Die Gartenlaube (1889)/Heft 39
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No. 39. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Sicilische Rache.
Wer ist Dein Vater?“ fragte Eckart leiser nochmals Felicita,
mit der freien Hand um ihre schöne Stirn spielend und
sein Auge in ihren holden Blick versenkend.
„Frage nicht!“ antwortete sie endlich; „wer mein Vater ist, darf ich Dir nicht sagen. Seinen Namen darfst Du von mir nicht hören“
„Warum darf ich nicht fragen? warum nicht wissen, wie Du heißest und wer Du bist? Morgen werde ich wieder kommen und mit Deinem Vater sprechen, – und wenn Du die bist …“
„Schweige!“ rief sie, sich plötzlich aufraffend, und alles, was ihr Nina, was sie sich selber schon in der Stille der letzten Nächte von der Unmöglichkeit, einem schweizer Offizier anzugehören, gesagt hatte, trat jetzt mit urplötzlicher Klarheit vor ihre Seele.
„Schweige! – Ein Abgrund trennt uns! – Die Deinige kann ich nimmermehr werden!“
Er drückte sie fester an sich.
„Liebst Du mich denn nicht?“ fragte er mit leiser fester Stimme.
Wie das erste Mal entwand sie sich aus seiner Umarmung.
„Du hast recht,“ sagte sie dann, an seine früheren Worte anknüpfend, „Du mußt fort!“
Durch die Fenster auf die tobenden Wellen deutend, entgegnete er:
„Und wie kann ich fort? Du selber sagtest ja, es sei nicht möglich.“
Er näherte sich der Rath- und Sprachlosen.
„Warum willst Du mir den Namen Deines Vaters verhehlen? Morgen erfahre ich ihn ja doch.“
„Andere mögen Dir unsern Namen nennen, von mir sollst Du ihn nicht hören.“
„Einen ehrlichen Namen kann jeder …“
Er unterbrach sich. Mit flammendem Blick hatte sich das Mädchen vor ihm emporgerichtet. Welche wunderbar gewaltige Energie war plötzlich in diesem schönen Kinde erwacht! Welche Kraft und welch unbezwingbare Entschlossenheit brachen aus diesem Auge hervor!
„Einen ehrlichen Namen, bei der Madonna, trägt mein Vater! Und wäre der Vater hier, dieser Zweifel bliebe nicht ungerügt – nicht unerwidert. Denn Deinen Namen kenne ich ja auch nicht, und unter den schweizer Offizieren …“
„Meinen Namen darfst Du hören, Felicita, und die Worte, die unbesonnenen, die sich auf Deine Lippen drängen, verschließe sie in Deinem Herzen, denn so wie Du über die Deine, so habe ich über meine und über meiner Freunde Ehre zu wachen.“
Er nannte ihr seinen Namen, er sagte, woher sein Geschlecht stamme, wie er nach Neapel, dann nach Messina gekommen sei. Dann aber, rasch abbrechend, als wollte er einem inneren Kampfe ein Ende machen, einer unbestimmt geahnten Gefahr entrinnen, fügte er hinzu: „Felicita, Du hast
[650] es gesagt: hier kann ich nicht länger bleiben. Schon bricht die Nacht herein. Um Deiner, um Deiner Ehre willen muß ich morgen schwören können, daß ich die Nacht nicht hier zubrachte.“
„Wo willst Du hin, Eckart? wo hinaus? Dort draußen ist der Tod, das sichere Verderben!“
„Dort, in der Gasse sah ich altes Gemäuer, gewölbte Räume.“
„Und dort wolltest Du …?“
„Sage selbst, Felicita, soll ich in diesem Hause …?“
„Nein! nein!“ rief sie, und wieder hing sie schluchzend an seinem Halse, „nein, bleibe! – nein, fliehe! – gehe! – ich weiß nicht, was ich sage, – ich weiß nicht, was ich denke!“
Ihm schwindelte. Sie hatte beide Arme um seinen Nacken geschlungen. Er fühlte das warme Pochen ihres Herzens an seiner Brust. Eine wilde Gluth durchströmte seine Adern. Ihren Kopf mit kräftiger Hand bis zu seinem Gesichte emporhebend, drückte er seine Lippen auf die ihren, Liebesworte stammelnd und ihr tief in die Augen schauend.
Ein leiser Schrei entrang sich ihren Lippen – aber schon hatte Eckart sich gefaßt. Gewaltsam riß er sich los und in einem Sprunge stand er unter der geöffneten Thür. Ein Wildbach rauschte über die Terrasse.
„Lebe wohl, Felicita! Morgen kehre ich wieder!“ – und mit wilder Gewalt flog die Thür hinter dem Fliehenden ins Schloß.
Der Morgen graute, als Eckart aus dem Gewölbe, wo er Schutz gefunden hatte, ins Freie trat. Der Orkan hatte ausgetobt. Blau wölbte sich der Himmel über den im Morgenglanze strahlenden Bergen. Im Thale rauschte nur noch ein kleiner, bescheidener Bach. Eckart schaute zu Felicitas Fenstern hinauf. Zwischen den Lücken der Läden flimmerte es, als blitzten zwei Augen herunter zu ihm. „Auf Wiedersehen!“ rief er, mit der Hand einen fröhlichen Gruß hinaufwinkend; dann schritt er raschen Fußes die Hohlgasse hinunter.
Welch ein Anblick aber bot sich seinen entsetzten Augen dar, als er, um die Felsenecke biegend, in den Thalkessel der Badiazza trat! Nicht bloß verwüstet lag das Thal vor ihm – verändert war die Gestaltung der Höhen und Tiefen, verändert die Form der Berge, verändert die Umgebung des Klosters – und die Kirche selbst, in welch ein gräßliches Bild des Jammers hatte sie sich über Nacht verwandelt, und wie traurig schauten inmitten der großen Stille der nach dem Orkane schwer schlummernden Natur diese zerrissenen Ruinen ins Thal! Wo sich gestern noch ein von den massiven Klostermauern gekrönter Hügel erhoben hatte, lag jetzt eine weite, flache, von schmalen Berggewässern durchglitzerte Thalsohle; die Stämme der alten Platanen waren von Kies und Schlamm überfluthet; nur die entlaubten Wipfel ragten noch aus dem durchfurchten Gerölle und in phantastisch zerknickter Gestaltung reckten sich die nackten Aeste zum Himmel. Ringsum Steinmassen, verworrenes Bergesgetrümmer! Die Kirche selbst aber – nicht mehr wie ein Ehrfurcht einflößender, allmählich zur Ruine sich umwandelnder Bau stand sie da; eine, eine einzige Nacht hatte die Zerstörung vollbracht! Das Gewölbe war geborsten; im frischen Morgenwinde klirrten die zerbrochenen Fenster; zu der Hauptpforte heraus rieselte ein Bach; das krystallhelle Wasser bahnte sich einen tiefeingeschnittenen Weg zwischen den Sand und Schutt, der die Stufen des Hochaltars bedeckte. Ueber dem Altar, an einem in die leere Luft hinaufragenden Pfeiler, hing noch die ewige Lampe; das kleine Flämmchen flackerte ängstlich; unheimlich knisterte der verkohlende Docht, und es schien dem schaudernden Offizier, als sei dies ersterbende Lämpchen das Sinnbild dieses ersterbenden Heiligthums.
Zögernden Schrittes war Eckart unter die Thür getreten. Lebte noch etwas in diesen Ruinen? Da regte es sich in der finsteren Ecke des Seitenschiffes; ein Wiehern unterbrach die Todtenstille des grausen Ortes.
„Ach! Lebst Du noch, mein treues Roß!“ rief der Hauptmann, indem er das in Angstschweiß gebadete Thier streichelte und die liebkosende Hand über dessen Nüstern gleiten ließ.
„Sieh da! Hauptmann von Hattwyl!“ rief eine Stimme.
Eckart blickte auf.
„Abbate Scaglione! Seid Ihr’s? Wie kommt Ihr hierher?“
Aus der Dämmerung antwortete es mit sonderbarer Betonung:
„Dieselbe Frage, Herr Hauptmann, könnte ich an Euch richten! Auf Befehl des Erzbischofs habe ich diese Nacht hier verbracht – wo zum Teufel verbrachtet aber Ihr dieselbe? Einem liebestrunkenen Ritter, wo eröffnete sich ihm wohl in dieser Einöde eine Stelle zum lauschigen Liebesschwärmen?“
Eckart stutzte. Was wollte jener mit seinen Worten? Es flog wie eine Ahnung durch Eckarts Sinn: was mochte wohl den Begleiter der Gräfin zu dieser Stelle geführt haben?
Rasch schwang er sich in den Sattel.
„Zum Plaudern habe ich keine Zeit, Abbate! Mein Roß und mich muß ich wieder warm reiten! Lebt wohl!“
„Schade! schade!“ höhnte es zurück; „Ihr hättet wohl wunderhübsche Sächelchen zu erzählen gehabt!“
Eckart hielt sein Roß zurück. Zornesröthe bedeckte sein Antlitz.
„Abbate!“ rief er in die Kirche hinein, „ich rathe Euch, Eure Zunge im Zaume zu halten! Wohl verstehe ich, worauf Ihr zielt. Aber ich sage Euch: Ihr seid im Irrthum – und ein ehrbar Mädchen ist die, die ich vom Tode errettete.“
Und dem Roß die Sporen in die Weichen drückend, flog er von dannen. –
Ein Thränenstrom ergoß sich aus des armen Fra Serafinos Augen, als der gute Bruder in seine verwüstete Kirche herunter trat.
„Heilige Madonna!“ seufzte er, „es mußte ja so kommen! Dein wunderthätig Bild haben sie weggeschleppt, und nun hat sich Deine Hand von dieser Stätte gewendet!“
Und die armen, schlottrigen Kniee beugend, ließ sich Fra Serafino in den Schlamm vor dem Hochaltar nieder und die zitternden Hände faltend, betete er sein Ave Maria zu der Erzürnten.
Durch die zerborstenen Fenster fiel der erste Strahl der über die Berge Kalabriens heraufschwebenden Morgensonne; auf den Normannenkreuzen der moosigen Kapitäle, auf dem verfallenen Gemäuer, in den leeren Nischen erglänzte plötzlich ein Funkeln, wie von Perlen und Edelsteinen; und erstaunt ob dieser flimmernden Pracht erhob das betende Mönchlein den Kopf, als suche es in der öden Kirche, ob die heilige Mutter Gottes sein Flehen erhört habe und auf silbernen Wolken, getragen und umgeben von den himmlischen Heerscharen, herniederschwebe in ihr verwüstetes Heiligthum.
Langsam, die Hände tief in den langen Rocktaschen und sich mit vogelähnlichen Halsbewegungen nach rechts und nach links umschauend, schlenderte der Bankier Lerche durch die Straße Ferdinanda. Aus allen Gassen und Gäßchen strömten die Geschäftsleute, große und kleine, Reeder und Krämer, Millionäre und Winkelagenten, zu ihren gewöhnlichen Morgenbesprechungen vor der Börse und dem Rathhause zusammen. Der Orkan war glücklich überstanden; die Sonne lachte wieder aus blauem Himmel; ein jeder hatte den andern von den Schrecken der vergangenen Nacht zu erzählen. Sieh! dort bog auch der Abbate Scaglione um eine Ecke.
„Schon so früh zu Eurer schönen Gräfin, Abbate?“ rief ihm Lerche freundlich grinsend zu.
Sie blieben eine kurze Weile im Gespräch. Was Scaglione erzählte, mußte wohl von gar erstaunlicher Wichtigkeit sein, denn leiser und leiser sprachen sie zusammen, und mit bedenklichem Kopfschütteln begleitete Lerche das kurze Lebewohl, das ihm der Abbate nachrief.
„Mag schön werden!“ sagte er halblaut vor sich hin. „In diesen Schweizer ist die Gräfin ja bis zur Raserei verliebt! – Letzte Liebe, schlimmste Liebe! – und der will nichts von ihr wissen – zieht ihr jüngere Mädchen vor! Was ist dabei? Wir machten’s auch so! – Aber ein gefährliches Spiel! – muß ihm geholfen werden, dem armen, jungen Blut!“
Ein Mann aus dem Volke, mit tief in der Stirn sitzender Kalabresermütze, kam von der entgegengesetzten Seite auf ihn zu. Ein kurzer Wink von weitem, dem ein anderer Wink antwortete, und die beiden hatten sich verstanden.
„Maffia!“ flüsterte Salvatore Merlo, indem er, ohne Lerche anzuschauen, an ihm vorüberging.
[651] „Gut!“ erwiderte der andere im selben Tone, „wo? wann?“
„Jetzt! In der Kapelle!“
Und die beiden waren schon aneinander vorbeigeschritten wie Fremde, die nichts mit einander gemein haben.
Sie trafen sich wieder an der verabredeten Stelle, einer in entlegener Straße versteckten Kapelle. Lerche, der sonderbare Heilige, pflegte dort seit langen Jahren jeden Morgen mit peinlicher Gewissenhaftigkeit einer Messe beizuwohnen. Hinter einem Pfeiler führte eine schmale Thür in eine dunkle Kapelle. Dort erwartete ihn Salvatore.
„Was giebt’s?“ fragte Lerche, nachdem er die Thür hinter sich geschlossen hatte.
„Auf den Bergen sitzt einer seit ein paar Tagen in sicherem Gewahrsam. Die ihn gefangen nahmen, fordern Lösegeld. Er weigerte sich bis gestern. Heute schrieb er seiner Familie, daß er zu zahlen bereit sei; man möge das Geschäft für ihn einleiten.“
„Wie viel?“
„Zehntausend Dukaten.“
„Wer das Geld vorstreckt, will fünfzig Prozent dabei verdienen. Wer zahlt?“
„Hälfte er, Hälfte wir.“
„Habt Ihr ein Schreiben?“
„Zweie.“
Salvatore hielt dem Bankier, ohne es jedoch aus den Fingern zu lassen, ein Stück Papier vor die Augen. Lerche las halblaut vor sich hin:
„Ich, Endesunterzeichneter, verpflichte mich, die infolge von Verkauf von Liegenschaften“ – „ah! schlau!“ – „an Antonino Merlo geschuldeten zehntausend Dukaten nebst Zinsen“ – „gut! schön!“ – „wie verabredet auszuzahlen, wenn damit die volle, auf den Gütern lastende Hypothek“ – „Hypothek ist hübsch!“ – „als ausgeglichen angesehen und der Angelegenheit in Zukunft in keinerlei Weise mehr Erwähnung gethan werden wird!“ – Schön! Und das zweite Schriftstück?“ – „Ich ermächtige meinen Vetter“ – „so und so, kann mir gleich sein“ – „in meinem Namen bei Herrn Bankier Lerche zehntausend Dukaten zu erheben; zur Deckung gebe ich hierdurch Garantie auf das Schloß della Rovere und auf den Ertrag der kommenden Olivenernte“ … „Unterzeichnet, eigenhändig, Giuseppe Russo, Marchese della Rovere und so weiter … alles richtig! Wann wollt Ihr das Geld?“
„Heute noch!“
„Wer quittiert?“
„Mein Sohn.“
„Er soll ja in den Bergen sein?“
„So quittiere ich; Russos Schein erhältst Du jedenfalls.“
„Dein Sohn soll sich in acht nehmen; der Gouverneur fahndet nach ihm.“
„Man wird ihm nichts anhaben können, sobald bezahlt ist; der Gefangene hat geschrieben und unterschrieben – ich war dabei! – daß, sollte er verhört werden, er einen Eid leisten würde, daß seine Gefangennahme und Auspfändung eitel Lüge und Erfindung seien. Der Gepfändete selber wird die Unschuld seiner Verfolger beschwören! Bricht er den Schwur, so bricht er sein Leben! Er weiß es!“
„Auf Wiedersehen!“
„Lebe wohl!“
Das Hochamt war beendigt; die Straße leer. Lerche wartete, bis Salvatores Schritte hinter der nächsten Ecke verhallten; dann entfernte er sich in entgegengesetzter Richtung.
Während diese beiden in jener verborgenen Kapelle ihre „Geschäfte“ erledigten, ließ sich der Abbate Scaglione bei der Gräfin von Cellamare melden; sein Auftrag, befahl er dem ob dieses frühen Besuches erstaunten Diener, leide keinen Aufschub. Lange brauchte er auch nicht zu warten. In bequemer Morgentoilette trat die Gräfin zu ihm herein, die schwarzen Haare über ihre Schultern aufgelöst, mit einem Funkeln im Auge, aus welchem die ganze leidenschaftliche Spannung sprach, mit der sie Scagliones Nachrichten entgegensah.
„Ihr habt sie gesehen? Sprecht!“ rief sie noch unter der Thür.
Jetzt erst bemerkte sie des Abbates verstörte Gesichtszüge, die Unordnung seiner Kleidung, den Schmutz, der seine Schuhe und Kleider bedeckte.
„Was ist’s, Scaglione? Wo kommt Ihr her? Der Orkan …?“
„Ein wahres Wunder ist’s, Frau Gräfin, daß Ihr mich lebendig vor Euch seht! Ich verbrachte die Nacht in der Kirche der Badiazza – die Kirche ist nur noch ein Trümmerhaufen – hätte die Madonna Euren Diener nicht beschützt, er läge heute unter dem Schutt der Fiumara begraben!“
Sprachlos schaute sie ihn an; – im selben Augenblick sprangen aber ihre Gedanken auf jenen andern über, an dem sie Rache zu nehmen sich gelobt hatte – und für den sich doch in ihrem Herzen ein anderes Gefühl noch regte.
„Und er?“ lispelte sie mit tonloser Stimme, als hoffte sie – als fürchtete sie vielleicht – Antwort auf die bebende Frage.
„Er?“ antwortete langsam und jedes Wort betonend der Abbate, „liebestrunken ist er mir voraus zur Stadt geritten und träumt wohl wachend von den schönsten Stunden, die ihm das Schicksal bereitete! Dem einen war es eine Nacht unvergeßbaren Schreckens – dem andern aber eine der seligsten Wonne!“
Der Athem wollte ihr ausgehen. Ihre Hand spielte mit einem elfenbeinernen Petschaft, das einen Amor mit Pfeil und Bogen vorstellte; unter dem krampfhaften Zucken ihrer Finger brach der kleine Liebesgott entzwei.
„Schlimmes Zeichen für den, den Ihr liebt!“ lächelte Scaglione.
Aber, die Stücke von sich schleudernd, schnitt sie ihm das Wort ab:
„Wer sagt, daß ich ihn liebe? … Wer meine Liebe verschmäht, der erntet meinen Haß! Sprecht, Scaglione, was habt Ihr erfahren? was wißt Ihr?“
„Alles weiß ich, Frau Gräfin – und mehr noch, als zu wissen Euch lieb sein wird!“
Er erzählte – wie er’s wußte – wie er sich’s dachte: von dem Stelldichein, das sich die beiden in der Kirche gegeben hätten, von dem Sturm, der Gefahr, der Rettung des Mädchens durch den Offizier, von dem Hause, wohin er sie gebracht hätte, allein, ohne die verzweifelnde Dienerin. Aber als er den Namen des Mädchens nannte – die Tochter Romeos, des Tischlermeisters – da fuhr die Gräfin wuthentbrannt und ihrer selbst nicht mehr mächtig in die Höhe.
„Die Tochter des Tapezierers, der meine Möbel flickt und meine Teppiche ausklopft! – Und diese, die mein Stubenmädchen sein könnte, zieht der Unwürdige der Gräfin von Cellamare vor! – und für diese Dirne spielt er mit dem Tode!“
Schwer legte sich des Abbates Hand auf ihren Arm; sein Blick bohrte sich in ihr Auge.
„Und heute, wo das sicilische Volk Waffen schmiedet und Kugeln gießt, um des Königs Majestät zu bekriegen – heute wird die Tochter des schlimmsten aller Revolutionsanführer von einem Offizier der Schweizergarde geliebt!“
Das Wort saß mit scharfem Schnitt in ihrer Seele wie ein in die Mitte der Wunde abgeschossener Pfeil.
„Ist der Verrath doppelt, so sei doppelt auch die Strafe! – Abbate,“ fügte sie mit leiser, zitternder Stimme hinzu, „helft mir berathen und ausführen! Reicht mir die Hand: was hier beschlossen wird, es bleibt Geheimniß zwischen Euch und mir!“
Er reichte ihr seine Hand – und lange blieben die beiden in der Gräfin Gemach; leise flüsterten ihre Stimmen, daß keiner auch nur ahne, was hier gesponnen wurde.
„Es bleibt beschlossen,“ sagte Scaglione, als er sich zum Abschied erhob, – „nicht von unserer Hand darf der Streich geführt werden! Den königlichen Offizier darf nur ein Schlag der Königsfeinde treffen! Er fällt auf sie zurück, und der Revolution, die ihre Stirn erhebt, zertreten wir den Kopf! Heute noch erhält durch mich der Bräutigam dieses Mädchens Nachricht von dem an ihm verübten Verrath!“
„Und heute noch soll ihr Vater aus meinem Munde hören, wer sein Haus beschimpft hat!“ …
Als der Graf sich zur Frühstücksstunde im Speisezimmer einfand, wurde ihm zu seinem nicht geringen Erstaunen von der in liebenswürdigster Ausgelassenheit lachenden und plaudernden Gräfin eröffnet, daß sie es nun müde sei, den Karneval ohne Fest noch irgend welche Zerstreuung zu verbringen. Und da ihr Herr Gemahl nicht an ihre Unterhaltung denke, so habe sie selber diese [652] Rolle übernommen; am letzten Karnevalsabend werde sie die vollzählige Gesellschaft Messinas und der Umgegend zu sich laden und heute noch werde sie den Tischlermeister Romeo zur Ausschmückung der Festräume zu sich bestellen.
„Romeo?“ unterbrach sie der Graf; „der wird wohl keine Zeit für Euch finden! Ich begegnete ihm vorhin mit meinem alten Freunde, dem Marchese della Rovere von Taormina. – Verschwörung und Revolution in der Luft! Ihr wählet sonderbare Zeiten zu Euren Festen, Teresina!“
Aber lachend gebot sie ihm Schweigen.
„So wird’s ein Verschwörungsfest geben – und wehe denen, gegen die ich mich verschwöre!“
Ihr Lachen klang sonderbar, mit einem so metallisch harten Ton, daß der Graf betroffen zu ihr aufblickte.
Wer zum erstenmal die finsteren, von hohen Mauern überragten Straßen der oberen Stadt Messina betritt, den befällt ein seltsam unheimliches Gefühl; eng und tiefeingeschnitten winden sich die lavagepflasterten Gäßchen, laufgrabenähnlich, zwischen den massigen Quaderbauten hin; bis zur Höhe des zweiten Stockwerkes streben die nackten Mauern hinauf ohne Absatz, ohne Verzierung; dort erst sind Fenster gebrochen, unregelmäßig, mit bauschig hervortretenden Eisengittern versehen, deren Schnörkel und Arabesken den Blicken der unten Durchziehenden einen undurchdringlichen Schleier entgegenstellen; auf die Straße öffnen sich, durch weite Zwischenräume getrennt, enge, eisenbeschlagene Eichenthüren mit schweren, messingenen Klopfern, und lange muß derjenige, der hier anklopft, warten, bis die Insassen von oben herunter und durch die Schießscharten hinter der Eingangspforte genau erkundet haben, wer er sei, und bis er von einem bedächtig durch die wiederhallenden Gewölbe hinschleichenden Mönche eingelassen wird. Hier ist das alte Klosterviertel, eine zusammenhängende Masse von Kirchen, Kapellen, Zellen, Korridoren, Höfen, ungeheueren Hallen, unermeßlichen Kellern, ein unentwirrbares, von geheimen, in finsteren Ecken sich öffnenden Gängen durchschnittenes Labyrinth, eine Stadt in der Stadt, eine Welt für sich, mit einer unsichtbaren, von keinem bemerkten Bevölkerung von Mönchen, Laienbrüdern, Nonnen, Pförtnern und Arbeitern. Wer hätte es wohl gewagt, im diese geheiligten Räume zu dringen? Und hätte er das Wagniß unternommen, wer hätte hinter den verschlossenen Zellenthüren die Mönche beim Trocknen des Pulvers, beim Anfertigen der Patronen und beim Kugelgießen, wer hätte die Nonnen beim Nähen und Sticken von Fahnen, Schärpen und Offiziersabzeichen überrascht? Wessen Auge wäre wohl bis in die Tiefe der Keller gedrungen, wo, hinter den langen Fässerreihen versteckt, Flinten, Säbel und Lanzen aufgespeichert lagen?
Dort oben, in jenem Festungswinkel, hatten sich die Freunde von San Placido Stelldichein gegeben. Sie kamen, ein jeder von einer andern Seite, ein jeder durch eine andere Thür; leise wurde das Losungswort hingeflüstert; wissende Brüder geleiteten sie durch die geheimsten Gänge, bis zu einer auf die Berge sich öffnenden Zelle inmitten der Einsamkeit der Klostergärten.
Als einer der letzten trat Romeo ein. Sie wußten, daß er durch den Orkan der letzten Nacht am Weiterreisen gehindert worden war, und die Freunde fanden es natürlich, daß er, bevor er sie aufsuchte, zu seiner Tochter geeilt war. Ein sonderbares Schweigen fiel jedesmal auf die Versammlung, wenn einer auf die Ereignisse der letzten Nacht zu sprechen kam oder gar, wenn der Name von Romeos Tochter genannt wurde.
„Es ist doch seltsam,“ flüsterte der Palermitaner Mönch seinem Nachbar Salvatore ins Ohr, „daß die ganze Stadt voll von diesem Märchen ist! – Woher habt Ihr die befremdende Nachricht?“
„Von einem, der Zeuge war – von dem Abbate Scaglione!“ antwortete finster Salvatore.
„Und glaubt Ihr wohl daran?“
Salvatore schwieg. Seine Hand ballte sich krampfhaft.
„Ob es wahr ist – wird man erfahren! – Wenn es aber wahr ist – so fließt Blut!“
Romeo trat mit dem Marchese della Rovere in die Zelle.
„Seid gegrüßt, Brüder!“ sagte er, und Salvatore bemerkte, daß die Hand, die er ihm bot, nicht zitterte, daß sein Auge so klar schaute wie immer, daß nichts in seiner Haltung und Gebärde auf irgend welche außergewöhnliche Bewegung in seinem Innern schließen ließ. „Unser Freund, der Marchese, darf wohl mitberathen? Ich traf ihn auf der Straße.“
„Was führt Dich hierher, Filippo?“ fragte der Prior verwundert.
„Der Gouverneur ließ mich rufen,“ erwiderte der derbe Bauer … „sprach gestern mit mir vom Prozeß – gegen den Schurken! Ihr wißt ja, den Marchesendieb! Haha! Nächster Tage wird einer ein schiefes Gesicht schneiden, der Marchese zu sein glaubte und es plötzlich nicht mehr war! Der Prozeß ist ja so gut wie gewonnen! – Nun ja! das sagte mir dieser Gouverneur … wollte aber noch andere Dinge von mir erfahren, – von den Briganten, – von Deinem Sohne, Salvatore! – Da kam er an den Rechten! Mir wird doch so ein neapolitanischer Gouverneur noch kein X für ein U vormachen!“
Salvatore war zu Romeo hingetreten.
„Du hast meinem Sohne in Taormina das Leben gerettet; habe Dank!“
Sein Auge ruhte forschend auf Romeo, als er langsam fortfuhr: „Hast Du Deine Tochter gesehen? Sie stand gestern in Gefahr!“
„Ja,“ antwortete Romeo ruhig, „ich habe sie gesehen; sie betete in der Kirche der Badiazza, als das Unwetter losbrach; ein paar Leute, die sich dort befanden, brachten sie noch glücklich nach Hause.“
Salvatore schwieg. Eine stumme, schwere Frage schwebte vor seinem Geiste: hatte Felicita ihrem Vater weiter nichts erzählt, – so fühlte sie sich schuldig, so hatte Scaglione nicht gelogen, – so war die Ehre des Bräutigams geschändet, – so …
Die Männer traten in die Berathung. Romeo wurde aufgefordert, von seiner Reise zu berichten. Er that es in kurzen Worten, in seiner knappen Weise. Er hatte sich von Taormina aus über die Berge zu dem alten Petrone begeben, den er wie eine Art von Heiligen verehrte; was Petrone, ein gelehrter, in allerlei Wissenschaften kundiger Greis, sprach, das war von alters her für des einfachen Tischlermeisters Gemüth ein Evangelium gewesen. Romeo erzählte mit bewegter Stimme, wie er den ehrwürdigen, silberhaarigem Freund inmitten von seinen Büchern gefunden – wie er die Hoffnungen der sicilischen Patrioten mit ihm besprochen, wie er ihm endlich die Frage vorgelegt habe, welche eine so heftige Meinungsverschiedenheit hervorgerufen habe.
„Und wie lautete Petrones Antwort?“ fragte der Palermitaner, da Romeo in seiner Rede innehielt.
Romeo stand von seinem Sitze auf und entblößte das Haupt.
„Petrone,“ sprach er mit langsam weihevoller Stimme, „deutete auf ein Brustbild seines Lieblingsdichters Dante, das auf seinem Schreibtische steht, und sagte: ‚Nicht um Sicilien allein handelt es sich, – sondern um unser großes, heiliges Vaterland, – Italien!‘“ …
„Da haben wir den phantastischen Träumer!“ fuhr Salvatore dem Freunde durch die Rede; „was kümmert mich Italien? – wir sind Sicilianer!“
Aber scharf schnitt ihm Romeo das Wort ab:
„Und ich – und Petrone – als Italiener fühlen wir uns, – und für unsere Brüder drüben arbeiten wir, wie für uns. ‚Ihnen,‘ so sprach Petrone, ‚ihnen sind wir schuldig, mit makellosem Freiheitsbanner in den Kampf zu ziehen!‘ – und seine Hand wie zum Schwure auf Dantes Haupt legend, fuhr Petrone fort: ‚Hätte der größte Italiener im Kampfe für sein Land und seinen Gott jemals mit Mördern einen Bund geschlossen? Diese Frage, Romeo, trage als Antwort Petrones nach Messina!‘ – So sprach der Alte; ich habe geendet!“ Und Romeo setzte sich.
„Ehrenbürger von Sperlinga[1]!“ murmelte Salvatore vor sich hin. Gegen das Ansehen, welches Petrones Worte genossen, wagte er jedoch nicht, sich offen aufzulehnen.
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[654] „Romeo,“ sagte er endlich, „seitdem Du meinen Sohn vom Tode errettet hast, habe ich kein Recht mehr, Dir zu widersprechen. Es geschehe denn, wie Ihr es wollt! Aber wenn das Blut unserer Kinder fließt, so falle die Verantwortlichkeit nicht auf mich!“
Salvatores Augen hafteten fest an der Erde, während er also sprach; die Worte waren nicht das Spiegelbild seiner Gedanken!
Der Palermitaner erhob sich.
„Ich begrüße mit Freuden diesen Tag! Wo die Einigkeit herrscht, ist der Sieg gewiß! Bestimmen wir die Stunde der Volkserhebung! Palermo …“
„Wie wollt Ihr die Stunde bestimmen?“ rief ihm aber Salvatore zurück. „Das Pulver liegt bereit; der Funke wird hineinfliegen, ehe wir’s uns versehen! Und erfährt Palermo, daß Messina die Fahne der Freiheit erhoben hat, so wird Palermo keinen Augenblick zaudern! … Laß mich sprechen, Romeo! Ich habe in allem nachgegeben; keinen Schritt weiter! – Die Gelegenheit liegt uns näher, als Du glaubst! Und wenn morgen, wenn heute ein Neapolitaner – oder ein Schweizer – sich an einer unserer Töchter vergehen sollte, – wie willst Du das sicilische Volk verhindern, morgen – oder heute – loszuschlagen? Und wenn Du auch hundertmal die Stunde auf den andern Morgen festgesetzt hättest, – heute schon, Romeo, heute schon flammte die rächende Feuersbrunst gen Himmel!“
„Ich weiß nicht, was Du damit sagen willst, Salvatore!“
„Du weißt es nicht? – Du wirst es aber erfahren! Und dann wirst Du mir recht geben und der erste wirst Du sein, der dem Volke zurufen wird: ‚Zu den Waffen! Schützt Euer Land! Rächt unsere Ehre!‘“
Salvatore sprach’s in höchster Erregung. Die andern sahen sich verlegen an.
„Ich gehe!“ rief der alte Tribun; „hier habe ich nichts mehr zu suchen. Im Kampfe treffen wir uns wieder!“
Und er verließ den Saal.
„So unrecht hat er ja nicht!“ platzte plötzlich der Marchese heraus; „was? Stunde festsetzen? Drauf und dran! Ergreift die erste Gelegenheit und schlagt die Hunde todt! Was meinst Du, Romeo?“
Romeo saß in düsterm Sinnen.
„Ich fürchte nur,“ sagte er, „daß Salvatore die Gelegenheit nicht erwarte, sondern daß er sie schaffe, – und die Freunde, deren er sich dazu bedienen wird, sind nicht unsere Freunde!“
Sie trennten sich, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Lautlos ging Romeo neben dem Marchese hin. Es schien ihm, als ob etwas Befangenes, Beklommenes auf der Versammlung gelegen hätte. Er war gewissen Blicken begegnet, die er sich nicht zurechtlegen konnte; es waren gewisse Worte gefallen, die er nicht verstand. Wie er bei dem Palaste des Grafen von Cellamare vorbeikam, trat ein Diener auf ihn zu und bat ihn im Namen der Frau Gräfin, sich einen Augenblick zu derselben begeben zu wollen; sie bereite ein Fest vor und Romeo solle wie früher die Ausschmückung der Säle besorgen.
„Addio, Marchese!“ sagte Romeo und folgte dem Diener.
Die Aufforderung der Gräfin hatte nichts Auffallendes für ihn; zu wiederholten Malen schon hatte der mit feinem Kunstsinn begabte Tischlermeister die Festeinrichtungen der Patrizierfamilien geleitet; geschmackvoller als Romeo verstand es keiner, durch Aufbauen von lauschigen Blumengrotten und durch faltenreiche Drapirung von bunten Teppichen und Vorhängen die kahle Leere der hohen Säle in das reizendste Festparadies umzuwandeln. Ruhigen Schritts trat er in das Gemach, wo die schöne Frau ihn mit dem Abbate erwartete.
„Seid mir gegrüßt, Romeo!“ rief sie ihm von ihrer Chaiselongue aus zu. „Wie schön von Euch, daß Ihr es nicht verschmähet, den Fuß über die Schwelle einer Feindin zu setzen.“
„Einer Feindin, Frau Gräfin?“ erwiderte Romeo in lächelnder Abwehr. „Mit den Frauen stehen wir nicht im Krieg.“
„Und doch sind wir Feinde! Denn hier halten wir es mit den Neapolitanern – und auch mit den schweizer Offizieren! – und diese beiden – die letzteren besonders – haßt Ihr doch aus vollem Herzen – oder sollte ich mich irren? – Nun, das ist ja Eure Sache, wie es die meinige ist, dafür zu sorgen, daß meine Freunde – so lange Ihr es noch erlauben werdet – bei mir einen fröhlichen Karneval feiern! Dazu müßt Ihr mir nun verhelfen. Für den letzten Karnevalsabend will ich dies Haus umwandeln in den glänzendsten Palast der Freude und des Faschingscherzes; Tanz, Musik, Masken etc. – Karneval überall, – auf den Lippen und im Herzen – in den Herzen besonders! – Meine Börse steht Euch offen; greift hinein, so tief Ihr wollt! Ich überlasse Euch mein Haus, macht einen Feenpalast daraus!“
Eine frohe Schaffenslust überkam bei diesen Worten den wackeren Meister. Die düsteren Gedanken, die ihn während jener Versammlung und auf dem Rückweg überfallen hatten, konnte er sich aus dem Kopfe schlagen. Es war wohl nur eine Folge der Ermüdung von seiner Reise her gewesen, daß er sich so schwarzen Gedanken hingegeben hatte; die Arbeit, zu welcher die Gräfin ihn aufforderte, würde wie ein frischer Luftzug diese Nachtphantasien verscheuchen.
Er kannte alle Räume der gräflichen Wohnung, den monumentalen, auf Säulen und Bogen ruhenden, durch eine Kuppel erleuchteten Treppenbau, die hohen Säle mit ihren auf das Meer sich öffnenden Fenstern und den marmorgefaßten Balkonen; die weite Flucht von Prachtgemächern mit ihren breiten Doppelthüren; die in die Ecken sich einschmiegenden traulichen Boudoirs mit ihrem stillverstohlenen, aus Alabasterlampen herunterfallenden Lichte, und all die heimlichen, von Boudoir zu Boudoir zwischen den Mauern sich hinwindenden Gänge und Gängchen, – und während die Gräfin zu ihm sprach, baute er schon in seinem Geiste das Bild auf, das seine künstlerische Hand verwirklichen sollte. Schneller als Teresinas Worte flogen des Meisters Gedanken, und sie hatte noch nicht ausgesprochen, so stand Romeos Plan schon fertig vor seinem Geiste.
„Es soll geschehen, wie Ihr es wünscht, gnädige Frau! In einen Feenpalast wandeln wir dies Haus um. Dies Gemach,“ fügte er, sich in dem kleinen, zum heimlichem Liebeszauber wie geschaffenen Boudoir umschauend, hinzu, „dies Gemach wird ein königliches Blumenzelt, wo die Königin des Festes und des Hauses thront und ihren Hof hält; in duftenden Ranken schlingen sich die Blumen um die goldbequasteten Stäbe bis zur Decke hinauf; von dem blauen Gewölbe strahlt zwischen den buntfarbigen Gewinden eine schimmernde Lichterkrone herunter; – in halbdunkle, von Lampen hinter Blumengebüschen nur spärlich erhellte Lauben werden aber die Gänge verwandelt, welche zu dem Heiligthum führen, wo Armida ihre Anbeter empfängt.“
Armida? … die Gräfin fuhr bei diesem Worte zusammen. Armida? Die Verlassene? – Armida? Wie kam Romeo dazu, ihr diesen Namen ins Gesicht zu schleudern? Was wollten seine so seltsam überschwänglichen Festesphantasien bedeuten? War das Spott? Wie sollte sie es deuten?
„Romantische Mythologie treibt man auch in Eurem Hause?“ warf sie dem Tischlermeister über die Schulter hin. „Das kommt doch nicht von Euch, Romeo? Das habt Ihr wohl von Eurer Tochter, – die mag schon den Tasso und … einen schönen Rinaldo kennen! – Eure Tochter soll ja recht hübsch sein, Romeo, – sagt man’s nicht, Abbate? – Schickt sie doch her zu unserm Feste; – es wird sich wohl eine Maske finden, die ihr paßt.“
„Tausend Dank, Frau Gräfin! Meine Tochter ist ein schlichtes Bürgermädchen und zu Eurem Feste paßt unsereins nicht.“
„So spielt doch nicht den Blöden, Romeo!“ rief aus seiner Sofaecke der Abbate mit seltsam befremdendem Tone heraus; „Eure Tochter wird schon Bekannte hier finden.“
Was sollten diese Worte? Was wollte schon die Gräfin mit ihren ihm unverständlichen Anspielungen auf Tasso und Rinaldo? Wie kam es, daß ihm seit heute morgen überall, wo er sich zeigte, so räthselhafte Bemerknugen ans Ohr schlugen? Lag es an ihm oder an den andern, daß ihn diese Worte wie verletzende Schläge trafen? Die Gräfin ließ ihm nicht Zeit, lange nachzugrübeln.
„Ich hab’s gefunden, Romeo,“ sagte sie, sich mit halbgeschlossenen Augen spöttisch zu ihm wendend – „Seht, als Schweizerin könntet Ihr ja Eure Tochter maskiren, mit rundem Strohhut, Alpenrosen drauf, einen Strauß von Genzianen am Busen, – aber lose, leicht, – daß die Kleine ihren Anbetern [655] Blumen daraus hinwerfen könnte, – und eine Rose in der Mitte für ihren auserlesenen Geliebten.“
Wie Pfeile, scharf und spitz, flogen die Worte von ihren Lippen. Den Tischlermeister überfiel ein dumpfes Gefühl, daß man ihn hier zur Zielscheibe eines ihm unverständlichen Spottes zu machen beabsichtige.
„Lassen wir das, Frau Gräfin!“ sagte er ernst und ruhig. „Ich verstehe nicht, was damit gemeint ist; Euer Haus wird zur bestimmten Frist eingerichtet sein, wie Ihr es wünscht!“
Und die Schnur, mit welcher er sein Notizbuch zu schließen pflegte, um das zusammengedrückte, unsaubere Bändchen schlingend, schickte er sich an, sich zu entfernen.
Die Gräfin wechselte einen raschen Blick mit Scaglione.
„Statt die Einladung für Eure Tochter so rundweg abzuschlagen,“ hub dieser an, „würdet Ihr doch besser thun, des Mädchens Meinung einzuholen. Ihr dürft aber nicht vergessen, ihr zu sagen, daß die schweizer Offiziere anwesend sein werden und daß sie den Baron von Hattwyl hier treffen werde.“
Romeo stand schon unter der Thür. Er wandte sich rasch gegen den Abbate um. Was sollte dies? Das Blut schoß ihm in die Augen. – Er mußte plötzlich an die unverständlichen Worte Salvatores von heute morgen zurückdenken; – in seiner gebückten Haltung, mit vorgebeugtem Kopfe trat er einen Schritt auf Scaglione zu.
„Scaglione!“ rief er nach einer kurzen Pause, „ein Glück ist’s für Dich, daß ich nicht vergesse, in wessen Hause ich mich befinde, sonst hätte der Schimpf, den Du Dich erfrechst …“
„Ein Schimpf?“ rief aber der andere, indem er wie gedankenlos spielend einen schweren Stuhl zwischen sich und den Tischlermeister schob; – „wie kann die Bestätigung der Wahrheit jemals ein Schimpf genannt werden? Mir wirst Du doch nicht weismachen wollen, daß Deine Tochter die schweizer Offiziere nicht liebt, wo die ganze Stadt das Geheimniß kennt!“
Hatte Romeo wirklich diese Worte gehört? Waren sie wirklich ausgesprochen worden? War dies ein Traum? Ueberfiel ihn ein Fieber? ein Wahnsinn? … Wie schlaftrunken, wie ein Nachtwandler hörte er jetzt, wie die Gräfin zum Abbate sagte:
„Wie soll er’s denn wissen, Scaglione? Er war ja seit acht Tagen abwesend.“
„Richtig!“ bestätigte der Abbate, „Du warst ja nicht in Messina, Romeo, und in San Placido konntest Du nichts merken, da Du mit Deinen Freunden im oberen Stockwerke saßest, während Deine Tochter im Klosterhofe … Ja, ja, Romeo! Die Väter thun doch zuweilen unrecht, acht Tage lang von Hause wegzubleiben.“
„Ein Schurke bist Du, Scaglione!“ rief aber jetzt wildaufbrausend Romeo, und den Stuhl wegstoßend, stürzte er mit geballter Faust auf den Sprecher los. Da faßte die Gräfin ihn am Arme.
„Romeo! Was Ihr vorhin nicht vergaßet, vergeßt Ihr jetzt! Ihr seid in meinem Hause, und ich werde nicht dulden …“
„So duldet auch nicht, Frau Gräfin, daß in Eurem Hause ein Ehrenmann beschimpft werde!“
„Beschimpft?“ rief der Abbate. „Ich sage Euch die reine Wahrheit! Was ich mit meinen Augen gesehen, mit meinen Ohren gehört, mit meinen Händen gegriffen …“
„Was hast Du gesehen? Was hast Du gehört? Rede, oder …“
Wiederum hielt ihn die Gräfin zurück. Eine tiefe Blässe hatte ihr Antlitz überzogen.
„Haltet ein, Euren Zorn begreife ich! Aber nicht gegen Scaglione darf er sich richten; – wäre ich an Eurer Stelle, Romeo, – ein anderer lebte morgen nicht mehr!“
Die Aufregung der Gräfin war seltsam; sie schien Romeo unbegreiflich. Was mochte dies bedeuten? Sein Blick haftete durchdringend auf der räthselhaften Frau. Er stand hier vor einem Geheimniß, das er nicht zu deuten vermochte. Es durchrieselte ihn eisig kalt. Was wollten dies Weib und dieser Abbate von ihm?
„Was schweigt Ihr? … was starrt Ihr mich an, Romeo?“
Langsam, jedes Wort betonend, erwiderte er:
„Was bringt Euch dazu, Frau Gräfin, Euch meine Angelegenheiten so zu Herzen gehen zu lassen? In welchem Zusammenhange mit Euch stehen die Dinge, von welchen dieser da zu erzählen sich erdreistete? Hier wird ein gefährlich Spiel getrieben, Frau Gräfin!“
Da kam Scaglione der Gräfin zu Hilfe.
„Du glaubst mir nicht?“ rief er aus; „so gehe zu Deiner Tochter und frage sie selbst! Frage sie, wen sie in San Placido damals getroffen hat, frage sie, wer sie seit acht Tagen tagtäglich in der Badiazza besucht, frage sie, wen sie gestern in der Kirche antraf, frage sie, wer sie beim Ausbruch des Orkans in Dein Haus trug, und frage sie, ob es wahr sei oder nicht, daß der schweizer Offizier, der dies alles that, die Nacht in Deinem Hause zubrachte und erst heute früh dasselbe und Deine Tochter verließ, und frage sie, ob es wahr sei oder nicht, daß dieser Offizier Eckart von Hattwyl heißt!“
Gewaltsam unterdrückte Romeo seine auftobenden Gefühle; gewaltsam unterdrückte er die Wuth, die sich gegen diesen elenden Verleumder zu entfesseln drohte. Mit Scaglione würde er schon Abrechnung halten!
Nach einer andern Richtung hin mußte er sich aber zunächst Klarheit verschaffen. Wie an einem Stahlpanzer schienen Scagliones Worte an ihm abzugleiten. Forschend fiel sein Blick auf die Gräfin.
„Diesen schweizer Offizier kennt Ihr wohl, Frau Gräfin?“
Sie deutete Romeos Frage anders, als sie es sollte. Ihre Leidenschaft war mächtiger als ihre berechnende Vernunft.
„Ob ich ihn kenne?“ rief sie, sich selber und ihre Rolle vergessend. „Mein Feind ist er wie der Deinige, dieser freche Mädchenräuber! Einen gemeinsamen Feind haben wir, Romeo; gemeinsam sei auch unsere Rache!“
Die Worte blitzten wie ein rascher Lichtstrahl durch Romeos Seele. Der Argwohn, der ihn befallen hatte, war gerechtfertigt! Das Spiel, das mit ihm getrieben wurde, hatte er durchschaut.
„Und um mir dies zu sagen,“ sprach er mit eisiger Ruhe und sein Auge scharf auf das ihre geheftet, – „nicht aber, um mir Eure Festbefehle zu geben, ließt Ihr mich hierherrufen! Ihr habt viele Verehrer, Frau Gräfin, und viel erzählt man sich von Eurer Liebe. Heute habt Ihr Rache zu nehmen an jenem, und dazu soll ich Euch behilflich sein!“
Als hätte man ihr einen Schlag versetzt, war die Gräfin aufgesprungen. Zornglühend wollte sie sprechen; aber mit donnernder Stimme, ein lodernd Feuer im Auge und hoch aufgerichtet vor ihr mit gewaltig herrschender Gebärde, gebot Romeo ihr Schweigen.
„Ihr werdet schweigen, Frau Gräfin, bis ich gesprochen habe! Zu Euren Zwecken wolltet Ihr mich mißbrauchen und habt Euch nicht entblödet, die Ehre meines Hauses, die Ehre meines Kindes zu beschmutzen, um aus dem beleidigten Vater ein williges Werkzeug – gemeinsamer Rache, wie Ihr sagtet, zu machen. Ihr hieltet Romeo für einen Knaben, Frau Gräfin, mit dem ein Weib Fangball spielen kann, – und habt Euch in ihm geirrt! – Ich gehe! Ein anderer mag Euer Haus einrichten! Von der Gräfin von Cellamare nimmt Romeo keine Befehle mehr an.“
Langsam kehrte er ihr den Rücken und ging zur Thür; dort blieb er stehen, und, den Kopf halb nach der Seite gewendet, wo der Abbate saß, warf er mit einem Ausdruck von unsagbarer Verachtung die Worte vor sich hin:
„Du aber, Abbate, höre, was ich Dir sage: Heute noch werde ich aus dem Munde meiner Tochter erfahren, daß Du ein Lügner bist; dann folge meinem Rath und sorge, daß Messina Dich morgen nicht mehr in seinen Mauern sehe! Denn wie einer Schlange würde ich Dir den Kopf unter meinen Fersen zertreten!“
Romeo war nicht mehr der unscheinbare, gebückte Arbeiter; sein Haupt hatte sich gehoben, sein Auge funkelte, in seiner Gebärde lag die beherrschende Gewalt des Volkstribunen.
Festen Schritts verließ er das Gemach; mit fester Hand drückte er auf die Klinke, mit festem Rucke schloß er die Thür hinter sich.
Vor dem Palaste hielt ein Wagen; langsam stieg er ein; – aber gewaltig pochte des starken Mannes Herz, als er dem Kutscher zurief:
„Zur Badiazza! nach meinem Hause! Fahre schnell!“
Die Magensonde.
Bei einer Uebersicht über die Fortschritte, die in den verschiedenen Gebieten der Medizin und Chirurgie während der letzten Jahrzehnte gemacht wurden, finden wir die größten in denjenigen Disziplinen, bei denen die Naturwissenschaften und die hoch entwickelte Technik dienstbar gemacht wurden. Was jetzt die Kunst des Mechanikers an feineren Instrumenten und Apparaten leistet, übertrifft natürlich weit die Erzeugnisse der Zeit, in welcher Hammer und Ambos fast unumschränkt herrschten. Bücher mit sieben Siegeln waren früher für den untersuchenden Arzt Ohr und Kehlkopf; die Diagnosen glichen mehr Fabeln und philosophischen Problemen, ehe es gelang, diese tief gelegenen und dunklen Gänge und Höhlen zu beleuchten. Mit der Erfindung der Kehlkopf- etc. Spiegel ist es fast soweit gekommen, daß man nur noch glaubt und als erwiesen annimmt, was man sieht. Von dem Mikroskop als vollständigstem optischen Instrument will ich eigentlich schweigen; es ist zu bekannt. Aber mit Hilfe desselben gründete man unsere Kenntnisse in der Medizin auf die Befunde am Seciertische. So wichtig indeß auch für jeden Arzt die genaue Kenntniß der Aenderungen und Zerstörungen ist, welche jede einzelne Krankheit an den Organen des Körpers zur Folge hat, so genügt dies doch lange nicht, um erfolgreich am Krankenbett wirken zu können, denn der Seciertisch zeigt uns nur das Endergebniß in schweren oder unheilbaren Krankheitsfällen. Welche Funktionsstörung ein krankes Organ aufweist, das muß am Krankenbett studiert werden, und wenn anders die Krankheit als solche nicht heilbar ist, so muß doch soweit als möglich die Funktionsstörung ausgeglichen werden, wie es beispielsweise der Augenarzt thut, wenn er einen Kurzsichtigen vor sich hat. Die anatomische Veränderung des Auges der Kurzsichtigen kann der Arzt nicht heilen, aber er kann den Schaden durch ein zweckmäßiges Glas ausgleichen. Oft aber gelingt es auch dem Arzte, durch entsprechende Berücksichtigung der physiologischen Funktionsstörungen und nur durch diese, die Krankheit, zumal wenn sie noch nicht zu tief eingewurzelt ist, zu heilen.
Der Arzt begnügt sich darum heutzutage nicht mehr mit der Feststellung der sicht- und greifbaren Veränderungen der Organe, er muß in jedem Falle studieren, wie die Funktionen gestört sind. So begnügt sich z. B. ein guter Augenarzt nicht mit der bloß anatomischen Diagnose einer Krankheit der Netzhaut, des Glaskörpers, der Linse etc., sondern er prüft alle Schäden, die das Auge erhalten hat, weiter: er nimmt Sehproben vor, er prüft die brechenden Medien, den Farbensinn, das Gesichtsfeld und sieht so, was das Auge noch leisten kann. Danach richtet er sein Handeln.
Auch bei den Magenkrankheiten hat man sich lange zufrieden gegeben mit der Diagnose der äußerlich wahrnehmbaren Aenderungen am Organe, d. h. mit der rein pathologisch-anatomischen Diagnose. Man verfügte bloß über die rein äußerliche Untersuchung, man palpirte, klopfte an der Magengegend herum, etc., man examinirte über dieses und jenes: darauf stützte man seine Diagnose. Wie es im Innern des Magens hergehe, wie die normale Beschaffenheit des Magensaftes sei, welche Störungen ein krankhaft beschaffener Magensaft erzeugen könne, wußte man noch nicht und konnte man auch nicht wissen, da die Hauptsache zur Untersuchung, die Kenntniß des Magensaftes, fehlte. Der verstorbene berühmte Kliniker Frerichs in Berlin äußerte sich seiner Zeit dahin, daß die Störungen der Magensaftausscheidung leider ein noch völlig dunkles Gebiet der Forschung bilden. Es sei auch wenig Hoffnung vorhanden – so sprach sich damals Frerichs aus – daß es bald gelingen werde, diesen für die Lehre der Verdauungskrankheiten so wichtigen Gegenstand erledigt zu sehen, weil der Beschaffung des Materials beim Menschen unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen.
Allein es ist anders gekommen. Die unüberwindlichen Hindernisse sind geschwunden. Professor Kußmaul war der erste, der die Magensonde zu Heilzwecken anwandte. Die Hoffnungen, die man darauf setzte, mußten aber mit der Zeit abblassen, weil man noch keinen genaueren Einblick in die Art der Verdauungsstörung bei den einzelnen Magenkrankheiten hatte. Der erste, der die Magensonde zu diagnostischen Zwecken anwandte und empfahl, war Professor Leube in Würzburg, dem auch verschiedene Untersuchungsmethoden ihre Entstehung verdanken. Allein es galt, eine einfache, jedem Arzt verständliche und zugängliche Untersuchungsmethode herauszuprobiren und festzustellen. Eine solche entdeckte Professor Riegel in Gießen, und mit Hilfe seiner Methode gelang es diesem Forscher, viele Irrthümer zu beseitigen und unsere Kenntnisse in Magenkrankheiten zu bereichern. Aus der Reihe der Männer, die sich außer den genannten Reformatoren auf dem Gebiete der Magenkrankheiten besonders eingehend damit beschäftigt haben, seien nur van der Velden, Ewald, Boas, Oser etc. genannt. Alle Namen aufzuzählen, würde hier zu weit führen.
Man könnte glauben, daß das Ideal einer Magenuntersuchung die Anwendung eines Spiegels wäre, mit dem man das ganze Organ bis in seine einzelnen Falten und Fältchen, bis in seine verborgensten Winkel und Winkelchen beleuchten könnte. Aber abgesehen davon, daß alle bis jetzt ausgeführten und mit elektrischem Lichte ausgestatteten Gastroskope (Magenschauer) viel zu wünschen übrig ließen, könnten wir mit ihnen bloß kleine Bilder bekommen, die keinen Schluß auf die Beschaffenheit der Schleimhaut im allgemeinen zulassen würden. Das würde nicht viel nützen. Wir bekämen ja keine Aufklärung über die Funktionsstörungen des Magens und des Magensaftes. Die Optik läßt uns hier im Stich. Wir können niemals, auch wenn wir die Oberfläche der Magenschleimhaut noch so genau betrachten – und nur diese läßt sich sehen – erkennen, wie die Drüsen sich verhalten, ob sie einen guten oder schlechten Magensaft absondern, u. dergl. mehr. Dazu bedürfen wir des Magenhebers, mittels dessen wir jederzeit uns über die Art der Magenthätigkeit unterrichten können, indem wir den Inhalt des Magens ausheben. Der Magenheber ist ein einfaches Instrument, das aus einer weichen, elastischen Nélatonschen Sonde, einem gläsernen Verbindungsstück und einem Kautschukrohr besteht, an dem ein Glastrichter mit Handgriff steckt. Magenpumpen giebt es verschiedene, lauter schöne und zweckmäßig zusammengesetzte Instrumente, allein in Anwendung kommen sie selten. Vor allem werden sie benutzt bei Vergiftungen, bei denen es darauf ankommt, den Magen rasch und vollständig bis auf den letzten Tropfen von seinem Inhalte zu befreien.
Der Magenheber, dessen Anwendung wir weiter unten noch genau kennen lernen werden, wirkt einfach nach dem Gesetz des zweiarmigen Hebers, dessen kürzerer Arm in den Magen eingeführt ist und dessen längerer aus dem Munde heraushängt. Es ist dabei keine Pumpe nöthig. Der Mageninhalt fließt von selbst ab, sobald die Flüssigkeit die Grenzscheide, das gläserne Verbindungstück, passirt hat. Immerhin klingt das alles dem Ohr des Laien nicht verlockend, und man begreift, daß ein Magenheber beim Publikum keine freundlichen Vorstellungen erweckt.
Wir sind auch weit entfernt davon, die Einführung der Sonde als ein für den Patienten angenehmes Experiment hinstellen zu wollen, möchten aber doch hervorheben, daß fast jeder Kranke sich mit einiger Selbstbeherrschung bald an dieselbe gewöhnt. In der Regel lernt er in verhältnißmäßig kurzer Zeit, die Sonde sich selbst einzuführen. Und wäre es auch nur die Erwägung, daß der durch diesen immerhin lästigen Vorgang erzielte Nutzen einer sicher gestellten Diagnose ein außerordentlich großer ist – schon diese Erwägung sollte den Patienten veranlassen, die kleine Unannehmlichkeit des Ausheberns ruhig mit in Kauf zu nehmen. Diejenigen Kranken, bei denen die Behandlung in täglichem Ausspülen und Reinigen des Magens besteht und welche die Sonde selbst einführen, erlangen überdies oft eine geradezu bewunderungswürdige Geschicklichkeit in der Ausführung der nöthigen Handgriffe. Es ist für den Arzt ein wahres Vergnügen, diese Leidenden den Magen mit großer Leichtigkeit und fast sportmäßig sich selbst ausspülen zu sehen; es ist eine Freude, zu beobachten, wie sie nachher einen ganz gesunden Appetit entwickeln, gut und ohne Schmerzen schlafen, sich wohler fühlen und an Körpergewicht meistens schon nach kurzer Zeit zunehmen. Deshalb kurz und bündig: „Bange machen gilt nicht!“ Ueberdies wird kein gewissenhafter Arzt eine Magenausheberung ohne zwingende Gründe vornehmen.
Veranschaulichen wir uns den Gang des ganzen Verfahrens an einem angenommenen Falle. Der Kranke kommt in das Sprechzimmer eines Magenarztes und stellt sich diesem als leidend vor; er bittet um seinen Rath. Damit beginnt das Verfahren. [657] Das Examen folgt, wie in den Sprechzimmern der anderen Aerzte. Der Kranke wird ebenso betastet, beklopft, behorcht etc. Erscheint nun dem Arzte die Untersuchung des Mageninhaltes nöthig, so eröffnet er dies dem Patienten und ersucht ihn, etwa am folgenden Tag zur Vornahme der natürlich ganz ungefährlichen Magenentleerung wiederzukommen, und zwar fünf bis sieben Stunden nach eingenommener Probemahlzeit. Diese muß nach Menge und Zusammensetzung richtig gewählt werden, wobei es sehr darauf ankommt, daß die gewohnte Essenszeit innegehalten wird, weil hier der Magen seine beste Verdauungskraft zu entfalten pflegt. – Die Probemahlzeit besteht nach Vorschrift des Arztes gewöhnlich aus einem Teller Fleischbrühsuppe, einem Beefsteak und einem sogenannten Tafelbrötchen, wozu je nachdem auch etwas Wasser mit oder ohne Wein genommen werden kann. Nach dieser Mahlzeit darf bis zum Aushebern nichts Festes und nichts Flüssiges, also kein Gläschen Wasser genossen werden. Nur so erhalten wir ein richtiges Bild vom Magensaft auf der Höhe der Verdauung. Wenn nun der Patient kommt, ermahnt ihn der Arzt, ruhig und tief zu athmen, und beginnt die, wie gesagt, ungefährliche Operation. Die Sonde, in warmem Wasser angefeuchtet, wird vom Arzt am unteren Ende wie eine Schreibfeder gefaßt, in den Mund, durch den Rachen und hinter dem Kehlkopf in die Tiefe geführt. Ist sie soweit gekommen, so gleitet sie fast von selbst in den Magen, wenn der Patient dem Gebot des Arztes, die eingeführte Sonde zu verschlucken, folgt. Wenn dies auch meistens, besonders anfangs, nicht ohne einige leichte Würgbewegungen geht, so hat dies nicht viel zu sagen. Ist die Sonde mit ihrem unteren Ende im Magengrunde, an der tiefsten Stelle des Magens, angekommen, wo hinreichend Flüssigkeit ist, so bittet der Arzt den Patienten, etwas zu pressen oder zu husten. Mit diesen Exercitien gelingt es meist, die im Magen vorhandene Flüssigkeit in die Höhe zu treiben und so den kürzeren Abschnitt des Hebers, beziehungsweise der Sonde zu füllen. Ist bei einem zweiarmigen Heber auch das den kürzeren und längeren Arm verbindende Mittelstück gefüllt, so durchströmt die Flüssigkeit von selbst den längeren Arm. Wie oft macht man genau dasselbe im Keller mit dem Weinheber! Die Magenflüssigkeit läuft von selbst aus dem Magen ab, wird in einem Gefäß aufgefangen und gesondert aufbewahrt zur weiteren chemischen Untersuchung. So viel über das Aushebern des Magens!
Was nun das Ausspülen desselben, das zu Heilzwecken geschieht, betrifft, so wird dieses folgendermaßen gemacht: man hält den Trichter hoch und gießt lauwarmes Wasser in denselben, wobei indessen zu beachten ist, daß man den Trichter nicht zu hoch hält; so verhütet man, daß das Wasser wie eine Dusche wirkt. Durch diese theilweise Anfüllung des Magens mit Wasser wird der Mageninhalt verdünnt und der Magen selbst gereinigt. Um ihn zu entleeren, genügt es, den Trichter, sobald das letzte Wasser in ihm zu verschwinden droht, einfach zu senken, und alsbald strömt der verdünnte Mageninhalt nach außen. Mit fast wunderbarer Schnelligkeit pflegt nun nach dem Aushebern und der Entfernung der Sonde den Leidenden ein man möchte sagen aufathmendes Wohlbefinden zu überkommen. Er ist ein neuer Mensch geworden. „Nicht wahr?“ fragt der Arzt, „Ihnen ist nicht übel? Sie empfinden keinen Schmerz? Aber Hunger haben Sie wohl, oder nicht?“
„Ja, Herr Doktor,“ pflegt der nicht mehr Gequälte zu sagen, „Schmerzen habe ich nicht, aber Hunger verspüre ich und möchte etwas essen, und zwar bald, warten kann ich nicht mehr lange.“
Zufriedener verläßt der Patient den Arzt und empfängt von diesem die ausdrückliche Bemerkung, daß eine Wiederholung der soeben vorgenommenen Entleerung unvermeidlich sei, denn nur – so erklärt der erfahrene Magenarzt – eine öftere chemische
[658] Untersuchung des entnommenen Mageninhaltes könne eine sicher gültige Diagnose herbeiführen.
Mit der chemischen Untersuchung des Ausgeheberten beginnt nun für den Arzt die Hauptaufgabe. Das Ganze wird vervollständigt durch die Vornahme eines künstlichen Verdauungsversuches.
Zunächst ein Wort über die chemische Untersuchung.
Nachdem man den Mageninhalt filtrirt hat, versäumt man nicht, den auf dem Filtrum zurückbleibenden Speisebrei genau zu beaugenscheinigen. Schon daraus lassen sich wichtige Schlüsse ziehen; man sieht, wie der Magen verdaut, was der Magen erträgt, das heißt, was gelöst und verschwunden ist, und was er nicht erträgt, das heißt, was noch sichtbar und nicht verdaut ist. In mehreren sogenannten Reagensgläschen, wie sie in chemischen Laboratorien gebräuchlich sind, prüft man das Verhalten des Mageninhaltes gegen verschiedene Farbstoffe und sieht an den Veränderungen, die diese Farben erleiden, ob die normalen Bestandtheile im Magensaft vorhanden sind oder nicht, ob und welche fremden Bestandtheile, z. B. Milchsäure, Buttersäure und dergleichen, in größerer Menge gefunden werden. Der Vollständigkeit wegen sollte ich eigentlich dem Leser alles vorführen, ihm zeigen, wie dieser Farbstoff granatroth, jener hellblau etc. wird, allein ich glaube mich dieser Aufgabe entschlagen zu dürfen. Vieles und doch ungenügendes Wissen macht Kopfweh! Vor allem ist die Salzsäure die eigentliche Verdauungssäure, deren Anwesenheit und Gewichtsmenge zu bestimmen sind. Wo Salzsäure ist, fehlt das Verdauungsferment Pepsin nie. Der normale Salzsäuregehalt des Magensaftes beträgt 0,15 bis 0,2 Prozent. Es kommen aber nicht selten Vermehrungen der Salzsäuremengen vor bis 0,5 und 0,6 Prozent. Man glaubte früher viel häufiger an ein Fehlen oder eine Verminderung der Salzsäure. Dieser Irrthum führte zur Verordnung von Salzsäure, wodurch jedoch der Zustand des Kranken meistens verschlechtert wurde. Das genaue Studium der Störungen der Magenthätigkeit hat gelehrt, daß viel häufiger ein zu großer Reichthum von Salzsäure krankhafte Erscheinungen veranlaßt. Diese Säure zu geben, ist der Arzt eigentlich nur berechtigt, wenn durch falsche Gährungen und Zersetzungen im Magen organische Säuren (Essig-, Milch-, Buttersäure) erzeugt werden.
Nun folgt der künstliche Verdauungsversuch. Diesen wichtigen, letzten Theil seiner Arbeit verrichtet der Arzt, indem er die Löslichkeit von geronnenem Hühnereiweiß im Mageninhalt innerhalb eines geschlossenen, auf Blutwärme erhitzten Raumes prüft. Zu diesem Zweck setzt er zu einer kleinen Menge filtrirten Mageninhaltes eine Scheibe beim Sieden geronnenen Hühnereiweißes von bestimmter Größe und Dicke in ein Reagensglas und dieses selbst in einen in der Chemie viel gebrauchten sogenannten Brütofen. Ein solcher stellt sich dar als ein längliches, rechteckiges, aus Kupferblech gefertigtes Kästchen, das innen mit einem Gestell für die Reagensgläschen ausgestattet ist und auf dessen oberer Platte ein Thermometer und ein Thermostat in zweckentsprechender Weise befestigt sind. Letzteres Instrument dient dazu, ein zu starkes Zuströmen von Gas zu der unter dem Kasten brennenden Lampe zu verhindern und auf diese Weise die Temperatur im Brütofen gleichmäßig auf etwa + 37° C., das heißt auf Blutwärme, zu erhalten. Wenn der Magensaft auf diese Weise innerhalb einer gewissen Zeit bei etwa + 37° C. die Eiweißscheibchen auflöst, so haben wir das Recht, anzunehmen, daß der betreffende Magen, aus welchem der Saft stammt, gute Verdauungskraft besitzt. Bei einem zu großen Reichthum des Magensaftes an Salzsäure findet dagegen eine zu rasche Lösung oder Verdauung statt. Löst sich aber die Eiweißscheibe nicht, ist sie nach Stunden oder Tagen unverdaut, so haben wir das Recht, aus dieser mangelhaften Verdauung auf ein schweres Leiden, zunächst auf Krebs zu schließen, trotz aller begründeter und unbegründeter Erörterungen, denen dieses Thema schon unterworfen worden ist.
Die chemische Untersuchung des Mageninhaltes, an die sich die mit dem Mikroskop oft anschließen muß, vorzunehmen, ist also immer da angezeigt, wo man den Ursprung einer Verdauungsstörung nicht genau kennt und nicht weiß, wie sie die chemischen Vorgänge im Magen ändert. Würde das öfter geschehen, so würde die orakelhafte und schablonenmäßige Diagnose „chronischer Magenkatarrh“ viel seltener gestellt werden. Wie die Diagnose auf chemischem Weg gemacht wird, so sind auch chemische Rückschlüsse ausschlaggebend bei der Heilung und besonders bei der Diät. Der Arzt hat nicht nöthig, zu probiren und alle möglichen Speisezettel aufzustellen, er kennt die chemische Zusammensetzung des Magensaftes und weiß genau, wie der Magen verdaut, was ein solcher an Speise und Trank ertragen kann und verlangt.
So kann ein Kranker, wenn er den Gebrauch der Magensonde und dabei die richtige Auswahl und Bereitungsweise der Speisen wenigstens dem Gesichtspunkt nach gelernt hat, eine begonnene Kur zu Hause fortsetzen; er hat bloß nöthig, seinen Arzt durch zeitweilige Zusendung von Magensaftproben auf dem Laufenden zu erhalten, nach deren sachgemäßer Untersuchung der Arzt fast in mathematischer Weise sich von den Fortschritten der Besserung überzeugen kann. Den sichersten Anhaltspunkt für die Beurtheilung des Krankheitsstandes, ob Stillstand, ob Besserung oder Verschlimmerung vorliegt, geben die sicher zu berechnenden Salzsäuremengen des Mageninhalts.
Auf diese Weise kann natürlich nicht jede Magenkrankheit sicher erkannt und darauf hin zweckgemäß behandelt werden. Aber Linderung der Schmerzen und Beschwerden kann der Arzt gewähren auch in unheilbaren Leiden mit Hilfe dieser neuen Methode. Wohl ist sie noch der Vervollkommnung und feineren Ausbildung fähig und bedürftig, aber auch so, wie sie jetzt sich darbietet, ist sie der Beachtung werth. Manches Vorurtheil, das dagegen herrscht, wird schwinden, sobald man allgemein das Wesen und den Werth der ganzen Methode kennen gelernt hat. Hierzu beizutragen, das ist der Zweck der obigen Darlegungen.
Gold-Aninia.
General Desolles war mit einem Theil des französisch-italienischen Heeres durch das Veltlin in Graubünden eingerückt und zog über Bormio, das Wormser- und Stilfserjoch den Oesterreichern in Tirol entgegen. General Lecourbe fiel von Norden her an drei Stellen über den Septimer, den Julier und den Albula in das Oberengadin ein.
Am Morgen des 11. März, am Tage nach dem Abzug der Frauen, Kinder und Greise aus Silvaplana nach dem Crestalta, erschienen die ersten Franzosen auf den Höhen über dem Dorfe Casaccia im Bergell, am Fuß des Malojapasses und nur etwa drei Stunden von Silvaplana gelegen. Dort kampirte noch immer eine kleine Abtheilung Oesterreicher, die nicht so glücklich gewesen war, sich rechtzeitig vor den wilden Feinden retten zu können. Nur zu rasch wurde sie überwältigt, theils niedergemacht, theils gefangen genommen, dann begann das Plündern des armen Dorfes, das Mißhandeln seiner unglücklichen Bewohner. Nun marschierte die Truppe der „Volksbeglücker und Freiheitshelden“ unter ihrem zum Siegesruf gewordenen Wahlspruch: „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!“ weiter über den Maloja.
Sie durchzogen raubend und plündernd die oberen Dörfer Sils Maria und Sils Baseglia und fielen gegen mittag in Silvaplana ein, kurz nachdem der zweite und größere Theil der Brigade mit reitenden Jägern und einer Batterie unter wildlärmendem Singen der Marseillaise von der Höhe des Juliers in das Hochthal niedergestiegen und ebenfalls in Silvaplana eingetroffen war. Hier kommandierte der junge Brigadegeneral Mainoni, was sich als ein besonderes Glück für Silvaplana erweisen sollte, denn ihm war als Italiener auch der romanisch-ladinische Dialekt nicht ganz fremd. Hoch zu Pferde hielt er mit mehreren seiner Offiziere vor der Herberge „Zum wilden Mann“, auf der einzigen platzartigen Stelle in der langgestreckten Dorfgasse. Madulani hatte sich mit seinen wenigen alten Männern genähert und ihn mit zagenden Worten um Schonung gebeten. Auf die barsche Aufforderung des Generals, Speise und Trank für seine Soldaten herbeizuschaffen, erhielt der [659] Gewaltige die mit zitternder Stimme gegebene Antwort, daß sämmtliche Bewohner mit allem, was sie nur hätten fortschleppen können, schon längst in die Berge geflohen wären, und das wenige, was übrig geblieben, wäre von den Oesterreichern verzehrt und mitgenommen worden. Sie allein, weil zu alt und zu schwach, wären geblieben, um den Herrn General zu empfangen und den Soldaten ein Fäßchen Branntwein anzubieten, das sie mit Müh’ und Gefahr vor den abgezogenen Oesterreichern zu bergen vermocht hätten. Der Bürgergeneral stieß bei solcher Antwort einen gräulichen Fluch aus, dann befahl er, das Fäßchen herbeizuschaffen und das ganze Dorf zu durchsuchen, mit der Drohung, wenn es sich anders verhalten sollte als angegeben, würde er die Männer sammt und sonders erschießen lassen. Madulani und seine am ganzen Leibe zitternden Genossen hatten bald den Branntwein aus dem Keller hervorgeholt und muthig wollte ersterer beginnen, den ihn umringenden Soldaten die Gläser und Becher zu füllen, als plötzlich Aninia neben ihm stand. Dem zum Tode erschrockenen Vater nahm sie das Glas aus der Hand und trat festen Schrittes auf den General zu. Ihr ernstes bleiches Antlitz zu einem freundlichen Ausdruck zwingend, reichte sie ihm den Trank mit dem landesüblichen Gruß. Erstaunt, doch nicht unfreundlich schaute der republikanische Befehlshaber die junge, schöne Frau an, die da so plötzlich wie aus dem Boden herausgewachsen vor ihm stand. Er nahm das Glas, dankte durch ein Neigen des Hauptes, trank und reichte es dann seinen Offizieren, die es sich von dem jungen Weibe mehrfach füllen ließen. Währenddem fragte der General mit sichtlicher Erregung: „Wer bist Du? wie heißest Du?“
„Es ist meine Tochter, Aninia,“ antwortete Madulani, noch immer nicht Herr seiner Aufregung über das unerwartete Erscheinen seines Kindes in diesem gefährlichen Augenblicke. „Ich glaubte sie bei den anderen Frauen und Kindern – in den Schluchten unserer Berge.“
„Heute nacht bin ich zurückgekehrt,“ antwortete Aninia mit fester Stimme, „denn mein Platz ist bei meinem Vater. Es wäre feige gewesen, hätte ich ihn allein der Gefahr überlassen wollen. Doch von dem Bürgergeneral haben wir nichts zu fürchten.“
„Du bist ein wackeres Weib, eine echte Schweizerin!“ rief der General mit hellem Enthusiasmus. „So lange ich hier bin, könnt Ihr ruhig sein – doch seht Euch vor,“ setzte er leiser und wohl nur für Aninia bestimmt hinzu, „daß Ihr zu anderer Zeit nicht meinen Soldaten – und Offizieren in die Hände fallt!“
Diese hatten sich bereits von allen Seiten in die Nähe Aninias gedrängt, sie zu bewundern und sich von ihr einen Trunk kredenzen zu lassen. Die Franzosen wurden immer lustiger, kecker, und es wäre zu schlimmen Auftritten gekommen, wenn General Mainoni nicht hoch zu Pferde die immer dichter werdende Gruppe überwacht – sogar mit Blicken überwacht hätte, die ebenso viel Bewunderung wie Eifersucht kündeten. Doch auch Aninias feste, muthige Haltung, ihre ernsten Blicke machten Eindruck auf den wilden Soldatenhaufen und trugen viel mit dazu bei, daß der bedenkliche Auftritt ohne weitere gefährliche Ausschreitungen vorüber ging.
Während dieser Zeit hatten andere Trupps sämmtliche Häuser und Hütten des Dorfes vom Keller bis unter das Dach durchsucht und weiter nichts gefunden als einige steinharte Roggenbrote. General Mainoni hatte Mühe, ihr Wettern und Fluchen zum Schweigen zu bringen, und da ihm strenger Befehl geworden war, noch am Abend mit seinem Chef, dem General Lecourbe, in Ponte am Fuß des Albula zusammen zu stoßen, so ließ er zum Aufbruch blasen und kommandierte sein: „En avant – marche!“
Madulani und die Männer von Silvaplana hatten inzwischen durch den glücklichen Verlauf des gefährlichen Auftritts wieder Muth bekommen, sie tranken sogar mit und ließen schließlich in ihrer dankbaren Freude ihre Gold-Aninia hoch leben. Der junge General hörte den Namen mit offenbarer Freude, und als seine Soldaten lärmend in das Hoch einstimmten, da lüftete er grüßend seinen mit blau-weiß-rothen Federn geschmückten Hut und hielt so lange mit einigen Offizieren vor der Herberge, bis der letzte Trupp an ihm vorbeidefilirt war. Dann wandte er sein Pferd der kleinen Gruppe der Silvaplaner Leute zu, reichte, sich niederbeugend, Aninia die Hand und sagte in freundlichem Ton: „Leb wohl, schöne Gold-Aninia, und laß Dich warnen von einem Manne, dessen Theilnahme Du gewonnen hast – dem Dein Anblick wohlgethan hat. Sei vorsichtig und vertraue nicht zu viel Deinem kecken Muthe! – Heute habe ich Dich schützen können; doch kommen neue französische Truppen, so verbirg Dich, so weit und tief Du nur kannst! Es sollte mir wahrlich leid thun, wenn der schönen Gold-Aninia ein Unglück geschähe. Leb wohl!“ Damit sprengte er mit den Seinigen die Dorfgasse hinab, um wieder an die Spitze seiner Kolonne zu gelangen.
Nun trat für das Ober-Engadin, besonders für Silvaplana und dessen weitere Umgebung, eine kurze, freilich nur nach Wochen bemessene Zeit der Ruhe ein, während welcher die zurückgekehrten Bewohner sich der Hoffnung hingaben, das Aergste überstanden zu haben. Aber die Rückfluth der über die Pässe gezogenen Truppen sollte nicht ausbleiben. General Desolles kämpfte unglücklich gegen die Oesterreicher in Tirol und sah sich genöthigt, den Rückzug über das Wormser Joch anzutreten. General Lecourbe mit seiner zum Theil aus Italienern bestehenden Truppe stieß zu ihm. Sie zerstörten die Innbrücke bei Ponte in dem Glauben, dadurch den Oesterreichern den Weg in das Oberengadin und das Rheinthal zu versperren und sich den Rückzug über den Albula und den Julier zu sichern. Lecourbe ließ die Kanonen auf Schleifen legen, die Lafetten verbrennen und trat in der Nacht seinen Marsch über den Albula an. Um das Verbrennen der Lafetten zu überwachen, ließ der General etwa hundert Mann unter dem Kommando eines Kapitäns zurück, und zu diesen Leuten zählten auch etwa zwanzig Italiener.
Der Kapitän, ein wetterharter, wilder Republikaner, hatte seinen Leuten befohlen, in dem ausgeplünderten menschenleeren Dorfe Ponte zu biwakieren, da erst am Morgen der Rückmarsch und zwar über den Julier angetreten werden sollte, um, wie er seinen französischen Soldaten – es waren solche der schlimmsten Sorte – mit einem bösen Lächeln sagte, auf dem Rückweg nachzuholen, was bei ihrem Einzug in das Engadin durch die Schwäche ihres Generals versäumt worden war. Um die Feuer der brennenden Lafetten, welche noch immer haushoch emporloderten, hatten sich die Soldaten in verschiedenen Gruppen niedergelassen, aßen das Wenige, was sie erbeutet hatten, oder vertrieben sich die Zeit mit Singen und Tanzen.
In der Gegend, wo die wenigen Italiener lagerten, saß etwas abseits ein Soldat, dessen rothe Streifen auf dem Aermel der abgenutzten Uniform ihn als Korporal seines Regiments bezeichneten. Es war ein Mann von etwa dreißig und einigen Jahren, groß, breitschulterig und wohl von einer nicht gewöhnlichen Körperkraft. Sein Gesicht war tief gebräunt, dichtes Lockenhaar und ein starker Vollbart von schwarzer Farbe umrahmten Kopf und Antlitz und verliehen der ganzen Gestalt in der eigenthümlich grellen Beleuchtung der lodernden Flammen eine Wildheit, die auf den ersten Anblick Furcht einflößen mußte. Doch blickten die großen dunklen Augen träumerisch, sogar recht schwermüthig vor sich hin; der Mann schien in ein tiefes, ernstes Sinnen versunken zu sein. Da näherte sich ihm langsam einer der Soldaten, ein älterer Mann, in einer noch schlechteren, ziemlich zerfetzten Uniform. Eine ganze Weile blickte er den Träumer an, dann ließ er sich kopfschüttelnd neben ihn nieder, legte die Hand auf seinen Arm und sagte endlich in den weichen Lauten ihrer italischen Mundart:
„Was hast Du denn, Kamerad? Du bist seit einiger Zeit so verwandelt, daß man Dich nicht wieder kennt. Was ist denn los? Ich wollte schon lange mit Dir reden, wenn sich die Gelegenheit dazu gäbe. Aber bei einem solchen Brummbär, wie Du jetzt bist, kann man lange auf Gelegenheit warten. Vorwärts also! Was giebt’s? Bist doch sonst ein frischer Bursch gewesen, der in den Kugelregen hineinlief, als sei ihm das eine aparte Lustbarkeit. Und nun, seit wir uns in diesen gottverdammten Eis- und Schneebergen herumbalgen, hängt er den Kopf wie ein krankes Huhn und gönnt seinem Kameraden kein Wort mehr, mit dem er doch sonst treu zusammengehalten hat!“
Der Mann hatte die letzten Worte trotz des polternden Tones mit einer solchen Herzlichkeit gesprochen, daß der andere ihn gerührt ansah. Endlich sprach er langsam mit halber Stimme:
„Ich will es Dir sagen, Andrea. Bisher schlugen wir uns nur mit Oesterreichern, die mir gleichgültig waren. Hier im Engadin aber standen uns auch Schweizer, Bündnerleute gegenüber, und ich hätte lieber auf die Hunde-Franzosen geschossen als auf einen Engadiner.“
[660] „Wenn es weiter nichts ist,“ rief der Soldat, in seiner Freude wohl ein wenig überlaut, „dann begreife ich Dein Gesichterschneiden und verdenke es Dir nicht, Beppo! Denn gerade so erging es mir und deshalb schoß ich immer über die Weiß- und Grauröcke hinaus.“
„Still, um der Madonna willen!“ flüsterte der Korporal besorgt. „Wenn man solche Worte hörte!“
Doch der andere kümmerte sich kaum um die Warnung. Hastig, wenn jetzt auch leiser und vorsichtiger, fuhr er fort: „Und jetzt sollen wir erst recht in Dein Engadin hinein, das Dir so nahe geht, denn wir marschieren nicht über den Albula, sondern weiter die Seen hinauf, dann über den Julier.“
„Ueber Silvaplana – den Julier sollen wir marschieren?!“ rief der Korporal, seinen Kameraden mit weitaufgerissenen Augen anstarrend.
„So sagte der Capitano, dem wir jetzt zu gehorchen haben – der Satan mag ihn holen!“ versetzte der Soldat. „Er muß etwas im Schilde führen – denn er lächelte so eigenthümlich mit seinen gelben Zähnen, wie er allemal thut, wenn er eine Schurkerei im Sinne hat, der Halunke!“
„Nach Silvaplana?!“ murmelte der andere nochmals vor sich hin, als ob er bereits in Gedanken an dem genannten Orte weile.
„Du scheinst keine besondere Lust zu haben, in das Nest zu kommen? Nun, den Kameraden geht es ebenso, sie möchten lieber noch heute nacht desertieren und den Heimweg über das Eis des Bernina einschlagen, als mit den Hunde-Franzosen immer weiter nach Norden und dem Rheinthal zu ziehen. He, Beppo, was meinst Du dazu?“ flüsterte er nun dem Ohr des Korporals ganz nahe.
„Das geht nicht an, Andrea,“ entgegnete Beppo, „wir müssen mit. – Es wäre eine Schande, wenn die Franzosen uns hinterrücks erschießen würden, denn entkommen können wir ihnen jetzt bei dieser höllischen Beleuchtung nicht. Gehen wir schlafen! – Ich will die heilige Madonna bitten, daß sie mit mir sei auf diesem schweren Wege.“
Die letzten Worte hatte er kaum hörbar vor sich hingesprochen, dann streckte er sich auf den grauen Soldatenmantel aus, der am Boden lag, und schien wirklich einzuschlummern.
Andrea kehrte langsam zu seinem nahen Lagerplatz und den dort kauernden Kameraden und Landsleuten zurück, mit einem letzten Seitenblick auf den Korporal zwischen den Zähnen murmelnd: „Der Henker mag wissen, was er hat! Dahinter steckt noch etwas, und erfahren muß ich es auch.“
Der Korporal Beppo lag inzwischen mit halbgeschlossenen Augen da, aber der Schlaf wollte nicht über ihn kommen. Seine Lippen bewegten sich und leise kam es zwischen ihnen hervor:
„Ist es Gott – oder der Teufel, der mich nach dem Orte führt, den ich in diesem Leben nicht wiederzusehen – glaubte? – Ob sie noch dort ist – und an den armen Beppo denkt? – Ob sie mir wohl verziehen hat? – Nein, nein! meine Schuld ist zu groß, für mich giebt’s keine Verzeihung! – O, hätte ich ihn doch gefunden, den Tod auf dem Schlachtfeld, den ich seit Jahren suche! – aber es war vergebens, ich fand ihn nicht, ich mußte leben – mein elendes Dasein ertragen. – Wozu? – Was hat der Richter dort oben mit mir vor, daß er mich wieder an den Ort meiner Unthat führt? – Soll ich dennoch hoffen dürfen, daß mir Vergebung zu theil werde? – Aninia! Aninia!“ rief er plötzlich laut mit überwallendem Gefühl und zitternder Stimme. Er sah sich hastig um, niemand hatte ihn gehört. Tief aufseufzend wickelte er sich fester in seinen Mantel, dann wurde er still, und bald kam der ersehnte Schlaf, ihn mit wohlthätigem Vergessen zuzudecken.
Am frühen Morgen verließ die kleine Abtheilung Franzosen und Italiener, unter Anführung ihres Kapitäns, das Dorf Ponte, den furchtsam und zögernd wieder einziehenden Bewohnern nichts zurücklassend, als die qualmenden Kohlenreste der Lafetten. Eine ziemliche Anzahl Dörfer war zu passiren, doch nichts in ihnen zu holen, wie gewaltsam auch die Franzosen Keller und Ställe durchwühlten. Manche Wohnstätte fiel der wilden Wuth der französischen Soldaten zum Opfer und hinter den Abziehenden loderten Flammen empor. Doch der Kapitän trieb seine Leute mit dem Säbel in der Faust zum Weitermarsch an; er stellte der Horde am Ziel ihres Marsches durch das Hochthal eine Rast in Aussicht, bei der sie sich ungehindert ihrer Zerstörungslust und ihrem Zorn über das elende Schweizer- und Bündnervolk überlassen könnten. Das konnte nur dem schon jetzt dem Untergange geweihten Silvaplana gelten.
Dort hatte man keine Ahnung von der Annäherung der Franzosen. Als die ersten Flüchtlinge vom See Murezzan und Campfèr anlangten, da war es bereits zu spät, um die Weiber, die Kranken und die Kinder noch nach dem Crestalta zu flüchten; denn schon ertönte in der Ferne, unabwendbares Unheil verheißend, der wüste Gesang der Marseillaise.
Das wilde Singen und Lärmen der Franzosen, welches bei deren Näherrücken den horchenden Silvaplanern stets greller erklang, war, nachdem die Schar die lange Dorfgasse betreten hatte, einer plötzlichen unheimlichen Stille gewichen. Lautlos, doch mit stechenden Augen, mit grinsendem, höhnischem Lächeln umherschauend, war der kleine Trupp nach dem freien Platz vor der Herberge und dem Aufgang zur Paßhöhe des Juliers marschiert und hatte sich dort, nach einem Kommando des Kapitäns, im Halbkreise um diesen aufgestellt.
Wieder standen Madulani und die vier alten Männer, die Mützen in den Händen, mit demüthiger Gebärde vor der Herberge, doch diesmal in noch weit bangerer Erwartung als vor etwa zwei Monaten, denn das gelbe und gefurchte, wildhäßliche Gesicht des französischen Kapitäns war lange nicht so vertrauenerweckend als das jugendliche Antlitz des republikanischen Generals. Unwillkürlich mußte Madulani an dessen Warnungen denken und zum erstenmal überkam ihn eine tödliche Angst.
Ohne sich um die geduldig seiner Befehle harrenden Männer zu kümmern, ließ der Kapitän die einzige Trommel, welche der Trupp mit sich führte, rühren und redete dann mit lauter Stimme seine Soldaten im Kommandoton folgendermaßen an:
„Bürger, Soldaten! Wir sind in dem Nest angelangt, von dem ich Euch bereits als Rastort gesprochen habe, dessen elende Bewohner bei unserem Einzug in diese Eisregionen, welche wir nun für immer verlassen werden, den Bürgergeneral Mainoni durch schöne Worte und ein glattes Gesicht belogen und betrogen haben. Jetzt ist die Stunde ihrer Strafe gekommen. – Achtung! – Die Säbel gezogen! – Die Gewehre können ruhen, das Bauernvolk ist keinen Schuß Pulver werth und unsere Säbel werden bessere Arbeit verrichten. – Vierzig Mann meiner Kompagnie vertheilen sich durch das ganze Dorf – der Tambour bleibt hier bei mir und den Italienern. Sobald Ihr das Wirbeln der Trommel vernehmt, fallt Ihr in die Häuser ein, säbelt nieder, was sich zur Wehr setzt, und zündet ihnen die Baracken über den Köpfen an. An allen vier Ecken soll das Nest aufflammen und mir ein lustiges Hochzeitsfeuerchen liefern. Und nun – en avant – marche!“
Ein lauter, lärmender Jubel erhob sich nach diesen entsetzlichen Worten, und von den Franzosen, die, wie auch die Italiener, ihre Säbel gezogen hatten, löste die Hälfte sich ab und vertheilte sich schreiend und johlend in der langen Dorfgasse. Jetzt gebot der Kapitän abermals mit schriller Stimme Ruhe, und als diese unter seinen zurückgebliebenen Leuten einigermaßen eingetreten war, rief er plötzlich in den kleinen Trupp Italiener hinein, die mit ihren gezückten Säbeln eng aneinander gerückt dastanden:
„Wer von Euch die vermaledeite Sprache dieser helvetischen Eisbären spricht, der trete vor und übersetze den Bauern, was ich soeben gesagt habe – und noch sagen werde! Schnell! denn ich will keine Minute mehr mit unnützen Reden verlieren. – Tambour, halte die Schlägel bereit!“
Da wurde aus dem Knäuel der italienischen Soldaten ein Mann gewaltsam nach dem bereits ungeduldig fluchenden Kapitän hingestoßen. Er war in dem Valtelino daheim, sprach Romanisch-Ladinisch, und mit finsterer Miene begann er dem erbleichenden Madulani und dessen Genossen die verhängnißvollen Befehle des Franzosen zu verdolmetschen. Andrea hatte den Valteliner, auf ein Zeichen seines Korporals, aus der Reihe hinausbefördert. Beppo stand während des ganzen Auftritts wie versteinert unter den Genossen, seine gebräunte Gesichtsfarbe war zu einer erdfahlen geworden, und mit weit offenen Augen starrte er fast athemlos Madulani an. Sein Geist schien noch nicht fassen zu können, was hier vorging und auf dem Spiele stand. Auf dem Marsche hatte er nicht nach der Seeseite zu schauen gewagt, aus Furcht, die Ruinen des durch ihn zerstörten Dorfes erblicken zu müssen. Nun sah er plötzlich Madulani vor sich, wenn auch immer noch
[661][662] in der ehemaligen starkknochigen Gestalt, doch sichtlich zu einem alten, schwachen Mann geworden. „Wo er ist, wird auch sie sein – wenn sie nicht längst im Grabe neben ihrem Kinde liegt,“ sagte er sich. Da nannte der Kapitän einen Namen, der Beppo gleich einem Posaunenruf aus seiner Starrheit aufweckte. Nun wußte er wieder alles und auch das Entsetzliche, was in den nächsten Augenblicken geschehen mußte – wenn Aninia hier war!
„Jetzt zu Dir, Alter!“ hatte der Kapitän, zu Madulani gewendet, gerufen. „Deine Tochter will ich sehen, sie ist drinnen in der Herberge. O! ich habe ebenso wenig ihr teufelsmäßig hübsches Gesichtchen, ihr goldblondes Haar vergessen wie ihren Namen ‚Gold-Aninia‘! Rufe sie auf der Stelle, oder ich dringe mit meinen Soldaten ins Haus, wo es der jungen und hübschen Weiber ganz bestimmt noch mehr giebt, und alles, was wir finden, gehört uns! En avant, in Satans Namen!“
Der Valteliner brauchte diese neuen furchtbaren Worte Madulani nicht zu verdolmetschen, denn der arme alte Mann hatte ihre Bedeutung aus den Blicken, den Gebärden des Elenden und der Art, wie dieser den Namen seiner Tochter aussprach, nur zu deutlich erkannt. Noch war der Kapitän nicht zu Ende, da lag Madulani vor ihm auf den Knieen und flehte mit gerungenen Händen und bebender Stimme um Schonung der Seinigen und der armen Frauen.
Sinnlos vor Wuth über diesen Widerstand griff der Kapitän unter einem greulichen Fluch nach seinem Säbel – im nächsten Augenblick wäre es um das Leben des alten Mannes geschehen gewesen – er hätte es für sein Kind lassen müssen – ohne ihm dadurch nützen zu können. – Da ließ der Kapitän plötzlich den Säbelgriff fahren und mit einem grellen Freudenschrei fuhr er einen Schritt zurück, denn unter der Thür war Gold-Aninia erschienen. Ihr Angesicht war bleich wie das einer Todten und ernst, mit flammenden Blicken wie ein zürnender Engel Gottes schaute sie den Kapitän an.
Beim Anblick des schönen jungen Weibes erhob sich unter den Franzosen ein lauter wildfreudiger Tumult, in dem der jähe Aufschrei: „Aninia!“, der aus der Gruppe der Italiener hervortönte, ungehört unterging.
„Voran, Kinder! holt Euch drinnen Eure Beute!“ schrie der Kapitän seinen Soldaten zu. Zugleich gab er dem vor ihm knieenden Madulani einen solchen rohen Stoß, daß der alte Mann zur Erde fiel; dann sprang der Unhold mit der Gier eines Raubthiers auf das bleiche Weib zu, das ihn unbeweglich, scheinbar ohne Widerstand erwartete.
Doch er kam nicht dazu, sein Opfer auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren. Aus der Reihe der Italiener brach mit einem knirschenden Wuthschrei der Korporal hervor, faßte den Elenden mit der freien Hand am Halse und schleuderte ihn mit leichter Mühe mehrere Schritte zurück – während zugleich eine plötzliche Bewegung in die Gestalt Aninias kam, die zusammenzuckend nach dem Pfosten der Thür griff, um einen Halt zu finden. Die Lippen wollten einen Namen rufen, doch die Stimme versagte ihr – nur die großgeöffneten Augen starrten ihren Retter wie eine Geistererscheinung an.
Im nächsten Augenblick veränderte sich blitzschnell die ganze Scene. Der Kapitän war schäumend vor Wuth unter entsetzlichen Flüchen vom Boden aufgesprungen, zog den Säbel und holte zu einem tödlichen Schlag gegen den Korporal aus. Doch dieser kam ihm zuvor, seine Rechte hielt schon den Säbel gefaßt, und mit einem schweren Hieb schlug er dem Franzosen die Waffe aus der Hand, wobei zugleich die Schneide der eigenen Klinge seinen Angreifer mit tödlicher Gewalt zwischen Hals und Schulter traf.
Ein Blutstrom entquoll der Wunde des Kapitäns, und zusammenbrechend vermochte er nur noch röchelnd zu stöhnen: „Tambour – rühr’ die Trommel!“
Doch zu gleicher Zeit hatte auch der Korporal seinen Landsleuten zugerufen: „Jetzt drauf los! Es sind nur Räuber und Mörder und keine Soldaten!“ –
Nun gewann auch die Gestalt der bleichen Frau am Eingang der Herberge Leben. Laut, mit fester Stimme rief sie in das Haus hinein: „Herbei, Ihr Frauen! Zeiget, daß Ihr echte Schweizerinnen seid!“
Noch hatte der Kapitän das letzte Wort des entsetzlichen Befehls, der dem ganzen Dorf den Untergang hätte bringen müssen, nicht ausgesprochen; noch hatte der Tambour den Schlägel zu dem verhängnißvollen Wirbel nicht erhoben, als der Soldat Andrea ihm einen so wuchtigen Hieb auf den Arm versetzte, daß der arme Teufel mit einem Wehschrei Arm und Schlägel sinken ließ. Und schon während der Rede des Korporals befanden sich die Italiener im Handgemenge mit den Franzosen. Diese hatten anfangs mit starrem Entsetzen die rasche Ueberwältigung ihres Kapitäns gesehen, dann unter Flüchen und gellendem Rachegeschrei die Säbel gezogen. Jetzt stürzten auch die Mädchen und Frauen aus der Herberge, und unter Aninias Führung griffen sie in einer todesmuthigen Begeisterung die Franzosen an. Was nur als Waffe dienlich sein konnte, hatten sie ergriffen; mit Knütteln, Heugabeln schlugen und stachen sie auf die Feinde ein, während Madulani und die Männer auf die in Pyramiden zusammengestellten geladenen Gewehre zugelaufen waren. Nun knallten auch Schüsse, und jeder Schuß streckte einen Franzosen zu Boden. Die Italiener, mit ihrem Korporal und Andrea an der Spitze, schienen ihren ganzen Haß gegen die Franzosen in ihre Hiebe zu übertragen, denn trotzdem ihre Feinde noch einmal so zahlreich waren als sie, so mußten jene doch bald, von allen Seiten angegriffen, weichen. Auch lag bereits ein großer Theil von ihnen verwundet und verblutend am Boden. Wohl zogen die Schüsse die in der Dorfgasse harrenden Franzosen herbei, doch es war bereits zu spät, denn da der auf dem Platz vor der Herberge kämpfende Haufen zum Weichen gebracht war, hatten auch die Italiener sich der Gewehre bemächtigen können. Jetzt mußten die Franzosen fliehen, wenn ihnen ihr Leben lieb war, und der übermüthige Befehl des Kapitäns, daß die Bauern keinen Schuß Pulver werth seien und der Säbel allein sie züchtigen und vernichten könne, war das Unglück der wilden Horde geworden. Nach zwei Richtungen hatten der Korporal und die Seinigen sich aufgestellt, die Dorfgasse hinunter und hinauf schossen sie, während sie den Aufstieg nach der Paßhöhe des Juliers frei ließen. Und wie auf Kommando eilten die eben noch so übermüthigen Republikaner den Weg hinan, die bereits geschlagenen sowohl wie die, welche von beiden Seiten herankamen und noch zu entfliehen vermochten. Endlich hörte das Schießen auf, der Kampf war zu Ende und Silvaplana mit seinen Bewohnern gerettet! –
Keine Viertelstunde hatte das mörderische Gefecht gedauert, und dennoch lag eine ziemliche Anzahl von Verwundeten und Todten an der Erde. Es war ein entsetzlicher Anblick, den der kleine Platz vor der Herberge bot; aber wie Aninia sich während des kurzen Kampfes am heldenmüthigsten erwiesen, wie sie die Frauen durch ihr Beispiel, ihre Todesverachtung zu gleicher Thatkraft angefeuert hatte, so war sie auch jetzt die erste, welche Hand anlegte, die Verwundeten, Feinde und Freunde, in die Herberge zu schaffen. Wie eifrig griffen die Mädchen und Frauen, alt und jung, dabei zu! Und im Innern des Hauses ordnete Aninia an, theilte die Betten, breitete sie auf dem Boden der Stuben aus, die Stöhnenden und stumm Leidenden darauf zu legen. Da trat Mutter Barbla auf Madulani zu, der mit den andern Männern die schwere Arbeit beginnen wollte, die Todten einstweilen in einem der Häuser niederzulegen.
„Gian,“ sprach sie so leise zu ihm, als ihre Aufregung dies nur gestattete, „Gian, hast Du ihn erkannt?“
„Still, Mutter!“ entgegnete mit tiefem Ernst Madulani. „Du wirst es sehen – wenn er kommt.“
Da kehrten die wenigen Italiener nach und nach zurück, ihre Arbeit war gethan, der letzte der fliehenden Franzosen hoch oben zwischen den beschneiten Bergen verschwunden. Doch der Korporal war nicht mehr wie vordem an der Spitze seiner Landsleute. Endlich hatten ihn Madulanis Augen, die scharf nach ihm ausschauten, entdeckt. Hinter den letzten seiner Kameraden hielt er sich verborgen, und mit fast finsteren Blicken spähte er zwischen den sich vor ihm Bewegenden hindurch nach der Herberge. Doch die Soldaten kamen rasch näher und er allein konnte nicht zurückbleiben, er mußte mit. Gab es doch hier auch noch Arbeit genug, wenn auch solche ganz anderer Art als die bisherige. Da faßte den Korporal plötzlich jemand am Arm – und Madulani stand vor ihm.
Der alte Mann, der ehemals so harte und stolze Cavig, wollte vor dem Soldaten in der zerlumpten Uniform in die Kniee sinken, doch erschrocken, fast entsetzt hielt dieser ihn zurück, nur mit Mühe den Namen „Madulani!“ hervorstoßend. Da sprach dieser mit einer von Thränen fast erstickten Stimme, die beiden Hände des anderen krampfhaft festhaltend:
[663] „Beppo, ich habe Dir großes Unrecht gethan und mich an Eurem Glück, an dem Leben Eures armen Kindes versündigt. Ich habe es gebüßt, schwer und hart gebüßt und hoffe, Gott hat mir verziehen. Willst Du mir auch verzeihen?“
Von Beppos Herzen wich, als der Cavig so zu ihm sprach und ihm tiefbewegt die Rechte bot, eine Bergeslast. Er hatte ein Gefühl, als öffne sich über ihm der Himmel, alles Blut drang ihm zu Kopfe und stammelnd, unfähig, ein klares Wort herauszubringen, bewegten sich seine zitternden Lippen. Da rief plötzlich vom Hause her eine nur zu wohl bekannte Frauenstimme:
„Beppo! – Beppo!“
Jetzt hielt sich der arme, der glückliche Beppo nicht mehr, denn wie er aufschaute, sah er Aninia mit strahlendem Angesichte und offenen Armen auf ihn zufliegen. Nur ihren Namen vermochte er auszusprechen, da umfingen ihn die Arme Aninias und Freudenthränen weinend barg sein Weib ihr Antlitz an seiner Brust.
„Aninia!“ stammelte er ganz verwirrt von all dem Glück, das da so plötzlich auf ihn einstürmte. „Ich soll Dich noch in meinen Armen halten – ich, der …“
„Still, still!“ raunte sie ihm hastig und nur ihm hörbar zu. „Kein Wort mehr über das, was geschehen; es ist vergeben – vergessen und gesühnt durch das, was Du jetzt für unsere neue Heimath und für uns gethan hast. – Und ich,“ rief sie jetzt wieder mit lauter Stimme – „ich habe Dich nie vergessen!“
Jetzt erst lebte Beppo auf und, sein wiedergewonnenes glückliches Weib fest an seine Brust pressend, fühlte er in einer langen seligen Umarmung alles Glück wieder neu in seinem Herzen aufblühen, das er schon so lange todt und begraben geglaubt hatte.
„Die alte Mutter Barbla scheint der Herr Soldat vergessen zu haben!“ sprach da plötzlich eine tiefe Frauenstimme.
„Mutter!“ schrie Beppo in hellem Jubel auf. Von Aninia riß er sich los und umarmte in inniger Liebe und Dankbarkeit die alte Frau, ihr die Thränen von den gefurchten Wangen, von den guten, treuen Augen küssend.
Da wurden in der Ferne kriegerische Töne, Trommelwirbel und einzelne Trompetenrufe laut, vom Ausgang des Dorfes nach Campfèr zu tönten sie her. Doch die Silvaplaner brauchten nicht mehr zu bangen, es waren österreichische Truppen, welche gekommen waren, die fliehenden Franzosen zu verfolgen und das Engadin abermals zu besetzen. Und von Stunde an hatten dessen Bewohner nichts mehr von ihren Feinden zu befürchten, friedliche Ruhe war für lange Jahre in dem stillen Hochalpenthale und bei denen eingekehrt, deren wechselvolle Schicksale, deren Freuden und Leiden wir kennengelernt haben.
Unsere Erzählung ist zu Ende, nur noch weniges bleibt zu sagen übrig.
Das arme Surley erholte sich nicht mehr, die dort Zurückgebliebenen fristeten nur mühsam ihr Leben und verarmten vollends. 1834 wurden sie noch einmal durch eine gewaltige Ueberschwemmung heimgesucht, und nun erbarmte sich endlich die Kanton-Regierung ihrer. Hoch oben auf der Alp Surley – dort, wo 1791 der Bergamasker die Wasser staute – wurde dem zeitweilig so wilden Surleybach ein neuer Weg nach dem Silvaplaner See gebahnt, und nun hätte das Dorf eine Ueberschwemmung nicht mehr zu befürchten brauchen. Doch es war zu spät! Nach einem neuen Unglücksjahr, 1834, kehrten fast alle bisher noch dort gebliebenen Leute dem gänzlicher Vernichtung geweihten Orte den Rücken und siedelten sich ebenfalls in Silvaplana an. Nur noch vier Familien blieben als die letzten zurück, und nur noch einmal im Monat kam der Pfarrer von Silvaplana, um Gottesdienst in dem ärmlichen Kirchlein zu halten, das endlich auch verfiel und zur Ruine wurde.
Das arme Surley war und blieb verödet. –
Zu den wenigen, die zwischen den Ruinen ausgehalten hatten, gehörten die Nachkommen des Clo und seines Weibes Staschia, und eine Tochter von ihnen, nach der Großmutter Maria genannt, lebte noch vor wenigen Jahren in dem alten Steinhause, welches alle Ueberschwemmungen überdauerte.
Und der Franzosen-Peider, der erste der schweizer Konditoren?
Er hat Wort gehalten und viele seiner Graubündner Landsleute sich nachgezogen, sie in seiner süßen Kunst unterwiesen und ihnen weiter vorangeholfen. Und wie er gethan, so thaten sie, und ihre Nachkommen halten es getreulich ebenso. Wer heute durch das Bergell und das Engadin reist, findet in jeder Ortschaft mehrere, oftmals eine ganze Gesellschaft ehemaliger schweizer Konditoren und Cafetiers, die in aller Herren Ländern in der ganzen civilisirten Welt fleißig gearbeitet, sparsam gelebt haben und dann in ihre Heimath zurückgekehrt sind, um hier den Abend ihres Lebens in friedlicher Ruhe zu verbringen, hier den eigentlichen Lohn ihrer Arbeit zu finden. Es ist ein schöner Beweis für die Liebe, welche die Engadiner – wie überhaupt alle Schweizer – ihrer Heimath bewahren, daß das ganze Leben und Streben, die volle angestrengte Thätigkeit eines Menschen in der glänzendsten Stadt draußen in der Welt einzig und allein darauf gerichtet ist – einstens sorgenlos in seinen abgelegenen Bergen leben und sterben zu können. Und das herrliche Engadin verdient eine solche Liebe, solch freundliches Gedenken, nicht allein von seinen eigenen Kindern, sondern von einem jeden, der es geschaut hat. Wer einmal durch seine Thäler, über seine Höhen, in seiner milden Sonne gewandert ist, vergißt es nie! – –
Lloyds.
Soweit die Gesittung ihre Arme ausgestreckt – nein, weit darüber hinaus noch! – soweit die meerbefahrenden Träger der Kultur vordringen, bis an die äußersten Grenzen unseres Erdenrundes ist das Wort „Lloyd“ bekannt und hat sich trotz seiner befremdenden Form überall rasch eingebürgert. Und nicht nur das Wort ist bekannt, nicht nur die Anstalt, die zuerst unter dieser Bezeichnung ins Leben trat, sondern es giebt auch nur wenige schiffahrttreibende Völker, die nicht längst ihren eignen nationalen Lloyd sich begründet hätten. Deutschland selbst hat seinen „Norddeutschen Lloyd“, Oesterreich seinen „Oesterreich-Ungarischen Lloyd“ etc.
Was aber bedeutet das Wort ursprünglich? Es ist der noch heute im Englischen keineswegs ungewöhnliche Name eines Mannes. Und was war derselbe? Besitzer eines Kaffeehauses. Es war um das Jahr 1652, daß das erste „Coffee-house“ in London eröffnet wurde zum Verkauf des neuen Tranks, gewöhnlich genannt „Kauphy“, wie die damalige Schreibweise war. Diese „Kaffeehäuser“ erfreuten sich bald eines so erheblichen Zuspruchs, daß Karl II. darob besorgt wurde und sie sammt und sonders schließen ließ, nicht sowohl weil er den neuen Trank an sich für staatsgefährlich hielt, sondern weil dieser „Veranlassung gab zur Ansammlung von Männern, die, mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden, allerorten falsche, böswillige und schändliche Gerüchte ersannen und verbreiteten zur Schmähung Seiner Majestät Regierung und zur Störung von Ruhe und Frieden im Reiche.“
Die strengen Maßregeln dieses mit äußerster Willkür herrschenden Monarchen scheinen aber seine Regierung nicht überlebt zu haben. Es thaten sich bald wieder andere Räume auf, in denen dieser gefährliche Bohnentrank dargeboten wurde; und ein solches „Kaffeehaus“ wurde auch von einem Mr. Edward Lloyd gegründet, das wir zuerst im Jahre 1688 erwähnt finden und das, in Lombard Street, in unmittelbarer Nähe des Hafens gelegen, alsbald ein beliebter Sammelpunkt für Schiffskapitäne und Reeder wurde.
Für diese seine Gäste gab der unternehmende Mr. Lloyd bald ein besonderes Blatt heraus, „Lloyds News“, das nächst der amtlichen „London Gazette“ die älteste Zeitung Englands ist und natürlich in erster Reihe Schiffahrtsangelegenheiten zur Sprache brachte. Eine weite Verbreitung ist dem Blatte kaum nachzurühmen, da es fast ausschließlich in Lloyds Kaffeehaus selbst auslag. Hier stellten sich denn alle Leute, die mit überseeischem Handel und Schiffahrt zu thun hatten, aufs zahlreichste ein, ähnlich wie die alten Athener auf den Marktplatz strömten, um etwas Neues zu erfahren. Das Kaffeehaus wurde alsbald auch der anerkannte Mittelpunkt für Versicherungen von Schiffen und Schiffsladungen; und das ist noch bis auf diesen Tag die Thätigkeit, die sich zunächst an den Namen „Lloyds“ knüpft. Die Genitivform ist noch immer beibehalten, da eigentlich das Wort „Coffee-house“ zu ergänzen ist, obschon die großartige Anstalt, die sich unter dem Namen „Lloyds“ im Laufe der Zeit entwickelt hat, [664] längst aus dem bescheidenen Kaffeehaus ausgezogen ist und seit 1774[2] in den stolzen Räumen der Royal Exchange, im Herzen der City, in unmittelbarer Nähe der Bank von England, der Börse und des Mansion House, des Amtssitzes des Lord Mayors, Quartier genommen hat unter dem Namen „New-Lloyds“.
Es geschah freilich erst nach mancherlei Kämpfen und Anfechtungen, daß nicht nur diese räumliche Veränderung, sondern vor allem auch eine damit verbundene Neugestaltung des Unternehmens sich vollzog; daß aus den so gut wie regellosen Ansammlungen von Männern, welche fast nichts als der Bohnentrank und die persönliche Bemühung dessen, der ihn braute, mit einander verband, eine gewaltige, wohl geordnete Genossenschaft wurde. Und es mag unserer Eitelkeit schmeicheln, daß es ein Mann deutscher Abkunft war, Johann Julius Angerstein, der sich bei diesen Umwandlungen solche Verdienste erwarb, daß sein Name wie der keines andern Mitgliedes von „Lloyds“ in den Jahrbüchern der Gesellschaft glänzt. Aber auch die politischen Zustände jener Zeit waren einem gedeihlichen Aufblühen derselben günstig. Die verheerenden Kriege, die England Ende des vorigen Jahrhunderts mit verschiedenen Seemächten führte, gefährdeten allen überseeischen Handel aufs empfindlichste. „Lloyds“ blieb der Hort aller Kauffahrer, die sich zu der Versicherung ihrer Schiffe wie ihrer Ladungen dahin drängten. Waren aber die Prämien vorher nur wenig abweichend von denen des heutigen Tages gewesen – je nach Entfernung, Schiff, Bemannung und anderen Einzelheiten von ¼ bis 1½ % steigend – so wuchsen sie z. B. im Jahre 1782 für eine einfache Reise nach New-York auf 16 %.
„Lloyds“ wurde auf diese Weise immer unentbehrlicher, immer einflußreicher. Es wurde eine Macht, die auch über das Gebiet der Schiffahrtsversicherung hinaus sich rührig zeigte. Als Henry Greathead, der Erfinder des Rettungsbootes, zu Anfang dieses Jahrhunderts um Geld verlegen war, womit er seine Erfindung hätte ausführen können, da setzten ihn auf Angersteins Anstiften die Mitglieder von „Lloyds“ durch reichliche Spenden in Stand, durch praktische Versuche seinen Gedanken zu erproben. Und als dieselben sich erfolgreich erwiesen, war es wiederum die Genossenschaft von „Lloyds“, welche die weitere Entwickelung und Verbreitung dieser segensreichen Erfindung in die Hand nahm, bis im Jahre 1824 eine zu diesem Zwecke gebildete Rettungsgesellschaft, die „National Life Boat Institution“, ins Leben gerufen wurde.
Als aber zu Anfang dieses Jahrhunderts Napoleonischer Uebermuth auch die Unabhängigkeit des britischen Inselreiches zu gefährden drohte, da trat die Genossenschaft von „Lloyds“ vollends aus ihrem eigentlichen Fahrwasser heraus durch Begründung des „Patriotic Fund“, der sich zur Aufgabe stellte, allen, die sich besonders um die Vertheidigung des Vaterlandes verdient gemacht hätten, in der einen oder andern Form eine Ehrengabe zuzuwenden. Wiederum war es Johann Julius Angerstein, der an der Spitze dieser neuen Bewegung stand; und ein wunderliches Geschick wollte es, daß der Mann, der als Mitbegründer dieses patriotischen Unternehmens genannt werden muß, Sir Francis Baring, gleichfalls deutscher Abkunft war. Die Gründung fand bei dem ganzen englischen Volke großen Anklang, und von allen Seiten strömten freiwillige Spenden herzu, die bis zum endlichen Sturze Napoleons die Höhe von mehr als 600 000 Pfund Sterling, also über 12 Millionen Mark erreicht hatten. Es wurden aus diesem Schatze Männern, die sich in der Vertheidigung des Vaterlandes hervorgethan hatten, oder deren Hinterbliebenen nicht nur beträchtliche Geldspenden zuerkannt, sondern auch Denkmünzen, Ehrensäbel u. dergl. überreicht, die, mit der Inschrift „From the Patriotic Fund at Lloyd’s Coffee House, London“ versehen, auch von den höchstgestellten Kämpfern des Landes als eine besondere Auszeichnung entgegen genommen wurden.
Alles das lag allerdings abseits von dem eigentlichen Wirkungskreis einer „maritimen Börse“, die aber auch als solche im Laufe der Zeit immer bedeutungsvoller wurde, während sie zugleich emsig an dem weiteren Ausbau ihrer eigenartigen klubähnlichen Genossenschaft arbeitete, die heute etwa tausend Mitglieder zählt.
Jeder, der als solches angenommen zu werden wünscht, muß heute von sechs Mitgliedern eingeführt und dann vom Komitee erwählt worden sein, ein Eintrittsgeld von 100 Pfund Sterling und einen Jahresbeitrag von 12 Guineen (etwa 257 Mark), zudem aber eine Bürgschaft von 5000 Pfund erlegen, also schon ein kleines Vermögen, ehe er überhaupt daran denken kann, ein Geschäft zu machen. Dieses besteht nun darin, daß das Mitglied für einen von den Maklern angebotenen Versicherungsgegenstand, ein Schiff oder eine Ladung, gegen eine in jedem Fall besonders vereinbarte Prämie, einen bestimmten Antheil, gewöhnlich hundert oder ein paar hundert Pfund unterschreibt. Auf diese Weise ist die Gefahr des einzelnen immer nur geringfügig; denn obschon er jeden Tag vielleicht zwanzig- bis dreißigmal eine neue derartige Verbindlichkeit eingeht, so sind doch die eintretenden Verluste verhältnißmäßig immer nur unbedeutend. Ein gewisses Vermögen muß er freilich immerhin schon besitzen, und nur wenn er so unglücklich gewesen sein sollte, dieses bis auf den letzten Penny eingebüßt zu haben, kann die hinterlegte Bürgschaftssumme angegriffen werden.
Man sollte denken, dieses System der zerstückelten Versicherung für einfache Schiffsladungen u. dgl. müßte unendlich zeitraubend sein und eine Versicherung durch große Gesellschaften, wie es bei uns geschieht, in viel einfacherer Weise ausgeführt werden können; aber es ist alles so wohl geordnet, daß ein erfahrener Makler gar bald die nöthige Anzahl von Unterschriften gesammelt hat. Ueberdies ist die Schiffahrtsversicherung so verwickelt, daß sie sich nicht so wie eine Lebens- oder Feuerversicherung allgemeinen Regeln und Tabellen anpassen läßt, sondern besser in den Händen einzelner persönlicher Versicherer bleibt, von denen die einen diesen, die andern jenen Zweig der Versicherung besonders pflegen. So sagen wenigstens die Herren aus dem „Kaffeehause“. Wie dem aber auch sei, jedenfalls machen die zahlreichen Versicherungsgesellschaften, die auch in England bestehen, bei weitem nicht solch ausgedehnte Geschäfte wie „Lloyds“. Alle Gesellschaften aber des In- wie des Auslandes sind mit mancherlei Erkundigungen auf das „Kaffeehaus“ angewiesen, und auch in dieser Hinsicht nimmt dasselbe eine höchst bedeutungsvolle Stellung ein.
Zunächst ist es „Lloyds“, welches die Seetüchtigkeit aller englischen Schiffe prüfen und dieselben hiernach wieder klassifiziren läßt. Sodann ist das „Kaffeehaus“ der von der ganzen Welt anerkannte Mittelpunkt, wo alle Nachrichten über alle Schiffe aller Länder einlaufen und in „Lloyds List“, einer täglich erscheinenden Zeitung, veröffentlicht werden. Mehr als 60 000 Schiffe befahren unter allen Flaggen der Welt in diesem Augenblick das Meer. Sie alle sind bei „Lloyds“ sorgfältig eingeschrieben und zwar so, daß hinter jedem Namen genau der Tag verzeichnet steht, an welchem dasselbe einen Hafen verlassen hat oder in einem andern angekommen, ja selbst wann es von bestimmten Punkten der Küste aus gesehen oder von andern Schiffen auf offener See angesprochen worden ist. Alles das von 60 000 Schiffen! Welch ein Heer von Beamten und Vertretern muß diese Börse über die ganze Welt verbreitet aufweisen! Welch ein Treiben in dem „Kaffeehause“ selbst!
Gern nahm ich daher jüngst die Einladung eines mir befreundeten Mitglieds von „Lloyds“ an, unter seiner Führung diese Stätte in dem Royal Exchange zu besuchen. Am Eingang standen einige Portiers in so alterthümlichen scharlachenen Talaren, daß man wähnen konnte, dieselben seien schon zu der Zeit, da Mr. Lloyd seinem Kaffeehaus vorstand, in Brauch gewesen. Wir gelangten alsbald in eine geräumige Halle, wo ein reges Treiben herrschte, wie es eben an bedeutenden Börsen zu beobachten ist. Hier werden die Geschäfte abgeschlossen. Doch merkwürdiger waren noch die Nebenräume. In dem einen derselben waren die letzten Listen, die immerwährend einströmenden Telegramme zur Schau gestellt. In einem andern befanden sich allerhand Specialkarten, Abbildungen aller möglichen Flaggen und Signale, sowie eine erhebliche Anzahl umfangreicher Folianten, in denen alle Einzelheiten bezüglich sämmtlicher 60 000 meerbefahrenden Schiffe bis auf den gegenwärtigen Augenblick mit größter Genauigkeit verzeichnet standen. Dazwischen waren mancherlei wunderbare Reliquien aufgestellt, vornehmlich Gegenstände, die unter besonders bemerkenswerthen Umständen mit gestrandeten Schiffen auf den Meeresgrund gesunken und diesem durch der Taucher Kühnheit wieder abgerungen worden waren. So sah ich hier die Schiffsglocke der verunglückten „Lutine“, die, reich mit Schätzen beladen, im Jahre 1798 von Harwich nach Hamburg segelte und an der [665] holländischen Küste Schiffbruch erlitt. Münzen und Gold- und Silberbarren im Werthe von anderthalb Millionen Pfund Sterling oder 30 Millionen Mark sollen sich an Bord des Schiffes befunden haben. Und so ist es wohl begreiflich, daß bei der holländischen Küstenbevölkerung wunderbare Gerüchte umgehen von den in ihrer Nähe versunkenen Schätzen, welche die Sage im Laufe der Zeit noch um das Zehnfache vergrößert hat. Erstaunlich aber klingt es gleichwohl, daß – allerdings mit mehrfachen Unterbrechungen – bis auf diesen Tag, also nahezu hundert Jahre lang, fortgesetzt Rettungsversuche angestellt werden. Viele Schätze, die tief im Sande vergraben lagen, sind ans Tageslicht befördert worden, aber es scheint, daß die Unkosten der Hebung doch noch größere Summen verschlingen. Immerhin aber stehen der Untergang der „Lutine“ und die ins Unendliche sich erstreckenden Bergungsversuche einzig in ihrer Art da, und wohl mag sich die Theilnahme für das Schiff bei den Männern von „Lloyds“ von Geschlecht zu Geschlecht vererben, um so mehr, als sie die rechtmäßigen Eigenthümer der versunkenen Schätze sind.
Was aber den tiefsten, den erschütterndsten Eindruck auf den Besucher der maritimen Börse machen dürfte, ist ein unscheinbar aussehender Foliant, „das schwarze Buch“ genannt, in welchem sämmtliche Unglücksfälle zur See von allen Ecken und Enden der Welt, sobald die Nachricht davon einläuft, verzeichnet werden. Und kaum ein Tag geht vorüber, daß nicht ein Unglück oder doch ein Unfall der einen oder andern Art geschäftsmäßig mit kurzen Worten hier eingetragen wird. Was für Bilder des Schreckens, des Heroismus, der Selbstentäußerung, freilich auch wohl feiger Selbstsucht und unentschuldbarer Fahrlässigkeit steigen da auf dem Hintergründe jener kurzen Aufzeichnungen vor uns empor! Kein Wunder, wenn auch die Börsenmänner auf dieses Buch mit Bangen blicken! Sie können die Schrecken nicht bannen, den Qualen nicht vorbeugen. Doch den Schaden an Geld wenigstens zu ersetzen, mancher Noth, welche die Schiffahrt mit sich bringt, abzuhelfen, das gelingt ihnen immerhin, und das ist die vornehmlichste Aufgabe dieser segensreichen Anstalt. Wilh. F. Brand.
Das neue Passionsspielhaus von Oberammergau.
Eine Spanne von knappen zehn Monaten noch, und es beginnen wieder nach zehnjähriger Ruhepause die Passionsspiele zu Oberammergau, zu welchen die Gäste aus der alten und neuen Welt pilgern. Am Nordende des idyllisch gelegenen Dorfes wird sich in nächster Zeit auf der Stelle des alten Spielhauses ein neuer Bau erheben; unsere Zeichnung giebt ein Bild des Bühnenhauses vom Zuschauerraum aus gesehen.
Ziemlich an den Fuß des Bergrückens, zubenannt „Die Reichen“, wird das Bühnenhaus mit einer Mittelbühne zur Darstellung der lebenden Bilder und einer Vorbühne für die großen Umzüge der Haupthandlung zu stehen kommen. Diese Mittelbühne, welche gegen den Zuschauerraum durch die Fassade eines einfachen griechischen Tempels umrahmt ist, wird zum erstenmal seit Bestehen der Passionspiele eine vollständige, bühnentechnische Einrichtung erhalten, die allen praktischen Neuerungen Rechnung tragen, aber zugleich das Wesen der alten Ueberlieferung vollständig wahren wird. Der Holzbau auf Cementunterbau erhält das nöthige Licht durch das Proscenium und durch das erstmals mit Glas gedeckte Dach. An die beiden Seiten des Tempels schließen sich zwei Stadtthore, durch deren Bogen man in zwei Straßen Jerusalems blickt. Dann folgen die stolzen Paläste des Pilatus und des Hohenpriesters Annas, an die sich wieder zwei Säulenhallen zur Aufnahme der Sänger und des Volkes aufreihen. Stilgerecht in künstlerischer Ausführung ragen diese Gebäude zum freien Himmel auf, eine prächtig gebaute Stadt des Alterthums darstellend, über welcher sich die stolzen Berge zum Aether erheben. Ein farbenprächtiges Bild wird vor dem Zuschauer sich entrollen, belebt durch eine bis zu 500 Köpfen zählende, in die reiche Tracht, wie sie zu Beginn der christlichen Zeitrechnunug üblich war, gekleidete Volksmenge. Litt die Ausstattung der Bühne während der früheren Passionsspiele an mangelhafter Beleuchtung, ja stellenweise an bedauerlicher Verfinsterung, so ist jetzt Vorsorge getroffen, daß die Panoramadekoration sowohl durch das regulirbare Tageslicht als auch durch künstliche Beleuchtung der theilweise durchscheinenden Dekorationsstücke erhellt werden kann. Auch ist für die raschere Verwandlung der Bilder, für Flugwerke zur Himmelfahrt Christi und anderes Vorsorge getroffen.
Die Zuschauerhalle völlig neu zu erbauen, gestattet die Finanzlage der Oberammergauer Gemeinde nicht, und so ist einstweilen nur eine Vergrößerung geplant, durch welche an 5000 Zuschauern der Zutritt gesichert ist. Die Fürstenloge und eine besondere Loge für andere hervorragende Persönlichkeiten, mit Vorzimmern und allen Bequemlichkeiten versehen, werden vollständig gedeckt, ebenso etwa 1500 Sitzplätze, während die übrigen, der Bühne zunächst gelegenen Plätze den freien Himmel über sich haben, so daß der Anblick der großartigen Gebirgslandschaft erhalten bleibt. Zehn große Ausgänge führen unmittelbar ins Freie. Um möglichen Unfällen zu begegnen, wird in der Nähe des Passionsspielhauses für die Dauer der Aufführungen ein Krankenhaus mit Feuerwehrstation errichtet werden.
Die gesammte, von allen Gebäuden der Bühne und des Zuschauerraumes und den freien, innerhalb des Theaters liegenden Räumen [666] eingenommene Fläche beträgt rund 3300 qm, wovon auf Bühne und Zuschauerraum je etwa die Hälfte trifft. Die Mittelbühne für die lebenden Bilder umfaßt 290, die Vorbühne 310 qm.
Entgegen den früheren Brauch, nach welchen die Kosten nach Ablauf der Spielzeit aus den Einnahmen gedeckt wurden, hat diesmal die politische Behörde einen genauen Schuldentilgungsplan von der Gemeinde verlangt. Im Jahre 1880 fand sich keine bayerische Bank, welche der solidarisch haftenden bayerischen Gemeinde Oberammergau die zum Passionsspiel nöthigen Gelder vorstreckte. Nach langem Suchen bewilligte die Elsässische Bank in Straßburg unter Verzicht auf das angebotene, in etwa 5000 Tagwerk Gemeindewald bestehende Pfand die nöthigen Summen. Für das Jahr 1890 werden die Mittel jedoch durch eine große Münchener Bank beschafft. Für neue Gewänder werden diesmal 12- bis 14 000 Mark verausgabt werden. Dieser anscheinend bedeutende Posten erklärt sich aus der starken Abnutzung des vorhandenen Bestandes einestheils, anderntheils aus dem Umstande, daß das Tageslicht keinerlei Flitterwerk, sondern nur echt, gediegene Stoffe
duldet. Die weißen Gewänder z. B. müssen vollständige erneuert werden, weil sie im Jahre 1880 zu stark gelitten haben und der ausgeprägte Schönheitssinn der Oberammergauer nicht zuläßt, erkennbar abgenutzte Stücke zu verwenden. Außerdem erforden die vollkommerenere Malerei auf den neuen Prospekten, die besseren, künstlerisch durchgeführen Dekorationen auch entsprechend bessere Gewandung.
Die Neuwahl der Rolleninhaber für das Passionsspiel wird heuer etwas früher als sonst, im Spätherbst, stattfinden und zwar mit Rücksicht darauf, daß wahrscheinlich einige Neubesetzungen nothwendig werden. Der Darsteller von Christus, Joseph Mayr, hat sich jetzt schon zur abermaligen Uebernahme der anstrengenden Rolle bereit erklärt. Nach der Neuwahl, die in das Dorf eine weit größere Aufregung bringt als Landtags- und Reichstagswahlen, werden sofort die Proben beginnen, im strengen Winter im Dorfe selbst, in einem Saale des neuen Gasthofes „Wittelsbacher Hof“, bei wärmerer Witterung in dem niedlichen Uebungstheater draußen neben dem Bühnenhause. In musikalischer Hinsicht ist zunächst eine Vermehrung der Orchesterinstrumente beabsichtigt. Hingegen herrscht über den Passionstext in den maßgebenen Kreisen Oberammergaus noch völlige Unentschiedenheit; den Textänderungen, welche von auswärts angeregt wurden, stehen gewichtige Bedenken gegenüber, und in der Kunstgemeinde selbst wurzelt die Ueberzeugung, daß an einer durch den Erfolg bewährten Einrichtung nicht gerüttelt werden sollte.
Die Herstellung des neuen Passionsspielhauses, der Bauten, Maschinen und Dekorationen ist in die bewährten Hände des kgl. Obermaschinenmeisters am Hoftheater in München, Karl Lautenschläger, gelegt worden.
Lautenschläger, einer der hervorragendsten Meister auf dem Gebiete der Bühneneinrichtungen und Schöpfer einer großen Anzahl moderner Theaterbauten, dessen Bild wir ebenfalls bringen, ist jetzt ein 46jähriger Mann und hat kürzlich sein 25jähriges Jubiläum als Bühnentechniker gefeiert. Die Anregung zu seiner späteren Laufbahn empfing er schon als Knabe von seinem Stiefvater, dem Hessen-Darmstädtischen Hofschauspieler und Scenerieinspektor Bormuth; Lautenschläger wollte ursprünglich Schauspieler werden, allein die Eltern gaben es nicht zu, und so wurde er Theatermaschinist, ein Feld, auf welchem er Lorbeeren ernten sollte. Nach einander wirkte er theils als Maschinenmeister, theils als Bühnenerbauer und Leiter scenischer Ausstattungen an den Theatern zu Riga, Stuttgart und München, zeitweilig auch nach den verschiedensten Städten Deutschlands, Oesterreichs, Rußlands, Italiens, Hollands und der Schweiz zur Ausübung seiner Kunst berufen. Ja sogar nach Paris ward „Monsieur Laut“ geholt, die elektrische Beleuchtung der Großen Oper einzurichten. Gerade die Durchführung der elektrischen Gesammtbeleuchtung in den Theatern ist eines der Hauptverdienste Lautenschlägers und ihm ist es zu verdanken, daß München das erste elektrisch beleuchtete Theater in Deutschland erhielt. König Ludwig II. von Bayern war ein besonderer Verehrer seiner Kunst. Nicht bloß die Leitung der technischen Anlagen in den Theatern bei den zahllosen Sondervorstellungen vertraute er seinen Händen an, auch die mancherlei verwandten Einrichtungen in den königlichen Schlössern gab er ihm in Auftrag und äußerte wiederholt in schmeichelhaften Dankschreiben seine Befriedigung.
Die jüngsten Aufgaben, die Lautenschläger gelöst hat, sind die Neueinrichtung der „Shakespearebühne“, über welche in Nummer 26 berichtet worden ist, und die Anlage eben unseres Passionsspielhauses. Es galt dabei, unter strengster Wahrung der Ueberlieferung doch die scenische Wirkung zu verbessern und den Hauptdarstellern insbesondere bei der Kreuzigung Erleichterung zu verschaffen. Daß die Oberammergauer sich den Beistand dieses Mannes sicherten, spricht für ihr großes Verständniß.
So bleibt die Passion (die Oberammergauer sagen standhaft: der Passion) auch künftig fest bestehen gleich den das liebliche Thal umschließenden Bergen, von denen die nördlich gelegenen Hügel „Die Reichen“ und der südlich gelegene Bergrücken „Die Noth“ genannt werden, weshalb der Dorfwitz zu Oberammergau sagt: „‚Die Reichen‘ haben wir im Rücken, ‚Die Noth‘ aber vor Augen.“
Spieltage werden die Sonn- und Feiertage, bei starkem Andrang der jeweils folgende Werktag sein. Für Unterkunft ist besser gesorgt als vor zehn Jahren, außerdem wird die neue Bahn von Murnau nach Partenkirchen mit der Station Oberau, von wo man in zwei Gehstunden nach Oberammergau gelangt, den Verkehr zum Passionsdorfe wesentlich erleichtern.
Blätter und Blüthen.
Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Nr. 24 dieses Jahrganges.)
182) „Eine bis zum Tode betrübte Mutter wendest sich in ihrer Verzweiflung“ an wie „Gartenlaube“ mit der Bitte, ihr zur Auffindung ihres Sohnes behilflich zu sein. Oskar Paul Krause, geb. am 8. Sept. 1866 zu Breslau, war Stuckateur; er meldete sich unterm 3. Juni 1887 in Berlin, wo er in Arbeit stand, auf dem Polizeiamt ab, um nach Breslau zurückzukehren, nachdem er zuvor noch ein liebevolles Schreiben, das sein Kommen meldete, an die Mutter gesandt hatte. Der Brief kam zwar in die Hände, nicht aber der Sohn in die Arme der Mutter.
183) Ein anderes Mutterherz bangt um drei verschollene Söhne, um den Seemann Henry-Karl August Tews, geb. am 31. Mai 1858, welcher im Jahre 1881 zum letztenmal schrieb, Amandus Heinrich Wilhelm Tews, geb. am 26. Aug. 1859, der 1880 noch in New-York in Stellung war und August Ludwig Christian Tews, geb. am 10. Jan. 1863. Geburtsort der drei ist Hamburg, wo die beiden jüngeren früher in Kaufmannsgeschäften thätig waren.
184) Von seiner Schwester gesucht wird Alex Hauptmann, geb. 1852 oder 1853 zu Münster, welcher in Höxter als Kaufmann lernte und später von dort nach Amerika ging.
185) Der Seemann Hugo Hermann Engel, welcher am 5. Januar 1850 zu Langenbielau, Kr. Reichenbach in Schlesien, geboren ist und sich Charles Engel nennt, schrieb im Jahre 1879, daß er sich auf einem englischen Schiff nach Brasilien begeben wolle, seitdem aber hat er nichts mehr von sich hören lassen.
186) Eine Mutter sucht ihren Sohn, den Müller Paul Eberhard Toepffer (auch Edward Patter genannt), welcher am 20. April 1868 zu Bauske in Kurland (Rußland) geboren wurde. Im August 1887 hat er zum letztenmal geschrieben und zwar aus dem Territ. Montana in Amerika; danach gedachte er nach Minneapolis zu reisen. Er bat etwaige Briefe nach Bismarck in Dacota, zu adressiren, da er über Bismarck kommen müsse. Seitdem fehlt jede Spur von Toepffer. Der Verschollene war über mittelgroß, schlank, von brauner Gesichtsfarbe und hatte tiefbraune Augen.
187) Paul Mahn, geb. am 3. Nov. 1857 zu Ober-Schwedeldorf bei Glatz, gelernter Brauer, ging vor etwa 10½ Jahren nach Blankenese in Holstein und soll sich von dort aus nach den Mittheilungen eines Schiffbesitzers in Blankenese als Matrose auf ein dänisches Schiff verdungen haben.
188) Anna Witzleb, geb. 16. Febr. 1860 in Erfurt, hat sich am 13. Okt. 1879 aus der Wohnung des Kanzleiinspektors R. Wendel in Neustadt-Magdeburg, bei dessen Ehefrau – ihrer Schwester – sie sich besuchsweise aufhielt, entfernt, um etliche Gänge zu besorgen. Sie ist von da nicht heimgekehrt und seitdem verschollen. Die siebzigjährige Mutter – der Vater ist inzwischen verstorben – kann die Hoffnung nicht aufgeben, daß die verschollene Tochter noch lebt, und bittet jeden Leser inständigst, selbst die geringsten Anhaltspunkte oder Auskünfte über den Verbleib der Vermißten an die Redaktion der „Gartenlaube“ gelangen zu lassen.
189) Fünf Geschwister bitten um Auskunft über ihren Bruder Michael Elias, geb. am 30. Dez. 1847 zu Zweibrücken in der Rheinpfalz. Derselbe war Kaufmann und ist im Jahre 1864 nach Brasilien ausgewandert; die letzte Nachricht kam vor etwa 16 Jahren aus Rio de Janeiro.
190) Der Kürschner Ernst Bruno Müller, geb. am 2. Juli 1860 zu Waldkirchen in Sachsen, schrieb noch am 1. Dez. 1887 aus Antwerpen, wo er Schreinwerkerstr. Nr. 5 wohnte. Am 11. Dez. desselben Jahres soll er nach dem Hafen gewandelt sein und ist seitdem verschollen. Müller stand erst 5 Wochen in dem Pelzwarengeschäft von Arnold Käsberg in Antwerpen, Place de la comédie 6, in Arbeit, wo er auch seinen Arbeitsanzug und sein Werkzeug zurückgelassen hat; sein Brotherr war sehr zufrieden mit ihm. Bei einem früheren Aufenthalt in Bremen schrieb Müller, die See habe eine große Anziehungskraft für ihn, und er bedauere, daß er seiner Militärpflichten wegen nicht habe zur See gehen dürfen.
191) Der Müller Johann Gruhn, welcher zu Groß-Kreutsch, Kreis Fraustadt, in Posen geboren ist und etwa 53 Jahre alt sein wird, ist über 12 Jahre von den Seinen fort, welche aus Hamburg von dem Vermißten die letzte Nachricht erhielten.
192) Friedrich Ferdinand Hufschmidt, geb. am 18. April 1845 zu Homberg im Regierungsbezirk Kassel, verzog in den fünfziger Jahren nach Amerika und ließ sich dort im Jahre 1862 zum Militär anwerben; er [667] machte, zuerst bei dem Garibaldi-Regiment und später bei einem anderen Regiment stehend, den amerikanischen Krieg mit, wurde in der Schlacht in der Wilderneß in Virginien verwundet und hierauf behufs Amputation des linken Armes in das Feldhospital der 1. Division des 2. Armeecorps aufgenommen. Da bis jetzt über das spätere Schicksal des Verwundeten jede Nachricht fehlt, so wäre für jede hierauf bezügliche Mittheilung der Bruder des Verschollenen sehr dankbar.
193) Vor dem Jahre 1885 hat der Tischlergeselle Wilhelm Alexander August Kleist, geb. 1. März 1864 zu Storkow, Kreis Neustettin, den Ort Bublitz in Pommern verlassen. Er arbeitete in Stettin, Friedrichsort bei Kiel und zuletzt, etwa im August 1886, in Hamburg, von wo aus er sich wieder nach Stettin gewandt haben soll; daselbst aber ist er bis heute nicht eingetroffen. Seine Mutter ist seit dem Jahre 1886 gänzlich ohne Nachricht von ihm geblieben.
194) Am Palmsonntag des Jahres 1887 ist der Fabrikinvalide Johann Hoppe, geb. am 23. Sept. 1856 zu Hoerde, von Hause weggegangen und seitdem spurlos verschwunden. Hoppe war kränklich, „knibbelte“ (!) mit den Augen, ging etwas schief und nach vorn übergebeugt, so daß er leicht erkenntlich ist. Der Vater des Verschollenen ist verstorben und die alleinstehende Mutter sehnt sich nach ihrem einzigen Kinde.
195) Der Maler Hermann Albert Wilhelm Hanck, geb. zu Teterow in Mecklenburg am 25. Febr. 1860, arbeitete in Lennep, bis er zu Anfang des Jahres 1880 von dort über Holland nach England reiste. Seitdem ist Hanck, welcher von seiner Schwester gesucht wird, verschollen.
196) Am zweiten Weihnachtsfeiertage des Jahres 1886 ging der Bierbrauer Karl Otto Louis Donner, geb. in Dünaburg (Rußland) am 1. Mai 1868, von Berlin weg, wo er im „Böhmischen Brauhaus“ angestellt war, und wird seitdem vermißt.
197) Eine hochbetagte Mutter sucht ihren Sohn August Friedrich Wilhelm Wendhausen, geb. 22. Mai 1855 zu Erxleben, Kr. Neuhaldensleben. Derselbe war Brennereiverwalter und schrieb noch am 6. Sept. 1885 aus Hamburg, daß er von London aus nach Potschefstroom in der südafrikan. Transvaal-Republik fahren wolle, um dort eine Stellung anzunehmen. Seitdem ist jede Nachricht von Wendhausen ausgeblieben.
198) Die Walzmeister Gebrüder Lehberget, Georg, geb. zu Dortmund im Jahre 1858, und Friedrich, geb. zu Witten 1860, sollen behördlichen Angaben zufolge, im Mai 1884 von Oberhausen, Rgbz. Düsseldorf, aus nach Amerika verzogen sein. Alle näheren Angaben über den Verbleib der Brüder fehlen.
199) Am 27. März 1886 begab sich der Metzger Josef Weih, geb. zu Pressath in der bayer. Oberpfalz am 17. Sept. 1860, von München aus nach Italien und schrieb noch einmal unterm 3. April desselben Jahres von Venedig (Hotel „Union“) an seine Eltern, daß er nach Verona und Rom fahren und sodann eine Seereise unternehmen wolle. Seitdem hat Weih nichts mehr von sich hören lassen. Der Vermißte ist von schlankem Körperbau, gutem Aussehen und hat blonde Haare.
200) Der am 20. Juli 1865 zu Greifswald geborene Johannes Burmester ist verschollen. Er nahm, am 15. Juli 1888 eine Stellung als Kaufmann in Wittenberg an, welche er aber Anfang August wieder verließ. Am 14. Novemb. 1888 schrieb er aus Nürnberg an seine Mutter; ein Brief, den die letztere daraufhin an ihren Sohn abgehen ließ, blieb unbeantwortet. Burmester soll sich in Nürnberg nur kurze Zeit aufgehalten haben.
201) Der Fleischergeselle Ernst Paul Winter, geb. am 9. Juli 1861 zu Panitzsch bei Taucha, Kr. Leipzig, wird seit 26. März 1885 vermißt.
202) Ein Vater sucht seinen Sohn, den Matrosen Philipp August Karl Christian Blanck, der am 17. Oktob. 1854 zu Wildberg bei Treptow am Toll geboren ist. Blanck ging 1870 mit einem deutschen Schiffe nach London und von dort mit dem engl. Schiffe „Waterloo“ nach Brasilien. In Rio de Janeiro hat er Mitte August 1871 das Schiff verlassen und ist seitdem verschwunden.
203) Am 9. Februar 1884 hat Charles William Janson, geb. zu Glasgow in Schottland, Aachen, wo er eine Reitbahn hatte, verlassen und ist seit der Zeit verschollen. Janson ist etwa 41 Jahre alt.
204) Von seinem Vater wird gesucht Heinrich Johannes Blancke, geb. zu Bordesholm am 9. April 1858. Er hat zuletzt am 1. Juni 1884 von Auckland (Neuseeland) Nachricht gegeben, wo er sich damals als Steuermann aufhielt. Blancke beabsichtigte, baldigst nach Amerika zu fahren. Ein für ihn bestimmter an die Adresse des Shipchandler Mackenzie in Auckland gerichteter Brief blieb unbeantwortet und auch alle sonstigen Nachforschungen nach Blancke waren erfolglos.
205) Paul Gebauer, genannt Georg Smith, geb. zu Neidenburg in Ostpreußen am 31. August 1849, war nach seinem letzten Brief vom November 1873 aus Triest Untersteuermann auf der amerikan. Brigg „L. C. Madeira“ (Kapitän Moslander), mit welchem Schiffe er zu Anfang des Jahres 1874 in Philadelphia auch angelangt ist. Er hatte die Absicht, den Seedienst zu verlassen und sich in Amerika anzusiedeln, wozu er sich in Boston mit einem Freunde treffen wollte, der ihm die Gelder für ein in Australien verkauftes Stück Land, von dem Gebauer Mitbesitzer war, überbringen sollte. Seit seiner Ankunft in Philadelphia ist Gebauer verschwunden.
Feldhühner vor dem Hunde „aufstehend“. (Zu dem Bilde Seite 649.) September, du Wonnemonat für den Jäger, heißersehnte Zeit der Hühnerjagd!
Dash, dein Setter (englischer langhaariger Vorstehhund), stürmt suchend in Zickzacklinien vor dir her über die Heide; alles ist Leben an ihm. Die Lust am Jagen, die dich beseelt, beherrscht auch ihn. Du brauchst ihn nicht anzufeuern, sein Jagdeifer treibt ihn vorwärts und mit hoher Nase Wind nehmend, fliegt er über das buschige Heidegras. Aber plötzlich, als wäre ein Blitzstrahl dicht vor ihm in die Erde gefahren, wirft er den Kopf zur Seite, und starr und unbeweglich wie ein Steinbild verzaubert steht der brave Hund, den einen Vorderlauf in die Höhe gezogen, hinten etwas gedrückt und die Ruthe schräg nach oben zeigend – er hat Hühner in der Nase und „steht vor“.
Langsam gehst du mit schußbereiter Flinte näher. Da streicht zwanzig Schritt vor dem Hunde, zu weit von dir, als daß es zum Schuß reichte, ein Huhn auf. Dash hat sich niedergesetzt und starrt unverwandt in die Ferne. Vom Geräusch, welches das aufstiebende Huhn verursacht hat, wird ein Hase hoch und hoppelt unmittelbar vor dem Hunde vorüber, der jetzt platt an der Erde liegt, den Kopf hoch, die Nase weit vorgestreckt in der Richtung, woher der süße Zauber strömt, welcher sein ganzes Wesen gefangen hält – den Hasen beachtet er gar nicht. Du bist jetzt neben deinem fermen Liebling. Mit steifen Läufen, ohne sonst auch nur eine Muskel zu bewegen, hebt er sich langsam hoch. „Vorwärts!“ rufst du ihm leise zu. Bedächtig „avancirt“ der Hund in der Richtung, woher die verführerische Witterung kommt – Schritt vor Schritt. Wie vorsichtig setzt er die Läufe nieder, daß kein Geräusch die Hühner schrecke! – „Wahr’ dich!“ – Jetzt steht er wieder fest vor. Du trittst leise an ihn heran und klopfst ihm „liebelnd“ den Rücken: „So recht, mein Hund, vorwärts!“ Dash ist wie ein Erzbild unbeweglich. „Vorwärts, mein Hund!“ Nichts regt sich an ihm – doch – die Kiefer machen eine kauende Bewegung – er will die süße Witterung auch durch den Geschmack genießen. „Nieder!“ – Dash liegt am Boden. Du trittst vor den Hund und gehst langsam in der Richtung, wohin seine Nase zeigt – – erwartungsvoller Augenblick – – noch zwei Schritt – und – Tirrjik! kreck! kreck! kreck! paaf! Tirr! tirr! tirr! dems! – Da schreit’s und plustert’s und schwirrt’s vor dir auf – – eine starke Kette – links und rechts von dir und gerade aus – überall flattert’s in der Luft – dazwischen Knall und Pulverrauch.
Mechanisch werden die abgeschossenen Patronen aus der Flinte gezogen und neue hineingesteckt, während dein Auge der abstreichenden Kette folgt.
Auf der Waldblöße sind die Hühner wieder „eingefallen“. Die geschossenen hängen am Galgen der Jagdtasche. Dash sucht noch einmal vorsichtig den Heidestrich ab, ob nicht noch ein einzelnes Stück liegen geblieben ist, dann stürmt er wieder mit hoher Nase in Bogenlinien suchend vor dir hin und her nach der Blöße zu. Bald hat er die Hühner von neuem gefunden, und fest vorstehend erwartet er seinen Herrn. Karl Brandt.
Die Kaiser Wilhelm-Brücke in Berlin. (Zu dem Bilde S. 661). Mit jedem Jahr verschwindet ein Stück mehr vom alten Berlin und macht der neuen, in ungeahntem Glanze und nie erwarteter Größe emporstrebenden deutschen Kaiserstadt Platz. Die niedrigen Häuschen und schmalen Gassen, welche uns noch von den längst verrauschten Tagen der einstigen kurfürstlich brandenburgischen und dann der königlich preußischen Residenz erzählen, sie werden allmählich ganz vom Erdboden fortgewischt und an ihrer Stelle erheben sich alsbald stolze Miethspaläste und breite, luftige Straßen, in welchen Handel und Wandel erhöht ihre Schwingen regen.
Die einschneidendsten Veränderungen gingen mit der Königsstadt vor, die zu den ältesten Theilen Berlins gehört, begrenzt auf der einen Seite von der Spree; auf der andern von den rothleuchtenden Viadukten der Stadtbahn, deren Bau zuerst einen Keil in dieses Gewirr von winkligen Gäßchen und engen Plätzchen trieb und für Luft und Licht die Wege bahnte. Die erste Bresche war gelegt, eine zweite, weit größere sollte alsbald folgen. Zwischen dem aufblühenden Westen und dem betriebsamen Centrum der Stadt, aus dem weithin sichtbar als Wahrzeichen der Thurm des Rathhauses hervorragt, bildete bisher nur die Königsstraße die einzige unmittelbare Verbindung, und der Verkehr in derselben hatte nach und nach geradezu gefahrdrohende Ausdehnung angenommen. Es war dringend nöthig, diesen Straßenzug zu entlasten, und zur Anlegung einer Parallelstraße wurde im Sommer 1884 eine Aktiengesellschaft gegründet, welche zur Verwirklichung ihrer weitgehenden Pläne von der Stadt namhafte Unterstützungen erhielt. Mit staunenswerther Thatkraft wurde ans Werk gegangen, und was niemand für möglich gehalten hatte, gelang: bereits nach vier Jahren konnte die Kaiser Wilhelm-Straße eröffnet werden, und ihre herrlichen, groß angelegten Bauten erhoben dort kühn ihre Kuppeln und Zinnen, wo sich noch vor kurzer Zeit einer der übelberufensten Theile Berlins ausgedehnt hatte.
Die neue glanzvolle Straße, gewissermaßen eine Fortsetzung der Linden, bedurfte aber auch einer würdigen Ueberbrückung der Spree, da selbstverständlich die bis dahin dort befindliche schmale hölzerne Kavalierbrücke, welche außerdem nur für Fußgänger bestimmt war, nicht mehr genügte. Dem Magistrat lag die Erbauung dieser Kaiser Wilhelm-Brücke ob, und schon die sofortige Bewilligung einer Summe von 11/2 Millionen Mark bewies, daß Berlin um ein ebenso vornehmes wie gewaltiges Bauwerk, um ein ebenbürtiges Gegenstück zur Kurfürstenbrücke bereichert werden sollte. Nach den Plänen des Ingenieurs Jaffé wurde der Bau schnell gefördert; während sich hier nun Tag für Tag beim schrillen Ton der Dampfpfeifen und dem dröhnenden Schlag der Hebewerke riesenhafte Maschinen in Bewegung setzten, um die ungeheuren Grundmauern im Flußbett zu legen, waren unterdessen an andern Orten kunstgeübte Hände zur Ausschmückung der neuen Brücke unermüdlich thätig.
Die ganze Anlage der Brücke ist einfach, aber dabei gefällig und zweckentsprechend. Während sich an beiden Uferseiten je ein kleinerer Bogen befindet, spannt sich der mittlere so hoch über den Wasserspiegel, daß selbst bei dem höchsten Stande desselben Kähne ungehindert durchfahren können. Der Unterbau der Brücke besteht aus Sandsteinquadern, zur weitern Ausführung wurde Odenwalder Granit gewählt, und aus schwarzgrauem, geschliffenem und polirtem Granit sind auch die Brüstungen gefertigt, die überaus geschmackvoll wirken und aus dem spröden Stoffe mit großer Meisterschaft hergestellt worden sind. Die künstlerische Ausschmückung der Brücke war in die Hände Professor Luerssens gelegt, der sich mit Hingebung und Eifer dieser schwierigen Aufgabe widmete und sie auch trefflich löste.
Von der zuerst geplanten Aufstellung eines Reiterstandbildes Kaiser Wilhelms – als eines Gegenstücks zum Denkmal des Großen Kurfürsten – hatte man aus verschiedenen Gründen Abstand genommen und dafür die Aufstellung von Trophäenobelisken nach den Entwürfen Professor Luerssens beschlossen. Vier derartige Obelisken erheben sich an den Brüstungen; [668] auf zwei Meter hohem Sockel von grauem Odenwaldgranit steht der aus rothem schwedischen Granit gearbeitete vierkantige Obelisk, dessen untern Theil bereits reicher Bronzeschmuck umgiebt, während der obere durch Trophäengruppen, ähnlich den Schlüterschen am Zeughause aus Panzern, Schilden, Helmen und anderen Rüstungsstücken zusammengesetzt, gekrönt wird. Aus den Seiten der Obelisken ragen schön geschwungene Bronzearme hervor, welche die mattweißen Glaskugeln der elektrischen Beleuchtung tragen. Die sämmtlichen künstlerisch ausgeführten Theile der Kandelaber stammen von Bildhauer Westphal, von Professor Luerssen dagegen wieder die aus dem Scheitelpunkte der beiden mittleren Brückenbogen hervortretenden Genien aus weißem karrarischen Marmor, den Krieg und Frieden darstellend, welche in schwebender Haltung den reichverzierten Schild mit dem ersten Buchstaben des kaiserlichen Namens flankieren und sich durch ihre Formvollendung und geschickte Anordnung auszeichnen.
Obwohl die Brücke seit einiger Zeit bereits in ihrem mittleren Zuge dem Verkehr übergeben ist, wird gegenwärtig noch an den Seitentheilen eifrig gearbeitet. Bald aber ist der letzte Meißelschlag gethan und die hindernden Bretterzäune werden fallen – dann erst wird die prächtige Wirkung dieser neuen Brücke voll zur Geltung kommen; und dieselbe wird noch erhöht werden, wenn die jüngst geplante vollständige Bebauung der Museumsinsel und die Errichtung des neuen Domes von den Plänen auf dem Papier in die Wirklichkeit übertragen sein werden.
Der Umgang mit giftigen Pflanzen. Man sieht sehr oft, daß Kinder mit giftigen Pflanzen spielen, und auch Erwachsene sind im Umgang mit denselben oft ziemlich sorglos, indem sie meinen, geringe Mengen ihres Saftes könnten unmöglich giftige Wirkungen hervorrufen. Dem gegenüber erscheint es wohl zweckmäßig, an einen Vorfall zu erinnern, der im vorigen Herbst in Berlin bekannt wurde. Ein Lehrer der Botanik öffnete während des Unterrichts an mehreren Exemplaren der Herbstzeitlose die Blüthenhülle mittels der Nägel. In der Meinung, daß solche geringen Giftmengen, wie sie an den Fingern kleben bleiben, nicht schädlich sein könnten, aß er in der vormittäglichen Zwischenpause sein Butterbrot, ohne seine Nägel gereinigt zu haben. In der folgenden Stunde stellten sich jedoch Leibschmerzen ein, die sehr heftig wurden. Mit größter Anstrengung konnte er noch das Lehrerzimmer erreichen. Nach einer halben Stunde erschienen die herbeigerufenen Aerzte, fanden aber den Vergifteten ohne Athem und ohne Puls. Die sofort angestellten Wiederbelebungsversuche hatten erst nach einer halben Stunde Erfolg. Bis 4 Uhr nachmittags dauerten indessen Störungen des Sehvermögens fort. Die Aerzte erkannten in dem Anfall unzweifelhafte Zeichen einer Colchicinvergiftung.
Dabei kam auch zu Tage, daß die Kollegen des betreffenden Lehrers nicht wußten, was sie thun sollten, indem sie den Ohnmächtigen in sitzender Lage festhielten, was gerade verkehrt war.
Dieses Begebniß zeigt von neuem, daß es nöthig ist, immer wieder auf Vorsicht im Umgange mit einheimischen Giftpflanzen zu dringen, und daß wir nicht ermüden sollten, für die Verbreitung der Kenntnisse über die erste Hilfe bei Unglücksfällen einzutreten. Ich bringe diesen Vorfall darum wieder öffentlich zur Sprache, weil ich vor kurzem gesehen habe, wie ein Kind mit Herbstzeitlosen spielte und dieselben zerriß. Die Mutter wusch dem Kinde die Händchen ab, der „gebildete“ Vater aber zuckte mit der Achsel und „zankte“ unwillig über die übertriebene Furchtsamkeit. *
„Swinegel und sine Fru“ in Kamerun. Wer von uns kennt nicht die alte lustige Geschichte vom Wettlauf zwischen Hase und Schweinigel, die Bechstein in seinen Märchen so ergötzlich berichtet. An einer ganz ähnlichen Fabel, man möchte fast sagen an derselben, nur daß sie ins „Afrikanische“ übertragen worden ist, erfreut sich auch „Jung-Deutschland“ in Kamerun. In dieser Kolonie giebt es auch „Tiroler“, Bergstämme, die Viehzucht treiben. Es sind dies die Bakwiri, deren Ringkämpfe Hugo Zöller geschildert hat. Bei diesen Bakwiri hat ein anderer Kamerunforscher, Berthold Schwarz, folgende Fabel erlauscht: „Der Elefant ging einst zum Meeresufer, da zu baden. Da sah er eine Schildkröte über den Sand kriechen und sprach zu ihr: ‚Du bist ein faules Thier, Du kannst nur Schritt für Schritt marschiren.‘ Aber sie erwiderte: ‚Was gilt’s, ich komme schneller fort als Du!‘ Darauf läuft der Elefant mehrere Wochen ins Gebirge, sich Kraft anzufressen. Die Schildkröte aber geht zu einigen ihrer Schwestern und dingt sie, daß sie sich von der Küste an in gemessenen Entfernungen längs des Weges aufstellen, den der verabredete Wettlauf nehmen soll. Sie selbst wählt ihren Platz zu oberst am Ziele, auf dem Berge. Als der Elefant nach einiger Zeit zurückkommt, spricht die Schildkröte am Meere, die er natürlich für die frühere Bekannte hält, zu ihm: ‚Nun kann’s losgehen!‘ und alsbald rennt der Elefant blindlings, ohne sich umzusehen, davon, daß der Boden erzittert. Aber als er schwitzend das nächste Dorf erreicht, hockt die Schildkröte bereits behaglich am Wege. Da ruft er: ‚Da ist es schon, das elende Thier, ich muß noch besser laufen.‘ Und abermals stürmt er pustend davon. Jedoch wie er auch eilt, überall ist seine Feindin schon vor ihm angekommen. Die Wuth stachelt ihn zu wahnsinniger Anspannung aller Kräfte an. Blutiger Schweiß rinnt an seinem Leibe nieder, die Augen treten geröthet aus ihren Höhlen, und als er endlich auf der Höhe ankommt, bricht er taumelnd zusammen und verendet angesichts seiner glücklicheren Rivalin.“
So die Fabel der Bakwiri. Ganz dieselbe Fabel ist noch in Südafrika unter den Betschuanen verbreitet, nur daß hier der Elefant durch den Rehbock ersetzt ist. – Die Phantasie der Völker fördert oft ganz ähnliche Dichtungen zu Tage; solche Parallelen ließen sich noch bei vielen andern Fabeln und Märchen der Neger nachweisen. Auch im dunkeln Welttheil giebt es z. B. Vinetas, auch dort hört man in den Seen das Stampfen der Mörser, das Gackern der Hühner und das Meckern der Ziegen – Zeichen versunkener Dörfer. *
P. A. in Chemnitz. Wir verweisen Sie auf den Artikel über „Rothe Nasen“ in Nr. 52 des Jahrgangs 1888 der „Gartenlaube“. Dort ist über die Entstehung derselben Auskunft gegeben und der bestimmte Rath ertheilt, die Heilung nur einem Arzte anzuvertrauen und sich vor den mancherlei angepriesenen Geheimmitteln streng zu hüten. Wir können diesen Rath nur wiederholen.
Inhalt des eben erschienenen 12. Heftes (Preis 40 Pf.):
Eine Schreckensnacht auf dem Ottawa. Erzähl. nach englisch. Berichten v. Arete Gogarten. Mit Zeichn. von C. W. Allers. – Justus von Liebig. Ein Erinnerungsblatt von J. Stieler. Mit Bildniß. – Häuptling Dilolo. Märchen aus dem dunkeln Welttheil. Von C. Falkenhorst. Mit Zeichnung von A. v. Roeßler. – Der ausgestorbene Vogel Dronte. Von L. Staby. Mit Illustr. v. Fedor Flinzer. – Friedrich Barbarossas Errettung durch Heinrich von Siebeneichen. Von Wilhelm Ulrich. – Heimkehr von der Alm. Mit Bild von F. Boltz. – Harter Dienst. Spruch von F. W. Weber. – Herstellung eines Drachens. Von M. Reymond. – Die Mutterliebe bei Hühnern. Von L. Haschert. – Knackmandeln, Räthsel u. s. w.
Inhalt: Sicilische Rache. Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans (Fortsetzung). S. 649. – Stelldichein. Illustration. S. 653. – Die Magensonde. Ein Kapitel für Magenkranke. Von Prof. Dr. Ed. Ott. S. 656. – Cilly. Illustration. S. 657. – Gold-Aninia. Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué (Schluß). S. 658. – Lloyds. Von Wilh. F. Brand. S. 663. – Das neue Passionsspielhaus von Oberammergau. Von Arthur Achleitner. S. 665. Mit Illustration S. 665 und Porträt S. 666. – Blätter und Blüthen: Vermißten-Liste. Fortsetzung aus Nr. 24 dieses Jahrgangs. S. 666. – Feldhühner vor dem Hunde „aufstehend“. Von Karl Brandt. S. 667. Mit Illustration S. 649. – Die Kaiser Wilhelm-Brücke in Berlin. S. 667. Mit Illustration S. 661. – Der Umgang mit giftigen Pflanzen. S. 668. – „Swinegel und sine Fru“ in Kamerun. S. 668. – Kleiner Briefkasten. S. 668.
In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.
Inhalt: Bd. 1. „Das Geheimniß der alten Mamsell“. – Bd. 2. „Das Heideprinzeßchen“. – Bd. 3. „Reichsgräfin Gisela“. – Bd. 4. Im Schillingshof“. – Bd. 5. „Im Hause des Kommerzienrates“. – Bd. 6. „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – Bd. 7. Die zweite Frau“. – Bd. 8. „Goldelse“. – Bd. 9. „Das Eulenhaus“. – Bd. 10. „Thüringer Erzählungen“ (Inhalt: „Amtmanns Magd“, Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, „Schulmeisters Marie“).
Bestellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen. Wo der Bezug auf Schwierigkeiten stößt, wende man sich direkt an die
- ↑ Sperlinga war der einzige Ort in Sicilien, dessen Bevölkerung sich der „Sicilianischen Vesper“ anzuschließen weigerte; über dem Thore des Städtchens steht heute noch in den Stein gegraben eine damals angebrachte lateinische Inschrift: „Quod Siculis placuit, sola Sperlinga negavit“ – „Was ganz Sicilien wollte, nur Sperlinga wollte das nicht.“
- ↑ Man giebt gewöhnlich das Jahr 1771 an; in diesem Jahre faßten die Mitglieder den Beschluß, aus ihren seitherigen Räumen auszuziehen, aber es dauerte noch drei Jahre, bis der Umzug nach der Royal Exchange erfolgen konnte.