Die Gartenlaube (1889)/Heft 8
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No. 8. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Lore von Tollen. |
Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten. | |
(Fortsetzung.) | Roman von W. Heimburg. |
Lore befand sich indessen ahnungslos auf dem Wege nach Berlin.
Sie saß in einem Coupé erster Klasse und ihr gegenüber der,
dem sie seit heute angehörte. Sie hatte beim Einsteigen aufathmend
bemerkt, daß bereits ein junger Kavallerieoffizier in
dem rothen Sammetpolster lehnte, der bei ihrem Anblick
sofort die Cigarre aus dem Fenster warf.
Der Zug raste durch die einförmige Schneelandschaft, sie verharrte regungslos mit geschlossenen Augen. Zwei- oder dreimal hob sie erschreckt die langen Wimpern, das war, als ihr Mann sie anredete mit irgend einer gleichgültigen Frage. Ihr war geistig und körperlich so schlecht zu Muthe, als stehe sie vor dem Ausbruch einer schweren Krankheit, sie konnte nicht mehr klar denken. In dem kleinen Muff hatten sich ihre Hände in einander geschlungen, und sie verlangte in dem verworrenen Gedankenflug Schreckliches von dem Gott, zu dem sie betete.
Ein Eisenbahnunglück – aber dann müßten so viele Unschuldige mitleiden! Aber ist es denn wirklich eine so große Sünde, wenn man sich selbst das Leben nimmt? Sie sah den Schienenstrang vor sich, ganz unten in weiter Ferne liefen die beiden Linien in einander, und dort, an der äußersten Spitze leuchtete ein Paar glühend rother Punkte, und die Punkte kamen näher und näher und sie wartete mit einer wilden Freude darauf, daß die keuchend daherbrausende Maschine sie zermalmen solle, sie, die dort auf den Schienen lag. Sie schrak wieder empor; ein gellender Pfiff, der Zug hielt und „St…!“ schrie der Schaffner. Die Coupéthüre wurde geöffnet. „Acht Minuten Aufenthalt!“
Ein Gewirre von Stimmen herrschte draußen; sprechende, rufende Menschen hasteten auf dem Perron durcheinander, Männer gingen mit der Oelkanne den Zug entlang und beklopften die Räder, die Packkarren rasselten dazwischen, mit Koffern und Körben hoch beladen. Endlich verlief sich der Lärm und der Schaffner sah in das Coupé, ob die Passagiere vollzählig – er wollte es wieder schließen.
„Ist hier vielleicht ein Herr Becker - Adalbert, aus Westenberg?“ fragte da ein Telegraphenbote.
Allerdings!“ antwortete Becker. „Was soll’s?“
„Eine Depesche, mein Herr!“
„Was?“ – Er nahm das Papier, entfaltete es und las, und etwas wie Schreck zuckte über sein Gesicht. Dann sah er zu Lore hinüber, die theilnahmlos dem Vorgange gefolgt war. „Es ist nichts,“ sagte er, „Dein Bruder macht sich einen Scherz mit uns. Morgen früh werde ich es Dir erzählen.“ Und er schlug lächelnd mit seinem Handschuh
[118] auf ihren Muff und schob die Depesche in die Tasche seines Pelzes.
Sie antwortete nicht, was ging sie das an? Sie wandte den Kopf nach dem Fenster und sah die Laternen des Bahnhofes verschwinden und die Lichter des Städtchens. Und weiter ging es, immer weiter in das winterliche Land hinein. Einmal schaute sie sich um nach ihm, er hatte sich bequem zurückgesetzt und war, ihres Schweigens müde, eingeschlafen. Sie musterte sein Gesicht mit großen forschenden Augen, einen Ausdruck von Ekel um ihren schönen festgeschlossenen Mund. Dann blickte sie auf den jungen Offizier. Der saß und schaute sie unverwandt an. Sie ward glühendroth, als könnte er ihre Gedanken errathen haben, und sie zog den Schleier vor das Gesicht.
„Ein Wunder!“ betete sie wieder, „lieber Gott, ein Wunder, das mich rettet!“ Mit jeder Minute ward es ihr klarer, daß es keine Möglichkeit für sie gäbe, ein Leben neben ihm zu ertragen, daß die Abneigung gegen ihn stärker sei als das strenge Pflichtgefühl, das sie in der Zeit ihres Brautstandes aufrecht erhalten, das ihr heute am Altar die Kraft gegeben hatte, das Ja! zu sprechen.
Der Zug fuhr in die Halle des Berliner Bahnhofes.
„Da sind wir schon,“ bemerkte Adalbert erwachend, bot Lore den Arm, auf den sie willenlos die Fingerspitzen legte, und führte sie zu dem Wagen, der sie in das Hotel bringen sollte. Eine kurze Strecke schweigenden Fahrens und sie hielten vor dem Portal des „Kaiserhofes“. Im Vestibül die übliche Bewillkommnung vom Hôtelpersonal; die Zimmer seien erwärmt und erleuchtet, versicherte man, und zwei Kellner und ein Hausdiener beeilten sich, die Angekommenen hinauf zu geleiten.
Abermals bot Becker seiner Frau den Arm. Sie übersah es, sie starrte mit verlangenden Augen durch die Riesenspiegelscheiben auf die Straße hinaus, in welcher das Leben der Großstadt vorüberfluthete, Menschen und Wagen in wirrem Durcheinander. – Hinaus können, dort hinaus fliehen durch die unbekannten fremden Straßen, fort – weit fort in das armselige Vaterhaus, geborgen sein dort für immer! Und die Gegenwart nur ein wüster schwerer Traum!
„Lore!“
„Geh voran!“ sagte sie tonlos.
Doch anstatt diesem Wunsch zu willfahren, zog er ihren Arm in den seinen, zwar lächelnd, aber ungeduldig und unsanft, und hielt ihn eisern an sich gepreßt, während er sie die Stufen hinan geleitete.
Sie fügte sich. Hinter ihnen ging der Hausdiener mit Reisedecken und Handkoffern; vor ihnen der Kellner.
Die Zimmer lagen im ersten Stock. Ein Herr und eine Dame kamen ihnen auf den rothen Smyrnadecken des Korridors entgegen, beide jung und beide glücklich. Der Herr trällerte ein Liedchen, die hübsche Frau, eng an seinen Arm geschmiegt, warf im Vorübergehen einen verwunderten Blick auf das todtenblasse Antlitz Lores.
Der Kellner hatte indeß eine Zimmerthür geöffnet, und sie schritt über die Schmelle des eleganten kleinen Salons, der ihr mit seinem prasselnden Kaminfeuer, seinem gedeckten Theetisch und dem frischen Veilchenduft, der einem großen Strauß ihrer blauen Lieblingsblumen entstieg, einen schmeichelnden Willkomm zu bieten schien.
Sie empfand das nicht. Sie ging mechanisch zum Fenster hinüber und schaute auf die Straße. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihres Mannes. Er befahl das Souper, schalt, daß der Strauß nicht geschmackvoll genug gebunden und daß eine Hundekälte hier sei. „Also sofort den Thee! Man ist halb erfroren nach solcher Fahrt – nicht, Frauchen?“
Sie war jetzt allein mit ihm und wandte sich um. In ihren Mienen lag plötzlich eine unheimliche Entschlossenheit. Sie lehnte an der Fensterwand; das Gesicht hob sich wie Elfenbein von dem dunkelrothen Sammet des Vorhanges ab, und ihre Augen verfolgten jede Bewegung ihres Mannes.
Er hatte eben die Koffer geöffnet und trat nun vor den Spiegel, dicht neben Lore. Er legte auf die Marmorplatte desselben Cigarrentasche, Brieftafel, Feuerzeug, Meerschaumspitze und Papiere aus seinen Taschen, und ohne einen Blick von seinem Spiegelbilde zu verwenden, ordnete er den Bart mit einem zierlichen Kamm.
Sie wartete, daß er zu ihr spreche, mit klopfendem Herzen aber muthig. Sie meinte gefunden zu haben, was sie ihm sagen wollte in aller Ruhe; fragen wollte sie ihn, woher er denn wisse, daß sie den andern liebe, und warum er, da er es gewußt, dennoch gewagt habe, seine Hand nach ihr auszustrecken? Und daß sie bei alledem glauben müsse, er habe bei seiner Werbung wohl nur an eine Repräsentantin seines Hauses gedacht – –. Sie werde gewiß die Pflichten einer solchen gewissenhaft erfüllen, aber weiter – –.
Sie stockte in ihren Gedanken und eine Purpurgluth überzog ihr Antlitz. Er hatte ihre Hände ergriffen und sah mit lächelnder Zärtlichkeit in die schönen zornigen Augen. Sie empfand den Blick wie eine Beschimpfung.
„Lassen Sie das!“ sagte sie, sich hastig befreiend. „Ich – –“ Aber sie fand die rechten Worte nicht zum Weitersprechen.
„Nun, Lore!“ unterbrach er sie lachend. „Zunächst möchte ich sprechen.“ Und in einiger Entfernung von ihr stehend lehnte er an dem Spiegel und begann zu reden. Es war, als wenn ein Schuljunge etwas Auswendiggelerntes hersagte. Ein langer und breiter Strom floß vor den Ohren Lores vorüber, über das Vertrauen, das Eheleute zu einander haben sollten, daß auch sie es zu ihm haben könne, ja haben müsse, denn er sei ein ‚guter Kerl‘, – „wahrhaftig, Lore, ein guter Kerl!“ Er könne nur eins nicht ertragen, so ein stolzes Gesicht, wie sie aufzusetzen beliebe, heute ganz besonders. Und er habe doch das ernsthafte Bestreben, sie wahrhaft glücklich zu machen, und er liebe sie rasend und bleibe nun einmal dabei, Vertrauen sei die Hauptsache, und was ihn beträfe, so läge ja sein Herz offen vor ihr da. – Er sei immer ein harmloser Bursche gewesen, und man könne ihn um den Finger wickeln, wenn man es richtig anfange. –
Sie war nicht imstande, ihm zu folgen; sie hörte nur immer wieder die Schlagworte: „Liebe, Vertrauen, Glück, guter Kerl“ –. Ihre Lippen, die sich verächtlich auf einander gepreßt hatten, öffneten sich, als er endlich schwieg. „Ich muß Zeit haben, um Vertrauen zu Ihnen fassen zu können,“ sagte sie ruhig, „bis jetzt – – ich kenne Sie kaum – –“
Sie stockte. Der Kellner trat ein, das riesige Präsentierbrett von der Schulter nehmend, begann er den Tisch mit kalten Platten zu besetzen, eilig und geräuschlos.
Lore war es, als wollten ihre Füße sie nicht mehr tragen; sie sank in den Lehnstuhl, muthlos, gebrochen vor dem erbarmungslosen Ausdruck, mit dem die Augen des Mannes sie getroffen hatten, der jetzt zornig auf und ab ging, wie ein gereiztes Thier. Sie fühlte, daß kein Ausweg war; daß es thöricht von ihr gewesen, einen solchen suchen zu wollen, daß er im Rechte, und daß es albern, nutzlos sei, auf seine Ritterlichkeit, sein Zartgefühl zu vertrauen; sie fürchtete sich vor ihm, vor seinem Lachen, seinen funkelnden Augen.
Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt. Eine furchtbare Sehnsucht nach ihrem Vater packte sie in dieser elendesten Stunde, die es für ein Weib geben kann, wenn es nicht liebt –. Der alte Mann war der einzige gewesen, der gefühlt, daß sie sich opfere; sie meinte noch seine Frage zu hören: „Lore, bist Du denn wirklich überzeugt, mit ihm glücklich zu werden? Sag’s mal ehrlich, Mädel!“ – Sie fühlte wieder den traurigen Blick, den letzten, als sie vom Wagen aus noch einmal emporschaute zum Fenster, an dem er gestanden. Er hatte sie so seltsam berührt, dieser Abschiedsgruß, als sei er ein letzter – –.
Sie fuhr empor. Der Kellner hatte das Zimmer verlassen; verzweifelt sah sie zu ihrem Gatten hinüber.
„Du hast Dir wahrscheinlich die Fortsetzung Deiner netten Ansprache überlegt?“ sagte er unheimlich freundlich; „nicht wahr, Schatz? Sie war so viel verheißend. Wie wär’s aber, wenn Du Dich entschließen könntest, endlich Deinen Hut abzulegen und zu Tische zu kommen? Du darfst während des Essens ganz ungestört Deine erste Gardinenpredigt vollenden. Ich bin ein Mann von sehr viel Geduld und außerordentlicher Nachsicht einer so schönen Frau gegenüber, mit einem Worte, ein guter Kerl.“ – Er lachte und wandte sich nach dem Tische, um die Schüsseln zu mustern.
Sie hörte nicht, was er weiter sprach. Ihre Blicke hafteten an einem halb auseinandergefalteten Papier auf der Spiegelkonsole; die blauen Buchstaben hatten anfänglich keine Bedeutung für sie gehabt, ganz mechanisch las sie:
„– wenn Lore ihn noch lebend – – kommt sofort –
Rudolf.“
[119] Sie begriff es auch jetzt noch nicht, – sie streckte die Hand aus nach dem Blatt, wie sie es vielleicht auch nach einer Zeitung gethan haben würde, um zu lesen, während der andere schreibt oder ißt.
„Ich bin nicht imstande, etwas zu genießen“ murmelte sie, während sie das Blatt entfaltete. „Papa – Schlagfluß – wenn Lore ihn noch lebend sehen will, kommt sofort zurück!“ – –
Im Fluge hatte sie es gelesen und verstanden, obgleich ihr die Depesche mit einer halblauten Verwünschung aus der Hand gerissen ward.
„Mein Vater!“ schrie sie. Sie war aufgesprungen und der Thüre zugestürzt. Da fühlte sie sich gehalten.
„Aber, Lore, mach doch keine Geschichten – zum Donnerwetter! Es wird ja nicht so schlimm sein!“ rief er roth vor Zorn – oder Schreck.
Sie stieß ihn zurück und stand vor ihm mit entsetzten Augen, an allen Gliedern bebend. „Das war der Scherz?“ stieß sie hervor, „das?“
Die ganze große Brutalität dieser Verheimlichung ward ihr mit einem Schlage klar. Sie wollte sprechen, wollte ihm sagen, daß sie ihn verachte, verabscheue, ihn, der sie um den letzten Blick des Vaters zu betrügen versuchte, aber es kam kein Wort über ihre Lippen. Stumm wandte sie ihm den Rücken und schritt der Thüre zu. Sie hörte nur noch. „Ich wollte Dich ja schonen, Kind, Du hättest es doch, weiß Gott, noch früh genug erfahren – Wo willst Du denn hin? Es geht ja gar kein Zug! – Lore, was sollen die Leute denken – zum Kuckuck – sei doch gescheit!“
Sie flog schon den Korridor hinunter und eilte aus dem großen Vestibül, an dem verwunderten Portier vorüber auf die Straße. „Nach dem Anhalter Bahnhof!“ rief sie dem nächsten Droschkenkutscher zu, „ich muß den Kurierzug nach Hamburg erreichen!“
„Geht in einer halben Stunde, Madam!“
„Fahren Sie rasch – um Gotteswillen!“ bat sie.
Da fühlte sie sich plötzlich beim Einsteigen unterstützt, und ihr Mann sprang ihr nach in den Wagen.
„Du erlaubst wohl, daß ich Dich begleite?“ fragte er höhnisch. „Es ist nur wegen der Leute, weißt Du, man pflegt doch im allgemeinen nicht so eins, zwei, drei seinem Ehemann davonzulaufen! – Recht angenehmer Abend übrigens! Und um was wird der Spektakel sein? Natürlich nur blinder Lärm, der Alte wird ein Glas Sekt zuviel getrunken haben.“
Lore schlug die Hände vor das Gesicht und unterdrückte einen Aufschrei der Empörung. Auf dem Bahnhof angekommen, flüchtete sie in ein Damencoupé, und dort lag sie während der Fahrt verzweifelnd, betend, fordernd, nur noch lebend ihn zu treffen, nur noch einmal in die alten treuen Augen sehen, nur noch einmal ihren Namen von seinen Lippen hören zu dürfen. –
Gegen Mitternacht langte der Zug in Westenberg an. Ein eisiger Wind empfing sie, als sie das warme Coupé verließ. Sie zog den Schleier vor das Gesicht und eilte über den Perron, auf der wohlbekannten Straße dahin, die zur Stadt führte. Was kümmerte sie das leise Fluchen des Menschen, der da hinter ihr schritt, was die grimmige Winternacht, die ihr Eis und Schnee ins Gesicht trieb? Sie hatte nur einen Gedanken noch: ihren Vater! Sie flog förmlich, ihren Mann weit zurücklassend, und mit athemloser Angst langte sie vor dem kleinen Hause an. In des Vaters Wohnzimmer war Licht, aber in der Schlafstube daneben hatte man beide Fensterflügel der kalten Luft geöffnet.
Sie wußte, was das bedeutete, und es überwältigte sie so, daß sie kaum noch die Kraft fand, die Klingel zu ziehen.
Und dann klangen langsame Schritte da innen, und es ward aufgethan. Die Mutter stand vor ihr, die Lampe hochhaltend.
„Mama!“ rief Lore und starrte die Frau an, die um Jahre gealtert war in den wenigen Stunden.
„Lore, Du?“ fragte die Majorin. „Aber, siehst Du, es ist doch zu spät!“
Da wandte sich die junge Frau und schob den Riegel vor die Hausthür. Dann blieb sie stehen, die Hände geballt, im Blick den furchtbarsten unversöhnlichsten Haß gegen den, der jetzt von außen die Thür zu öffnen suchte.
„Aber, Lore, was thust Du! Ist es nicht Dein Mann, der – –?“
Sie hielt die alte Dame, die öffnen wollte, mit fester Hand am Armgelenk. „Komm,“ sagte sie, „komm, bringe mich zu Papa!“
„Aber, Lore, was – –“
„Nein, nein, Mama! Er soll nicht, er darf nicht!“ wehrte sie, „er darf nicht zu Papa.“ Und sie zog die Mutter mit sich die Treppe empor und am Sterbelager sank sie nieder und legte ihr Gesicht auf die kalten starren Hände des alten Mannes, und schwere Thränen rollten aus ihren Augen.
Ihr Wunsch war erfüllt – daheim war sie, in dem ärmlichen kleinen Vaterhause. Aber so – so hatte sie es nicht gewollt!
Der Major von Tollen wurde begraben mit all dem traurigen
Pomp, den die kleine Stadt für einen alten Offizier, der
das Eiserne Kreuz getragen, aufzubringen wußte. Der Kriegerverein war mit der Fahne erschienen, die Schützengilde hatte sich
angeschlossen und der Zug war die Straße hinuntergegangen
unter den Klängen des Chopinschen Trauermarsches. Gleich hinter
dem Sarge waren die beiden Söhne geschritten, nach ihnen die
Schwiegersöhne, der junge Ehemann, dem der unbarmherzige Tod
einen Strich durch die Hochzeitsreise gemacht hatte, mit mehr
verdrießlicher als trauriger Miene. Die Leute im Städtchen
wußten es alle, daß das junge neuverheirathete Paar noch in
derselbe Nacht zurückgekommen sei, und daß Frau Lore Becker,
als sie, direkt vom Bahnhofe in das väterliche Haus eilend, die
Todeskunde erfuhr, verzweifelt zusammengebrochen war.
Ja, das Leben spielt oft wunderlich! Jetzt hätte der alte Herr doch endlich einmal aufathmen, sich im Glanz seiner Kinder sonnen können – da mußte er fort! Nun, die Beckers mochten jetzt ordentlich in die Tasche langen, denn viel zu brocken und zu beißen würde wohl für die Witwe und die Kinder nicht da sein. – So urtheilten die Damen, die im Tollenschen Salon zurückgeblieben waren bei den weiblichen Mitgliedern der Familie; so wisperten die Herren in dem langen Trauerzuge, und so raunten es sich die gaffenden Menschen auf der Straße zu.
„Ja, es ist ein Elend, wenn Leute aus so einem Stande kein Geld haben und doch immer vornehm thun wollen. Die Lore, die hat's just noch getroffen,“ sagte Frau Nachbarin Engel, als der letzte Mann des Zuges um die Straßenecke verschwand, zu ihrem hübschen Dienstmädchen, das außen auf der Straße stand. Dann schloß sie das Fenster vor der kalten Dezemberluft, welche die Wärme des Stübchens um einige Grade vermindert hatte, und setzte sogleich ein Paar Filzschuhe an den Ofen, damit ihr Gottfried es recht behaglich finde, wenn er von dem kalten Gange nach dem Friedhofe heimkehrte. – –
Und Lore saß am Tage nach dem Begräbniß in des Vaters Stube am runden Sofatisch der Mutter gegenüber, beschäftigt, die Papiere und Dokumente des Verstorbenen durchzusehen. Der Bruder mit seiner Frau, der Bräutigam Helenens und diese selbst waren wieder abgereist heute früh. Der erstere hatte großmüthig auf die „paar Kröten“ verzichtet, die der alte Herr in der Reichsbank gehegt und gepflegt, es waren zweitausend Thaler da. Tausend Mark hatte er vor kurzem gekündigt für Lores kleine Ausstattung, sie wurde damit für abgefunden erklärt, das übrige sollten die zwei andern Mädchen unter sich theilen. Rudolf erhielt nichts, da ihm im vorigen Jahre Schulden bezahlt worden seien in einer Höhe, die bereits das überstieg, was er von Rechtswegen fordern konnte. Diese Aufzeichnung hatte der alte Herr in einem verschlossenen Couvert neben seinen Personalpapieren liegen gehabt und noch etwas dabei, eine kleine Summe Geldes, die zu seinem Begräbniß bestimmt war, und bei welcher sich ein Zettelchen befand, darauf er geschrieben: „Mehr soll nicht verausgabt werden für den Zauber. Ein eichener Sarg ist nicht nothwendig; Tischler Thienemann weiß schon, hab’ mit ihm gesprochen darüber, will ihn für sechs Thaler machen. Auch kein Kuchen und Wein soll gegeben werden, man soll mir aber meine Uniform anziehen und mir den Säbel, den ich im Feldzuge getragen habe, auf den Sarg legen, sowie den alten Lorbeerkranz von meines Kaisers Bild, den mir die Lore als kleines Mädchen entgegengebracht hat, als ich damals zurückgekommen bin. Will der Kriegerverein über meinem Sarge schießen, so sollen es meine Hinterbliebenen nicht hindern. Ferner sollen meine Frau und Kinder nicht länger als vier Wochen trauern, weil mir schwarze Kleider immer ein Greuel waren und die Meinigen mich auch so betrauern werden. von Tollen.“
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[121] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [122] Lore hatte eben noch einmal das wundersame Schriftstück überlesen und lehnte sich nun aufschluchzend in den alten Stuhl zurück, in welchem der Verstorbene immer gesessen hatte.
„Gott sei Dank!“ sagte die Witwe, die mit gerötheten Augen und bekümmertem Gesicht in den Papieren suchte, „Gott sei Dank, Kind, daß Du endlich weinst!“
„Mama, glaubst Du, daß Papa gedacht hat, ich würde noch wiederkommen? Hat er wirklich gewartet auf mich?“
„Ja, Lore! Wir hatten ihm doch gesagt, daß telegraphirt sei!“
Die junge Frau hatte schon hundert selbstquälerische Fragen gethan nach den letzten Augenblicken des Vaters. „Und er hat immer so nach der Thüre geschaut?“ murmelte sie, und ich kam nicht, ich ahnte nichts!“ – – Sie sprang auf, und das Taschentuch fest gegen den Mund gepreßt, ging sie im Zimmer auf und ab, in einer so hastigen und nervösen Art, wie man es von ihr gar nicht gewöhnt war. Sie sah merkwürdig verändert aus in dem schwarzen Trauerkleide, das so schlicht an den Hüften herniederfiel und ihr Gesicht noch weißer, ihr Haar noch blonder erscheinen ließ.
„Mama,“ begann sie endlich, „wenn Becker kommen sollte – ich glaube, er sprach davon – um mich zu holen, so sage ihm, ich sei mit Käthe nach dem Kirchhof – ich – – “
„Aber, Lore, warum? Bedenke, daß Du vier Tage hier geblieben bist, und daß er sein Recht fordert, wenn er verlangt, daß Du in sein Haus kommst.“ Lore blieb vor dem Tische stehen. „Sein Recht,“ flüsterte sie, wie zu sich selbst und sah an der Mutter vorüber mit Augen so voll Todesqual, daß die alte Frau plötzlich alles begriff.
„Aber Lore!“
„Sage ihm doch, ich sei krank,“ murmelte sie. Und als packe sie ein Entschluß, trat sie mit gefalteten Händen vor die entsetzte Frau; „oder sag ihm die Wahrheit,“ sprach sie rasch und hastig, „sag, daß ich niemals zu ihm kommen würde; sag ihm, daß ich ihn hasse wie – wie nichts auf der Welt! Daß er mir ekelhaft ist wie die Schlange, die über meinen Weg kriecht, – daß er – daß –“. Sie hatte den Tisch bei Seite gestoßen und war vor der Mutter auf die Kniee gesunken, keine Spur von Thränen mehr in den brennenden Augen. „Mama,“ flehte sie, „weise mich nicht weg, laß mich bei Dir bleiben! Ich kann nicht mit ihm gehen – bei allem, was mir heilig ist auf der Welt, ich kann nicht!“
Die Majorin rührte sich nicht; sie war wie betäubt von dieser Wendung der Dinge. „Aber – aber, mein Gott!“ rief sie endlich und ergriff die Tochter an der Schulter, „Lore, weißt Du denn nicht mehr, was Du redest? Du bist nicht mehr seine Braut, Du bist seine Frau – Du mußt, hörst Du? Du mußt!“
„Nein, nein, ich muß nicht, Mama, sage das nicht!“
Da richtete Frau von Tollen sich auf. „Du bist wahrscheinlich krank,“ sprach sie ernst, gewaltsam ihre Angst bezwingend, „sonst würdest Du nicht solche Geschichten angeben. Was fällt Dir denn ein, Kind? Du hast gewußt, was Du thatest, als Du Dich verlobtest, Du hättest Dir das besser überlegen sollen, mein Herz. – Warum hast Du ihn denn genommen?“
„Warum, Mama? Du fragst das, Du?“ Und Lore sprang auf die Füße und begann zu lachen, es klang schrecklich von den blassen Lippen und sah so unheimlich aus neben den zornigen irren Augen. „Ja, Du hast recht, Mama, warum habe ich ihn genommen!“ Und sie setzte sich ans Fenster und sah auf die Straße hinab, auf welcher der Schnee zu thauen begann und die Jungen einen großen Schneemann erbauten unter Schreien und Lärmen.
Wie erkennen und verbessern wir schlechte Zimmerluft?
Gute und schlechte Zimmerluft unterscheiden wir häufig recht wohl durch den Geruchssinn. Bleiben wir aber in Gesellschaft anderer längere Zeit in einem geschlossenen Raume mit anfänglich guter Luft, so kann diese durch Athmung und Ausdünstung allmählich viel schlechter werden, ohne daß wir davon etwas merken oder doch über den Grad der Luftverschlechterung ein bestimmtes Urtheil haben. Das Empfindungsvermögen des Geruchsorgans wird eben durch Angewöhnung abgestumpft.
Daraus folgt indessen keineswegs die Unschädlichkeit schlechter Luft, sondern die um so größere Wichtigkeit einer Vorrichtung, welche uns in leicht wahrnehmbarer Weise beständig belehrt, ob die Zimmerluft noch rein genug oder in welchem Grade sie durch schädliche Beimengungen verdorben ist.
Vorrichtungen, welche nach gewissen Vorbereitungen und Manipulationen das erkennen lassen, daher „Luftprüfer“ genannt werden können, sind im letzten Jahrzehnt häufiger bekannt geworden. Sie beruhen alle auf einer chemischen Wirkung der Kohlensäure. Daß gleichwohl nicht die verhältnißmäßig geringe Menge Kohlensäure es ist, was den Aufenthalt in nicht gelüsteten und stark angefüllten Räumen unbehaglich und ungesund macht, das hat Pettenkofer schon vor mehr als dreißig Jahren bestimmt erklärt, als er den Kohlensäurezuwachs als geeigneten Maßstab für die vermuthlich im gleichen Verhältniß damit anwachsenden unbekannten schädlichen Abscheidungsstoffe von Haut und Lungen benutzte.
Auch was Du Bois-Reymond als Anthropotoxin, Menschengift, bezeichnete, ist nicht Kohlensäure, sondern ein dem Wesen nach nicht genau erforschter Stoff, der fortwährend mit der Athmungsluft aus den Lungen entfernt wird und dessen sehr giftige Wirkungen in neuester Zeit auch der Pariser Physiologe Professor Brown-Séquard gemeinsam mit Dr. d’Arsonval durch Einspritzungsversuche an Thieren nachgewiesen hat.
Nach Brown-Séquard ist der giftige Stoff wahrscheinlich ein organisches Alkaloid aus der Reihe der „Ptomaïne“ (Leichengift) benannten Zersetzungsprodukte des Körpers, ist flüchtig, in Wasser löslich, geht leicht durch das Filter hindurch. Die Flüssigkeit, welche das Gift enthält, reagirt alkalisch, und beim Aufkochen im geschlossenen Gefäß bleibt das Gift unverändert.
Bei allen diesen neuen Aufschlüssen giebt es aber bis jetzt und vielleicht noch lange kein Verfahren und keine Vorrichtung, durch welche man unmittelbar nur annähernd genau den Grad der durch den giftigen Ausathmungsstoff verursachten Luftverschlechterung oder die Anhäufung des Giftes in der Luft bestimmen könnte. Die Menge des Giftstoffes ist eben auch in stark verdorbener Luft noch sehr gering. Selbst die Menge aller organischen Substanzen, welche sich in der ausgeathmeten Luft vorfinden und von welchen das schädliche Agens ein geringer Theil sein mag, ist sehr klein, beträgt nach Dr. Rausomes Untersuchungen bei einem Erwachsenen in 24 Stunden nur 1/5 Gramm.
Von den zur Ermittlung des Kohlensäuregehaltes der Zimmerluft dienenden Vorrichtungen ist eine, der im Jahre 1882 erfundene Wolpertsche Luftprüfer, in der „Gartenlaube“ 1884, S. 19 beschrieben. Der Umstand, daß er ein kleiner leicht zu behandelnder Taschenapparat ist, mit welchem sich in sehr kurzer Zeit eine Luftuntersuchung ausführen läßt, hat demselben zwar eine große Verbreitung verschafft; doch steht einer wünschenswerthen häufigeren Anwendung die Thatsache im Wege, daß den meisten Menschen die Vornahme von besonderen Veranstaltungen, so einfach sie auch sein mögen, alsbald lästig wird.
Ein aus dem praktischen Leben gegriffener Wunsch war es daher, welcher auf einer Versammlung des Vereins für Gesundheitstechnik (München 1885) ausgesprochen wurde und welchem schon einige Jahre vorher (1882) Profeffor Hofrath Dr. Freiherr v. Tröltsch in einer Abhandlung über „Das Ohr und seine Pflege“ Ausdruck gegeben hatte: daß man ein Instrument haben sollte, welches, wie das Thermometer die Temperatur und das Barometer den Grad des eben stattfindenden Luftdrucks, die Luftbeschaffenheit beständig und sofort erkennen lassen würde.
[123] Eine solche Vorrichtung ist der daraufhin konstruierte „Wolpertsche fortgesetzt selbstthätige Luftprüfer“, dessen Anzeige auf einem neuen Grundsatze beruht: daß eine farbige Flüssigkeit, auf welche die Kohlensäure entfärbend wirkt, an einem weißen Faden hingeführt, nach Maßgabe der bis zur Entfärbung zurückgelegten kleineren oder größeren Weglänge den größeren oder kleineren Kohlensäuregehalt der Luft und damit ihre geringere oder größere Reinheit anzeigt.
Die Einrichtung des selbstthätigen Luftprüfers, welchen nebenstehende Abbildung veranschaulicht, ist folgende:
Auf einer Wandkonsole steht ein niedriges weites Glasgefäß, gefüllt mit schwacher Sodalösung, welche mit Phenolphtaleïn roth gefärbt ist. Die rothe Flüssigkeit, im Gefäß durch aufgegossenes Mineralöl gegen Einwirkung der Luft geschützt, wird mittels eines Glashebers, welcher an einem in der Flüssigkeit liegenden Schwimmer befestigt ist, in Tropfen auf einen 1/2 m langen Faden übergeleitet und röthet diesen, indem sie daran herabfließt. Die Röthung erstreckt sich auf die ganze Fadenlänge, wenn die Luft sehr rein ist. In schlechter Luft ist infolge der entfärbenden Wirkung der Kohlensäure der Faden von unten nach oben um so weiter weiß, je schlechter die Luft ist. Der Grad der Luftverschlechterung von „rein“ bis „äußerst schlecht“ (unter 0,7 bis über 4 ‰ Kohlensäuregehalt) mit den Abstufungen „noch zulässig“ (0,7 bis 1 ‰), „schlecht“ (1 bis 2 ‰), „sehr schlecht“ (2 bis 4 ‰) ist auf einer hinter dem Faden angebrachten, nach Pettenkofers Kohlensäuremaßstab festgestellten Skala abzulesen.
Die Inganghaltung des selbstthätigen Luftprüfers erfordert nur wenig Mühe und Kosten: Mischen und Nachfüllen der rothen Reagensflüssigkeit alle zehn Tage mit einer auf 24 Stunden sich vertheilenden Ausgabe von etwa einem halben Pfennig. Dagegen stehen leider die Anschaffungskosten des Apparates – selbst bei einfachster Ausstattung immer noch mehr als 10 Mark – der Einführung desselben in weiteren Kreisen hinderlich im Wege.
Darum will ich noch ein anderes und zwar recht wohlfeiles Mittel zur Luftprüfung, namentlich für Schlafzimmer, angeben:
Man löst 1 Gramm (schwach das Gewicht eines silbernen Zwanzigpfennigstücks) krystallisirte Soda, wie man sie in vielen Haushaltungen beim Waschen benutzt, in dreiviertel Liter (einer gewöhnlichen Weinflasche) Wasser auf. Davon gießt man im Schlafzimmer abends vor dem Schlafengehen 2 Eßlöffel voll in eine Untertasse und giebt einige Tropfen Phenolphtaleïnlösung dazu, welche die Sodalösung schön roth färben. Wird die Schlafzimmerluft während der Nacht zu schlecht, so ist die Flüssigkeit am Morgen wasserhell, geringes Verblassen deutet auf nur geringe Luftverschlechterung; bei sehr guter Luft würde das Verblassen der rothen Flüssigkeit in einer Nacht kaum bemerklich sein. Diese Flüssigkeit ist nicht giftig.
Die Phenolphtaleïnlösung kann man sich für länger als ein Jahr ausreichend bereiten, indem man 1 Gramm Phenolphtaleïnpulver (bei der Fabrik des selbstthätigen Luftprüfers, Reiniger, Gebbert und Schall in Erlangen für 15 Pfennig zu haben) in einem viertel Liter Spiritus löst.
Bei langem Aufbewahren der Sodalösung kann es vorkommen, daß durch Einträufeln von Phenolphtaleïn die schöne Röthung nicht entsteht. Das wäre ein Zeichen, daß die Sodalösung infolge undichten Schlusses der Aufbewahrungsflasche bereits viel Kohlensäure aufgenommen hat und nicht mehr brauchbar ist.
Zum Zwecke der Luftprüfung – wie von anderen Seiten empfohlen worden ist – ein flaches Gefäß mit Kalkwasser aufzustellen, welches in schlechter Luft trüb werde, gehört zu den Experimenten, die von einem gedacht, von andern nachgesagt, von keinem aber vorher gemacht werden. Das Kalkwasser überzieht sich nämlich mit einem Häutchen von unlöslichem kohlensauren Kalk, aber nicht nur in schlechter Zimmerluft, sondern auch in der guten Luft der freien Atmosphäre, und bei der allmählichen Absorption der Kohlensäure an der ruhigen Oberfläche des Kalkwassers bleibt dieses unter dem Häutchen ungetrübt. Man kann aber auch Kalkwasser mit Phenolphtaleïn roth färben. Verschwindet bei gesättigtem Kalkwasser die Röthung in einer Nacht, so muß die Luft äußerst schlecht sein.
Die Anwendung des selbstthätigen Luftprüfers wird in manchen Fällen erkennen lassen, daß man nicht nöthig hat, im Winter auf Kosten des Heizmaterials so verschwenderisch zu lüften wie man es seither gethan, ja daß in scheinbar dicht geschlossenen Zimmern die Luft gut bleibt, weil durch die unvermeidlichen Oeffnungen, die Fugen und Ritzen an Thüren und Fenstern wie auch durch die Mauerporen, besonders bei starkem Wind und bei großem Temperaturunterschied der inneren und äußeren Luft, bedeutender und oft genügender Luftwechsel stattfindet.
In einer weit größeren Zahl von Fällen dagegen wird der Luftprüfer zeigen, daß man in zu schlechter Luft lebt, also für Luftverbesserung sorgen muß. Es fragt sich dann, wie verbessern wir die Zimmerluft?
Was der große Liebig, der Chemiker berühmten Andenkens, empfohlen hat: zum Zweck der Luftreinigung in Zimmern Gefäße mit Kalkwasser aufzustellen, damit die Kohlensaure absorbirt werde, kann nach den vorstehenden Mittheilungen über die genauer erforschte Ursache der Luftverschlechterung nicht mehr als genügendes Luftverbesserungsmittel gelten. Ferner muß hier gesagt werden, daß Räuchermittel und Wohlgeruchsessenzen, vom Wachholderrauch an bis zum Koniferenduft und Blumengeist, die Luft nicht reiner machen, daß mehr Luftwechsel als der zufällige unumgänglich nöthig ist, so oft und so bald der Luftprüfer auf „schlecht“ zeigt.
Das einfachste und allerorts übliche Lüftungsmittel ist das Oeffnen von Fenstern, was aber zu oft wegen bekannter Unzuträglichkeiten unterbleiben muß.
Man kann aber die Menge der unmerklich durch die zufälligen kleinen Oeffnungen eindringenden reinen Luft bedeutend vermehren, wenn man den Ueberdruck der Außenluft gegen die Zimmerluft vergrößert, was in sehr einfacher Weise durch Herstellung einer entsprechenden Oeffnung am Schornstein nahe an der Zimmerdecke geschieht. Namentlich für Schlafzimmer ist das sehr zu empfehlen. An der Oeffnung wird ein Blechthürchen oder auch eine hübsche Rosette angebracht, womit man die Oeffnung bei Tage geschlossen hält, um den Zug der in den Schornstein mündenden Feuerungen nicht allzusehr zu schwächen. Wo der Schornstein durch seine Lage ungünstigen Windstößen ausgesetzt ist, läßt man eine gute Schutzkappe aufsetzen.
Bei Neubauten ist die Ausführung besonderer Luftschächte anzurathen, welche durch daneben liegende oder in ihnen emporgeführte Kaminröhren oder durch besondere kleine Heizvorrichtungen warm gehalten werden.
Wo man gleichmäßigeren und stärkeren Luftwechsel als in gewöhnlichen Wohnungen braucht, also in Räumen, welche für den Aufenthalt vieler Menschen bestimmt sind, genügen so einfache Vorrichtungen nicht. Denn die auszuwechselnden Luftmenge soll stündlich für jedes Kind 10 bis 20 Kubikmeter betragen, für jeden gesunden Erwachsenen 20 bis 40, für jeden kranken 60 bis 100. Man muß daher bei stark angefüllten Räumen auch für besondere Luftzuführung sorgen, den sogenannten Abluftkanälen entsprechend auch Zuluftkanäle in Verbindung mit Ventilations-Mantelöfen, Lufteinlaß-Säulen u. dergl. anbringen.
Für manche Zwecke sind überdies maschinelle Vorrichtungen zum Eintreiben und Absaugen der Luft am rechten Platze, Apparate verschiedener Einrichtung, wie sie zahlreich in der technischen Litteratur beschrieben sind und deren Beschaffung heutzutage nicht schwer ist, da jetzt viele Techniker sich besonders mit Ausführung von Ventilations- und Heizungsanlagen beschäftigen.
Kronprinz Rudolf von Oesterreich †.
Ein vereinsamter Kaiser sitzt in der Hofburg zu Wien! Sein einziger Sohn ist gestorben, im Beginne des Mannesalters, die Hoffnung des Vaters, die verkörperte Zukunft eines mächtigen Reiches. Und nicht nur in blühender Jugend dahingerafft, sondern gefallen von der eigenen Hand, freiwillig aus einem Dasein gegangen, das für ihn die Fülle irdischer Größe und irdischen Glanzes aufzusparen schien. Die Geschichte wird noch in spätesten Tagen dieses grauenhafte Ereigniß mit düsteren Lettern verzeichnen. Und alle neuen Enthüllungen tragen nur dazu bei, das Trauerspiel, davon wir schaudernd Zeuge geworden, uns ergreifender und zugleich befremdender erscheinen zu lassen. Mag jetzt das letzte Wort des Räthsels gesprochen sein, mögen sich die Motive errathen lassen, die zu der Schreckensthat führten: es bleibt doch noch ein unerklärter Rest übrig, jene Verkettung der Gefühle, die auf den Erben eines großen Thrones und Reiches eine so zwingende Gewalt auszuüben vermochten, daß er auf eine große Zukunft, eine hohe Sendung verzichtete und den Tod suchte. Die Tragödie von Meyerling wird noch lange die Gemüther der Menschen mit wechselnden Empfindungen bestürmen und hat die Zeit beruhigend und mildernd gewirkt, so werden die Blicke mit stiller Wehmuth auf dem Grab eines so früh geschiedenen, verheißungsvollen Fürstensohnes ruhen.
Während der vierzig Regierungsjahre, deren Abschluß Kaiser Franz Joseph I. am 2. Dezember 1888 beging, hat Oesterreich Gutes und Schlimmes in reichem Maße durchgemacht. Es hat getrauert und hat Feste gefeiert; es hat gejubelt und hat geweint; es hat muthlos die Arme sinken lassen und hat mit Zuversicht des Kommenden geharrt. Aber noch nie – das ist nicht zuviel gesagt – waren alle Schichten der Bevölkerung in ihrem rein menschlichen Empfinden so tief aufgewühlt, noch nie so ganz erfüllt von namenlosem Leid wie an dem unvergeßlichen 30. Januar 1889, an welchem Kronprinz Erzherzog Rudolf auf seinem Jagdschlosse Meyerling bei Baden als Leichnam aufgefunden wurde. Und besonders Wien, die Geburtsstadt Rudolfs – am 21. August des Jahres 1858 erblickte er hier das Licht der Welt – trug eine Stimmung zur Schau, die selbst in den bösesten Tagen der Monarchie nicht zum Durchbruche kam. Keine Schilderung vermag darzustellen, welche Physiognomie die Kaiserstadt an diesem 30. Januar zeigte. Gegen mittag verbreiteten sich die ersten Gerüchte über einen Jagdunfall, welcher den Prinzen betroffen habe; sie drangen immer weiter, wurden immer lauter, nahmen immer abenteuerlichere Formen an, aber so viel stand endlich fest: der Kronprinz war todt. Ganz Wien schrie verzweifelt wie unter einer schweren Verwundung auf. Als an der Börse die Schreckensnachricht amtlich kundgemacht wurde, fielen starke Männer in Ohnmacht. Oeffentliche Persönlichkeiten, von denen man voraussetzte, daß sie Näheres mittheilen konnten, wurden auf offener Straße von ihnen fremden Leuten angehalten und um Auskunft gebeten. Als die Sonderausgaben der Zeitungen erschienen, wurden die Verkaufsstellen förmlich belagert; man jagte ungestüm nach den Blättern, man las sie inmitten dichtgedrängter Gruppen vor; wer eines in Händen trug, mußte achthaben, damit es ihm nicht entrissen wurde; die Kolportage ist in Oesterreich gesetzlich verboten; diesmal wurden in allen Straßen und Gassen Blätter kolportirt, die Behörde machte keine Miene, sich hindernd einzumengen.
Verordnungen, Gewohnheiten traten zurück vor der Uebermacht eines allgemeinen Unglückes. Der cisleithanische Ministerpräsident, Graf v. Taaffe, wurde aus dem Abgeordnetenhause in die Hofburg beschieden, um von dem Kaiser, dessen Jugendfreund er ist und der ihn in vertrauten Stunden duzt, das Ungeheuerliche zu erfahren. Als er, halb von Sinnen, die Hofburg verließ, flog er ohne Hut und Ueberrock die Treppe hinab und kam so ins Abgeordnetenhaus zurück. Allenthalben sah man schluchzende, die Hände ringende Menschen. Je nach ihrem Temperament gestikulirten die einen, wie um sich Luft zu machen, die andern schlichen gebeugt dahin. Auch wer nicht ahnte, was sich zugetragen, mußte rasch erkennen, daß etwas Außerordentliches vorgehe … In solchen Zügen spricht sich deutlicher als sonstwie die echte Theilnahme einer Bevölkerung aus. Ein kleiner Kreis mag aus Eigensucht oder Wohldienerei eine Trauer heucheln; die Bevölkerung einer Stadt bekundet nur, was sie wirklich im Innersten fühlt.
Kronprinz Rudolf war als echtes Kind seiner Zeit eine zu vielseitige Persönlichkeit, als daß es jemand gelingen könnte, mit wenigen Strichen sein Bildniß zu fertigen – gelingen zumal der Hand eines Oesterreichers, die noch unter dem ersten Eindrucke des Trauerspieles von Meyerling zittert. Erzherzog Rudolf war keine jener kleinen Prinzennaturen, die sich darin auszugeben vermögen, die Würde ihrer Stellung repräsentativ zu vertreten. Auch keine Liebhaberei genügte ihm. Im Genießen wie im Wirken griff er nach allen Seiten aus. Als Knabe schon legte er die Eigenschaft an den Tag, sich ein möglichst ausgedehntes Gebiet des Wissens zu erobern und sich durch nichts Einzelnes von dem Ganzen abwendig machen zu lassen. Als er vierzehn Jahre alt war, machte er die Prüfung aus der ungarischen Geschichte in ungarischer Sprache, mit sechzehn Jahren jene in der Geschichte Böhmens in böhmischer Sprache. Damals konnte einer seiner Lehrer in einer öffentlichen Darlegung betonen, daß der Prinz besondere Neigung für Naturwissenschaften, Weltgeschichte und Kunstgeschichte hege. Den Naturwissenschaften ist er bis an seinen Tod treu geblieben, sie gaben nicht nur seiner Bildung die entscheidende Richtung, sondern sie mußten begreiflicherweise das Gesammte seiner Weltanschauung beeinflussen.
Ein Kronprinz, der mit einem Manne wie Brehm auf dem Fuße des freundschaftlichen Forschungsgenossen steht, nöthigt uns von vornherein, auf seine Zukunft als Regent Schlüsse zu ziehen, welche sich aus einer naturwissenschaftlichen Quelle wie von selbst ergeben. Er beobachtete mit ganz besonderer Vorliebe die Thierwelt, in erster Linie die Vögel, aber er that dies, während er als Jäger dem Weidwerk oblag. Er studierte, die Büchse auf der Schulter. So lösten sich Gegensätze in seinem Wesen gefällig auf. Einseitigkeit lag ihm ferne. Seine Fertigkeit in jeder ritterlichen Uebung verhinderte ihn nicht, hervorragende Erscheinungen der Litteratur mit eifriger Beflissenheit zu verfolgen; er schrieb ein elegantes klares Deutsch, aber er kutschirte auch mit großer Gewandtheit seinen Phaëton; er verkehrte gern mit Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern, aber er begriff, daß er als zukünftiger Kriegsherr einer großen Armee militärische Pflichten habe, nahm deshalb seine soldatischen Geschäfte ernst und entsprach mit Hingebung der ihm vor etwa einem Jahre verliehenen Stellung als Generalinspektor der Infanterie; er vergaß nie, daß er als Kronprinz seine Individualität nicht vordrängen dürfe, aber so oft er im Auftrage des Kaisers das Wort zu ergreifen hatte, offenbarte er sein starkes Rednertalent, das ihm ermöglichte, mit scharf ausgefeilten, prägnanten Sätzen die Hörer merklich zu bewegen. –
Litterarisch bethätigte er sich zuerst als Mitarbeiter an Brehms „Thierleben“, für das er über mehrere Raubvögelarten und über den Rackelhahn schrieb. Brehm begleitete ihn auf mehreren Jagdausflügen und wissenschaftlichen Fahrten.[1] Aus dem nebenher zu einem fremden Werke beitragenden wurde ein selbständiger Schriftsteller, die Ausflüge wurden zu Reisen. In drei Büchern: „Fünfzehn Tage auf der Donau“, „Eine Orientreise“ und einem Bande „Jagdbeobachtungen“, setzte sich der Kronprinz mit der Lesewelt in direkte Verbindung. Seine Werke hätten auch dann Anerkennung gefunden, wäre nicht der Sohn des Kaisers von Oesterreich ihr Verfasser gewesen. Feine Beobachtung und anschauliche, temperamentvolle Darstellung, getragen von tiefgesättigtem Wissen, heben seine Schriften hoch über die Gewöhnlichkeit empor. Im Jahre 1885 gründete er das Lieferungswerk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, das, auf fünfzehn Bände angelegt, zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum des Kaisers – Dezember 1898 – vollendet sein sollte.
In zwei Sprachen, deutsch und ungarisch, erscheinend, steht es unter der Redaktion von Joseph v. Weilen für die deutsche, Moritz Jokai für die ungarische Ausgabe. Die oberste Leitung führte der Kronprinz, der sich um diese seine Lieblingsschöpfung bis in die geringsten Einzelheiten bekümmerte. Das Weitererscheinen des Werkes ist bereits gesichert. Diese Thatsache darf freudig begrüßt werden, denn in dem schönen Unternehmen haben die besten Geister des Reiches ein Stelldichein gefunden; eine stattliche Schar tüchtiger Künstler konnte in dem illustrativen Theile ihre Fähigkeiten bekunden, und vor allem reizt zu dauernder Pflege der Grundgedanke, der dem Kronprinzen vorgeschwebt: die
[125][126] verschieden gearteten Theile, aus denen Oesterreich-Ungarn besteht, litterarisch zu vereinigen, den einen Volksstamm mit dem anderen bekannt zu machen, jedes Kronlandes Eigenschaften liebevoll zu behandeln. Kronprinz Rudolf steuerte zu dem Lieferungswerke werthvolle Arbeiten aus seiner Feder bei. Seine Schilderung des Wienerwaldes ist ein Muster an naturtreuer Beschreibung, frischer, stimmungsvoller Malerei, dabei frei von aller falschen Romantik, im Ausdrucke knapp und einfach.
Aeußerlich hatte der Kronprinz noch wenig erlebt. Aus den spärlichen Daten, die überhaupt zu erwähnen sind, muß seine am 10. Mai 1881 mit Prinzessin Stephanie von Belgien erfolgte Vermählung und die Geburt seines Töchterchens Elisabeth (2. September 1883) hervorgehoben werden. Im übrigen thun trockene Jahreszahlen wenig zur Sache. Man müßte durchaus auf geistige Elemente eingehen, um die Eigenart des uns Entrissenen zu kennzeichnen. Von seinen Eltern hatte er das Beste geerbt, vom Vater die Rastlosigkeit in der Arbeit, von der Mutter die Freude an den Hervorbringungen der Dichter und Denker. Als der Erzherzog vorige Weihnacht eine Sammlung ungedruckter Briefe Heinrich Heines seiner Mutter bescherte und diese eine wahrhaft herzliche Freude über das Geschenk äußerte, da mochte man sich wieder einmal daran erinnern, woher der starke litterarische Einschlag stamme, der in des Kronprinzen Anlagen zu finden war . . . Was er war, was er noch hätte sein können und sicherlich geworden wäre, das ruht nun in schmuckreichem Sarge in der Kaisergruft des Wiener Kapuzinerklosters, und von dieser Gruft schweifen unsere Gedanken hinüber auf die lärmende Ringstraße, wo ein mächtiger Quadernbau aus der Erde steigt: die neue Hofburg. Im Jahre 1898 soll Franz Joseph sie beziehen. Ihm und dem Sohne sollten dort Räume bereitet werden, würdig ihrer Bewohner. Der Sohn bedarf ihrer nicht mehr. Die erhabenen Hallen thun nur dem einen, dem trauernden Vater sich auf – der Kaiser ist vereinsamt! – Und doch wieder nicht allein! Mit siegender Allgewalt hat sich der Völker Liebe erhoben, dem Fürsten nahe zu sein in der schwersten Stunde seines Lebens. Versöhnt darf der Vater des heimgegangenen Sohnes diesen lindernden Balsam kosten, nie hat man es schöner ihm gedankt, daß er ist – der Vater seines Volkes! Ferdinand Groß.
Ein geheilter Othello.
(Schluß.)
Nach diesen Worten lachte Chiotti laut auf, zog den verschüchterten Knaben auf seine Kniee und rief: „Nun wollen auch wir lustig sein, nicht wahr, Mondo? Hopp, Hopp!“
Mein fragender Blick traf Angiolina, welche denselben mit einem traurigen Nicken beantwortete, gleichzeitig nach dem Fenster deutend, an das der Wind gewaltsam anschlug, als wollte sie sagen, daß Chiottis Zustand mit dem Sturme draußen im Zusammenhange stand.
In der That dauerte es nicht lange, so horchte dieser bei einem besonders heftigen Anpralle des Windes erschreckt auf und sagte, den Knaben beiseite schiebend, als ob er mit einer uns unsichtbaren Person spräche: „Gut, gut, ich höre schon, weiß ja, daß es sich für Schelme nicht schickt, beim warmen Herde zu sitzen, ei doch, ich komme! Was liegt auch an einer Kopfbeule, wenn sie gut bezahlt wird? Cospetto, man trinkt ein Glas Wein und ist ein gemachter Mann – ha, ha!“
Damit ging er, ohne auf des jungen Weibes herzzerreißenden Ruf zu hören, das ihm auf dem Fuße nacheilen wollte, von der Mutter jedoch zurückgehalten wurde.
„Laß ihn, laß ihn!“ sagte diese, „der Wein thut ihm gut, ich mag ihn lieber trunken als so trostlos sehen; bete, Kind, bete; Madonna hat das Elend geschickt, sie allein kann es von uns nehmen.“
Es lag im Tone dieser Rede ein nicht mißzuverstehender Vorwurf, der denn auch die junge Frau so schmerzlich traf, daß sie wie gebrochen in die Kniee sank, die Hände vor das Gesicht schlug und in bitterliches Schluchzen ausbrach.
Chiottis Mutter – denn dies war die Matrone – suchte offenbar die Schuld des heißblütigen Sohnes auf die Schwiegertochter zu wälzen, deren Einwilligung, als Modell für das Madonnenbild zu dienen, allerdings den ersten Ring zur ganzen Unglückskette geschmiedet; und wer wollte angesichts solchen Jammers mit dem Mutterherzen rechten?
Auch der Knabe barg jetzt sein Gesicht weinend im Schoße der Mutter, während die Alte verdrossen zum Feuer ging, um die Polenta fertig zu machen. Die Gegenwart eines Fremden mußte unter solchen Umständen als Last empfunden werden.
So verließ ich denn das jetzt stille Haus und steuerte dem Winde entgegen meiner Wohnung zu, so sehr von den Eindrücken der letzten Stunden erfüllt, daß ich der Unbill des Wetters kaum mehr achtete. Das Schicksal dieser harmlosen Menschen, welche im Grunde des Herzens brav und doch so unglücklich waren, ging mir um so näher, als sich mir für den Augenblick keine Aussicht auf eine glückliche Lösung zeigte.
Erst als ich lange schlummerlos auf meinem Lager das Vernommene nochmals reiflich überdacht, glaubte ich einen schwachen Hoffnungsschimmer entdeckt zu haben. Nach Chiottis Aeußerungen war keine bestimmte Todesnachricht eingetroffen; seine Annahme, daß der Maler gestorben sei, wurzelte vorderhand nur in der Ueberzeugung, daß die Schenkung eines so werthvollen Gegenstandes, wie das Madonnenbild in seinen Augen war, nur durch den Tod des Eigenthümers erklärt werden könne. Darüber Gewißheit zu erlangen, hatte allerdings seine Schwierigkeit, da der Maler dem jungen Ehepaare nur als Signor Edmondo bekannt war, auch in seinem Schreiben nur diesen Namen ohne nähere Adresse gezeichnet hatte; dennoch ließ ich den einmal erfaßten Hoffnungsstrahl nicht fahren, sondern begab mich schon andern Morgens in die kleine Kirche, deren Seitenschiff das Madonnenbild nach Chiottis Angabe barg. Es war vortrefflich ausgeführt, machte jedoch auf mich trotzdem mehr den Eindruck einer genialen Anfängerarbeit, als den eines vollendeten Meisterwerkes. Die Hauptsache aber war, daß sich meine Vermuthung bestätigte, indem ich nach sehr eingehender, zeitraubender Untersuchung, in den gemalten Arabesken eines Teppiches zu Füßen der Madonna versteckt, den Namen „Edmund Walter“ mit annähernder Wahrscheinlichkeit zu entziffern vermochte.
Auf Grund dieser Entdeckung und mit Zuhilfenahme eines aus der Buchhandlung bezogenen Künstlerlexikons wandte ich mich nunmehr direkt an den Maler, als dessen Heimathsort Schleswig angegeben war, verschwieg meinen Freunden jedoch diesen Versuch, um nicht vorzeitig Hoffnungen zu erwecken, für deren Erfüllung ich keinen andern Anhaltspunkt als die mir bekannte Launenhaftigkeit und Flüchtigkeit der Künstlernatur hatte. Ohne Chiottis schmerzliches Geheimniß zu verrathen, ersuchte ich meinen unbekannten Landsmann, lediglich ein Lebenszeichen zu geben, um einem braven Manne den Vorwurf, daß dessen Ungeschicklichkeit oder Unvorsichtigkeit seinem Wohlthäter das Leben gekostet, von der Seele zu nehmen, versah den Brief mit einem Begleitschreiben an die betreffende Behörde und erwartete nun mit begreiflicher Spannung das Ergebniß.
Sagte ich mir auch hundertmal, daß eine Bestätigung der Todesnachricht als der wahrscheinlichere Fall zu erwarten sei, so baute ich doch auf die germanische Zähigkeit des Landsmannes und harrte um so ungeduldiger, als mir Angiolina gelegentlich eines Besuches mittheilte, daß sich der Zustand ihres Gatten von Tag zu Tag verschlimmere.
Die „zürnende Madonna“ schwebte im Wachen und Träumen vor den Augen des im kindlichen Glauben des romanischen Volkes Erwachsenen, eine Qual, welche um so verheerender wirkte, als der Mann in seinem gefahrvollen, aber nur zeitweise die volle Manneskraft erfordernden Berufe ganze Tage müßig und mutterseelenallein auf der weiten See verbringen mußte. In der ewigen Stille solcher Einsamkeit aber lauschte er Stunde um Stunde der Stimme in seinem Innern, welche ihm ohne Unterlaß zuflüsterte: „Verworfener, sühne Deine Schuld, ehe des Himmels Zorn Dich und die Deinen trifft!“
Drei Wochen waren verflossen, als endlich der so sehr ersehnte Postbote in meine Stube trat und mir ein Schreiben aus [127] Hamburg einhändigte. Hastig öffnete ich es und sah nach der Unterschrift; da stand mit festen, deutlichen Zügen der Name „Edmund Walter!“
Wie von einem Alp befreit, athmete ich auf; er lebt, der leichtsinnige Schlingel, dachte ich und las nun getrost die vier engbeschriebenen Seiten. Doch bat ich dem Manne sofort ab: er hatte in der That eine schwere, lebensgefährliche Krankheit zu überstehen gehabt, verdankte seine Rettung nur der aufopfernden Pflege einer Dame, Tochter eines Deutsch-Amerikaners, welche er auf der Reise kennen gelernt, und war vierzehn Tage nach seiner Genesung als Gatte der schönen Samariterin zur Nachkur über den Ocean in deren Heimath gezogen. Solchen Erlebnissen gegenüber war das Verblassen früherer Ereignisse in des Künstlers Gedächtniß um so begreiflicher, als die Erinnerung an das Madonnenbild dem Schöpfer, wie derselbe diesen Mittheilungen beifügte, auf seinem jetzigen künstlerischen Standpunkte keineswegs Befriedigung gewährte. Das im liebenswürdigsten Tone gehaltene Schreiben schloß mit freundlichen Grüßen an das Ehepaar Chiotti wie mit der Versicherung, daß er das Glück, dessen er sich an der Seite seiner jungen Gattin erfreue, ohne Bedenken mit einem nochmaligen Schiffbruche gleich jenem auf der Adria erkaufen würde.
Ohne einen Augenblick zu warten, eilte ich mit dem Briefe in der Tasche zum Strande hinab, wo Chiotti, wie ich wußte, sicher zu treffen war. Seine Barke hatte bei der nächtlichen Brandung eine kleine Havarie erlitten und war zur Ausbesserung trocken gelegt worden; doch kümmerte sich der Eigenthümer nicht weiter darum, sondern lag vom Morgen bis zum Abend am Ufer in dumpfem Brüten, kaum die nothdürftigste Nahrung genießend und jede Anrede mit einem kurzen „Ja“ oder „Nein“ und jenem unheimlichen Lächeln beantwortend, das die Lippen Geistesgestörter umspielt.
So fand ich ihn auch diesmal im Ufergrase ausgestreckt, Gesicht, Brust und Arme von der Abendsonne in leuchtende Bronze getaucht, dem Anscheine nach eine schöne harmlose Staffage der Strandidylle, die mir so unvergeßlich geworden. Angiolina war, von schwerer Sorge um den Gatten getrieben, herabgekommen und hatte den kleinen Mondo auf den Rücken des Vaters gesetzt, um diesen aus der geistigen Erstarrung zu lösen. Das Jauchzen des kleinen Krauskopfes mischte sich mit dem Frohlocken der abseits badenden Kinder wie mit dem lustigen Gelächter der „Boccia“ Spielenden zu einem einzigen Jubelkonzerte, ohne jedoch den stummen Mann auch nur für einen Augenblick aus seinem Tiefsinn zu wecken. Angiolinas Auge, das eben noch mit Entzücken die reizenden Bewegungen des strampelnden Kindes bewacht, füllte sich mit Thränen; es war der letzte Versuch: wenn Mondos Lachen wirkungslos blieb, dann gab es ihrer Meinung nach kein Heilmittel mehr für den Erkrankten.
In diesem Augenblicke aber wurde die Scene plötzlich verändert. Dem Schreckensruf: „Ein Hai, ein Hai!“, von einem der badenden Knaben ausgestoßen, folgte ein dumpfes Aufklatschen in den Wellen und ein Schrei, wie ihn nur Mutterangst aus der menschlichen Kehle zu pressen vermag. Ein kleines, auf schmaler Landzunge spielendes Mädchen war, durch den Ruf erschreckt, in das Meer gestürzt und vor den Augen der Mutter in den brandenden Wogen verschwunden.
Starres Entsetzen lähmte augenblicklich jede Thätigkeit. Die Erscheinung des gefährlichen Seeungeheuers ist in jenen Gewässern ziemlich selten und deshalb um so mehr gefürchtet.
Was aber dem jubelnden Mondo nicht gelungen, das hatte der Angstschrei einer Mutter bewirkt. Chiotti wandte sich wie elektrisirt nach der Unglücksstätte und flog, nachdem er mit dem scharfen Seemannsauge die Sachlage überschaut, gleich einem vom Bogen geschnellten Pfeile dahin, um wenige Sekunden nach dem Falle des Kindes an derselben Stelle in den Wellen zu verschwinden.
Die Spanne Zeit bis zu dessen Wiedererscheinen dehnte sich zur Ewigkeit; doch endlich tauchte er auf, von hundertstimmigem Freudenschrei begrüßt, denn sein Arm umschlang das gerettete Kind!
Den folgenden Ausbruch mütterlicher Wonne und Dankbarkeit hörte ich nur mit halbem Ohr, so laut er auch ertönte; denn meine ganze Aufmerksamkeit war auf Chiotti gerichtet, wie er ans Ufer stieg, prächtig anzusehen in der leichten, an dem muskulösen Gliederbau klebenden Kleidung. Nein, das war nicht mehr derselbe Mann, der noch vor wenigen Minuten an sich und dem Himmel verzweifelnd dagelegen! Hoch aufgerichtet schritt er durch den Sand, die breite, braune Brust dehnend, als athmete er heute zum ersten Male die wonnige Luft dieses Himmelsstriches, mit strahlenden Augen um sich blickend, als sähen diese heute zum ersten Male die blühenden Gefilde dieses gesegneten Gestades! Und jetzt traf sein Blick das Wonnigste und Blühendste dieser neugewonnenen Welt, Angiolina, welche, mit Mondo in den Armen, sprachlos, zitternd vor Erregung, Angst und Freude ihm entgegentrat. Da erstarb auch ihm das Wort auf den Lippen; der Sturm in seinem Innern, die lange zurückgehaltene Gattenliebe suchte und fand einen andern Ausdruck, dessen Gebrauch allerdings nicht jedem Menschenkinde vergönnt ist. Der starke Mann hob mit den eisernen Armen Weib und Kind wie im Triumphe empor und rannte dann mit dem kostbaren Schatze so eilig davon, als könne derselbe nicht rasch genug den Blicken der neidischen Welt entzogen werden!
Ich wollte Chiotti in seinem wiedergefundenen Glück nicht stören und suchte ihn erst in später Abendstunde auf. Als ich das Fischerhaus betrat, lag noch in Chiottis Zügen ein Abglanz der Freude über die gelungene Rettung als ein „Gnadenzeichen der versöhnten Madonna“; aber das wehmüthige Zucken des Mundes verrieth hinlänglich, daß das Bewußtsein einer schweren, durch keine Sühne ungeschehen zu machenden That nicht geschwunden war.
Wäre ich darüber noch im Unklaren gewesen, die Wirkung des Schreibens, als ich dasselbe nach bestem Vermögen verdolmetschte, hätte jeden Zweifel benommen. Mit gefalteten Händen horchte Angiolina, mit schweren, wie Schluchzen tönenden Athemzügen Chiotti der freudigen Botschaft; dann preßte dieser meine Hand, als wäre sie eine Citrone, das junge Weib aber bot mir in der Herzensfreude die blühenden Lippen zum Kusse. Mein Blick traf Chiotti, doch dieser sah lächelnd zu, ein genesener freudestrahlender Mann!
Noch manchen Abend verbrachte ich in seiner Behausung, namentlich wenn Sturm und Regen den Aufenthalt im Freien verleideten und der Aufruhr der Elemente das Verlangen nach dem stillen Frieden eines häuslichen Herdes, dem Anblicke eines vollen Menschenglückes verdoppelte.
Ein volles Menschenglück? – Ja, es giebt ein solches, was auch Pessimisten in Palästen und Hütten dagegen sagen. Auch möchte ich es keinem derselben rathen, meinem zweifach geheilten Othello gegenüber daran zu zweifeln. Und das mag es wohl sein, was mir dessen markige Bronzegestalt im Rahmen der blauen stillen Meeresbucht stets in Erinnerung bringt, wenn die ersterbende Natur das Herz mit bangen Ahnungen befällt; was mir Sonnenschein und Sommerluft in die Stube zaubert, wenn die Dohlen des Winters Nahen künden und der Sturm vergilbte Blätter an die Fenster weht.
Bilder aus Spanien.[2]
In der südlichen Hälfte Spaniens wähnt der reisende Fremde sich weit, weit weg aus Europa und aus der Gegenwart entrückt. Er sieht die todte Wüste unter afrikanischer Sonnenpracht und inmitten derselben die Oasen mit paradiesischer Fruchtbarkeit, uralte Städte darin, die kaum einen Zug von moderner europäischer Kultur aufweisen, dagegen aber großartige vereinsamte oder zerfallende Spuren mittelalterlichen Glanzes, Spuren eines Zeitalters, das für die Spanier die Blüthe ihrer Geschichte bedeutet, voll eigenartiger Volksentwicklung, sittlicher Thatkraft und geistiger Regsamkeit. Die Gegenwart ist noch nicht bis dahin gedrungen. Die grandiosen Bauwerke, die sich da als Zeugen der Vergangenheit erhalten haben, drücken erhabene Elegien aus. Man muß [128] seinen Geist in einen hohen Schwung versetzen, um für diese Riesenkathedralen und burgartigen Alcazars den rechten Blick zu gewinnen; man muß mit seiner Phantasie in die fernen Zeiten zu dringen suchen, in denen um diese Steine das Leben des Volkes in üppiger Fülle wogte und die morgenländische Kultur die Ruinen abendländischer Barbarei in wunderbarem Reichthum überwucherte.
Keine spanische Stadt kann anregender zu solcher Versenkung in vergangene Tage sein als Toledo. Sie ist eine Reliquie der tausendjährigen Zeit, in welcher die Herrschaft der Römer, dann der Gothen, dann der Araber hier ihren bevorzugten Sitz gehabt hat.
Man kommt ihr nicht nahe, ohne zu fühlen, daß man aus der Gegenwart in eine weit entlegene Vergangenheit sich begiebt. Als eine Felsenfeste hebt sie sich aus dem Tajothale auf, das vor ihr wie ein Abgrund erscheint, und wie ein Festungsgraben umschlingt sie der gewundene Fluß. Eine kolossale, schwärzliche Gebirgsmauer mit natürlichen Terrassen und hinein und darauf gebauten Bastionen aus früheren Zeiten verbirgt die Stadt, von der in der Tiefe nichts als hoch oben eine citadellenartige Krönung zu sehen ist. Keine Vorstadt, kein Haus, ehe man hinter diese Umwallung des Felskopfes gelangt. Die uralte Alcantarabrücke, über welche schön die karthagischen und römischen Krieger gezogen sind, führt über den Fluß und die Schlucht. Ein massiges Thurmthor mit Zinnen auf der Höhe, ein Werk der Araber, steht auf der Brücke.
Von derselben an steigt die Straße außen an der Felswand empor und öffnet den Blick immer weiter auf das Thal mit Weinbergen, Feldern und Wiesen. Ein anderes prächtiges maurisches Bauwerk, die Puerta del Sol, wölbt sich wie ein Triumphbogen über den Weg, als wolle es dem Ankommenden nochmals zu Gemüth fuhren, daß die Stätte, die er zu betreten sich anschicke, jahrhundertelang ein arabischer Herrschersitz gewesen, daß viele maurische Könige in funkelnder Rüstung auf feurigem Roß an der Spitze ihrer Veziere durch dieses Thor hinaus zu ihrem Alcazar geritten sind.
Hoch oben biegt die Landstraße an plumpem Burgwerk vorbei in enge, holperige, auf- und absteigende Gassen, die nach wenigen Schritten schon sich labyrinthisch verschlungen zeigen. Die Häuser sind meist zweistöckig, flach gedeckt, mit großen, geschlossenen Thoren, welche den Eingang in den Hausflur bilden. In ihrem hellfarbigen und sauber gehaltenen Anstrich, mit ihren breiten und hohen Fenstern und den schmalen Gitterbalkonen davor gewähren sie an sich einen nicht unfreundlichen Anblick in der düstern Enge der stillen Gassen. Charakteristik sind ihre durchbrochenen Eisenportale von kunstvoller Schmiedearbeit, wie solche Toledo einst berühmt gemacht hat; oder man sieht schwere Holzthüren, welche dicht mit eiförmigen, ciselirten Nagelköpfen beschlagen sind, gestochene Bronzeplatten, reich gearbeitete Metallklopfer, Schilder und Wappen wie eine Rüstung an sich tragen.
Das eigentliche Leben der Stadt entwickelt sich auf dem mit einer Arkadenreihe, mit Bäumen und Springbrunnen anmuthig ausgestatteten Hauptplatz und nahebei in den Gassen, wo es Läden, Gast- und Kaffeehäuser, Marktstände und offene Werkstätten giebt, in denen zugleich alle innere Häuslichkeit sorglos sich enthüllt: das Kind in der Wiege, die Mutter, die sich die Haare macht, der Vater, welcher am Schneidertisch hockt. Es ist beinahe noch alles, wie es vor drei und vier Jahrhunderten war, nachdem auf der altmaurischen Grundlage des Gemeindewesens sich das Spanierthum ausgebreitet hatte. Ein großer Theil der weiblichen Wesen hat auch ausgesprochen maurischen Typus, ein anderer wieder mit seinen Blondköpfen mahnt an die alte gothische Abstammung. Die Männer sind ernst, zurückhaltend, stolz auf ihre Stadt, die drei Königreichen nacheinander die erste gewesen. Einst, noch im 14. Jahrhundert, gab es hier eine Bevölkerung von zweihunderttausend Menschen; jetzt leben keine zwanzigtausend mehr in dieser Versteinerung vergangener Herrlichkeit auf diesen Resten römischer, gothischer, arabischer und mittelalterlich spanischer Macht. Am Ende eines Eisenbahnstranges gelegen, ist Toledo nur noch eine Sehenswürdigkeit seiner Alterthümer wegen, abgelegen vom Hauptstrom des modernen Lebens, ein stiller Platz, wie vergessen nicht nur von der zerstörenden, sondern auch von der neubildenden Zeit. Es treibt Kleinhandel und die unentbehrlichen Gewerbe für ein paar tausend Menschen der Stadt und der Umgegend, die noch etwas mehr kaufen können als ihre dürftige tägliche Nahrung. Seine einst bewunderte Goldschmiedekunst ist zurückgeblieben, selbst in den eigenartigen Arbeiten von feinem Eisen, mit Stahl und Bronze ausgelegt, ist Toledo nicht mehr ersten Ranges in Spanien. Nur die uralte Waffenfabrik, die der Staat unterhält, behauptet ihren hohen Ruf. Sie liefert in dem Eisenstahl, wie ihn schon die maurischen Klingenschmiede hier unübertrefflich gefertigt, alle blanken Waffen für die spanische Armee, für jeden Truppentheil, für jeden militärischen Rang eine besondere Gattung, Scheiden und Griffe oft mit kunstvollster Ciselirarbeit geziert.
Mitten aus dem Straßenlabyrinth, theilweise von demselben eingezwängt, erhebt sich als vornehmstes Bauwerk die
[129][130] Kathedrale. Sie steht wie eine mächtige Burg mit ihren langen und hohen Mauern da und ihr starker Thurm mit achteckigem Helm ragt über hundert Meter in die Lüfte. Schon die reiche Ausführung der Portale zeigt, daß man es hier mit einem Prachtwerk der gothischen Baukunst zu thun hat; aber erst, wenn man den ungeheuren Innenraum zu überschauen vermag, begreift man die Großartigkeit der ganzen Anlage. Kirchliche Raumverhältnisse wie hier sind im anderen Europa auch nicht annähernd vorhanden. Das ganze Kirchenschiff des Straßburger Münsters, das 30 m hoch ist, könnte in die Mitte dieser Riesenhalle der Kathedrale von Toledo gestellt werden, die vom Fußboden bis zur Decke 33,8 m, 130 m in der Länge und 66 m in der Breite mißt. 750 Fenster mit farbigen Scheiben und Glasmalereien werfen ihr buntes Licht in diesen Raum, und er ist trotzdem nur in ein geheimnißvolles Halbdunkel getaucht. Fünf große Schiffe in der Länge und ein sechstes, welches sie im Hintergrund kreuzt, gliedern seine Weite, und 88 Pfeiler gewaltigen Umfangs, je aus 16 gebündelten Säulen gebildet, tragen das majestätische Gurtengewölbe. Nach dem engen und öden Gewirr der Straßen von Toledo vermeint man hier auf einem großen Platz zu stehen, auf dem eine Menge Kirchen nebeneinander liegt. Die ganze heutige Stadtbevölkerung kann sich bequem in diesem Bau versammeln, um zusammen ihre Andacht zu verrichten.
Erklärlich ist diese Größe des Bauwerks eben nur, wenn man an die frühere Bedeutung und Einwohnerzahl Toledos denkt und die religiöse Leidenschaft in Rechnung zieht, mit der die spanischen Christen ihre Siege über die mohammedanischen Araber nach jahrhundertelangen Kämpfen verherrlichten. Für diese Siege sollten ihre Kathedralen zeugen und der Nachwelt noch sie in Erinnerung rufen. Wo die maurischen Eroberer ihre prachtvollen Moscheen errichtet hatten, in deren Größe und Herrlichkeit sie den Triumph des Islams über das Abendland feierten, da bauten, auf ihren Ruinen, oder innerhalb ihrer Mauern, mit ihren Steinen und Säulen, die katholischen Sieger ihrerseits in heißem Ehrgeiz ihre Kirchen so groß wie möglich, wie nirgend anderswo. Allen früheren Geschlechtern, die für den christlichen Glauben gekämpft und gefallen, sollte damit auch eine Genugthuung ohne gleichen bereitet werden. Die Kathedrale in Toledo, der alten gothischen Haupt- und Bischofsstadt, war überdem eines der ersten unter diesen Triumphmonumenten der spanischen Christen, und ringsum herrschten noch lange die Mauren, als sich schon längst das Kreuz auf der Spitze ihres Thurmes mahnend erhob. Der Bau begann 1227 unter der Regierung des heiligen Ferdinand; 250 Jahre währte er und war gerade fertig geworden, als 1492 die letzten Maurenreiche in Spanien, die von Malaga und Granada, zusammenbrachen.
So stand das Wunderwerk also in doppelter Siegesbedeutung da und wurde als ein Heiligthum besonderer Art fortan verehrt. Alle Reliquien, welche die gothischen Spanier vor den Araberheeren gerettet und die ihnen in ihren Zufluchtsstätten in den nördlichen Gebirgen so lange gleich nationalen Standarten und Kleinoden gegolten, brachten sie in diesen hehren Tempel von Toledo, der sich zuerst auf dem entweihten Boden wieder erhoben. Da betteten sie die frömmsten unter ihren alten Bischöfen und Königen zur ewigen Ruhe; dahin flossen die Stiftungen, Schätze über Schätze von hunderterlei Art, und nach und nach sammelte sich hier ein ungeheurer Reichthum an Gold und Silber und Edelsteinen, an herrlichen Kunstwerken, an Gemälden, an Handschriften und Büchern, an Monstranzen und Gewändern, an Statuen und Büsten, Sarkophagen und Kreuzen.
In der Kathedrale offenbart sich die üppige Kraft des siegreichen Spanierthums im Mittelalter. Zeugniß für sie ist in Toledo noch der reiche und doch reine gothische Bau des Klosters und der Kirche San Juan de los Reyes, der 1477 unternommen wurde, nachdem die Kathedrale vollendet war. Die Kirche sieht aus wie eine Burg. Ihr Dach ist eine flache Terrasse, von einem Steingeländer umgeben, und darauf erhebt sich aus einem Kreise von Bildsäulen spanischer Könige eine sechseckige Kuppel. An dem dunklen Gemäuer hängen von oben bis unten in Reihen die großen Eisenketten, welche den christlichen Gefangenen nach der Eroberung Granadas abgenommen wurden, gewiß eine eindrucksvolle Zier, welche die Phantasie lebhaft beschäftigen muß. Verödet und gruftartig wie die Stadt Toledo, so ist längst auch Kloster und Kirchenhalle von San Juan. Aber architektonisch bilden sie eins der edelsten Denkmäler der Gothik.
Man hat von dem umwallten Platz vor der Kirche und vollends von ihrer Dachterrasse aus einen schönen Blick in das unten sich ausbreitende Thal, wie von einem vorspringenden Altan. Auf dem Kirchenplatze wurden in alten gothischen Zeiten die Reichsversammlungen abgehalten, die Konzile, auf denen die Bischöfe die Rolle der Herrscher spielten und die Könige wie ihre Vasallen erschienen. Jede dieser Sehenswürdigkeiten Toledos ist eben wie ein Legendenbuch, in dem man blättert; überall zeigt es ein Stück Geschichte, das in eigenartig pittoresken Bildern schnell an unserem geistigen Auge vorüberfliegt.
Toledo hat das Geschick Spaniens und zwar auch das unglücklichste innerhalb eines Jahrtausends bestimmt. Von hier aus rief eine Partei am Westgothenhofe im Sommer des Jahres 711 die Araber ins Land, um König Roderich zu stürzen, der dann bei Xeres de la Frontera in Andalusien nach einer furchtbaren Schlacht von angeblich sieben Tagen heldenmüthig im Kampfe fiel. Und König Roderich war insofern selber die Ursache dieser verhängnißvollen Katastrophe gewesen, als er des Grafen Julianus Tochter nach einem seiner Schlösser bei Toledo entführt hatte. Graf Julian rächte sich dadurch, daß er die Araber bei Ceuta in Afrika, wo er sie aufhalten sollte, sich ungehindert nach Spanien einschiffen ließ. Toledos Erzbischof und Generalinquisitor Bernardo de Roias war es dann wieder, der im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts die wahnsinnige Vertreibung aller maurischen Nachkommen veranlaßte und dadurch eine barbarische Vernichtung der Kultur gerade in den blühendsten Provinzen des Landes bewirkte. Eine Million von Moriskos, wie man die zurückgebliebenen und äußerlich zum Christenthum bekehrten Mauren nannte, wurde schmählich nach Afrika hinüber gejagt, wenn man sie nicht ermordete oder unterwegs verhungern ließ. Ihr Abzug machte Spanien zur Wüste; in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hatte Toledo über fünfzig Wollenwaarenfabriken; hundert Jahre später nur dreizehn, da fast diese ganze Industrie von den Moriskos nach Tunis mitgenommen worden war. Vierzigtausend Menschen hatten von der Seidenbearbeitung gelebt. Nach Vertreibung der Ungläubigen schauten sie vergebens sich nach Mitteln für ihren Unterhalt um.
Unweit von San Juan de los Reyes ist eine alte Synagoge, fünfschiffig, mit kleinen achteckigen Säulen und maurischen Bogen darauf, die Decke von getäfeltem Cedernholz, an den Wänden arabische Inschriften, der Raum von oben erleuchtet. Die Juden bauten sie, die Mauren machten eine Moschee daraus, die Christen eine Kirche, die sie Santa Maria la Blanca nannten. Noch ein anderer jüdischer Tempel ist in Toledo, eine viereckige Halle mit Säulen, die Guirlandenkapitäle haben und in die Decke vierundfünfzig [131] Bogen spannen. Auch daraus hat man eine katholische Kirche, Nuestra Señora del Transito, gemacht; aber sie steht ebenfalls leer und ist von einer Bevölkerung nicht mehr benutzt, die in der kolossalen Kathedrale mehr als genug an Raum hat. Die Juden aber konnten ihr altes Gotteshaus nicht mehr besuchen; es gab keine Israeliten mehr in Spanien, seitdem Isabella die Katholische zu Ehren des Sieges von Granada sie alle aus dem Lande trieb, damit es nicht länger durch die Anwesenheit dieser „Ungläubigen“ befleckt werde. Es sollen nach den einen 160 000, nach anderen 800 000 Juden gewesen sein, die damals Spanien verließen, und bis in die neuere Zeit wurden sie daselbst nicht geduldet.
Man behauptet in Toledo, daß der Fremde ein ganzes Jahr zum Studium der künstlerischen Schätze und architektonischen Alterthümer in der Stadt verwenden könnte. Man braucht nur den weißen Mörtel von einer Mauer abzulösen, um auf ein Figurenwerk von Stein aus der Maurenzeit oder der spanischen Gothik zu stoßen. So mancher Raum, der heute als Werkstatt dient, war einst der Prunksaal eines Vornehmen, wie die Steinhauerhallen del Moro, wo Meisterwerke arabischer Architektur von den Decken auf die Arbeiter herniederblicken. So manches nur halb bewohnte Privathaus von unscheinbarem Aeußeren birgt in seinem Innern die Marmorsäulen eines maurischen Harems und die Freskomalereien oder ciselirten Bronzezierden, die der spanische Große in den verlassenen Räumen des arabischen Palastes anbringen ließ. Stattliche Schlösser noch aus der Gothenzeit und Alcazars der Mauren sind mitten in dem bergigen Gassenlabyrinth die mächtigen Behausungen der Hospitäler, Klöster und Lehranstalten geworden und in ihre nüchternen Räume gelangt man durch Prachtportale aus der Renaissanceepoche. Sagen umspielen fast jedes alte Haus, jede Ruine, jeden Bergkopf bei Toledo, auf dem noch ein plumper Thurmrest sichtbar ist.
Von der flüsternden Sage begleitet, steigt man zur Höhe der Stadt hinauf, welche die Ruinen der Burg Karls V. trägt, des Alcazars nach der arabischen Bezeichnung, die an ihm haften geblieben ist. Seit der verhängnißvollen Nacht vom 9. auf den 10. Januar 1887, in der ein großer Brand das Schloß heimsuchte, ist auch der letzte Rest seiner alten Herrlichkeit in Trümmer gesunken; es hatte zuletzt als Militärschule gedient. Wie Karl V. sich in die Alhambra zu Granada einen Kaiserpalast hineinbauen ließ, welcher heute mit seinen vier Mauern als eine prächtige Ruine dasteht, so ließ er auch auf dem Platz der alten Königsresidenz in Toledo, auf den Grundmauern aus der Gothenzeit und mit dem Marmorstein der darauf errichteten und wieder zerstörten Maurenburg, ein neues Schloß aufführen, viereckig und von gewaltigem Umfang, mit einem starken Thurm an jeder Ecke, einer Festung gleich. Seine ernste Fassade mit den gemeißelten Arabesken, das Portal, der Hof mit seinen Arkaden, die Marmortreppen, die großartigen Stallungen im Erdgeschoß, sie alle sind nun auch zerstört, Toledo ist um eine stolze Ruine reicher. In Nr. 6 des Jahrgangs 1887 der „Gartenlaube“ finden die Leser eine Beschreibung der dahingegangenen Herrlichkeiten, auch eine Abbildung, welche die beherrschende Lage dieses großartigen Baues veranschaulicht.
Von der Höhe des Alcazar bietet sich ein entzückendes Panorama dar. Zu Füßen die hundert Zickzacklinien der Gassen und Giebel von Toledo mit der kolossalen Kathedrale, mit der imposanten Terrasse von San Juan de los Reyes, mit dem orientalischen Zinnenkranz der Bastionen, mit der Arena für die Stierkämpfe; dann die Puerta del Sol und das Thurmthor der Brücke von Alcantara abwärts nach dem Tajo zu, der wie eine Silberschlange in der Felsenschlucht sich windet. Und drüben auf den Höhen alte Gothenthürme und zerbrochenes Mauerwerk maurischer Burgen. Dann Wiesen und Felder und wellige Linien bis in die Ferne, wo die sinkende Sonne schon alles in Golddunst taucht.
Versunken in Träumerei blickt man dahin wie vom Himmel auf die Erde. Laue Lüfte umfächeln die Wangen. Da flüstert die Sage uns ins Ohr: „Einst kam auch in seinen Jünglingsjahren Karl der Große hierher, groß und stattlich, eine nordische Königsgestalt, goldlockig und mit rothblondem, wallendem Bart. Zum Maurenkönig Galafro kam er und war hier Gast im Alcazar. Er sah des Königs Töchterlein, die liebliche Galiana mit den blauschwarzen Haaren um die leuchtende Stirn, mit den stolzen Bogen über den großen, gluthvollen Sammetaugen, mit dem rosigen Mund – eine herrliche Maid, in der arabische und gothische Schönheit sich harmonisch vereinigt. Heiße Liebe erfaßte den fränkischen Herrscher zu ihr und sie litt es wohl, aber mit Kummer im Herzen. Denn der Maurenkönig von Guadalajara freite um sie, ein gewaltiger Recke und gefürchtet weit und breit mit seinem siegreichen Schwert, sie aber liebte ihn nicht. Nun kam auch der Maure wieder einmal nach dem Alcazar des Königs Galafro während der Anwesenheit des jungen Frankenkönigs und minnete vor dessen Augen um der Prinzessin Gunst. Darob ergrimmte Carolus und forderte furchtlos den Maurenfürsten zum Zweikampf. Er überwand ihn und streckte ihn todt in den Sand, schnitt ihm dann den Kopf ab und brachte ihn Galiana. Das Mädchen freute sich darüber und war nun glücklich. Der Vater aber sah ein, daß er ihrem Glück nichts in den Weg stellen dürfe; er ließ sich den Frankenkönig als Eidam gefallen, die Prinzessin nahm den christlichen Glauben an aus Liebe zu ihrem Gemahl und folgte ihm nach dem Lande der Franken.“
Blätter und Blüthen.
Der Große Kurfürst auf Rügen. (Mit Illustration S. 120 und 121.) Mit weitem Blicke, mit jener Vorahnung, welche den Männern von geschichtlicher Bedeutung eigen ist, hatte der Große Kurfürst bereits nach allen Seiten hin gleichsam das Maß genommen für des Staates künftiges Wachsthum; ja einiges von dem, womit er vorschauend den Anfang machte, schien bald nach seinem Tode wieder eingeschlafen zu sein; es schlummerte fast anderthalb Jahrhunderte hindurch, um dann von neuem zu erwachen und in einer glänzenden Auferstehung ein dauerndes Leben zu gewinnen. Der Fürst hatte den Instinkt gehabt, einen Lebenspuls seines jungen Staates herauszufühlen; das heutige Preußen und Deutschland hat ihm Recht gegeben. Seine brandenburger Marine, die selbst für den Großen Friedrich ein verschollenes Märchen war, ist jetzt wiedergeboren worden als deutsche Reichsmarine, welche die preußischen Küsten und den deutschen Handel in allen Welttheilen schützt. Ja selbst für die neue Kolonialpolitik finden wir die Vorläufer unter des Großen Kurfürsten Regierung. Damals waren die Pläne, die seinen weitblickenden Sinn beschäftigten, verfrüht, aber es waren Anweisungen auf die Zukunft. An der Küste von Guinea wurde 1682 eine brandenburgische Handelsniederlassung gegründet; schon im Jahre 1650 wollte er eine solche auf der Coromandelküste in Ostindien errichten und verhandelte deshalb mit Dänemark. Die afrikanische Handelskompagnie machte im Jahre 1682 schlechte Geschäfte; der Kurfürst übernahm dann die Kompagnie auf den Staat, doch ohne Erfolg. Es fehlte dem kleinen Brandenburg an Kapitalien und an Unternehmungsgeist, und der Große Kurfürst mußte die Aufgabe, die er sich gestellt, die Betheiligung seines Staates am Welthandel, ungelöst seinen Nachfolgern übergeben.
Nicht so unbedeutend war die brandenburgische Kriegsflotte, die der Fürst begründet hatte und die im Jahre 1681 dreißig größere und kleinere Schiffe zählte; sie hatte ihm im Kriege mit Schweden große Dienste geleistet, besonders in den Kämpfen um Vorpommern seit 1675, bei Eroberung der Inseln Usedom und Wollin.
So sehen wir auf unserem Bilde den Großen Kurfürsten, wie er, von seiner Flotte unterstützt, die Insel Rügen den Schweden zu entreißen sucht. Seine Flotte hat beim Bombardement der Küsten ihre Schuldigkeit gethan, ebenso bei dem Transport der Truppen. Jetzt landet das Heer vor seinen Augen. Ein Wald von Masten und Flaggen im Hintergrunde; Reiter und Rosse entsteigen dem Schoß der Schiffe und dringen durch die seichtere Fluth ans Land. Dort ordnen sich die Schwadronen. Hoch zu Roß, mit scharfem Blick und allgegenwärtigem Geist, hält der Kurfürst vor seinen Generalen, der glorreiche Sieger von Fehrbellin, der Begründer der hohenzollernschen Machtstellung in Europa, eine imponirende Herrschergestalt, ein mächtiger Gebieter zu Land und See. †
Von der Wiege bis zum Grabe nennt sich eine Folge von zwei- und vierhändigen Tonstücken des bekannten Kapellmeisters Karl Reinecke, die zu den liebenswürdigsten Erscheinungen der neueren Klavierlitteratur zählen. Voll zarter Innigkeit schlingen sich reizende Melodien zum Kranze, der die einzelnen Lebensbilder: Kindheit, Jugendleben, Liebe, Hochzeit und alles, was das Menschenleben Holdes und Schweres bringt, umschließt. Von besonderem Liebreiz sind „Kindesträume“, „Schöne Maiennacht“, „Im Silberkranze“ und das feierliche „Ad astra“, wo der sich lösenden und aufwärts ziehenden Seele noch einmal wie ein leiser Hauch die Liebesweise jener Maiennacht durch die Erinnerung zieht. Auch der originelle Hochzeitsmarsch wird sich sicher bald einer großen Beliebtheit erfreuen, da er, wie beinahe alle Stücke der Sammlung, ohne besondere Schwierigkeiten auszuführen und daher allen jenen zugänglich ist, die auf die Ausübung schwerer Bravourstücke verzichten müssen. Und hierin erblicken wir einen Hauptvorzug des schönen Werkes. Die Anforderungen an die Spielfertigkeit sind heutzutage in einer Weise gesteigert, daß oft
[132] genug über den Mitteln der Technik der Zweck der Freude und Erbauung an der Musik vollständig verloren geht. Indem ein Meister wie Reinecke sein Werk auch den bescheidenen Kräften zugänglich machte, sofern sie nur Gefühl für wahre Poesie im Herzen tragen, schuf er eine Hausmusik im besten und edelsten Sinne, und viele werden es ihm danken. Dem schön ausgestatteten Band ist ein verbindender Text beigegeben, der wohl für gesellschaftlichen Vortrag berechnet ist. Die einzelnen Lebensbilder sind aber auch ohne ihn vollkommen verständlich. Die Ausgabe für zwei Hände bietet selbstverständlich größere Schwierigkeiten, wir wollen deshalb ungeübteren Spielern hauptsächlich die vierhändige aufs wärmste empfehlen. Br.
Landbriefträger zu Schlitten. (Mit Illustration S. 117.) Ein jeder Stand hat seinen Frieden und seine Last, seine Leiden und seine Freuden – es kommt nur darauf an, was gerade vorwiegt. Manche wollen behaupten, besonders bei dem Landbriefträger seien leider „Last und Leiden“ zu reichlich bemessen und um das Erfreuliche in seinem Berufe sehe es daher bedenklich aus. Diesen Beobachtern des Landpostboten ist nicht Unrecht zu geben, aber ganz ohne Sonnenschein ist auch sein Leben nicht und selbst der gestrenge Winter gestattet ihm mitunter einen Antheil an seinen Lustbarkeiten. Solche begünstigte, vergnügt schlittenfahrende Stephanssöhne sah unser Künstler auf den in der Nähe Berlins gelegenen Seen, und in seinem Bildchen führt er uns einen derselben vor. Namentlich von Tegel aus bedienen sich die Postboten auf ihren Wegen nach Tegelort, Saatwinkel, Waldburg, Heiligensee und anderen Orten gern der hochbeinigen Schlitten, welche vermittelst zweier Piken schnell vorwärts bewegt werden. Bei diesen wackeren Vertretern der „Post zu Fuß“ kommt also zu der das Leben des Briefboten umrankenden Poesie, welche wir in unserem Artikel „Der Briefträger in der Dichtung“ (Nr. 40 des vorigen Jahrgangs) dargelegt haben, noch diejenige, welcher der frostklirrende Winter den Menschenkindern im Eissport darbietet. **
Jagdschloß Meyerling. (Mit Illustration.) Meyerling! – Wie aus dem Nichts empor ist plötzlich dieser Name getaucht; ein schaudervolles Ereigniß hat gleich einem Blitzstrahl ihn mit seinem fahlen Scheine erleuchtet und Millionen unauslöschlich ins Gedächtniß geprägt. Das stille Waldschlößchen, so weltabgeschieden, so einladend zu Ruhe und Frieden, ihm haben die letzten Seelenkämpfe eines verzweifelnden Kaisersohnes eine traurige Berühmtheit verliehen. Hier auf diesem herrlichen Fleckchen Erde war es möglich? – so muß sich der Wanderer fragen, der, das Herz von schweren Gedanken an das Geschehene erfüllt, von Baden her durch das schöne Helenenthal die Straße des Schwechatthales hinansteigt. Jenseit des Dorfes Meyerling, da, wo das Thal sich etwas verbreitert, liegt, von tannen- und laubwaldbedeckten Höhen überragt, das Schloßgut. Es würde kaum des im Hintergrunde aufragenden Kirchleins bedürfen, um den Beschauer zu lehren, daß diese schlichten Gebäulichkeiten ursprünglich einem Kloster gedient haben. Vor etwa zwei Jahren erst hat der Kronprinz Rudolf das Anwesen erstanden und sich zum Jagdschloß eingerichtet. Durch ein niedriges ebenerdiges Gebäude, das früher als Wirthshaus diente, führt ein Thor mit schwerfälliger Ornamentik nach dem Hofe, und hier steht links das eigentliche Schlößchen, ein einstöckiges Gebäude, umgeben von einem kleinen, durch eine weißgetünchte Mauer eingeschlossenen Garten. Im Erdgeschosse des Schlosses hatte der fürstliche Besitzer sich seine Gemächer eingerichtet.
Die Ausstattung des Wartezimmers, dessen Fußboden ein bosnischer Teppich deckt, zeugt von großer Einfachheit; das Schlafzimmer ist mit Jagdtrophäen geschmückt, sonst jedoch ebenfalls einfach gehalten: ein schlichtes Nußholzbett, ein Stehspiegel und die nothwendigsten Geräthschaften bilden seine Ausrüstung, entsprechend seinem Zwecke, nach fröhlicher Jagd zu kurzer Rast zu dienen.
Nun wird es wohl wieder still und einsam werden in dem Waldthale. Schloß Meyerling soll nach dem Wunsche des Kaisers geräumt, die Einrichtung nach Wien geschafft werden. Das Stift Heiligenkreuz wird, wie verlautet, die zum Schlosse gehörigen Grundstücke wieder zurückkaufen, das Zimmer aber, in welchem Kronprinz Rudolf endete, soll zu einer Kapelle umgewandelt und daselbst alljährlich am 30. Januar, dem Sterbetage des Verblichenen, eine Seelenmesse gelesen werden. So hat eine wunderbare, verhängnißvolle Verkettung von Schicksalen Schloß Meyerling seiner ursprünglichen Bestimmung wieder zugeführt. – S.
Die Zimmerpflanzen beginnen im März von neuem zu wachsen, verbrauchen mehr Nahrung als während der verflossenen Wintermonate und müssen deshalb auch mehr als bisher, immer mit angewärmtem Wasser, begossen werden. Die alte Erde des Wurzelballens ist ausgesogen und muß durch frische ersetzt, die treibenden Pflanzen müssen versetzt werden, was der Liebhaber am besten dem nächstwohnenden Gärtner überläßt, der auch die für jede Pflanzenart passende Erde besitzen und wählen wird. Will aber der Liebhaber selbst seine Pflanzen in Moos kultiviren, so nimmt er sie aus dem Topf, schüttelt die Erde ab und spült den letzten Rest derselben in Wasser aus. Inzwischen wurde Wald- oder das weiße Sumpfmoos mit Wasser getränkt, welchem eine Mischung von Mineraldung, 3 g in 1 Liter Wasser, beigegeben ist, die alle Bestandtheile enthält, welche die Pflanze zu ihrer Ernährung nöthig hat und in dem Verhältniß zu einander, in welchem allein sie zu wirken im stande sind. Solche für Liebhaber empfehlenswerthe Mischung ist der nach unserer Anweisung zusammengesetzte E. Dultzsche geruchlose Blumendung, der bei Apotheker E. Dultz, Berlin N Invalidenstraße 153, vorräthig ist. Gute Blumendünger sind übrigens beinahe in jeder Droguerie zu haben. Nachdem die Pflanzen neue Wurzeln gebildet, sind sie, so lange sie wachsen, auch die mit Erdballen, mit durch solchen Dung verstärktem Wasser zu begießen. Die Kultur in Moos, welches durch verzinkten Eisendraht um die Wurzeln zu befestigen ist, hat den Vortheil, daß die Pflanzen wenig Platz einnehmen.
Nachdem unsere Leser die Art und Weise kennen gelernt, in welcher Pflanzen aus Samen zu ziehen sind, genügt es, die Arten zu nennen, welche jetzt auszusäen sind, besonders solche, welche durch Aussaat im März als Blüher im nächsten Winter besonderen Werth gewinnen, z. B. in mäßig feuchtem Torfmüll die neue Levkoje „Ruhm von Elberfeld“ von Handelsgärtner Fritz Beltz in Elberfeld, und die „Dresdener schneeweiße Sommer-Levkoje“, die jeder gute Samenhändler vorräthig hat, wie auch der (zweifarbige) Siphocampylus (Lobelia) bicolor Sweet, ein herrlicher Winterblüher, von welchem die Firma Haage und Schmidt in Erfurt Samen vorräthig hält. Die Sämlinge genannter Pflanzen sind in gewöhnlicher Weise zu behandeln, im April – Mai ins freie Land und im September wieder in Töpfe zu setzen; sie brauchen im Freien gute lockere Erde und wenigstens 50 cm im Quadrat Raum. Wer einen Garten nicht besitzt, wird seine Pflanzen in verhältnißmäßig großen Töpfen mit wenig lehmiger und sandgemischter Landerde, nicht ohne Ziegelstücken, weiter kultiviren müssen. – Rosen zum Treiben sind abzuwaschen, namentlich in den von den Zweigen gebildeten Winkeln, wo sich gefährliche Insekten festgesetzt haben. Ohne sie zu beschneiden, sind die Zweige herunter und an einen Drahtring festzubinden; ihre äußersten Knospen blühen zuerst, die aus den hinteren Augen entstehenden Triebe später, gleichsam zum zweiten Male. Man ersetze die oberste Erde im Topf durch frische Mistbeeterde und beginne das Treiben in einer Wärme von 6 bis 8° R., die von zwei zu zwei Wochen zu erhöhen ist, und halte die Zweige und Triebe durch Spritzen mit warmem, aber nicht heißem Wasser feucht. Nach Beginn des Wachsthums ist öfteres Gießen mit Jauche, im Zimmer mit geruchlosem Blumendung zu empfehlen. O. H.
Ant. W. in S. Wir verweisen Sie auf die Nr. 9 des Jahrgangs 1887 der „Gartenlaube“, in welcher wir Atzerts Universalpult bereits empfehlend besprochen haben. Dasselbe ist von hervorragenden Autoritäten vom augenärztlichen Standpunkte sehr nützlich gefunden worden und zeichnet sich dadurch aus, daß es billig ist und in jeder Haushaltung mit der größten Raumersparniß aufgestellt werden kann. Es dient nicht allein als Lesepult für Kurzsichtige, sondern kann auch als Schreib-, Zeichen- und Notenpult verwendet und schließlich, auf einen Tisch gestellt, als Stehpult benutzt werden, leistet also wirklich Universaldienste. Da in jüngster Zeit das Pult auch noch eleganter und dauerhafter ausgestattet wurde, können wir es Ihnen nur empfehlen.
„Weltgeschichte“. Sie finden einen kurzen biographischen Abriß über Karl v. Rotteck bereits im Jahrgang 1862 der „Gartenlaube“, Seite 564 und 565. Dort ist auch das Freiburger Denkmal abgebildet.
G. B. in Antwerpen. Die Form „Er hat es mich gelehrt“ ist die richtige, obgleich unsere besten Klassiker, z. B. Lessing und Goethe, sich vereinzelt auch die andere Ausdrucksweise „Er hat es mir gelehrt“ erlauben.
C. in H. Die Statistik der deutschen Ferienkolonien, welche auf dem letzten Kongreß für Ferienkolonien aufgestellt wurde, reicht nur bis zum Jahre 1885. Ihre Zahlen sind aber sehr erfreulich. Im Jahre 1876 sandte eine einzige Stadt versuchsweise 7 Kinder während der großen Sommerferien aufs Land, im Jahre 1885 thaten es bereits 72 Städte mit 9999 Kindern. Insgesammt wurden in den Jahren 1876 bis 1885 34722 Kinder in die Ferienkolonien geschickt. Deutschland ist neben der Schweiz, in welcher der Gedanke der Ferienkolonien durch den Züricher Pfarrer Bion angeregt wurde, dasjenige Land, in dem diese so wichtige Einrichtung die meiste Verbreitung gefunden hat.
Inhalt: Loren von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 117. – Wie erkennen und verbessern wir schlechte Zimmerluft? Von Professor Dr. A. Wolpert. S. 122. Mit Illustration S. 123. – Kronprinz Rudolf von Oesterreich †. Von Ferdinand Groß. S. 124. Mit Illustration S. 125. – Ein geheilter Othello. Von F. Schifkorn (Schluß). S. 126. – Bilder aus Spanien. Toledo. Von Schmidt-Weißenfels. S. 127. Mit Illustrationen S. 128, 129 und 130. – Blätter und Blüthen: Der Große Kurfürst auf Rügen. S. 131 Mit Illustration S. 120 und 121. – Von der Wiege bis zum Grabe. S. 131. – Landbriefträger zu Schlitten. S. 132. Mit Illustration S. 117. – Jagdschloß Meyerling. Mit Illustration S. 132. – Die Zimmerpflanzen. S. 132. – Kleiner Briefkasten. S. 132.
- ↑ Vergl. „Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich“ (aus dem Nachlasse von A. E. Brehm) im Jahrgange 1887 der „Gartenlaube“.
- ↑ Dieser Artikel schließt sich an die im Jahrgange 1884 erschienenen „Bilder aus Spanien“ an.