlich nicht verkleidet – war, von „dem Stammbaum aller Narren“ hinweg. Für diesen Dienst erhielt jeder der an der „Narrenbaumwache“ betheiligten Hanswürste einen großen „Narrenweck“.
Endlich an dem mit allgemeiner Spannung erwarteten Fastnachtdienstag, morgens um 10 Uhr, versammelten sich die Mitglieder des Narrengerichts auf einer eigens zu diesem Zwecke errichteten großen Tribüne und es begannen nun die eigentlichen Gerichtsverhandlungen, welche unsere Illustration S. 140 darstellt. Die „Narrenkläger“ trugen ihre Berichte vor, worauf in derbwitziger Weise über den Fall verhandelt und der Angeklagte schließlich unter ausführlicher Erläuterung seiner Schuld „zum Eintrag ins Narrenbuch“ verurtheilt wurde. Niemand ward hierbei verschont; ohne Ansehen der Person wurde unnachsichtlich jeder vor Gericht Gestellte und schuldig Befundene verspottet und dem Register der Narren einverleibt. Kein Protestiren der Verurtheilten konnte etwas helfen und die Strafe abwenden; wer sich aber etwa nach geschehenem Ausspruch des Gerichts zum Fürsprecher der Sträflinge machen oder gar die Entscheidung des Narrengerichts bekritteln wollte, wurde selbst als Narr erklärt und ebenfalls in das gefürchtete „Narrenbuch“ eingetragen.
Nachdem dem letzten Beklagten sein Recht geworden, wurde jeweils ein feierlicher Umzug durch das ganze Städtchen unter Betheiligung aller Narrenräthe abgehalten, wobei an allen passenden Stellen und besonders wieder vor den Wohnungen der Verurtheilten unter dem Jubel der zahlreichen von überall her zusammengeströmten Menschen das gefällte Urtheil vom Narrenschreiber verlesen und den Betroffenen zum Ueberfluß an die Hausthür
[140][141] geheftet wurde. Dann erst begann das programmmäßig angeordnete Narrenfest, gewöhnlich ein heiteres Spiel zum Ergötzen der Menge, sodann natürlich ein Festschmaus in der Narrenherberge und abends ein Bankett mit Tanz.
Am andern Tage aber, dem „moralischen Aschermittwoch“, versammelten sich nachmittags um vier Uhr die Narren abermals vor der Narrenherberge, um „die Fastnacht zu begraben“. Unter Vortritt zweier jungen Narren mit riesigen Schlüsseln, den Narrenschlüsseln, mit welchen „der Himmel der Narrheit auf- und zugeschlossen wurde“, setzte sich der paarweis geordnete Zug der Narrenräthe in Bewegung und schlug den Weg nach dem Narrenbaum ein. Hinter den Schlüsselträgern schritt der Narrenwart, welcher das Zeichen seiner Würde, einen mit dem Brustbild des Hans Kuoni geschmückten zweifarbigen Stab trug; ihm nach wurde von zwei „Narrenschatzhütern“ eine uralte geschnitzte Truhe getragen, „die Narrenlade“, in welcher das Narrenbuch und die Narrengerichtsprotokolle aufbewahrt wurden. Unmittelbar hinter ihnen schritt der „Narrenvater“ einher, zu welcher Würde gewöhnlich der älteste Bewohner der Stadt erwählt wurde. Dann erst folgten die übrigen Narren, schweigend, mit gesenkten Köpfen, wie es sich bei einem Begräbniß ziemt. Beim Narrenbaum angekommen, umschritten sie diesen dreimal, dann – begaben sich alle nach Hause und mit der Narrheit war es für ein Jahr vorüber.
Dies waren, in Kürze berichtet, die mit der Abhaltung der Stockacher Narrengerichte verbundenen Gebräuche und Förmlichkeiten, wie sie sich seit nahezu sechs Jahrhunderten bis in die neuere Zeit erhalten haben.
Anfänglich waren diese seltsamen Rügen menschlicher Thorheit und Schwäche fast immer nur scherzhafter Natur, später aber verloren sie nur allzu häufig die ursprüngliche Harmlosigkeit und nahmen mehr und mehr den Charakter der Gehässigkeit an sowohl gegen einzelne Persönlichkeiten als auch gegen mißliebige öffentliche Einrichtungen, so selbst gegen die Behörden. So wagten z. B. im Jahre 1734 die Narren, das verhaßte österreichisch-nellenburgische Landgericht, unter dessen Jurisdiktion Stockach damals stand, dadurch lächerlich zu machen, daß sie alle die umständlichen Formalitäten und insbesondere den schwülstigen Geschäftsstil jenes Gerichtes in satirisch witziger Weise bei ihren eigenen Narrengerichten einführten. Dadurch fühlte sich natürlich das Landgericht an seiner Würde verletzt und führte Klage gegen die Stockacher Bürgerschaft. Der Urtheilsspruch der zuständigen Behörde fiel jedoch – fast wider das allgemeine Erwarten – zu Gunsten der Narren aus, wenngleich er auch der seitherigen Ungebundenheit dieser einige wohlverdiente Schranken setzte. „Man soll“ – so lautete das Urtheil – „die Bürger bei ihrem Herkommen lassen, doch mit Abstellung der Mißbräuche.“
Wie leicht erklärlich, wurde nun von seiten des Landgerichts der Begriff „Mißbrauch“ unendlich dehnbar erfunden und es beschränkte daher mit seinen unantastbaren Verfügungen die Gerechtsame der Narren mehr und mehr. Dadurch wurden die letzteren immer „zahmer“, und der einstige Grundgedanke ihrer Gerichte, die Geißelung menschlicher Schwäche und Thorheit, verlor sich mit der Zeit fast vollständig. Statt der derbkomischen, in den meisten Fällen jedoch auch „groben“ Art und Weise, wie die Amtsnachkömmlinge Hans Kuonis „über kluge Leute zu Gericht saßen“, wurde in neuerer und neuester Zeit nur mehr ein harmloses Maskenspiel, „ein Mummenschanz“, ohne jegliche Beziehung auf irgendwelche Personen zur Aufführung gebracht. Die fortschreitende Civilisation und die allmähliche Verfeinerung der Sitten hat eben sogar den – Narren einen gewissen Geist der Milde aufgenöthigt.
Heutzutage findet in Stockach nur noch „das Begraben der Fastnacht“ am Aschermittwoch statt. Es unterscheidet sich dieser noch immer vielbesuchte Akt kaum von den Maskenscherzen anderer Städte.
Als einziges Ueberbleibsel aber von den alten „Narrengerichten in Deutschlands Narrenresidenz“ ist es immerhin noch ein merkwürdiges und interessantes Stück deutscher Sittengeschichte.
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In den Wolken.
Nordöstlich von Görz, ungefähr zwölfhundert Meter über der Thalsohle, auf welcher diese anmuthige Stadt aufgebaut ist, ragt eine mächtige Hochfläche. Man nennt sie den Ternovaner Wald. Dieselbe zieht sich in der Richtung nach Idria hin. Mehr als neuntausend Hektare sind mit hochstämmigem Wald bedeckt, welcher an Ueppigkeit seinesgleichen kaum hat in den Gebieten Deutschlands und des österreichischen Kaiserreiches. Es ist ein Stück Nordland, welches sich gerade über den warmen Gefilden des Südens erhebt.
Der Jäger, der das Reh in seinem Dickicht jagt, sieht dort, wo sich dasselbe lichtet, auf das blaue Meer und seine weißen Segel hinab. Der Morgenstrahl macht ihm sogar in seiner Waldwohnung die ferne Stadt[WS 1] der Lagunen, das märchenhafte Venedig, sichtbar.
In diesem weiten Walde führen verschiedene Förster, lauter Deutsche, ein einsames Leben. Sie sind weltabgeschieden wie wenige ihrer Standesgenossen. Görz ist der nächste Ort, an welchem sie das erreichen, was man in Bezug auf die menschliche Gesellschaft Welt zu nennen pflegt. Dorthin aber müssen sie, abgesehen von der Entfernung in der Luftlinie, mehr als dreitausend Fuß hinab, und, was noch mehr in Betracht kommt, auf dem Rückwege wieder herauf steigen. Und gerade im Winter, in dessen stürmischer und trauriger Zeit das Bedürfniß nach dem Verkehr mit Menschen sich am meisten fühlbar macht, ist ein solcher Gang überaus beschwerlich. Die Wege sind mit Schnee und Eisplatten belegt, so daß ohne die Zuhilfenahme von Fußeisen, welche sich der Wanderer an den Schuhen befestigt, die glatten Hänge nicht überwunden werden können. Dazu kommt noch der heftige erstarrende Sturmwind, die Bora, die sich häufig genug einstellt. Wehe demjenigen, dessen sie sich bemächtigt!
Die Förster, welche in weit von einander entfernten Häusern wohnen, haben im Volksmunde den Namen „die Waldteufel“ erhalten. Es ist damit nicht gesagt, daß sie für schlimme Menschen gehalten werden, sondern die Leute wollen damit auf ihr einsames Leben im Hochwalde hindeuten.
In einem Forsthause, welches unweit der Mittagsspitze steht, die von den Slaven Poldanovec genannt wird, wohnte einer jener Förster, welcher schon viele Jahre in dieser Waldeinsamkeit zugebracht hatte. Man nannte ihn den Eisenhans. Und gewiß verdiente er diesen Namen. Es war in der That seiner Zeit ein eiserner Mann gewesen. So wetterhart, wie er, war keiner. Keine Bora war heftig genug, um ihn von irgend einem Dienstgange abzuhalten. Er war der Schrecken der Wilddiebe und anderer Forstfrevler.
Gleichwohl bekommen wir ihn im Anfange unserer Geschichte in einer Stellung zu sehen, welche nicht mit den beschriebenen Eigenschaften zusammen zu stimmen scheint.
Wir sehen ihn nämlich, wie er im pfadlosen Wald, auf dessen schneeüberwehtem Boden nicht eine einzige Spur einen Weg andeutet, auf allen Vieren sich durch den Schnee hindurchschleicht. Thut er dies, um ein Wild zu überlisten? Thut er es, um irgend einem Uebelthäter beizukommen?
Im Dickicht der schneebelasteten Bäume wäre solches Schleichen in beiden Fällen nicht nothwendig gewesen.
Wenn uns das Auge keinen Aufschluß darüber geben kann, warum der Eisenhans eine für einen waldgewaltigen Förster so sonderbare Stellung einnimmt, so würde uns das Gehör darüber sofort unterrichten.
Es geht ein Stöhnen und Dröhnen durch den Wald, als ob ein Wassersturz gleich dem Niagara in einer Entfernung von wenigen Schritten von uns zur Tiefe ginge. Aus allen Dickichten dringen klagende, heulende Stimmen hervor.
Die Bora ist über den Ternovaner Wald gekommen, und wenn der Eisenhans sich aufrichten wollte, würde sie ihn in die eisig verglasten Schneehaufen hineinwerfen. Kein Mensch vermöchte sich auf den Füßen zu erhalten, auch der Eisenhans nicht.
Die Mühsal eines solchen Sichfortbewegens verhinderte den Eisenhans nicht, von Zeit zu Zeit ingrimmige Verwünschungen auszustoßen. Er richtete diese gegen sich selbst. Warum war er auch so unvorsichtig gewesen und hatte sich beim Fortgehen nicht mit Fußeisen versehen? War es doch Winter und konnte die Bora mit einem Schlag über das Land kommen, wie es auch thatsächlich geschah.
Indessen bewährte es sich auch hier wieder, daß schlimme Erlebnisse mitunter ihr Gutes haben.
Wäre der Förster aufrecht gegangen, so wäre er nicht mit der Nase auf eine von Schneestaub überwehte Schlinge gestoßen. Sicherlich wäre ihm diese entgangen.
In dem zugezogenen Theile derselben steckte ein Hase, der zu einem Klumpen zusammengefroren war.
Dieser Anblick verblüffte den Eisenhans so, daß er darüber die Bora und das ganze Ungemach vergaß.
„Hab ich dich endlich einmal!“ sagte er laut vor sich hin. „Diesmal hast du dich wohl selbst gefangen, Meßner!“
Mit einem Blick sah er das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige vor sich.
Der Meßner des Dörfleins, welchen er längst im Verdacht der Wilddieberei und schon hundert Mal mit dem Tode bedroht hatte, mußte diese Schlinge gelegt haben. Es konnte nicht fehlen, daß derselbe in allernächster Zeit hierher kommen und nachschauen würde. Der Förster hatte nun einen bestimmten Anhalt, wo er den Frevler auf frischer That packen zu können hoffen konnte. Besonders günstig war der Umstand, daß der Meßner nicht durch die Spuren des Försters im Schnee gewarnt zu werden vermochte. Denn bei dem Sturm, welcher herrschte und voraussichtlich anhielt, mußte das fortwährend aufgewühlte Schneepulver bald jede Fußstapfe bis zur Unkenntlichkeit verwehen.
Da der Eisenhans sein Revier kannte wie seine eigene Tasche, so bot es ihm keine Schwierigkeit, sich die Stelle genau zu merken. Sie lag überdies kaum zweihundert Schritte vom Forsthaus ab und war nur durch einen Bühel, auf welchem man des Schutzes wegen, welchen die Bäume bieten, ein kleines Stück Urwald stehen gelassen hatte, von demselben getrennt.
Vorläufig aber mußte der Förster seinen seltsamen Gang auf allen Vieren fortsetzen. Erst, nachdem er eine Gruppe von ungeheuren Tannen erreicht hatte, die sich bis zum Fuße jenes Bühels fortsetzte, gelang es ihm, sich wieder aufzurichten.
Er vermochte einige Schritte weiter zu gehen, indem er sich an dem festen Geäste hielt, unter welchem zudem sehr wenig Schnee lag.
Plötzlich horchte er überrascht auf. Mitten durch das Schwirren und Pfeifen der Bora vernahm er deutlich Glockenhall. War es denn möglich, daß man schon zur Vesper läutete? Er verglich seine Uhr.
Wenn diese richtig ging – und er hatte allen Grund es anzunehmen – so fehlten noch zwei Stunden bis zur Zeit des Vesperläutens. Oder wagte es der nichtswürdige Meßner, in Abwesenheit des Geistlichen heute nach seinem Gutdünken vor der Zeit zu läuten, um bis zum Einbruch der Dämmerung eine längere Frist zum Absuchen seiner Schlingen vor sich zu haben? Von den armseligen Leuten, die unter den schwarzen Strohdächern in ihren Hütten wohnten, hatte ohnehin kaum einer eine Uhr, das Gebahren des Meßners zu überwachen. Mit einem Male aber schwieg das Geläute und klang so sonderbar aus, wie es der Eisenhans nach seiner Erinnerung kaum jemals gehört hatte.
Jetzt besann er sich, was da vorging. Es war allerdings ein seltener Fall. Nicht der Meßner hatte die Glocke in Bewegung gesetzt, sondern die Bora, welche heute so wüthete, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.
Die Tannen, unter welchen er sich befand, standen so dicht nebeneinander und breiteten über den Boden ein so mächtiges Schirmdach aus, daß nur wenige Schneeflecke auf dem Boden zu sehen waren.
Da ereignete sich etwas, wodurch der erfrorene Hase, die Schlinge und der Meßner augenblicklich in Vergessenheit geriethen. [143] In zwei nebeneinander liegenden, das struppige Heidekraut halb verdeckenden Schneeflecken bemerkte der Eisenhans Spuren, bei deren erstem Anblick er wie eingewurzelt stehen blieb. Nichts regte sich an ihm außer den Wimpern des blinzelnden Auges.
Die Krallen, welche hier im Schnee ihren Abdruck hinterlassen hatten, waren die eines katzenartigen Thieres.
Für eine Wildkatze oder irgend einen verwilderten, einer Bauernhütte entlaufenen Kater waren sie viel zu groß. Sie mußten also von einem Luchs herrühren. Nun hatte aber der Eisenhans seit mehr als zehn Jahren von dem Erscheinen eines solchen Thieres in den weiten Revieren des Ternovaner Waldes weder etwas gespürt noch vernommen. Es war also das genaueste Zusehen vonnöthen.
Doch je mehr der Förster die Fährte betrachtete, desto sicherer wurde er in seinem Urtheil, daß hier ein echter Luchs vorübergewechselt haben müsse. Vermuthlich war derselbe auf der Witterung nach den Schafen, die noch vor wenigen Tagen auf der schneefreien Südabdachung des Bühels geweidet hatten, hier herumgeschlichen.
Das wäre ein Jagdglück sondergleichen gewesen, dieses seltenen Räubers habhaft zu werden. Es mußte auf Wochen hinaus den Gesprächsstoff weit und breit unter den Waldteufeln abgeben. Wenn die Spur nicht trog, so war es ein starkes Thier, das wohl seinen halben Centner Gewicht haben konnte. Dann mußte es ein Fell haben, dessen Werth nicht unter dreißig Gulden zu schätzen war, dem Eisenhans also ein schönes Schußgeld eintrug.
Höchst zufrieden mit der von ihm gemachten Wahrnehmung wandte er sich nunmehr dem nahen Forsthause zu. Das Gefühl der Erstarrung, welches ihn während seiner Wanderung überkommen hatte, war ihm über dieser Aufregung völlig entschwunden.
Im Hause empfing Regina, die Tochter des Försters, ihren Vater mit sanften Vorwürfen darüber, daß er bei einem solchen Wetter seine Gesundheit unnöthig aufs Spiel setze.
„Kein Mensch läßt sich sehen draußen bei dem Sturme,“ sagte das Mädchen. „Kein Thier verläßt seine Höhle, kein Raubschütze wagt sich in den Wald, der ärmste Mensch geht nicht hinaus, um Feuerschwämme oder Zunderpilze zu sammeln.“
Der Eisenhans brummte einige unverständliche Worte, welche vielleicht bedeuten sollten, daß die Weiber derlei nichts anginge, in den Bart, dann hängte er seine Büchse an die Wand, zog die schneebedeckten Schuhe und Jägerstrümpfe aus und machte es sich bequem hinter dem grünen Kachelofen, der fast den dritten Theil der Stube einnahm.
Die Stimme des zunehmenden Sturmes schien dem Mädchen Recht zu geben. Es war eine Bora, wie man sie kaum jemals erlebt hatte. Die alte Linde vor dem Fenster, deren Zweige, eben der Bora, des Nordoststurmes wegen, alle gegen Südwest gewachsen waren, schien zu beben, obwohl sie sich mit hundertjährigem Wurzelwerk weit verästelt an den Felsblöcken des moosüberwachsenen Bodens festhielt. Man hörte bis in die Stube herein aus dem Walde herüber das Krachen abgeknickter Zweige.
Der Eisenhans aber hätte sich nicht viel darum gekümmert, wenn auch das Haus selbst gewackelt hätte wie eine Wiege. Seine Gedanken waren nur auf eines gerichtet: den Luchs, und immer wieder den Luchs!
Wenn es nicht gar so gestürmt hätte, er würde sofort den weiten Weg in die Stadt hinab zum Forstmeister angetreten und ihm die unerhörte Neuigkeit hinterbracht haben.
Seit einer langen Reihe von Jahren hatte man, wie gesagt, nichts mehr von einem solchen Eindringling gehört. Derselbe mußte aus den Wäldern von Kroatien, aus dem Uskokengebirge, herübergekommen sein. Mochte dem sein wie immer, jetzt hieß es, dem Räuber so schnell wie möglich an den Leib zu gehen.
Das Einfachste wäre vielleicht gewesen, Fallen auszulegen. Das kam aber dem alten Jäger nicht weidmännisch genug vor. Eine Treibjagd bot ihre Schwierigkeiten, denn im Kalkboden des Waldgebietes giebt es zahllose Klüfte und Höhlungen, von welchen die eine mit der anderen in Verbindung steht. Den Räuber, welcher sein Handwerk fast nur bei Nacht treibt, aufzuspüren, war zudem dermalen besonders schwierig. Im tiefen Walde, dort, wo eine zusammenhängende Schneedecke lag, war dieselbe entweder gefroren, oder der Sturm wühlte sie fort und fort auf, so daß die Spuren immer wieder überweht werden mußten.
Für heute war nichts zu machen. Doch gedachte er, gegen die ersten Morgenstunden hin, in welchen die Bora oft etwas an Kraft verliert, einen Boten in die Stadt hinabzuschicken, um dem Forstmeister von dem aufgespürten Wundertiere Mittheilung zu machen, denn dieser würde es ihm gewiß niemals verziehen haben, wenn er ihm die Gelegenheit zu einem derartigen Weidgange unterschlagen hätte.
Regina hörte ohne sonderliche Theilnahme die lange Mittheilung ihres Vaters über die gemachte Entdeckung an. War sie auch Jägerskind, so hatte sich doch allmählich in ihr eine Empfindungsweise entwickelt, welche sich von ihrer gewohnten Umgebung mehr und mehr abwendete. Ihr Vater hatte, um ihr über die Einsamkeit hinwegzuhelfen, in welcher sie sich bei seiner langen Abwesenheit von Hause so häufig befand, aus der Stadt einen Büchervorrath kommen lassen, den er so oft als möglich erneuerte. Er wollte damit seinem Augapfel, dem leibhaftigen Abbild seiner verstorbenen Frau, welche so viele Jahre hindurch in dieser Einöde seine treue Gefährtin gewesen war, nicht nur Gelegenheit schaffen, sich selbständig zu unterrichten, sondern auch das Leben des jungen Mädchens bei ihm, dem ergrauenden Manne, erheitern.
Das geschah allerdings, es geschah aber noch etwas mehr. Regina lernte so viele Dinge aus der Welt kennen, von welcher sie selbst in Gebirg, Wald, Ebene, Städten, Flüssen und Meer einen so schönen Theil, freilich gleichsam nur aus den Wolken, tagtäglich überblickte. Was mußten sich dort unten, jenseit des Gewölkes für wunderbare Dinge zutragen! Was mochte es dort für schöne Häuser, für merkwürdige Menschen geben, was mochte dort alles zu sehen sein!
Regina befand sich nicht in der nämlichen Lage wie so manches Mädchen, welches in einem weltabgelegenen Dorfe sich ähnlichen Gedanken hingiebt. Jenes ahnt nur, daß in weiter Entfernung irgendwo die Dinge vorhanden sein müssen, welchen sich seine Einbildungskraft zuwendet. Regina aber sah unten die Thürme und weißen Paläste. Sie erblickte die Schiffe auf dem Meere und die Rauchsäulen der Dampfer, welche am Gesichtskreise verschwanden oder aus fernen Ländern kamen, von deren Wundern sie in ihren Büchern gelesen hatte.
Das alles überschaute sie. Wenn sie aber vor die Thüre traf, gerieth sie alsbald in das Dickicht der Tannen, von welchen die alten Flechten herabhingen, grau wie der Bart ihres Vaters. Tage lang sah sie keine andere lebendige Gesellschaft als die Schafe und Ziegen, die auf den Rodungen weideten. Während aus der Tiefe herauf, nach welcher sie so oft mit dem Fernrohre ihres Vaters hinabsah, Paläste zu ihr emporblickten, hatte sie zu Nachbarn nur die Insassen strohgedeckter Hütten, in welchen arme, halb verhungerte Leute zwischen Schmutzlachen ihr Wesen trieben.
Daher kam es, daß sie häufig an Sommerabenden, wenn die häusliche Arbeit verrichtet war, mit einem ihrer Bücher hinausging zu einem Sitze, der am Stamme einer mächtigen Tanne angebracht war. Der Baum streckte seine dichten Zweige so weit aus, daß sie dort, wenn sie auf der Bank saß, sich stets im Schatten befand. Hier blieb sie, während der Vater in den abendlichen Wald hinein auf den Anstand ging, oft sitzen, bis die Sonne hinter dem Horizonte versank. Dann wandelten ihre Gedanken über das von den letzten Strahlen purpurn übergossene Meer hin und folgten dem Gestirne, welches sich anschickte, anderen Himmelsstrichen zu leuchten.
Der Herr Forstmeister, welcher im Sommer manchmal zur Jagd heraufkam, hatte diesen Brauch Reginas mehrmals beobachtet. Er scherzte in seiner freundlichen Weise darüber und er war es, der es veranlaßte, daß der Försterstochter, als sie an einem Sommerabend wieder ihrem Lieblingssitz zustrebte, eine eigenthümliche Ueberraschung zu theil ward. Als sie ihre Blicke der Tanne zuwendete, fand sie eine künstlerisch ausgestattete Holztafel daran befestigt, auf welcher in großen Buchstaben zu lesen war: „Sehnsuchtstanne.“
Das war nun schon einige Jahre her und gerade jener Theil des Waldes, in welchem sich die Sehnsuchtstanne erhob, war [144] mittlerweile der Axt verfallen. Doch hatte der Forstmeister befohlen, daß dieser Baum nicht berührt werden dürfe. Er sollte als Denkmal an die Jugendzeit Reginas immer da stehen bleiben, bis ihn endlich einmal, wenn er alt und morsch geworden wäre, ein Herbststurm mitten unter die blauen Glockenblumen und die rothen Kelche des Heidekrautes hinstrecken würde, welche auf dem Grund unter seinen Zweigen gediehen.
Trotz ihres ungestümen Verlangens nach der Weite und trotz des schwärmerischen Nachsinnens, welchem sich Regina gerne im Bereiche der Sehnsuchtstanne hingab, hätte sie das Forsthaus niemals verlassen, so lange sie noch ihren Vater dort wußte. Mehrmals hatte eine Verwandte, welche in einer deutschen Hauptstadt wohnte, den Eisenhans aufgefordert, ihr seine Tochter auf eine Weile zu überlassen. Sie würde dort Gelegenheit finden, sich in allerlei nützlichen Dingen auszubilden und was noch derlei Vorstellungen mehr sind. Der Förster wäre bereit gewesen, einzuwilligen, das Mädchen aber antwortete mit einer festen und unerschütterlichen Weigerung.
Wenn sie nun doch hoffte, in nicht allzu ferner Zeit diese Einsamkeit verlassen zu können, so gründete sich diese Hoffnung auf manche gelegentliche Aeußerung des Vaters. Der Eisenhans sprach mitunter davon, sich zur Ruhe setzen und in die Stadt hinabziehen zu wollen. Die stürmischen Winter und der Mangel an Ansprache entrangen ihm manches vorübergehende Zeichen von Mißmuth. Das alles aber war wie weggeblasen, wenn die Herren vom Forstamt in der Stadt manchmal heraufkamen und ihm mehr Beschäftigung mitbrachten, als ihm oft lieb war. Noch gründlicher verging ihm jeder Gedanke an das Stadtleben, wenn der eine oder der andere von den Waldteufeln bei ihm vorsprach. Da ging es an ein Erzählen von Geschichten, von wirklichen oder erfundenen Erlebnissen aus dem Revier, welch letztere von den trefflichen Männern so oft erzählt worden waren, bis sie selbst daran glaubten. Da hörte man von Dachsbauen und Koppelhunden, von seltsamen Begegnungen mit Wölfen, von unglaublich wirksamen Treffern u. s. w.
Gerade heute hatte sich Regina der Hoffnung hingegeben, daß ihr Vater, wenn er aus diesem schrecklichen Sturme nach Hause käme, wieder einmal seinen Plan, um einen Ruheposten nachzusuchen, ins Auge fassen und besprechen werde. Die Zeit war günstig, denn nichts konnte der Eisenhans weniger leiden, als die Bora, welche ihn am Herumgehen im Walde hinderte. War es doch mitunter so arg, daß man am hellen Tage die Fensterläden schließen und die Lampe in der Wohnstube anbrennen mußte. Dann ging der Eisenhans wie ein gefangener Löwe in seinem Käfig hin und her, brummte und wünschte sich dahin, wo der Pfeffer wächst – und wo es keine Holz- und Wilddiebe giebt. So wäre es wahrscheinlich auch an diesem Abend gekommen, wenn nicht die Geschichte mit dem Luchs dem ganzen Denken des Försters eine andere Richtung gegeben hätte.
Indessen ereignete sich etwas, wodurch der Eisenhans in seiner Erwägung des Falles gestört wurde.
Eben dämmerte es und Regina zündete die Lampe an, als die Stubenthür aufflog. Ein Windstoß drang herein und löschte das Licht wieder aus. Dieser Windstoß kam vom Flur. Eben hatte jemand die Hausthür geöffnet und strengte sich vergeblich an, sie gegen den nachdrängenden Sturm wieder zu schließen. Als der Eisenhans dies bemerkte, sprang er hinaus und half dem Eintretenden.
„Sie sind es, Herr Kurat?“ sagte der Förster, nachdem das Thor geschlossen war. „Schönen guten Abend! Ich hätte nicht gedacht, daß Sie bei einem solchen Wetter über den Weg herüberkommen würden.“
„Es ist auch schlecht genug gegangen, Förster,“ sagte der Geistliche, ein stattlicher Mann in noch rüstigen Jahren. „Ich mußte mich fortwährend an der Mauer Eures Gartens halten, sonst hätte mich die Bora über den Berg hinabgeblasen.“
Der geistliche Herr war mittlerweile in die Stube getreten, wo jetzt die Lampe wieder brannte. Regina begrüßte ihn mit ehrerbietiger Verbeugung, der Eisenhans aber wies ihm den gewohnten Platz auf dem ledernen Ruhebett an, auf welchem der Geistliche zu sitzen pflegte, wenn er, was im Winter manchmal geschah, des Abends herüberkam, um mit dem Förster ein Spielchen zu machen.
Nachdem der Gast Platz genommen hatte, sagte er:
„Ich sag’s Ihnen rundweg, Förster, heute abend hätte es mich nicht mehr daheim gelitten und wenn mir einer viel Geld geboten hätte. Ich habe wirklich Angst bekommen. Das pfeift Ihnen im Pfarrhof, daß man meinen möchte, es komme der jüngste Tag. Von einem Augenblick zum andern habe ich geglaubt, der Glockenthurm falle um und schlage mich mitsammt dem Hause nieder. Ich habe ausgehen müssen, nur um unter die Leute zu kommen.“
Der Eisenhans lächelte und sagte:
„Man sieht wohl, daß Sie den ersten Winter hieroben sind, Herr Kurat. Mit der Zeit werden Sie sich schon daran gewöhnen. Sehen Sie, bei uns ist es gar nicht so arg mit dem Heulen und Pfeifen. Das kommt davon her, weil wir tüchtige, eichene Thüren haben, die ich mir aus unseren besten Brettern habe anfertigen lassen. Ihr Herr Vorgänger aber – Gott gebe ihm die ewige Ruhe! – hat sich um das Pfarrhaus wenig gekümmert. Die Thüren sind morsch und wackelig geworden und haben Sprünge von oben nach unten bekommen. Da pfeift es dann freilich durch, wie wenn das ganze Haus eine Geige wäre und die Bora mit dem Fiedelbogen darauf spielte.“
„Sogar die Glocken haben von selbst zu läuten angefangen,“ bemerkte der Kurat.
„Ich hab’s im Walde gehört,“ sagte der Förster, „und zuerst geglaubt, der Mensch läute wieder einmal zu früh Vesper. Doch, weil wir gerade von dem Burschen sprechen, so sage ich Ihnen, Herr Kurat, daß Sie vielleicht bald etwas von ihm zu hören bekommen, was Ihnen wenig gefallen wird.“
Der Geistliche legte den Haufen Karten, welchen er bereits in der Hand hielt, wieder auf den Tisch und horchte verwundert auf.
„Der Lump soll sich in Acht nehmen!“ schrie der Förster mit so lauter Stimme, daß Regina, welche sich mit einer Näharbeit beschäftigte, erschreckt zusammenfuhr.
Der Geistliche sagte kein Wort. Er schaute den Förster, welchen er niemals in solcher Aufregung gesehen hatte, starr an. Dieser fuhr fort:
„Draußen habe ich den zusammengefrorenen Hasen, den er gefangen hat. Ein Dieb ist er. Morgen in aller Frühe werde ich ihn beim Kriminal anzeigen.“
„Das werden Sie nicht thun, Herr Förster,“ sagte nun der Geistliche. „Wegen eines Hasen wollen Sie den Mann sicherlich nicht unglücklich machen – und noch dazu seine Frau und Kinder. Was liegt denn an einem Hasen? Ich werde Ihnen den Schaden vergüten.“
Aber der Förster, der gegen die ihm Verdächtigen unerbittlich war, hatte sich bereits in einen solchen Zorn hineingeredet, daß er die Einwendungen des geistlichen Herrn vollständig überhörte.
„Wäre nur heute nacht kein solches Wolfswetter,“ fuhr der Förster fort, indem er sich umwendete und gegen das Fenster hin schaute, dessen Läden von Zeit zu Zeit unter den Borastößen einen klagenden Laut von sich gaben, „ich hätte trotzdem gute Lust, hinauszugehen und aufzupassen. Erwische ich ihn, so ist es sein Tod. Setzt er sich zur Wehre, so schieße ich ihn nieder.“
Regina erhob sich, legte ihren Arm um den Hals des Vaters und sagte:
„Aber, bedenke nur, Vater, so etwas vor dem geistlichen Herrn!“
Und zu diesem gewendet fuhr sie fort:
„Ich bitte Sie, Herr Kurat, er meint es nicht so. Der Vater ärgert sich eben, wenn draußen im Walde ein Frevel geschieht.“
Der Geistliche dachte, es sei das Klügste, für jetzt das Gespräch über diesen Gegenstand abzubrechen. Bei der Laune des Försters erschienen weitere Erörterungen unnütz.
„Spielen Sie aus, Förster!“ sagte er, indem er ein Kartenblatt in die Hand nahm.
Der Eisenhans seinerseits mochte einsehen, daß er sich zu sehr hatte gehen lassen. Stillschweigend nahm er das Spiel auf und bald hörte man nichts mehr als das eintönige Ansagen der Spielkarten.
Prinz Karneval.
Im Wald noch schläft die Anemone;
Kein Lied belebt das stille Thal,
Und sacht um Fels und Baumeskrone
Spinnt Einsamkeit den Märchenstrahl.
Pulst jungen Wachsens erste Spur;
Im Sturme küßt, ein kühner Freier,
Der Lenz die träumende Natur.
Da regt sich rings ein hold Erwachen,
Und tausend Wunderaugen lachen
Uns grüßend an: die Freude lebt!
„Prinz Karneval“ entfliegt der Hülle,
Die seine Hoheit schwer umfing;
Des Jahres schönster Schmetterling.
Er gaukelt, lauter Duft und Flimmer,
Als König in der Freude Reich;
Die Welt verklärt sein goldner Schimmer:
Und steht im Schwarme trunkner Zecher
Ein freudlos Menschenkind allein,
Reicht Liebe ihm den vollen Becher:
Ein Zug, – und Himmel werden sein!
Durch alle Gassen streift der Witz;
Zur Leuchte wird, in Thorheit schwärmend,
Unsinnigster Gedanken Blitz.
Und spräng’ das letzte Glas in Scherben,
Fürs Heute muß das Gestern sterben;
Was morgen kommt, wer fragt danach?
Nur wer im Rausche der Verblendung
Dem Spiele zugesellt die Schuld,
Der schaut sie nicht, des Königs Huld.
Rein sei die Hand, Lichtfluth zu schenken;
Dann deckt mit seiner grauen Ruh’
Kein Aschermittwoch das Gedenken
Zur Säkularfeier der Union.
Das letzte Jahrzehnt ist reich gewesen an Säkularfeiern in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die Wiederkehr des Jahrestages gewonnener Schlachten in dem Unabhängigkeitskriege, des Friedensschlusses mit England im Jahre 1783, vieler nur für die innere Entwicklung wichtiger Gedenktage hat stets den Anlaß gegeben zu festlichen Veranstaltungen. Umgrenzt aber wird die Periode des Ringens um die Selbständigkeit durch zwei besonders hervorragende Ereignisse. Der 4. Juli 1776 sah die Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien und gab das Signal für die Lostrennung derselben vom Mutterlande, der 4. März 1789 war der Tag, an welchem der erste Präsident der nun zu einer Union zusammengetretenen Staaten, George Washington, seinen Sitz in Washington einnahm.
So wird es denn ein besonders denkwürdiger Tag sein, an welchem Benjamin Harrison die Regierungsgewalt aus den Händen Clevelands übernimmt. Bei solchen Zeitabschnitten sollten Nationen, wie es der einzelne zu thun pflegt, einen Rückblick auf die Vergangenheit werfen. Es wird sicherlich an solcher Selbstprüfung auch in der mächtigen Republik jenseit des Oceans nicht fehlen. Und was sich äußerlich wahrnehmen läßt, wird zweifellos zu gerechtem Stolze und freudigem Selbstbewußtsein Anlaß geben.
Das große Staatswesen der Union kann darauf hinweisen, daß es den politischen Prüfungen, welche es von innen und außen bedrohten, mannhaft Stand gehalten, daß die Union in den Kriegen gegen Mexiko und England siegreich geblieben, daß sie dem Sturm, der sie zu zerreißen drohte, die Stirn geboten und im Namen der Menschlichkeit die Sklaverei abgeschafft hat. Die Union kann für sich in Anspruch nehmen, daß sie aus der Wildniß ein Paradies geschaffen, daß sie, die Vorkämpferin der westwärts marschirenden Kultur, Städte erbaut und unendliche Flächen urbar gemacht, daß sie zur Kornkammer der Welt geworden, daß sie der Natur trotzend den Riesenleib ihres Landes in eiserne Schienenbande geschlagen, daß sie Millionen und aber Millionen Menschen gastliche Aufnahme gewährt und den Bedrückten anderer Nationen zum Asyl geworden. Die Union darf mit Stolz darauf pochen, daß in der Freiheit die Achtung vor dem Gesetze die festeste Wurzel schlug und daß, so oft sie auch in Gefahr gerieth, durch die Auswüchse der Freiheit zu leiden, die urwüchsige Kraft des Volkes die Mittel fand, der Krankheit selbst zu steuern. Aus den 5 Millionen Seelen, die zur Zeit der Regierung Washingtons in den damals 13 Staaten der Union lebten, sind mittlerweile 60 Millionen in 38 Staaten geworden. Lebendig, wie kaum bei einer andern Nation, ist das Nationalgefühl entwickelt. Großherzigkeit ist ein Grundzug des amerikanischen Wesens geblieben. Und während man dem Amerikaner die „Jagd nach dem allmächtigen Dollar“ als den ganzen Inhalt seines Lebens andichtet, ist es eine Thatsache, daß er mit offener Hand und geschlossenem Auge für Bildungszwecke, für Wohlthätigkeitsanstalten, für die Allgemeinheit ungezählte Millionen hergiebt. Verhindert ihn der noch lange nicht abgeschlossene Kampf um die Erschließung des ganzen Gebietes der Union für die Civilisation, in den Wettstreit der Nationen für die Eroberung der geistigen unerforschten Welten voll und ganz einzutreten, so rüstet er sich doch mächtig dazu. Seine Jünglinge und seine Töchter sitzen im alten Europa zu den Füßen der Meister und tragen das Beste, das zu erreichen ist, als dauernden Gewinn mit sich in die Heimath, lehrend und fördernd. Es ist ihnen heiliger Ernst auch um diese Aufgaben und in unseren Hörsälen ist der Amerikaner ein gern gesehener und beliebter Schüler.
So sehen wir die Vereinigten Staaten von Amerika auf der vollen Sonnenhöhe ihrer Lebensaufgabe. Wohl bleibt ihnen noch viel zu thun. Der in der Unabhängigkeitserklärung ausgesprochene Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetze in politischer und religiöser Beziehung erscheint nicht überall befolgt. Noch ist nicht ganz aufgeräumt mit der Vielweiberei der Mormonen und diese unsittliche Einrichtung frißt am Marke eines blühenden Gemeinwesens. Immer wieder beschäftigt das Land die Frage, wie es sich mit den noch vorhandenen und in ihre Reservatstriche eingeschlossenen Indianerstämmen abzufinden habe. Aber dem glücklich Durchgeführten gegenüber erscheinen diese Aufgaben verschwindend klein und das in hundert Jahren Erreichte birgt in sich die Gewähr weiterer Erfolge.
Freilich, wenn der Amerikaner gerecht ist, so wird er sich der Anerkennung nicht verschließen, daß zu dem Gedeihen und dem Blühen der Union das alte Europa, auf welches man jenseit des Oceans mit einer verzeihlichen Ueberlegenheit herabzublicken liebt, recht wesentlich beigetragen hat.
Zehn Millionen Deutsche direkter Einwanderung und unmittelbarer Abstammung im ersten und zweiten Gliede, zehn Millionen deutscher Seelen unter den sechzig Millionen der Union rechnen urtheilsfähige und gewissenhafte Beobachter heraus. Wenn der amerikanische Volkscharakter gewissermaßen in einem Kessel zusammengebraut wird, in den alle Nationen ihre Zuthaten werfen, wahrlich, Deutschland hat Anspruch darauf, daß es die willkommensten Gaben gebracht! Der kluge Amerikaner weiß das auch im allgemeinen und betont es auch, so oft er es für praktisch hält, dem Deutsch-Amerikaner zu schmeicheln. Der letztere aber darf mit Stolz diese Anerkennung fordern und sich rühmen, zu der glänzenden Entwickelung der Republik mit Herz und Hand und Kopf beigetragen zu haben, in Zeiten des Friedens durch emsiges, rastloses Arbeiten auf der Prairie, in der Fabrik, in der Werkstatt oder im Comptoir, wohin immer das Schicksal ihn führte; in Zeiten, wo es galt, für das Adoptivvaterland mit Gut und Blut einzutreten, indem er die Muskete schulterte und mit hinauszog ins Feld, ein unschätzbarer Kämpfer, weil er der Sprößling einer Nation ist, welcher der militärische Geist ins Blut übergegangen ist.
Unaufhaltsam ist der Strom der deutschen Einwanderung nach der Union gefluthet, zuerst träge, als die Segelschiffe noch die einzige Brücke übers Meer bildeten, dann schneller, als der Dampf mit der schlaffen Leinwand in Wettbewerb trat und den Wind als Treibmittel schlug, dann unaufhaltsam, als der Verkehr auf dem Ocean sich so belebt gestaltete wie nur zu Lande. Dennoch aber heben sich aus dieser Auswanderungsströmung drei Perioden besonders hervor. Und alle drei haben ihre unverwischbaren Spuren in der Geschichte der Union sowohl wie der Deutsch-Amerikaner zurückgelassen.
Die erste Periode fällt zusammen mit der politischen Kindheit der Union als solcher. Da kommen die Deutschen hinüber, theils als Menschenwaare, von Friedrich von Hessen für schnödes Geld an die Engländer verkauft, theils aus freiem Antriebe und mit Erlaubniß Friedrichs des Großen, der seinen bewährten Offizieren gestattete, Dienste gegen die Engländer in den Reihen der für ihre Freiheit kämpfenden jungen Kolonien zu nehmen. Unter den letzteren glänzt als vornehmster der Name des Generals Steuben, nach ihm ist ein blühender Ort in Ohio benannt, und als im Jahre 1876 die Amerikaner das Jubelfest ihrer Unabhängigkeit feierten, gingen mit Erlaubniß des Kaisers die Nachkommen jenes Steuben, einer Einladung des Kongresses folgend, nach der Union. In den Reihen der Gegner stand Seume, verkauft für wenige Thaler. Die Erwähnung seines Namens genügt, um noch heute das ganze Gefühl der Schmach jener Tage ledendig werden zu lassen. Um jene Zeit führte auch andere Deutsche der Weg über den Ocean. Jakob Astor, dessen Name noch heute in der Union verewigt ist als eines der reichsten und gemeinnützigsten Männer, und Theodor Steinweg seien genannt, der letztere einer der Könige der Industrie.
Mächtiger schon setzte der Strom ein, als in diesem Jahrhundert Deutschland zum erstenmale eine politische innere Erschütterung erlebte. Die burschenschaftliche Bewegung der dreißiger Jahre hat aus den Reihen der begeisterungsfähigen Jugend Hunderte übers Meer getrieben. Was unser Verlust war, das wurde der Union zum Gewinn. Wie viele von jenen „Dreißigern“ haben dem Lande ihrer Geburt im Lande ihrer Wahl Ehre bereitet! Da war John Röbling, der kühne Erbauer der Brücke über den Niagarafall, Gustav Körner, der in Illinois zum Gouverneur gewählt wurde, Johann Stallo, der eben jetzt als Gesandter der Vereinigten Staaten in Rom sitzt, Friedrich Münch, der Dichter, der das Lob des Vaterlandes im fernen Westen sang, obwohl es ihn verstoßen. Das gerade war der hervorstechende Zug aller dieser politischen Emigranten, daß sie dem Vaterlande nichts nachtrugen, sondern daß in der Ferne ihre Liebe mit doppelter Stärke erwachte. Stephan Molitor, Arthur Olshausen, Friedrich [147] Seidensticker, Karl Rümelin – wenn nirgends anders in Deutschland, so sind ihre Namen in den Listen der deutschen Gefangenenhäuser und der deutschen Festungen zu finden, drüben aber wurden sie mit offenen Armen empfangen, die Führer der ihnen voraufgegangenen Landsleute.
Und ein nachhaltigerer, mächtigerer Schub folgte in den Jahren 1848 bis 1850, in den Jahren, die man den „Völkerfrühling“ nannte. Hier ist es ganz unmöglich, auch nur annähernd denen gerecht zu werden, die sich in ihrer neuen Heimath ausgezeichnet haben. Den Lesern der „Gartenlaube“ sind viele von ihnen bekannt als liebe Mitarbeiter oder als Männer, deren gemeinnütziges Wirken in ihren Spalten geschildert wurde. Es genüge, den Namen Karl Schurz zu nennen, um den gewaltigen Einfluß heraufzubeschwören, den dieser eine Mann auf die innere Gestaltung der Angelegenheiten der Union gewonnen, den Namen des edlen Friedrich Kapp zu erwähnen, der in Wahrheit ein Bürger zweier Welten gewesen, Otto Ruppius , der dem Vaterland wiedergewonnen ward, Theodor Kirchhoff in San Francisko und Konrad Krez, dessen rührendes Gedicht „An mein Vaterland“ vor zwei Jahrzehnten in der „Gartenlaube“ Aufsehen erregte. Aus der Zeit des badischen Aufstandes finden wir in Führerrollen in Krieg und Frieden in Amerika Lorenz Brentano, Friedrich Hecker, Franz Sigel. Zum Heile für das Deutschthum Amerikas nahmen ihre Zuflucht in dem freien Lande so hervorragende Männer wie Hermann Raster, Oswald Ottendorfer und Karl Douai. Es würde die Aufgabe einer knappen Schilderung wesentlich überschreiten, wollte diese Liste Anspruch auf Fortsetzung erheben, aber das kann gesagt werden, daß noch Hunderte und aber Hunderte von Namen genannt werden können, die durch ihr ganzes Leben und ihren Einfluß auf ihre Landsleute dazu beitrugen, den amerikanischen Charakter mitformen zu helfen und die Union zu ihrer heutigen Machtstellung zu führen.
Es ist unter solchen Umständen nur natürlich, daß die Beziehungen
zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten stets
herzliche und freundschaftliche waren. Und wenn es auch nicht ganz an
Augenblicken der Verstimmung fehlte, wie z. B. in der samoanischen
Angelegenheit, wir sehen darüber hinweg, wir erinnern uns daran,
daß in den Kämpfen um ihre Unabhängigkeit wie in dem Secessionskriege
Deutschlands Sympathien der Union gehörten, wie andererseits
die Union uns in unserem letzten Kriege mit Herz und Hand
zur Seite stand. Und deshalb wünschen wir, daß in dem zweiten
Jahrhundert ihres Bestehens die Union in inniger Freundschaft zu
Deutschland verbleiben und wie bisher wachsen, blühen und gedeihen möge! Max Horwitz.
Blätter und Blüthen.
Franz von Holtzendorff †. Einer derjenigen deutschen Rechtslehrer,
die sich durch gemeinnütziges Wirken und Unabhängigkeit der Gesinnung
mit Recht einen Namen gemacht, Franz von Holtzendorff, ist am 5. Februar
in München gestorben.
Er war am 14. Oktober 1829 zu Vietmannsdorf in der Uckermark geboren, studirte Jurisprudenz, habiltirte sich 1857 zu Berlin, wo er 1861 außerordentlicher, 1873 ordentlicher Professor wurde. Noch in demselben Jahre folgte er einem Rufe an die Universität zu München, wo er bis zu seinen Tode als Lehrer des Straf- und Staatsrechts thätig war.
Ausnehmend zahlreich sind seine Reformschriften, welche meist die Verwaltung des Gefängnißwesens, die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft vom Standpunkte unabhängiger Strafjustiz, die Aufhebung der Todesstrafe betreffen. Wir haben in dem Artikel „Ein Vorkämpfer der humanen Rechtswissenschaft“ (Jahrg. 1875, S. 537) eingehend diese Seite seines öffentlichen Wirkens beleuchtet; auch über sein Auftreten im Prozeß Arnim haben wir gesprochen in dem Artikel „Die Hauptakteurs im Drama Arnim“ (Jahrg. 1875, S. 9.)
Auf religiösem Gebiete schloß sich Holtzendorff der freien kirchlichen Bewegung an; die Eingriffe der Brüderschaft des Rauhen Hauses in die Strafanstalten, gegen die er schon 1861 und 1862 heftige Broschüren geschleudert hatte, mochten ihm die Betheiligung am Protestantentag nahe legen. Er gehörte seitdem zu den Führern des Vereins (vergl. „Protestantische Charakterköpfe“, Jahrg. 1868, S. 470). Nicht geringere Verdienste hat er sich um den deutschen Juristentag erworben. Wenn sein „Handbuch des Strafrechts“ und andere Schriften ihn als gediegenen Vertreter der strengen Wissenschaft erscheinen lassen, so ist er ebenso thätig gewesen als Verbreiter volksthümlicher Bildung und zwar durch seine „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“, die er mit Virchow seit 1866 herausgab, und durch die „Zeit- und Streitfragen“.
So tritt das Bild des Verstorbenen als ein scharf ausgeprägter
Charakterkopf vor uns hin; der Muth der Wahrheitsliebe, der rastlose
Eifer, zwischen der Gelehrsamkeit und dem Volksleben zu vermitteln, die
Gewandtheit in Rede und Schrift sichern ihm ein ehrenvolles Angedenken. †
Die Schneewegschaffung in Berlin. (Mit Illustration auf S. 133.) Berlin im Schnee – ein hübsches Ausstattungsstück von eigenem Reiz, zumal wenn sich die Residenz an einem schönen Wintermorgen in diesem weißen, aber kalten Daunenkleide präsentirt. Hei, wie werden da schnell vor Schulanfang die heißesten Kämpfe geliefert, wie mancher Schneeball fliegt aus sicherem Versteck dem harmlosen Passanten an den Kopf, wie rasch verkündet lustiges Schellengeläut, daß nun auch die Schlitten in der Kaiserstadt zu ihrem seltenen Recht gelangen! Und als Gegensatz zu dieser fröhlichen Seite der Medaille: wie viele ärgerliche Ausrufe werden laut, hier von den dienstbaren Hausgeistern, welche flink die Bürgersteige fegen müssen, dort von den Kutschern, deren Pferde unversehens zu Fall kommen, da von den Fahrgästen der Pferdebahnen, denn trotz des sogleich angelegten Vorspanns und der von den frühesten Morgenstunden an arbeitenden Salzstreumaschinen geht es nur langsam und unpünktlich vorwärts. Lange freilich dauert die Herrlichkeit nicht an, der Magistrat einer wohllöblichen Haupt- und Residenzstadt läßt sich von niemand, am wenigsten von einer Frau, selbst wenn sie Holle heißt, in sein Sauberkeitsgefühl pfuschen, und so wird im Umdrehen ein erbarmungsloser Vernichtungskrieg gegen die auf den Straßen und Plätzen liegenden Schneemassen eröffnet. Sind dieselben sehr umfangreich, so rückt alsbald ein Heer von etwa zweitausend Arbeitern ins Treffen und beginnt mit Schaufeln, Hacken und Besen zur selben Stunde von zwanzig Centren aus – in so viele Sektionen ist Berlin zum Zweck der Straßenreinigung getheilt – den Kampf. Als begleitender Train erscheinen etwa tausend Wagen, die unaufhörlich hin- und herfahren und von denen jeder durchschnittlich täglich bis acht Fuhren erledigt.
Ausstattungsstücke verursachen aber viele Kosten, das merkt recht deutlich der Magistrat, und je mehr der Himmel an Schnee ausschüttet, desto schmaler und hohlwangiger wird der Stadtsäckel. Die Arbeiter erhalten pro Person und pro Tag zwei Mark, jede Fuhre wird mit einer Mark fünfundsiebzig Pfennig bezahlt – werden also die eben genannten Kräfte in vollem Umfang in Anspruch genommen, so ergiebt dies allein bereits an einem Tage 18 000 Mark, zu denen sich noch mancherlei Unkosten, wie Neubeschaffung von Geräthen, Schmiedearbeiten, Reparaturen an den Wagen etc. gesellen, so daß ein tüchtiger Schneefall der Stadt an einem Tage 20 000 Mark kosten kann. Im Jahresetat des Magistrats sind allein für diese Fälle 125- bis 170 000 Mark ausgesetzt, welche Summe aber in schneereichen Wintern (z. B. im vergangenen, wo die Kosten der Schneeabfuhren 454 000 Mark betrugen; die Gesammtausgaben für die Straßenreinigung Berlins stellten sich in jenem Etatsjahre auf 2 094 000 Mark!) bedeutend überschritten wird.
Aufforderung zum Kampf. (Mit Illustration S. 136 u. 137.). Affe zu sein, ist von jeher von unzähligen Menschen als ein humoristischer Beruf betrachtet worden. Fast jeder stellt sich unwillkürlich den Affen als unausgesetzt lustiges Thier vor, allem Ernste abhold, und der alte Fibelvers: „Der Affe sehr possirlich ist, zumal wenn er vom Apfel frißt“ spricht die Ueberzeugung von Millionen gewissenhaft aus. Es ist dies kein Wunder, denn mögen wir junge, wie dies meistens der Fall ist, oder alte, große oder kleine Affen sehen, fast ohne Ausnahme machen sie einen komischen, zum Lachen reizenden Eindruck und veranlassen unbewußt den Schluß, ihr inneres Wesen müsse dem äußeren Anschein entsprechen. Daher könnte man auch ohne die Unterschrift unter dem Spechtschen großen Affenbilde die hier lebendig geschilderte Scene wohl für eine lustige Affenbegegnung halten; aber es wäre dies ein Irrthum, wie auch die vorerwähnte Meinung im wesentlichen irrthümlich ist.
Die Affen, wie die Zoologen behaupten unsere ehrenwerthen Herren Vettern, bilden hinsichtlich ihres inneren Wesens keineswegs durch dessen etwaige unausgesetzte Lustigkeit eine Ausnahme von der Regel. Diese Regel ist, daß alle höher veranlagten Geschöpfe in der Jugend heiter sind, mit den Jahren aber ernster werden. Die Sorge, die dazu kommt, beschleunigt und verstärkt diese Aenderung, verursacht sie aber nicht, denn sonst müßten alle Menschen, denen sorglose Verhältnisse in die Wiege gelegt wurden, stets urvergnügt durchs Leben wandern. So ist es aber auch mit dem Affen. Schon Busch sagt ist seinem naturgeschichtlichen Alphabet: „Im Ameishaufen wimmelt es, der Aff’ frißt nie Verschimmeltes.“ Damit ist schon schlagend ausgedrückt, daß der Affe sehr wohl ernsten, begründeten Erwägungen zugänglich ist und ihnen angemessen handelt, sobald sein Alter ihn dazu befähigt. Wie die Menschenknospe, wenn sie, von Vater und Mutter gepflegt, ein Kinderleben führen darf, ein heiteres, höchstens von schnöden Schulsorgen beeinträchtigtes Dasein genießt, so geht es auch der Affenknospe, allerdings in erweitertem Grade, denn Schulsorgen kennt diese nicht. Von der Mutterliebe behütet, darf sie ein unbegrenzt heiteres Leben führen, denn wenn auch der Affenvater, mag er, wie die Paviane, als Sultan oder Mormone oder als sich bescheidender Gatte leben, seinen Sprößlingen gegenüber meistens von dem Gefühl absoluter Wurstigkeit (um diesen durch den Reichskanzler parlamentarisch gewordenen Ausdruck zu gebrauchen) beseelt ist, so wird dies von der Affenmutter reichlich ersetzt, denn auch bei ihr geht Mutterliebe über alles, selbst über den Verstand. Wird aber die Affenknospe zur Blüthe und Frucht, dann tritt die Heiterkeit zurück, Hunger und Liebe werden auch dem älteren Affen die ernsten Veranlassungen zu seinem Thun, und wenn er uns dann noch komisch und vermeintlich lustig erscheint, so ist dies der Fall, weil eben die Affengestalt, und zwar bei den sogen. menschenähnlichen Affen am meisten, eine Karikatur des Menschen ist und uns daher alle Affenbewegungen lächerlich und lustig erscheinen.
[148] So macht auch das Spechtsche Bild, wo zwei Schimpansenfamilien
aufeinander losgehen, gleichviel ob aus Futterneid, persönlicher Feindschaft
oder dergleichen, zunächst einen lustigen Eindruck, obgleich ein genauerer
Blick, z. B. auf den im Vordergrund nach Gorilla-Art sich auf die Brust
schlagenden Schimpansenvater den Ernst der Scene wohl erkennen läßt.
Wie der Kampf ausfallen, ob es überhaupt dazu kommen wird, ist fraglich
und der Vermuthung des Beschauers überlassen. Möglich, daß auch
hier gilt, was jene Potsdamer Aepfelfrau Friedrich dem Großen antwortete,
als er sie nach beendigtem siebenjährigen Kriege fragte, ob sie sich
nicht auch über den geschlossenen Frieden freue: „Pack schlägt sich, Pack
verträgt sich.“ H. L–n.
Noch einmal der Daimlersche Motor. Wir haben schon einmal, im Jahrgang 1888 der „Gartenlaube“, S. 148, von dem Daimlerschen Motor berichtet, der zu der Reihe der durch Petroleum in Gang gesetzten Motoren zählt und dessen Verwendung in der Industrie und in unserem Verkehrsleben eine überaus vielseitige ist. Mit diesem Motor können nicht allein Maschinen aller Art, wie Wasserpumpen, Obstmühlen, Feuerspritzen u. s. w. in Betrieb gesetzt werden, sondern er eignet sich auch vorzüglich zur Fortbewegung von Wagen sowohl auf geschienten Bahnen wie auch auf gewöhnlichen Straßen. Der Daimlersche Motor macht die Bespannung entbehrlich und ist darum geeignet, unsere Verkehrsmittel zu vervollkommnen. Die Art und Weise, in welcher dies geschieht, wollen wir ganz kurz an zwei Beispielen erläutern. – Zunächst führen wir unsern Lesern ein Sitzrad vor, welches durch diesen Motor in Gang gesetzt wird. Die Anordnung des Mechanismus ist aus Fig. 2 ersichtlich. Unter dem Sitz (B) befindet sich der Motor A von 1/2 Pferdekraft; er findet zwischen den Beinen des Reiters bequem Platz. Der Motor saugt das zum Betrieb nöthige Petroleum selbstthätig aus dem Behälter C ein und der Radfahrer braucht nur die Menge des Zuflusses an dem Hahne d zu reguliren. Soll nun der Motor in Gang gesetzt werden, so wird die Lampe e angezündet und der Motor mittels der Kurbel einmal angedreht. Diese Vorbereitung ist in einer Minute geschehen; der Motor arbeitet ruhig, da zur Dämpfung des Auspuffes der Topf F in die Auspuffleitung (f) eingeschaltet ist. Das Stahlrad steht noch still. Soll dieses in Bewegung gesetzt werden, so besteigt der Radfahrer dasselbe, ergreift das Steuer G und bringt den Motor mit dem Velocipedrade in Verbindung. Dies geschieht durch den Hebel H, die Schnur i und die Spannrolle k. Durch diese wird nämlich der Treibriemen L gegen die Scheiben M und N angezogen. Auf unserer Abbildung sehen wir zwei verschieden große Riemscheiben; die eine ist durch eine punktirte, die andere durch eine dickausgezogene Linie angedeutet. Diese Riemscheiben dienen zur Erzielung verschiedener Geschwindigkeiten. Wird der Treibriemen in die punktirte Lage gebracht, so fährt das Stahlrad langsam, wird er dagegen in die dick ausgezogene Lage gebracht, so wird ein schnelleres Fahren erzielt. Die Bremse p wird durch die Schnur o angezogen. Durch Zurücklegen des Hebels H wird der Treibriemen wieder los und die Bewegung des Fahrzeugs erreicht ihr Ende.
Der erste erfolgreiche Versuch mit dieser Fahrmaschine wurde am 10. November 1886 in Cannstatt angestellt. Für die praktische Verwendung derselben ist besonders zu betonen, daß sie, wenn eine entsprechende, leicht auszuführende Konstruktion des Sitzes wie des Radgestelles angebracht wird, auch als selbst lenkbarer Krankenwagen für Gelähmte verwendet werden kann.
Als zweites Beispiel für die Verwendung des Daimlerschen Motors bei unseren Fahrzeugen führen wir eine selbstfahrende Kutsche an, mit der zuerst am 4. März 1887 in Eßlingen Versuche angestellt wurden.
Ihr Betrieb (vergl. Fig. 4) ist ähnlich dem des Sitzrades. Auch hier sitzen auf der Achse des Motors A zwei Riemscheiben b und c, die durch den Handhebel d bequem aus- oder eingerückt werden können, wobei sie entweder lose oder fest auf der Achse sitzen. Die eine (b) ist für den Schnellgang, die andere (c) für den Langsamgang bestimmt, während für den Stillstand der Kutsche beide Scheiben ausgerückt werden. Diese Riemscheiben stehen durch je einen Riemen mit den Scheiben e und f in Verbindung. e und f sitzen auf der Achse g, welche am Hintertheil des Wagens unter den Wagenfedern gelagert ist. Diese Achse trägt die Zahnräder h, welche in die Zahnkränze i eingreifen, die an den Speichen der hinteren Räder angebracht sind. Wird nun durch die Drehung der Riemscheiben auch die Achse gedreht, so greifen die Zahnräder h in die Zahnkränze i ein, die Räder drehen sich vorwärts und die Kutsche wird fortbewegt. Der Kutscher, der wie üblich vorne sitzt, lenkt den Wagen mit dem Steuer k, das zu seiner Linken liegt. Der Drehapparat ist an dem Vordergestell durch den Zahnkranzbogen l angebracht, in den das Zahnrad m eingreift. Der Hebel d, durch den die Kutsche in Gang gesetzt oder zum Stillstand gebracht wird, befindet sich zur Rechten des Kutschers, außerdem ist an der Kutsche eine gewöhnliche Bremse vorgesehen.
An einer großen Anzahl der vorhandenen Kutschen, Postwagen etc. kann
die Daimlersche Betriebsvorrichtung angebracht werden. – Welcher Vortheil
für das Verkehrsleben erwachsen würde, wenn man Pferde durch brauchbare
kleine Maschinen ersetzen könnte, liegt klar auf der Hand. Der Daimlersche
Motor scheint berufen zu sein, die Lösung dieser Frage, die schon seit
langen Jahren angestrebt wird, wirklich zum Austrag zu bringen. *
M. C. in Bornheim. Die Novelle „Der Kurfürst und der Geldfürst“ von Louise Mühlbach ist im Jahrgang 1863 der „Gartenlaube“ erschienen.
Lesekränzchen, Lüttichaustraße, Dresden. Der Erzähler heißt so wie in unserem „Gartenlaube-Kalender“ angegeben ist.
Inhalt: Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 133. – Deutschlands Narrenresidenz. S. 139. Mit Illustrationen S. 139, 140 und 141. – In den Wolken. Eine Waldgeschichte von Heinrich Noé. S. 142. – Prinz Karneval. Gedicht von Ida John. Mit Illustration S. 145. – Zur Säkularfeier der Union. Von Max Horwitz. Mit Illustration S. 146. – Blätter und Blüthen: Franz von Holtzendorff †. S. 147. – Die Schneewegschaffung in Berlin. S. 147. Mit Illustration S.133. – Aufforderung zum Kampf. S. 147. Mit Illustration S. 136 und 137. – Noch einmal der Daimlersche Motor. Mit Abbildungen. S. 148. – Kleiner Briefkasten. S. 148.
- ↑ Er hat diesen Namen, weil in seinem Fundamente die alten Urkunden über die Einführung des Narrengerichtes niedergelegt sind. Er stand früher mehr in der Mitte der Straße und wurde im Jahre 1858, um Raum zu gewinnen, an seine jetzige Stelle versetzt. Bei dieser Gelegenheit kamen die Urkunden zum Vorschein. Leider war man jedoch nicht im Stande, ihren Inhalt zu entziffern, da derselbe fast völlig unleserlich geworden war. Das rasch zusammengerufene Narrengericht mußte sich daher damit begnügen, die Urkunden unter den üblichen „Narren-Ceremonien“ in das neue Fundament zu versenken und ihnen ein von sämmtlichen Mitgliedern des Gerichts unterzeichnetes Protokoll über das Geschehene beizulegen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Sadt