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Die Gartenlaube (1889)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[669]

No. 40.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Sicilische Rache.

Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans.
(Fortsetzung.)
13.

Verlaß uns, Nina, ich habe mit meiner Tochter allein zu sprechen,“ sagte beim Hereintreten Romeo in kurz befehlendem Tone zu Felicitas Begleiterin.

Es entging seinem beobachtenden Blicke nicht, daß Nina erblaßte und daß Felicita auf ihrem Stuhle zusammenzuckte. Er blieb in der Mitte des Zimmers stehen.

„Felicita,“ sprach er, die Worte scharf betonend, „warum hast Du mir heute morgen verheimlicht, was gestern hier geschah?“

Der Vorwurf in dieser Frage klang fast wie eine Anklage gegen sie, die Schuldlose! Warum hätte sie ihrem Vater heute morgen die Freude des Wiedersehens trüben sollen? Wie konnte sie ihm alles erzählen? Er hatte es so eilig und so wichtige Geschäfte erwarteten ihn bei den Freunden! Am Abend, in traulicher Unterredung, gedachte sie, ihm ihr Herz zu eröffnen. Und nun? Warum sprach ihr Vater in diesem Tone zu ihr, die sich nichts vorzuwerfen hatte?

„Ich gedachte, es heute abend zu thun, Vater! Zu wichtig war es ja, um …“

Eine furchtbare Zornesflamme loderte in Romeos Herzen auf.

„So ist etwas geschehen? So hatte der Abbate recht?“ rief er, und mit geballter Faust auf sie zutretend, herrschte er sie an: „Rede! Was geschah? Und, bei Deinem ewigen Heile! verschweige nichts!“

Felicita trat einen Schritt zurück. Der Stolz der beleidigten Unschuld bäumte sich in ihr auf. „Seit wann habe ich meinem Vater Ursache gegeben, seine Tochter einer niedrigen That zu zeihen? Du sprichst zu mir wie zu einer Angeklagten; Du hast mich noch nicht gehört und Du klagst mich an? Du hast mich noch nicht befragt und schon hast Du mich verurtheilt? Wer gab Dir dieses Recht?“

Romeo schwieg. Sein Auge ruhte auf ihr. So sprach keine Schuldige.

„So sprich!“ sagte er ruhiger und setzte sich.

Sie sprach; – sie erzählte ihm, wie sie zur Kirche gegangen sei, um für ihn zu beten; wie der Sturm losgebrochen, wie sie emporgerissen und fortgetragen worden sei, und wie sie, aus ihrer Ohnmacht erwachend, den Offizier in ihrem Zimmer, hier, wo sie jetzt mit ihrem Vater sitze, vor sich gesehen habe.

„Und dann?“ sprach Romeo mit dumpfer Stimme, als sie innehielt.

„Dann, Vater!“ rief sie, und vor dem geliebten Vater sank sie in die Kniee, und tief in sein Auge blickend, fuhr sie fort: „Glaubst Du mir, Vater? Oder zweifelst Du, ob Felicita Dir die Wahrheit sage?“

„Die Wahrheit?“ rief aber Romeo, indem er sie mit wilder Gewalt von sich stieß; – „die Wahrheit? – Du bist seine Geliebte! Das ist die Wahrheit! Fluch über Dich, Elende!“ Eine unbändige Wuth sprühte in seinem Auge.


Guten Morgen!
Nach einer Photographie von H. Schröder in Bremerhaven, Verlag von E. Schröder in Bielefeld.

[670] Aller Zorn, den er bei der Gräfin mit so mächtiger Gewalt zurückgekämpft hatte, überfluthete mit einem Male sein Herz und seine Sinne.

Das heiße sicilianische Blut kochte in seinen Adern und hämmerte, jede Vernunft übertönend, an seine Schläfe.

„In die Kniee, Elende! in den Staub vor mir!“

Aber in jäher Entrüstung sprang Felicita vor ihm auf.

„Seine Geliebte? Ich?“

Vater und Tochter standen einander zornglühend gegenüber. In beider Seele flammte mit urplötzlicher Gewalt das alte südliche Feuer auf, das sengende Feuer unbezwingbarer Leidenschaft, und mit dämonischer Macht brach die altangestammte, halbwilde Natur hervor. Weder Vater noch Tochter wußten mehr, was sie thaten. Er griff nach seinem Stocke – sie suchte nach einer Waffe.

„Ich liebe ihn!“ schrie Felicita. „Ja, von ganzem Herzen, von ganzer Seele liebe ich ihn! Und wenn er es will, so folge ich ihm bis ans Ende der Welt. – Aber von Gottes Altar nur führt er mich in sein Haus!“

„Ein schweizer Offizier?“ rief Romeo, „meine Tochter?“

Sie hörte nicht.

„Du kennst ihn nicht, den edlen Mann, der mir das Leben gerettet hat. – Dort unten … dort unten in jenem Gemäuer verbrachte er die Nacht – und keinen Schritt that er mehr Deinem Hause zu! Und ich sah ihn, wie er sich beim Morgengrauen entfernte! Nein, nein! Vater! Du kennst ihn nicht! Ich aber kenne ihn jetzt, und von ganzem Herzen liebe ich ihn – und die Seinige bin ich für alle Ewigkeit! Denn ein edleres Herz schlägt in keines Mannes Brust! Und Du, Vater, könntest Du je vergessen, daß er es war, der Dein einzig Kind aus den Fluthen des Torrente riß – er, der Schweizer! der Feind, der sein Leben wagte, um mich, Deine Tochter, zu retten? Sprich, Vater! darfst Du es vergessen? und sprich! darf ich vergessen, was er an mir gethan hat? Sprich! darf ich’s? Sprich! darfst Du’s?“

In jenen südlich heißen und leicht beweglichen Herzen folgen und überstürzen sich die widersprechendsten Gefühle in ebenso plötzlichem und gewaltigem Wechsel wie Sturm und Sonnenschein am sicilischen Himmel.

Die zornestrunkene Empörung seiner Tochter übte auf Romeos Gemüth eine überzeugendere Wirkung aus, als es die nüchternste Beweisführung vermocht hätte. Mit stürmischem Feuer schloß er die Tochter in seine Arme.

„Du hast recht, Felicita!“ sagte er endlich, nachdem er seiner Erregung Herr geworden war; „Du hast recht! Hat er das gethan, so schlägt kein edleres Herz auf Erden, und ich könnte ihn werth finden, Dein Mann zu werden – wenn er nicht unser Feind wäre! Aber er ist’s, Felicita! er ist’s! und morgen schon können wir uns im Kampfe gegenüber stehen! Er kennt Dich noch nicht? Er weiß nicht, wessen Tochter Du bist? – Aber er wird es erfahren – und dann? – Glaubst Du, daß ein schweizer Offizier zu Romeo, dem Capo popolo, hintreten und um die Hand seiner Tochter werben werde? – Und wollte er’s, er dürfte es nicht! – Aus seinem Dienste würde er entlassen, vom seinen Kameraden verstoßen! – Aber Du selbst, Felicita! Darfst Du vergessen, daß Du meine Tochter bist? die Tochter des Mannes, dem das Volk vertraut! den das Volk zum Vertheidiger seiner Rechte, zum Anführer im Kampfe erwählt hat! Du, Felicita, hast dieselben Pflichten wie ich! Die Pflichten der Väter vererben sich auf die Kinder! – Blicke auf, Felicita, und schau mir ins Auge: bist Du eine Sicilianerin, oder bist Du’s nicht? gehörst Du Deinem Volke, oder gehörst Du ihm nicht? bist Du Romeos Tochter, oder bist Du’s nicht? – Die Seinige wolltest Du werden für alle Ewigkeit, sagtest Du? und mit ihm zu entfliehen bist Du bereit, wohin er Dich führen will? – Felicita! Nicht Dein Los allein – auch das meinige liegt in Deiner Hand, – ja, noch mehr, das Los Deiner Vaterstadt, das Los Deines Volkes! Denn muß sich morgen Romeo wie ein des Verrathes Beschuldigter verstecken, welch ein Jubel bei unsern Feinden! welche Schmach für des Volkes Sache! und welcher Schlag für unsere Freunde, die auf mich zählten, die an mich glaubten, die auf meinen Ruf warten, um sich für Freiheit und Vaterland dem Tod und dem Verderben zu weihen! – Und fliehen und verschwinden muß Romeo, wenn seine Tochter einem Schweizer die Hand reicht! Todt und verloren ist Romeo für immer! Was spreche ich aber von mir? Die Zukunft Deines eigenen Volkes, Felicita, Deiner Stadt – Deines Landes – von, Dir, Tochter, von Deinem Entschluß, von dem Worte, das Dein Mund jetzt sprechen wird, hängt alles ab! Das Wort ‚Verrath!‘ eilt auf Windesflügeln durch die blinde argwöhnische Menge! Laß das Volk erfahren, daß Romeos Tochter einen Schweizer liebt, und als Verräther wird Romeo bei seinen Freunden verrufen, aus ihrer Mitte verstoßen – und nichts bleibt ihm übrig, als wegzuziehen bis an die Grenzen der Welt, wo Siciliens Name noch nicht hingedrungen ist und kein Sicilianer noch den Fuß ans Land gesetzt hat!“

So sprach Romeo.

Er sprach lange; er sprach, wie ihm seine wild durcheinander tobenden Gefühle die Worte auf die Zunge führten; er sprach, wie man im Süden spricht, mit bilderreichem Schwunge; denn glänzend ist dort der Gedanken Gewand, und Schwingen entfaltet auch des geringsten Mannes Rede, wenn die Leidenschaft sich seiner Sinne bemächtigt.

Athemlos und starr in sein Auge blickend, horchte Felicita auf ihres Vaters Worte. Sie war leichenblaß geworden. Mit beiden Händen bedeckte sie ihr Antlitz. Es war ihr, als eröffne sich ein Schlund vor ihren Füßen … Er hatte recht – der Vater hatte recht!

Wie hatte sie sich dies alles nicht selber sagen können, und wie durfte sie ihrem Vater widerstehen?

Es ging wie ein Riß durch ihr Herz; es war, als erwache in ihrem Busen ein strafendes Gewissen! Ja, an dem Vater – an ihrem Volke hatte sie sich versündigt! So rein sie auch war, diese Liebe war ein Verbrechen!

Zitternd erfaßte sie des Vaters Rechte und im Innersten ihres Herzens erbebend, warf sie sich an seine Brust.

„Vater, Vater!“ schluchzte sie; „nein, nein! nicht durch meine Schuld …“

Sie wollte sprechen und konnte es nicht.

„Nein, nein!“ wiederholte sie nur und auf die Kniee sank sie vor ihm nieder, und heiße Zähren flossen auf des Vaters Hände.

Lange verharrten beide in stummer Umarmung. Draußen hörte man Ninas schleichende Schritte; sie näherte sich der Thür, als wollte sie horchen, was da drinnen vorging.

„Felicita!“ hub endlich Romeo an und in tiefer Rührung erzitterte des starken Mannes Stimme, „Tochter! … Kind! … Ich danke Dir … wie nur ein Vater seinem einzigen Kinde danken kann! Ein treues, wackeres Herz schlägt in Deiner Brust! Nun aber komm! komm mit mir in die Stadt! Hier darfst Du nicht länger weilen! An der Seite Deines Vaters ist Dein Platz, denn hierher wird er wiederkehren, Dich aufzusuchen – und nimmermehr darf er Dich wiedersehen!“

Verwirrt schlug Felicita ihre Augen zu ihm empor.

„Nimmermehr? Vater! Nimmermehr?“

„Sei stark, Felicita! Dem Vaterlande weihe Deine Liebe zum Opfer! Für Dich, für mich, für die andern ist dieser Offizier der Mann, der meiner Tochter das Leben rettete und dem ich dafür Dank schulde – tiefen Dank! – und vergessen werde ich meinen Dank nimmermehr! Weiter aber, mein Kind, ist er nichts mehr für uns – denn weiter … weiter ist er unser Feind – und auch dies dürfen wir nicht vergessen!“

Ihr Kopf legte sich auf seine Schulter.

„Vater!“ schluchzte sie, „ich bin bereit! … ich folge Dir! … aber versprich mir …“

„Sprich, Kind!“

„Wer Deine Tochter dem Tode entriß, dessen Leben soll meinem Vater heilig sein!“

Sie dachte an die bevorstehenden Kämpfe; in Romeos Geist hatten aber diese Warte noch andere Erinnerungen wach gerufen; er dachte zurück an die Gräfin und an ihre drohenden Worte.

„Sei ruhig, Kind!“ erwiderte er, „ich verspreche es Dir! Romeo weiß, was Pflicht und Dankbarkeit gebieten.“

Am selben Abend verließ er mit seiner Tochter das Landhaus bei der Badiazza.

Als sie in die Torrenteschlucht einbogen, gewahrten sie [671] oben bei den Ruinen des Klosters Fra Serafino, der emsig bemüht war, die Kirche von dem Schutt und Schlamm zu reinigen.

Freundlich winkte das Mönchlein ihnen zu. Felicita aber fühlte, wie ihre Augen sich mit Thränen füllten, und sie getraute sich nicht, ihren Blick nach der Kirche zu erheben, und eine warme Wallung von Liebesschmerz und Liebeslust und nimmer zu bewältigender Liebessehnsucht durchströmte ihr hoffnungslos klagendes Herz.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Während Romeos Wagen in die Straßen der Stadt einbog, ertönte klingender Hufschlag zwischen dem Gemäuer, das sich zu Felicitas Häuschen hinaufzog.

„Wohin des Wegs, Herr Hauptmann?“ rief Fra Serafinos Stimme dem Reiter nach. – „Das Haus ist leer! Mit seiner Tochter, die Ihr gestern errettet habt, ist Romeo vorhin zur Stadt gefahren!“

Romeo? Was war dies für ein Name? Eckart zog den Zügel straff an.

„Romeo? Von wem sprichst Du?“

„Ei! Romeo! Der Volksanführer,“ erwiderte mit gutmüthigem Lächeln der Bruder, indem er dem Reiter die Hand zum Gruße bot.

Starr schaute ihn dieser an.

„Und Felicita wäre die Tochter …?“

„Ja! wußtet Ihr’s nicht? Die Tochter des Romeo habt Ihr gestern …“

Das Wort erstarb dem armen Bruder auf der Zunge. Was war es denn, das diesen Offizier so seltsam dabei bewegte? Leichenblässe hatte sein Gesicht bedeckt; seine Lippen bewegten sich wie zum Sprechen, aber kein Laut entrang sich seiner Brust; – und ohne zu antworten, ohne dem Mönche ein Lebewohl zuzurufen, drehte er sein Roß um – und gesenkten Hauptes, die Hände schlaff auf dem Sattelknopf, so ritt er heimwärts das Thal hinab.


14.

Am südlichen Ende der Stadt liegt, abseits von der Straße, unter Oelbäumen verborgen, ein von Kaktus und Agaven wilddurchwachsenes Gemäuer, ein alter Normannenthurm, der vor langen Jahrhunderten als Lugaus gegen die sarazenischen Seeräuber errichtet worden, jetzt aber nur noch ein zweckloses, verwittertes und zerfallenes Mauerwerk war. Zwischen den stachlichten Kaktushecken windet sich ein schmaler Pfad ins Innere – ein Pfad für Füchse und wilde Katzen, denn was hätte wohl ein menschliches Wesen in jenen einsturzdrohenden Gewölben zu suchen?

Wer jedoch an diesem Abend die Umfassungsmauer erklettert hätte, der wäre vor dem Kaktuszaun auf einen im Grase liegenden Krüppel gestoßen, der dort zu schlafen schien, – der aber seine Augen und Ohren offen hielt und an ganz anderes dachte als an das Schlafen; wie der getreueste Hund hielt er vor diesem geheimen Eingang Wache. Drinnen aber, nur vom Mondlicht, das durch eine Mauerritze drang, beleuchtet, saßen mehrere Männer in ernster flüsternder Unterredung.

„Die Gelegenheit ist günstig,“ sagte halblaut der eine; „Salvatore hat recht! Wie ein Mann wird das Volk sich erheben, erfährt es, daß ein Schweizer sich an der Ehre eines sicilischen Mädchens vergriffen hat! Und auf die Neapolitaner wälzen wir alle Schuld!“

„Von wem hast Du’s erfahren, Vater? Bist Du Deiner Sache sicher? Ich muß es wissen, denn mir galt der Schimpf – und mein ist die Rache!“

„Antonino,“ antwortete Salvatore, „ich weiß, was ich sage: der mir’s vertraute, ist der Abbate Scaglione, der selber Zeuge war. – Der Erzbischof hatte ihn, Gott weiß um welcher Sünde willen, in die Badiazza verwiesen; er sprach mit dem Schweizer heute morgen, als dieser das Haus verließ.“

„Donner und Hölle! Fluch über die Weiber! Eine blutige Sonne soll über Messina aufgehen!“

„Der Rache des beleidigten Bräutigams sind beide verfallen,“ fiel ihm ein anderer ins Wort, – „für uns aber soll Deine Rache die Stunde unserer Erlösung sein! Sprich, Salvatore! Wann soll diese Stunde schlagen? Was soll das Zeichen sein?“

„Hört!“ sprach Salvatore, indem er sich näher zu ihnen hinbeugte. „Die Freunde sollen sich bereit halten zum letzten Tage des Karnevals; die Glocken des Aschermittwochs werden wie ehemals die Vesperglocken das sicilische Volk zu den Waffen rufen. In der letzten Faschingsnacht versammelt die Gräfin von Cellamare alle Neapolitaner und Schweizer zu einem Feste in ihrem Palast; was dort geschehen soll, wird geschehen! Von dort geht das Zeichen aus! – Hört mich an und merkt auf meine Worte: nach altem Brauch wird in der Mitternachtsstunde der todte Karneval auf einer Bahre durch die Straßen getragen und der Strohmann feierlich ins Meer versenkt. – Trägt der Strohmann die schweizerische Uniform, so soll dies das Zeichen sein, so soll am andern Morgen das bewaffnete Volk aufstehen! – Trägt aber der Strohmann einen andern Rock, so ist Verrath im Hause, so ist die Stunde verfrüht, so versammeln sich die Führer hier, so warten wir eine günstigere Gelegenheit ab.“

„Weiß Romeo davon?“ fragte Antonino.

Salvatore zuckte die Achseln.

„Laßt Romeo aus dem Spiel! Kommt’s zum Kampf, so steht er in erster Reihe – mit mir; aber jetzt …“

„Weiß er nichts von Felicita?“

„Heute abend kehrte er mit ihr in sein Haus nach Messina zurück; er suchte mich auf, traf mich jedoch nicht; mehr weiß ich nicht von ihm.“

Er war aufgestanden.

„Antonino!“ sagte er, dem Sohne die Hand reichend, „Du bleibst wohl hier im Versteck?“

Antonino lachte hell auf.

„Ich könnte mich schon in den Straßen Messinas zeigen – Vorsicht ist aber besser – unter diesem Gewande wird keiner Deinen Sohn vermuthen.“

Lachend zog er ein langes, weißes Kapuzenhemd über Kopf und Schultern, wie es die Mitglieder der büßenden Brüderschaften an den Kirchenfesten zu tragen pflegen.

„In diesem Anzug,“ fügte er grimmig lachend hinzu, „werde ich meinen Freunden helfen, den Karneval zu begraben! In diesem Anzug gehe ich heute noch zur Stadt! Ihr berathet über des Volkes Rache – laßt mich über die meinige berathen!“

Lautlos trennten sich die düstern Gesellen.

„Du kannst gehen!“ raunte Salvatore dem wachehaltenden Krüppel zu; „morgen zur selben Stunde bist Du wieder hier!“

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

In den oberen Straßen der Stadt wogte ein lustiges Faschingstreiben. Die Schenken waren dicht besetzt von einer lärmenden, schmausenden Menge. Ein weißer Kapuzenmann – war es eine Maske? war es ein büßender Bruder? – blieb an der Thür einer Wirthschaft stehen. Sein Blick heftete sich auf eine Gruppe, die plaudernd in einer Ecke saß. Er warf einem jungen Mann einen flüchtigen Wink zu. Dieser erhob sich und trat zu ihm auf die Straße.

„Was führt Dich nach Messina, Antonino?“ fragte der Unbekannte, indem sie beide langsam durch die schwach erhellte Straße weiter gingen.

„Ich brauche Dich und Deine Freunde; führe mich in Dein Haus!“

Sie traten ein.

„Habt Ihr Männer?“ fragte Antonino, als die Thür verschlossen war.

„So viel Du brauchst!“

„Es muß bald geschehen … und sicher getroffen werden!“

„Um was handelt es sich? und um wen?“

„Ein schweizer Offizier hat meine Braut verführt …“

„Felicita?“

„Felicita! Er muß sterben. Ich selber will die Männer anführen. Wie viel fordert Ihr?“

„Wie ist sein Name?“

„Eckart von Hattwyl.“

Der andere stutzte. Ein Lächeln hob die gekräuselten Spitzen seines Schnurrbartes in die Höhe.

„Der Hauptmann von Hattwyl scheint viele Feinde zu haben.“

„Verfolgt ihn noch ein anderer?“

[672]

Leopold von Dessau und die Annaliese.
Nach einem Gemälde von H. Prell.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

[673] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [674] „Ein Abbate zahlte uns zweihundert Piaster.“

„Ein Abbate? Scaglione? Das kommt von der Gräfin von Cellamare!“

„Die Namen nennen wir niemals!“ erwiderte der andere mit klugem Blinzeln. Einen vollen Auftrag gab uns der Abbate noch nicht; wir sollen zu seiner Verfügung stehen am letzten Karnevalsabend – und seine Weisung erwarten; – vielleicht lautet sie wie die Deine – vielleicht auch nicht!“

„Meine Losung ist Tod! aber unter einer Bedingung: ich bin selber dabei und man gehorcht meinen Befehlen!“

„Es sei! Zahlst Du sogleich?“

„Die Hälfte jetzt, die Hälfte nachher.“

Er öffnete seine Kapuze, zog einen schweren Ledergürtel hervor und legte mehrere Rollen von Gold- und Silbermünzen auf den Tisch.

„Du bist rasch reich geworden!“ sagte der andere, während er das Geld zählte.

„Gestohlenes Geld ist es nicht!“ erwiderte Antonino, indem er den Kopf in den Nacken warf.

„Es klingt wie falsches Marchesengold und richtiges Advokatensilber aus Taormina,“ meinte der andere, indem er lächelnd am Tischrande den Klang einer Goldmünze prüfte.

Antonino nickte.

„Zurückerstattetes, sauer erworbenes Gut!“

Der andere öffnete eine Truhe, ließ das Geld hineingleiten, schloß wieder fest zu und sagte:

„Befehle! Wann? Wo? Und wie?“

Antonino schien sich etwas zu überlegen.

„Was ist denn das mit dem Abbate?“ fragte er endlich. „Ich will nicht durch einen Pfaffen um meine Rache gebracht werden. Schiebe ihn hinaus, bis ich mit dem Hauptmann fertig bin.“

„So leicht ist dies nicht, Antonino! Der Hauptmann wird auf dem Ball der Gräfin von Cellamare erscheinen; dort könnt Ihr beide ihn – und Euch treffen!“

„Wann ist der Ball?“

„In drei Tagen, am letzten Karnevalsabend!“

„Der Tag paßt mir! Aber wo gedenkt der Abbate ihn zu erwarten?“

„Wo? – Du weißt, wir verrathen unsere Kunden niemals! – Aber wer kann den Masken verwehren, an jenem Abend in den Hof des Palastes von Cellamare zu dringen, die Tanzmusik mit anzuhören, die Damen beim Aussteigen zu bewundern?“

Er stand auf. Antonino that das Gleiche.

„Wo treffe ich Dich morgen, wenn ich Deiner bedarf?“

„Immer zur selben Stunde am selben Ort!“

Im dunkeln Hausgange verabschiedeten sich die beiden. Dem Hause gegenüber öffnete sich das hohe Portal einer Kirche; das Kerzenlicht erleuchtete die schimmernden Mosaikwände und reichen Goldverzierungen des Hauptaltars. Demüthig, das entblößte Haupt auf die Brust neigend, trat der Unbekannte in das Gotteshaus, kniete vor einem Heiligenbild nieder und, sich mit geübter Hand bekreuzigend, rief er, wie er es jedesmal zu thun pflegte, den Segen seines Schutzpatrons auf das eben geplante Unternehmen herab.

„Heiliger San Rocco!“ murmelte er vor sich hin, „ein Feind unserer Kirche ist es! Ein Fremder, der niemals das Knie vor unsern Altären beugte, ein Verächter dieses Volkes, ein Frevler an unserer Frauen Ehre! Siehe, San Rocco! Nicht die ersten besten sind es, die unsere Hilfe anrufen gegen ihn! Ein frommer Diener der Kirche, ein Abbate, und eine Kontessa, die unsern Altären schon so viele Schenkungen widmete, verschwören sich mit einem in seiner Hausehre gekränkten Sohn des Volkes! Laß Deine Hand dies Werk beschützen, und gelingt es, gebenedeiter San Rocco, so weihe ich Deinem Altare den Zehnten unseres schwerverdienten Lohnes und stifte Dir eine Wachskerze so dick wie mein Oberarm, und bei allen Freunden und Bekannten werde ich Dich loben und preisen!“ …

Während aber im Wiederscheine unzähliger Kerzen dieser also betete, saß ein anderer hinter der Mauerkrone der Citadelle und ließ seine Blicke über die im stillen Mondlichte schimmernde Stadt, über die hohen Berge und die dunkeln Thäler schweifen.

„Felicita! Die Tochter Romeos!“ – In der dumpfen Betäubung, die sich bei Fra Serafinos Worten seiner bemächtigt hatte, hämmerten diese Silben sinnbethörend und in gedankenlos eintönigem Rhythmus immer wiederkehrend an seine Schläfe. „Felicita! Die Tochter Romeos!“ Wie ein Schlafender, wie ein Betrunkener hatte er den Weg nach der Citadelle zurückgelegt. „Felicita! Die Tochter Romeos!“ Und klar wie das blendendste Sonnenlicht war mit einem Male durch seine in nächtliches Dämmern gehüllte Seele dieser Gedanke gebrochen: „Verloren! auf immer und ewig verloren!“ – Wie war es anders möglich? Er ein schweizer Offizier – sie die Tochter des Volksanführers, der morgen vielleicht das Zeichen des Aufstandes gegen des Königs Majestät geben würde! – Verloren, auf immer und ewig verloren! Und doch, wie heiß war sein Sehnen nach ihr, nach der holden Kindesseele! – In freude- und liebeleerem Wandern war seine erste Jugend verflossen, zum erstenmal hatte sein Herz wärmer geschlagen, und mit Sturmesgewalt hatte diese erste Liebe zu jenem Mädchen sein ganzes Wesen erfaßt – und nun? Kaum gekannt, kaum geliebt – und schon verloren, auf immer und ewig verloren!

Und in immer tieferen Falten warf die Nacht ihren Schleier über Berg und Meer, und in immer tiefere Falten hüllte sich Eckarts Denken, Sinnen und Sehnen. Von drüben wie aus einem weiten, weiten Traume klang der lachende Faschingsjubel an sein Ohr; bis zu seinem Herzen drangen aber die fröhlichen Weisen nicht, und den Kopf auf die Hand gestützt, blieb er dort oben sitzen, und der Athem der lauschenden Mondnacht spielte in seinem blonden Lockenhaar, und langsam rollte eine Thräne herunter über seine Wangen und fiel wie ein leuchtender Funke hinab ins Meer – und wehmüthig lächelnd sah er dem in der Nacht verschwindenden Sternlein nach und leise seufzte er vor sich hin: „Wie diese Thräne war unsere Liebe, einem leuchtenden Sterne gleich, den die ewige Nacht verschlingt!“


(Fortsetzung folgt.)




Wie entstehen Moden?

Von Cornelius Gurlitt.
I.

Haben Sie beobachtet, daß jetzt wieder ganz enge Kleider getragen werden?“ – so habe ich unlängst eine mir als treffliche Hauswirthin und braves Weib bekannte Frau aus der Gesellschaft sagen hören. „Man sieht alle Formen, so fest wird der Rock zurückgebunden. Sehr auffallend! Was will man aber machen? – Ich habe mir schon ein neues Kostüm bestellt!“

Die neue Mode kommt! Der alte Aesthetiker Vischer wird sich spottgerüstet aus seinem Grabe erheben, seine bissigsten Bemerkungen werden hervorgesucht werden, aber was hilft’s? Die Mode kommt, unwiderruflich, unabwendbar!

Kein Mensch vermag, sich gegen sie zu wehren. Sie bricht herein wie eine Seuche, deren Nahen schon längst verkündet wurde. Die Zeitungen sprechen in ihren Modeberichten schon eine zeitlang vorher ganz kühl mit der Miene der Wissenschaftlichkeit von ihren Eigenschaften. Dann werden in Festbeschreibungen hier und da einige „Fälle konstatiert“. Die Badeorte sind die Seuchenherde, von denen das Unheil über uns hereinbricht. Man warnt vor ihm, wie etwa zu Cholerazeiten vor dem Genuß von Pflaumen und Gurken – aber plötzlich ist es da! Während vor kurzem, zur Zeit der Tournüre, kein Dienstmädchen ohne dieselbe leben konnte, wird in kurzer Zeit alles Unebene verschwunden sein. Glatt, ganz glatt!

Die Vaterlandsliebe ist das Gefühl, welches wir zumeist anrufen, um den Einbruch der Mode aufzuhalten. Was haben wir [675] Väter, Gatten, Bräutigame und Brüder gebeten, gespöttelt, gezürnt, als die Tournüre, diese Erfindung fremder Völker, bei uns im starken einigen Deutschland Nachahmung fand: die Frauen haben uns nicht gehorcht! Die Mode ging stolz lächelnd ihren Weg und stieß die Widerstrebenden mit übermüthiger Bewegung in jenen Winkel, in dem die Querköpfe sitzen.

Und nun, nachdem wir uns an seinen Anblick gewöhnt haben, nun fällt der Höcker auf einmal wieder fort und wir müssen uns mit den natürlichsten Verhältnissen begnügen. Und zwar nicht, weil unseren Frauen ihre alte Mode als häßlich erschien – Gott bewahre, weitaus die Mehrzahl legt mit Bedauern jenes kleine Stahlpolster fort, das ihnen bisher die „Haltung“ gab, – sondern nur, weil man in London oder Paris oder sonstwo befohlen hat: von nun an ist wieder „glatt“ Mode!

Unser Flehen und Zürnen, unser Anrufen der Vaterlandsliebe wie der Aesthetik, unser väterlicher oder eheherrlicher Befehl – sie helfen alle nichts. Aber jener unbekannte Jemand, dem gehorchen alle, selbst die tugendhaftesten Frauen und selbst zu innerlich mißbilligtem Beginnen.

Man möchte am Verstande der Welt verzweifeln. Alle Schwertschläge des Geistes erwiesen sich den Modeverirrungen gegenüber als wirkungslos. Die Strafgesetze des Mittelalters erschöpften sich darin, die Kleidertrachten zu regeln, die Ausschreitungen mit strenger Pön zu belegen, die Stände auf ein vernünftiges Maß des Prunkes zurückzuführen – alles vergeblich! Die großen Bußprediger zogen durch das Land, um durch Androhung himmlischer Strafen die langen Aermel der Kleider, welche den Boden streiften, oder die langen Schnabelschuhe, oder ein andermal die unziemliche Enge des Gewandes zu verbieten. Ihre Erfolge hatten nie Dauer. Die protestantische Geistlichkeit eiferte gegen die Stoffverschwendung des 16. und 17. Jahrhunderts, gegen die Faltenröcke und Pluderhosen, sie malte den Hosenteufel mit der finstersten Einbildungskraft – der Erfolg blieb aus!

Und als dann endlich, nach den Freiheitskriegen, unter der Macht des nationalen Gedankens, dem sich jener des romantischen „altdeutschen“ Wesens beifügte, eine deutsche Tracht erfunden wurde, so hatte auch diese nur kurzen Bestand bei einigen Schwärmern, sonst aber kein Ergebniß zu verzeichnen, als – daß es jetzt auf der Bühne ein festes, durchaus unhistorisches Gretchenkostüm giebt!

Und alle jene neueren Klagen, was haben sie genützt? Hat die Krinoline, haben die Volants und Festons der sechziger Jahre vor der vernichtenden Kritik der Ehemänner weichen müssen? Gewiß nicht! Die Mode brachte sie, die Mode nahm sie wieder mit fort. Hat die Ueberfülle falschen Haares, welche die Zeit des Chignons auf den Kopf der Frauen häufte, sich entfernt, weil man Abscheu vor dem Schopf fremder unbekannter Menschen, vor den ansteckenden Krankheiten bekam, die aus ihm entsprangen? Gewiß ebensowenig! Kommt morgen eine Mode, die mit eigenem Haar undurchführbar ist, so wuchert wieder die Zeit der falschen Strähnen ebenso, wie vor einigen Jahren viele junge Mädchen nicht abzuhalten waren, sich selbst ihres schönsten Schmuckes durch kecken Scheerenschnitt zu berauben. Die Mode ist der einzige Sieger über die Mode. Da hat die Erwägung, die Gesundheitslehre, der Schönheitssinn nichts mitzureden.

Die Mode will es so und so! Der Befehl ist da, der Ungehorsam mit dem Gelächter aller bedroht – wer wagt es, sich offen zu widersetzen?

Und doch setze ich die Feder wieder an zu einer Klage über die Mode. Nicht gerade über die, welche heute und morgen kommt, sondern darüber, daß wir so gar machtlos ihr gegenüber sind. Mir will scheinen, als wenn sich dies doch ändern ließe, als wenn bisher die Aufmerksamkeit nicht an die rechte Stelle gerichtet gewesen wäre.

Es kommt, wenn ein Haus brennt, nicht bloß darauf an, daß die Spritzen im Gang sind, sondern auch darauf, wohin man spritzt. Der Feuerwehrmann weiß, daß Bäche von Wasser der lodernden Flamme selbst wenig schaden, während gegen den brennenden Balken gerichtet, schwache Strahlen zu löschen vermögen. Man soll den Ursprung des Uebels, nicht die Folgen allein bekämpfen.

Nun bin ich der unhöflichen Ansicht, daß unsere Frauen herzlich schuldlos an ihren Modethorheiten sind, daß sie an ihnen so gut wie keinen thätlichen Antheil haben und daß jene, welche sich für Führerinnen der Mode halten, erst recht nur die Geführten sind.

Denn wie entsteht eine Mode? Glaubt man den Zeitungen, so wird sie in Paris von einer eleganten Dame „kreirt“. Die Sache ist sehr einfach: die Rennen in Longchamps sind angesagt. Es ist Frühlingsanfang. Ganz Paris ist gespannt, was es Neues geben werde. Man weiß, heute ist die große Entscheidungsschlacht der Moden. Man muß Paris an solchem Tage einmal gesehen haben. Der Wagenverkehr an einzelnen Theilen von London ist zu gewissen Stunden ungleich größer, in Rottenrow im Hydepark sieht man mehr und schönere Reiterinnen als auf der Avenue d’Etoile – aber nirgends ist der anmuthige Kampf um den Siegespreis der Eleganz so lebhaft. Die vornehmen Engländerinnen treiben gemeinsam eine Mode bis zu einem gewissen Grade, sie tragen sich sehr ähnlich, haben die Absicht, durch den erst dem aufmerksamen Beobachter bemerkbaren Werth ihrer Kleider an Stoff, Schnitt, Arbeit vornehm zu erscheinen. Die Französin trägt die Kleider im Hinblick auf sich, sie will gefallen und an solchen Tagen auffallen; jede Frau, welche in sich das Geschick empfindet, Neues schaffen zu können, sucht ihr Bestes zu geben. Zu Tausenden fahren die Bewerberinnen im Wettkampf der Eigenartigkeit durch die glänzenden Straßen, welche man in Paris die „Elyseischen Gefilde“ nennt. Welche wird die Siegerin sein? Es bedarf kräftiger Mittel, um aus der Menge heraus aufzufallen. Eines der stärksten ist, anders sich zu kleiden, als die Mode gebietet, ohne unmodern zu sein. Neues muß erfunden werden, das Ausschweifendste wird gewagt. Es sind ja Frauen genug in jener endlosen Wagenreihe, die im Wagniß nichts mehr zu verlieren haben, andere, die der brennende Ehrgeiz verlockt, es jenen gleich zu thun auf die Gefahr hin, für schlechter zu gelten, als sie sind.

Noch streiten sich die Parteien auf den bis Mitternacht überfüllten Boulevards, welche Mode vorgeherrscht habe. Da bringen die Blätter Kunde über die einzelnen Kleider. Ihre Berichterstatter haben wahre Luchsaugen und eine erstaunliche Kenntniß der Sprachweise der Modeblätter. Ein Blick in den vorüberfahrenden Wagen, und sie haben erkannt, wie Madame de A. vom Wirbel bis zur Zehe gekleidet war, und wie die Marquise de B. die „Tunique“ drapiert hatte, auf der sie saß; laut wird die Bewunderung für die neuen Stoffe verkündet, so laut, daß allen Pariserinnen das Herz vor Sehnsucht nach diesen Herrlichkeiten schwillt, und so entschieden, daß der Eingeweihte bald erkennt, welche Feder von den schönen Frauen selbst und welche von den großen Schneidern beeinflußt ist, die in zweiter Linie den Kampf der Eleganz an diesem Tage bestehen.

Und wenn die Frauen dann in die Geschäfte eilen, zu Hunderten, zu Tausenden, wenn die Provinz, wenn das Ausland ihnen folgt, wenn auf einmal endlose Mengen einer bisher wenig gangbaren Stoffart aller Orten gefordert werden – wunderbar, höchst wunderbar! – dann sind auch gerade von diesen Stoffen, welche die Führerinnen der Mode „kreirten“, gewaltige Vorräthe vorhanden. Man hört kaum etwas von einer ungewöhnlichen Preissteigerung in den so heftig begehrten Dingen und man hört ebensowenig, daß die Mode zufällig auf Dinge verfalle, von denen keine Vorräthe vorhanden sind; daß eine Mode nicht habe allgemein werden können, weil die ihr eigenthümlichen Stoffe nicht auf dem Markte gewesen seien. Und dann kommen die großen Verkaufstage der Magazine, in welchen diese ihre Neuheiten vorlegen. Diese mächtigen Bazare sammeln ihre Anziehungskraft auf die entscheidenden Tage. Die Reklame, die Neugierde der Frauen nach den an solchen Tagen neu ausgelegten Waren, die Bewegung auf dem ganzen Markte hat vorbereitend für den Erfolg gewirkt; dann strömt die sehens- und kauflustige Menge durch die Stockwerke des endlosen Geschäftshauses, Tausende von Verkäufern, Ladenmädchen, allzeit hilfsbereiten Dienern keuchen unter den Lasten von Aufträgen, Hunderte von Geschäftswagen führen die neuen Muster in alle Theile der Stadt, und wenn tief in der Nacht der Hauptkassirer das Buch schließt, verzeichnet er wohl den Umsatz von einer Million Franken! Die Mode hat sich der neuen Stoffe bemächtigt!

Es giebt also Menschen, welche ein Ahnungsvermögen dafür haben, welche Mode etwa im nächsten Jahre kommen werde, die dementsprechend Stoffe kaufen, ja es giebt Menschen, welche für eine kommende Mode schon Stoffe anfertigen?! Und wenn man [676] bedenkt, was es heißt, etwa der Vorliebe für gewässerte Seide, die heute besteht, zu genügen, für Tausende, Millionen Frauen diesen Stoff zu beschaffen, die Seidenkokons rechtzeitig einzukaufen, die Farben zu wählen und zu bereiten, die Muster zu zeichnen und für den Webstuhl zurecht zu machen, die Webstühle selbst einzurichten etc., so muß man sich sagen, daß vor einigen Jahren schon jene Modepropheten sich drangemacht haben müssen, das kommende Bedürfniß nutzbringend für sich zu verwerthen.

Ja, die Vermuthung liegt nahe, daß diese im großen schaffenden und spekulirenden Männer nicht bloß die ihnen willkommene Mode in Zittern und Bangen erhoffen, sondern daß sie alles dransetzen, ihr zum Siege zu helfen, damit sie nicht mit ihren Vorräthen sitzen bleiben. Denn was würde aus all den gewässerten Seidenstoffen, kaufte sie die Mode den Fabrikanten nicht ab?

Ich klagte einst bei einem großen deutschen Modewarenhändler darüber, daß er und sein Geschäftszweig von Paris so abhängig seien. Da kam ich aber schön an!

Er sagte mir ganz kurz und bündig: „Ohne Paris sind wir verloren. Wir wüßten dann selbst nicht mehr, was Mode wird, und unsere Damen wären erst recht rathlos. Was glauben Sie denn, was meine feinen Kunden sagen würden, wenn ich sie bäte, sich nach eignem Geschmack zu kleiden? Sie würden mich ganz verwundert anschauen und zu meinem Nachbar gehen, der ihnen zehn Proben als das Neueste anpreist und ihnen die Wahl erleichtert.“

Und darum habe ich mich denn bei diesem Händler einmal aufs Horchen verlegt, um die Kundschaft zu studieren.

Zuerst kam die Baronin F.

„Herr Müller, ich möchte mir ein Kleid in brauner brochirter Seide machen lassen.“

„Gewiß, gnädige Frau, hier habe ich einen Rest vom vorigen Jahre.“

„Einen Rest? Haben Sie nichts Neues?“

„Brochirte Seide ist in Neu nicht erschienen, wir haben hier ein Moiré antique …“

„So, ist’s möglich, brochirte Sachen werden nicht mehr getragen? Ach, bitte, zeigen Sie das Neue, giebt es dies nicht in Braun?“

„Ja, hier ist ein etwas grünliches Braun, fast Grün, eigentlich Meergrün, – garantirt modern, erst gestern eingetroffen!“

„So, vortrefflich! Und zeigen Sie mir etwas Spitzen zur Garnirung!“

„Das Neueste in Besatz sind applizirte Borden. Darf ich Ihnen etwas zu jenem grünen Moiré antique Passendes vorlegen – hier in Saftgrün?“

„Ich hatte eigentlich etwas Gelbliches, etwa crême gewünscht!“

„Natürlich, es steht besser zum Teint von gnädiger Frau! Wie wäre es mit dieser Borde?“

„Die ist aber roth!“

„Nun ja, gelblich roth, paßt aber reizend zum Kleide. Die Farbennuance ist ebenso apart wie modern!“

„Ich will das einmal bei Lampenlicht besehen!“

„Ich bitte hier einzutreten!“

Sie verschwand. Der Kaufmann rieb sich vergnügt die Hände.

„Das ist eine unserer elegantesten Damen bei Hofe,“ sagte er. „Ihr machen viele nach, was sie gewählt hat. Sie hat das, was man einen ‚originellen Geschmack‘ nennt. Sie haben es ja gesehen: braun brochirte Seide mit Cremespitzen wollte sie und grün Moiré antique mit rother applizierter Borde wird sie wählen. Sie kommt wieder – passen Sie auf!“

„Ich meine, die Borde könnte noch einen Stich röther sein!“

„Zu Befehl, gnädige Frau! Hier – gnädige Frau haben wieder außerordentlich geschmackvoll gewählt. Die Kombination wird Aufsehen machen, sehr originell!“

Sie nickte huldvoll.

Und als sie sich mit ihrer Zofe in den Wagen setzte, hörte ich sie sagen:

„Wenn man diesem Müller nicht ab und zu einen guten Gedanken gäbe, so käme er nie vorwärts!“

Die Geschichte machte mich stutzig.

„Einmal mag Ihnen dies gelingen, aber nicht immer!“

„Glauben Sie? Die ganze Kunst des Modehändlers besteht ja darin, die Kundschaft kaufen zu lassen, was Nutzen bringt. Kommen Sie! Ich werde Sie den Verlauf dieser Modenfragen noch weiter beobachten lassen.“

Nach einigen Tagen lauschte ich wieder.

Die Frau Kommerzienräthin J. saß fest auf dem Stuhl vor dem Ladentisch.

„Herr Müller, ich bin sehr böse auf Sie!“

„Weshalb, bitte? Ich bedaure sehr! Ich weiß nicht –“

„Warum haben Sie denn den grünen Moiré antique mir nicht gezeigt, den die Baronin F. auf dem Feste trug? Ich bin eine treue Kundin von Ihnen, aber ich bitte auch . . .“

„Sie werden nicht lange zürnen, gnädige Frau. Wollen Sie sich vielleicht in mein Privatcomptoir bemühen?“

Dort angekommen, entrollt er aus einem noch verpackten Ballen einen grünen blumigen Seidenstoff mit der Miene des sicheren Sieges.

„Nun?“ frug die Kommerzienräthin.

„Soeben eingetroffen! Auch nach Paris ist der Stoff erst in dieser Woche von der Fabrik versendet worden!“

„Und niemand kauft ihn!?“

„Ich versichere Sie – der berühmte Worth selbst . . . “

„Wenn’s nur wahr ist!“

„Ich gebe Ihnen mein Wort!“

„Und wer hat ihn hier schon gesehen?“

„Niemand als Sie, Frau Kommerzienräthin. Ueberzeugen Sie sich, hier habe ich zehn Stück, den Meter zu dreißig Mark. Sie sehen, ich will ein Geschäft damit machen. Wenn Frau Kommerzienrath den Stoff kreiren, ist der Erfolg zweifellos. Bei der Figur, den Farben!“

„Sie sind ein Schmeichler! Es ist aber wieder Grün, ganz wie bei der Baronin!“

Der Kaufmann klingelte einen Bediensteten herbei.

Bringen Sie einmal den neuen Moiré antique!“

Und als er gekommen war, sagte er:

„Sehen Sie, die Farbe ist ja nicht ganz neu, Frau Kommerzienrath hatten ja selbst ein ähnliches Kleid in Crêpe für das Seebad. Das Neue ist hier das Muster, große Ramage, Grün in Grün, das hebt den Stoff außerordentlich. Frau Kommerzienrath werden strahlend aussehen – vielleicht etwas schwarzer Besatz, Silberschmuck, Brillanten, stark gepudert –“

„Wieviel soll ich zahlen? Glauben Sie, ich laufe als Ihre Probiermamsell in der Gesellschaft herum und bezahle das noch mit dreißig Mark für den Meter? Sie wissen, ich kenne das Geschäft! Mein Mann lacht mich aus, wenn ich ihm die Rechnung zeige!“

„Wir wollen erst den Besatz aussuchen. Herr Kommerzienrath wird schon seine Freude haben . . . das andere findet sich . . . “

Ein zierliches junges Mädchen erschien an der Seite einer stattlichen Mama. Sie gingen sicheren Schrittes durch den Laden, jenem Tische zu, auf welchem sie das Gewünschte zu finden hofften. Der Inhaber des Geschäfts begleitete sie und schob ihnen Stühle unter.

„Sie hatten“ begann die Mama „vor einiger Zeit ein Heliotrop, einen leichten Atlas.“

„Der ist mir leider ausgegangen, er wird nicht mehr getragen.“

„Ach bitte, besorgen Sie mir ihn doch! Ich möchte ihn zu einem ganz bestimmten Zwecke haben.“

„Ich fürchte,“ antwortete der Händler, „daß er nicht mehr zu bekommen sein wird, auch bei der größten Mühe. Ich kann auch nicht dazu rathen, denn . . .“

„Aber ich brauche eine ganze Menge davon,“ warf das Fräulein ein. „Wir haben ein Kostümfest, sechs junge Damen . . .“

„Im Augenblick, da fällt mir ein – ich habe in rosa Merveilleux etwas ganz Modernes, wäre das vielleicht . . .?“

„Nein, nein,“ betonte die Mama mit Entschiedenheit, „wir haben das Heliotrop gewählt. Hier ist noch eine Probe davon. Könnten Sie nicht ein Stück fertigen lassen? Wir brauchen sechzig Meter.“

„Bedaure sehr, das ist ganz unmöglich! Die Fabriken sind überbürdet mit Aufträgen. Aber hier ein Satin in Lichtblau dürfte gnädigem Fräulein besser stehen, Heliotrop macht so bleich!“

„Aber Herr Müller,“ sagte diese mit ängstlichem Blick, „Sie sind doch sonst so gefällig. Das eine Stück werden Sie doch machen lassen können. Wir brauchen es so nothwendig!“

„Ganz unmöglich, meine Gnädigste!“

„Ich werde zu Herrn Schulze gehen!“ sagte sie drohend.

[677]

Huzulenjäger.
Nach einem Gemälde von A. Wierusz-Kowalski.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

[678] „Vielleicht hat er einen alten verlegenen Rest, neu kann er es so wenig beschaffen wie ich. Wegen eines Stückes können die Fabriken ihre großen Bestellungen nicht unterbrechen!“

„Aber wenn Heliotrop nun wieder Mode würde?“ frug die Mama. „Sie haben es mir doch früher selbst verkauft.“

„Es wird nicht wieder Mode, gnädige Frau, wenigstens in den nächsten Jahren nicht! Es war überhaupt doch eigentlich eine Verirrung des Geschmackes … Der Kunstsinn schreitet doch vorwärts. Bei den vortrefflichen Kunstschulen, die wir jetzt haben …!“

„Sehen Sie,“ sagte der Kaufmann zu mir, als die Damen von ihrem Vorsatz sich durch alle Rednerkünste nicht abbringen ließen und fortgingen, „sehen Sie, das sind die unangenehmsten, aber auch zum Glück die Kunden der feinen Welt, die am seltensten sind – nämlich die, welche wissen, was sie wollen. Ich kann nur Leute brauchen, die sich erst dann darüber klar werden, was sie bei mir gewollt haben, wenn der Portier die Thür hinter ihnen zumacht. Man kann nicht in allen Stoffen alle Farben auf Lager haben und jedem Querkopf besorgen, was er gerade will. Hätten wir keine feste Mode, so gingen wir schon an den Vorräthen, die wir haben müßten, sicher zu Grunde. In dem Heliotrop habe ich vor drei Jahren ein Bombengeschäft gemacht. Jetzt muß aber einmal Schluß werden. Es ist nicht gut, wenn eine Ware sich zu fest einbürgert; Wechsel, immer Wechsel ist unser Wahlspruch! Ich bin auch zu stark in Seide engagirt. Der Schulze hat aber, so viel ich weiß, noch einen ganzen Posten Heliotrop, der wird sich als gefälliger Mann aufspielen, wenn die Damen wirklich zu ihm gehen, um ihm den Ladenhüter abzunehmen! Ich bin nicht neidisch – mag er den Ruhm haben, in Alterthümern stärker zu sein als ich!“ So schloß er lachend.

„Aber reden Sie nirgends von dem, was Sie hier gehört haben, Herr Doktor, das bitte ich mir aus!“ rief er mir noch nach. – –

Diese Beobachtungen waren mir doch recht überraschend. Also selbst diejenigen Damen, welche unsere Zeitungsberichterstatter für die Sturmfahnen der Mode ausrufen, selbst diese sind so wenig schuld an dem, was da kommt!

Ist’s nun in Paris anders?

Gewiß nicht. Auch dort wählen die tonangebenden Schneider die Damen zu ihren Stoffen, während die Damen glauben, die Stoffe zu wählen. Die ganz feinen Schneider sind sogar sehr vorsichtig. Erstens arbeiten sie nicht für Damen, welche ihnen nicht empfohlen sind; es soll nicht jede Frau sagen können: ich habe ein Kleid von dem und dem großen Meister. Und zweitens lassen sie sich nicht viel in ihr Fach hineinreden. Sie fühlen sich als Künstler, die das Recht des Ichs haben. Die Frau ist der zu schmückende Gegenstand. Der Meister betrachtet sie von oben bis unten und entwirft seinen Plan. Da giebt’s nicht viel Widerrede, selbst nicht für sehr vornehme Kundinnen. Der Schneider vertheidigt in jedem Kleide seine Geschäftsehre. Er darf nicht aus Gefälligkeit Geschmacklosigkeiten begehen, die doch ihm zur Last fallen würden. Arbeiten in Paris und London und zum Theil auch schon in Berlin und Wien die feinsten Herrenschneider doch auch nicht für jedermann! Sie wollen nicht viele Anzüge fertigen, sondern jeden einzelnen recht gut und entsprechend theuer. Es liegt ihnen daran, daß ihre Kunden gut gekleidet sind und daß sie somit an Zahlkraft, nicht an Zahl wachsen. In noch höherem Grade ist das bei den Frauenschneidern der Fall. Auch sie sind in den großen Städten nicht jene bescheidenen Gestalten, mit welchen die Frauen der mittleren deutschen Kreise zumeist noch zu thun haben: jene schneidernden Mädchen, die von Haus zu Haus gehen, jene kleinen Meister, die neben ihren Gesellen in Hemdsärmeln auf dem Tisch am Fenster sitzen. Auch bei uns haben die großen Geschäftsleute schon vielfach das Feld erobert, welchen der einzelne Kunde nur ein Bruchtheil der Kundschaft ist, den er in seinem Sinne ausbeutet. Die Mode ist von diesen Leuten längst fertig beschlossen, „kreirt“, ehe selbst eine von ihren „Königinnen“ weiß, was sie bringen wird. Es ist die verfassungstreueste Regierung der Welt, welche diese Damen führen: die Politiker der Mode kämpfen, riugen, beschließen, setzen durch – den Damen wird der fertige Beschluß zur Verkündigung übergeben, und die Menge jubelt ihnen zu als den Förderern des Geschmacks. Dem Könige die Ehre, den Ministern die Arbeit!




Ein deutsches Mädchen auf dem Kriegspfade.

Von Dagobert von Gerhardt (Amyntor).

Ja, meine Herren, – sagte der verabschiedete alte Oberst – Sie werden mir recht geben, denn Sie haben ja auch alle Pulver gerochen – der Krieg versetzt uns oft in die merkwürdigsten Lagen und schafft Verhältnisse, die keiner von den Romanschreibern jemals erfinden könnte. So erinnere ich mich an eine Geschichte, die mein kommandirender General von seinem Kutscher, den er unmittelbar nach dem französischen Kriege angenommen hatte, zu erzählen wußte … ich will Ihnen diese Geschichte wieder erzählen, zumal ich selbst, wenn auch nur als Nebenperson, in derselben vorkomme.

Also, es war in der zweiten Augustwoche des großen Jahres 1870, als auf dem Vormarsche gegen Metz eine Kompagnie Infanterie in ein eben erst von seinem Besitzer verlassenes Gehöft gerathen war. Der Gefreite Friedrich Dornbusch, ein geborener Rheinländer, der aus einem kleinen Neste seiner Heimath, wo er in einem Fuhrgeschäft als Kutscher gedient hatte, wieder zur Fahne einberufen war, hatte in einem Stalle dieses Gehöftes eine hinter verrottetem Stroh und Heu versteckte Holzkiste gefunden.

„Donnerwetter, Jesaias!“ rief er einem Unteroffizier zu, der seine Nase zur Stallthür hereinschob, „hier hat ein Franzose seine Schätze verborgen!“

Der Unteroffizier, der die nicht gerade dienstmäßige Anrede zu überhören schien, trat ungläubig lächelnd näher. Er hieß Jesaias Schellbaum, war seines Zeichens Tischler und seiner Sprache nach unverkennbar ein Schlesier. Auch er war eine Zeit lang in jenem rheinischen Neste, wo Dornbusch seinen Lebensunterhalt fand, thätig gewesen; er war dort mit dem großen und ungewöhnlich starken Kutscher näher bekannt geworden und beide hatten sich bald nur noch mit ihren Vornamen angeredet. So wurde es denn jetzt dem Gefreiten Dornbusch herzlich sauer, zu dem allzeit muntern und etwas prahlerischen Jesaias „Herr Unteroffizier!“ zu sagen, und auch Jesaias mußte sich immer erst seiner Tressen und seiner durch dieselben bedingten Würde bewußt werden, um seinen früheren Bekannten nicht wie sonst mit dem gemüthlichen „Fritze!“, sondern mit einem gemessenen „Gefreiter Dornbusch!“ anzureden.

„Da wird auch nichts Besonderes drin stecken, Fritze! Wart’ a bissel, mer wullen sie aufmachen! Wozu bin ich denn Tischler?“

Schon hatte der Unteroffizier sein Seitengewehr gezogen und schob die Klinge zwischen Kiste und Deckel. Mit einigen ruckartigen Armbewegungen sprengte er den Deckel ab, so daß die verbogenen Drahtstifte aus demselben herausstarrten; dann griff er mit kühner Hand in das Stroh, das in der Kiste sichtbar geworden war. Auch Friedrich Dornbuschs kräftige Rechte wühlte prüfend in den Halmen, und bald zog sie eine in buntes Seidenpapier gehüllte, dickleibige Flasche hervor.

„Hurrah, Champagner! Den können wir brauchen, Jesaias! … eins, zwei, drei … sechs Flaschen in einer Reihe …“

„Und zwei Reihen sind es,“ fiel der Unteroffizier ein, der immer tiefer wühlte, „das macht nach Adam Riese zwölf Butteln. Weißt Du was, Fritze? Die kneipen mer zwei beide ganz allein aus.“

„Du, das sollte uns verflucht sauer werden! Dieser französische Champagner hat den Teufel im Leibe – ich kenne ihn; habe ihn einmal bei einer Hochzeit verkostet, wo mir der Lohndiener eine Buttel heimlich auf den Wagen heraufreichte … Himmeldonnerwetter! ich weiß heute noch nicht, wie ich damals mit meiner Karre nach Hause gekommen bin! Nein, nein, keine Dummheiten! Weißt Du? diese vier Pullen bringen wir unserm Hauptmann …“

„Und diese vier unsern Lieutenants!“ stimmte Jesaias sofort bei, „die letzten vier aber – straf’ mich Gott! – stechen mer allein aus; warum hat uns dieses französische Narrenvolk aus unserer Ruhe aufgestört? Strafe muß sein!“

[679] Er hatte einer Flasche bereits mit seinem Säbel den Kopf abgeschlagen und trank in vollen Zügen von dem hervorschäumenden Naß.

„O, o, o! wie schade! Die Hälfte läuft ja über!“ bedauerte Dornbusch und griff nun auch seinerseits begierig nach der angebrochenen Flasche. „Auf Dein Wohl, Jesaias – – Herr Unteroffizier!“

Jesaias Schellbaum richtete sich kerzengerade auf und drehte sein blondes Schnurrbärtchen, herablassend lächelnd, durch die Fingerspitzen.

„Sie haben recht, Gefreiter Dornbusch; in Feindes Land sind mer allzeit im Dienst. Ich trinke den Rest auf Ihre Gesundheit.“ Und er hob die Scherbe an den Mund und leerte sie, ohne abzusetzen.

Der Gefreite holte nun sein Taschenmesser hervor und langte nach einer zweiten Flasche.

„Auf einem Fuße können wir nicht stehen; diese hier trinken wir noch auf Seine Majestät den König und auf den Sieg unserer gerechten Sache …“

„Und auf gesunden Heimmarsch, Fritze!“ ergänzte der Unteroffizier, der schon wieder die Dienstmiene aufgegeben hatte und gemüthlich wurde.

„Mir auch einen Schluck!“ rief ein dritter Soldat, der eben in der Stallthür erschienen war und verwundert den Vorgang bemerkte.

„Sollst ihn haben, mein Junge,“ versetzte der Unteroffizier, „aber erst von der nächsten; diese hier pfeife ich mit dem Gefreiten Dornbusch ganz allein aus … hi, hi, hi!“

„Lassen Sie ihn doch mittrinken, Herr Unteroffizier!“ sagte Dornbusch, der nicht ohne Besorgniß die steigende Munterkeit seines Vorgesetzten bemerkte, „wir haben ja Stoff genug.“

„Sie haben zu schweigen, Gefreiter, und Ordre zu pariren!“ schnarrte Jesaias in komischem Ernst. Er nahm die eben geöffnete Flasche dem andern aus der Hand und sagte mit erhobener Stimme: „Auf alle blonden Mädchen an beiden Ufern des Rheines!“

„Ja, darauf trinke ich mit!“ rief Dornbusch begeistert.

„Ha, ha!“ lachte Jesaias, „wie dem Fritze die Augen funkeln! Hast Du … haben Sie denn auch so ’was Blondes zu Hause, Gefreiter Dornbusch? he?“

„Freilich habe ich das! Das schönste Mädchen in X! Und auf die wollen wir diese Buttel leeren!“

„Halt, halt! immer hübsch sachte!“ lallte der Unteroffizier, der mehr und mehr berauscht wurde, „das schönste Mädchen in X? Die müßte ich doch auch kennen! Wie heißt sie denn? Dort giebt’s keine schöne Dirne, die mir nicht schon ihr Schnäbelchen geboten hätte.“

„Ho, ho!“ fuhr Dornbusch auf, „die Marie Segner aber nicht! Die ist meine Braut und kein anderer als ich hat sie je küssen dürfen.“

„Die Marie Segner?“ prahlte der trunkene Unteroffizier, den dieser Einspruch des Gefreiten reizte, „ach, du lieber Gott! die kenne ich ganz genau … ist ein schmuckes Mädel, das muß wahr sein! Dem ersten besten fällt sie nicht um den Hals … aber dem Tischler Jesaias Schellbaum – dem hat sie doch nicht widerstehen können!“

„Das lügst Du, Schellbaum!“ rief wüthend der Gefreite und packte ihn am Arme, „gleich nimmst Du vor diesem hier,“ er deutete mit einer Kopfbewegung nach dem hinzugekommenen Kameraden, „Deine Lügen zurück oder … Du sollst mich kennen lernen!“

Unwillig machte sich der Unteroffizier frei, indem er einen Schritt zurücktrat.

„Gefreiter Dornbusch, wollen Sie sich an Ihrem Vorgesetzten vergreifen?“

„Der Teufel ist mein Vorgesetzter! Wenn Du nicht widerrufst, was Du gegen mein Mädchen gesagt hast, so schlage ich Dir den Schädel ein!“

„Sei vernünftig, Dornbusch!“ suchte der dritte Soldat den Zornbebenden zu beruhigen, „mache Dich nicht unglücklich!“

„Er ist ein Narr!“ stammelte der Unteroffizier, „wegen der blonden Segner! Wegen der! Hi, hi! Die …“

Weiter kam er nicht. Der feste Kistendeckel, den Dornbusch ergriffen hatte, sauste durch die Luft und auf den Schädel des Trunkenen. Ein harter Schlag, ein kurzes Aufstöhnen, und Jesaias Schellbaum brach wie vom Blitze gefällt zusammen.

„Barmherziger Gott! Er hat ihn erschlagen!“ schrie der entsetzte Unbetheiligte und stürzte aus dem Stalle.

Fünf Minuten später stand der Gefreite Dornbusch, durch den Schreck völlig ernüchtert, vor seinem Hauptmann.

„Zum Teufel!“ sagte der Hauptmann, „wie konnte sich ein Gefreiter so weit vergessen? Wenn Sie auch, wie es scheint, gereizt worden sind, so mußten Sie doch so viel Disciplin im Leibe haben, um sich nicht so unverantwortlich hinreißen zu lassen! Wo in aller Welt hatten Sie denn Ihre fünf Sinne? Einem Unteroffizier der eigenen Kompagnie den Schädel einzuschlagen! Man hat ihn für todt weggetragen! Das Kriegsgericht wird Ihnen den Prozeß machen, und hoffen Sie nicht, daß Sie billig davonkommen; Ihr Leben ist verwirkt!“

Als der Gefreite entwaffnet und verhaftet wurde, brummte der Hauptmann, der mißgestimmt zusah: „Jammerschade um den Kerl! Der schneidigste Gefreite meiner Kompagnie! Hätte sich das Eiserne Kreuz holen können und muß nun so elend zu Grunde gehen!“ –

Die Kompagnie trat den Weitermarsch an. Da es in Feindesland keinen Untersuchungsarrest giebt, so wurde Dornbusch, dem Flinte und Seitengewehr abgenommen worden waren, am Ende der Kompagnie durch eine besondere Wache mitgeführt. Im Bivouac wurde er der Lagerwache übergeben. Wortlos ließ er alles mit sich geschehen. Die Kameraden betrachteten ihn scheu und nicht ohne geheimen Schauder; sie begriffen die Schwere seines Vergehens und ahnten, daß man zur Aufrechterhaltung der Disciplin an ihm ein abschreckendes Beispiel aufstellen würde.

Als die Sterne auf die ums schwelende Wachtfeuer hockende Lagerwache niederfunkelten, gedachte der arme Verhaftete seines fernen Liebchens. O, wenn er ihr noch einen einzigen Abschiedskuß auf die frischen Lippen drücken, noch ein einziges Mal seine Wange an die ihre legen dürfte! Er hatte nicht an ihr gezweifelt; er wußte, daß sie rein und treu war; zur Vertheidigung ihrer jungfräulichen Ehre hatte er die rächende Hand erhoben; wenn er in der Züchtigung eines trunkenen Schwätzers und Aufschneiders, gegen seinen Willen, zu weit gegangen war, sie würde ihn nicht als Todtschläger verurtheilen, sie würde ihm verzeihen und ihre herzliche Theilnahme nicht versagen. Aber sie erfuhr wohl gar nicht, weshalb man ihn – – – Wie lange war es ihm noch vergönnt, das Licht der Sonne und das Gefunkel der Sterne zu erblicken? Bald, das weiß er, naht die Stunde, wo man ihn vor das Kriegsgericht fordern wird; oft genug hat er von dem abgekürzten Verfahren solcher Gerichte erzählen gehört: Anklage, Vernehmung der Zeugen und Urtheil folgen einander auf dem Fuße, und ist das Todesurtheil gesprochen, dann wird nicht lange gefackelt – eine Grube im Sande ist bald gegraben; er muß vor ihr niederknien oder kann auch, wenn er die Kraft dazu hat, vor ihr stehen bleiben – eine krachende Salve – und vom heißen Blei durchbohrt, sinkt er ins offene Grab. Ein Schleier webt sich vor seinen Augen; er wischt mit dem Handrücken über die Wimpern und ein paar funkelnde Tropfen bleiben an seiner Hand haften. Pfui Teufel, Dornbusch! Du wirft doch nicht greinen wie ein Frauenzimmer! Einen Tod sind wir alle schuldig, der eine früher, der andere später; wer weiß, ob der Sergeant dort, der die Wache befehligt und mich, den Todgeweihten, bewacht, nicht noch eher ins Gras beißt als ich!

„Herr Sergeant!“ hob er mit leiser Stimme an, „Herr Sergeant!“

„Was giebts?“ fragt dieser freundlich zurück; er hat soeben ähnliche Betrachtungen angestellt – ihm sitzt ein Weib nebst einem Kindlein daheim und er hat sich im stillen gefragt, ob er sie wohl noch einmal wiedersehen werde – „was wollen Sie, Dornbusch?“

„Herr Sergeant, ich hätte eine große Bitte; könnten Sie mir wohl einen Zettel Papier schenken? Einen Bleistift habe ich selber; ich möchte nur noch einen letzten Gruß an meine Braut schreiben.“

„Nun,“ brummt der Sergeant, der ein eigenartiges Zucken des Herzmuskels verspürt, „wenn ich auch nicht akkurat weiß, ob das statthaft ist, ich denke, ich werde es verantworten können. Hier ist ein Briefbogen und ein Umschlag“ – er hatte beides aus seinem Tornister hervorgekramt – „rücken Sie nur näher ans [680] Feuer und schreiben Sie getrost an Ihre Liebste; Sie können sie auch von mir grüßen, wenn ich sie auch nicht kenne. Horch! da vorn knallt es schon wieder! Morgen früh wird es wohl etwas geben; wer weiß, wer morgen abend von uns noch übrig ist!“

Friedrich Dornbusch meldete seiner blonden Marie, was ihm begegnet war, und nahm von ihr Abschied für dieses Leben. Als er den Brief gefaltet und adressirt hatte, übergab er ihn dem Sergeanten mit der Bitte, ihn doch unter die andern Kompagniebriefe zu stecken und so in die Hände der Feldpostordonnanz gelangen zu lassen. Der Brief wurde auch richtig schon am andern Morgen befördert und kam ziemlich schnell nach X, wo er dem Herzen eines flachshaarigen Mägdleins eine gar bittere Pein bereitete.

Der Sergeant hatte übrigens recht prophezeit. Es kam am nächsten Tage zu einem ungestümen Kampfe bei Courcelles, zu jener Schlacht, die gewöhnlich nach den Orten Colombey-Nouilly benannt wird. Jedes Gewehr war von Wichtigkeit. Der Hauptmann sprengte an das Ende seiner noch im Anmarsch begriffenen Kompagnie und befahl, den Gefreiten Dornbusch für die Dauer des Gefechts zu bewaffnen und in Reih und Glied zu stellen.

Der so überraschend, wenn auch voraussichtlich nur für kurze Zeit Erlöste kam sich wie ausgetauscht vor. Welch unschätzbar hohes Gut ist doch die Freiheit, selbst die Freiheit, zu kämpfen und vielleicht den Tod zu finden! Er hätte aufjubeln und seinen beiden Nebenleuten abwechselnd um den Hals fallen mögen! Er durfte wieder seine Zündnadel führen; er durfte sie laden und ihr zischendes Blei gegen die Feinde seines Vaterlandes versenden! O du grause, herzschwellende Lust des männermordenden Kampfes!

„Der Schützenzug schwärmen!“ erscholl das Befehlswort. „Dorthin! gegen das Gehöft!“

Und auseinander stob der Zug und wimmelte und knallte vorwärts über Hecken und Gräben, immer näher gegen eine Meierei, deren steinerne Umfassungsmauer von den rührigen Rothhosen in aller Eile mit Schießscharten versehen worden war. Mörderisch schlug der Chassepothagel in die braven blauen Jungen und knickte manch hoffnungsvolles Leben, das hoch und stolz aufgeschossen war zur Freude liebender Eltern oder einer schwärmenden Braut. Die heftig vorstürmende Bewegung wurde aber mählich langsamer; hier und da duckte sich ein Schütze und blieb hinter einer Erdfalte liegen – man wußte nicht, war er getroffen oder wollte er Deckung suchen.

„Vorwärts! vorwärts!“ schrie Dornbusch in glühendem Kampfeseifer, „vorwärts, Kameraden! Stopfen wir der grrrande nation das grrrooße Maul!“

Einige lachten; alle aber fühlten sich hingerissen durch das Beispiel des löwenkühnen Rheinländers, der in immer gleicher Geschwindigkeit voranstürmte und dem sie begeistert nachfolgten.

„Hurrah! Hurra – a – ah!“ Sie hatten die Mauer des Gehöftes erreicht. Man steckte die Zündnadeln von außen durch die Schießlöcher und knallte den abziehenden Franzosen nach; Dornbusch aber schwang sich über die Mauer, räumte die Hindernisse fort, die das Hofthor versperrten, riß einen Thorflügel auf und rief:

„Kommen Sie ’rein in die gute Stube! So! die hätten wir gesäubert! Und nun dem Feinde nach! Hurrah, wer folgt mir?!“

Der Sergeant, der zur Nacht die Lagerwache gehabt hatte, brummte kopfschüttelnd: „Dummes Zeug! Wir bleiben hier und schicken der Gesellschaft unsere blauem Bohnen nach. Dorthin, an die jenseitige Mauer! Was die Rothhosen können, können wir auch; wir schlagen dort ebenfalls Schießscharten …“

Er beendete den Satz nicht; er warf beide Arme in die Luft und fiel vornüber zur Erde; eine Kugel hatte ihm das Herz durchbohrt.

Dornbusch beugte sich über ihn und sah, daß er todt war. „Nun ist er mir doch zuvorgekommen!“ murmelte er halblaut zwischen den Zähnen. Dann richtete er sich auf und bat die Kameraden, den Körper des Gefallenen an der Mauer zu bergen. Vorsichtig legten sie ihn dort nieder, als gälte es, dem Empfindungslosen jede harte Berührung zu ersparen.

„Gott schenke ihm den ewigen Frieden!“ sprach Dornbusch feierlich und lüftete seinen Helm.

„Amen!“ erklang es im Chor. Auch die Kameraden hatten einen Augenblick ihre Häupter entblößt.

„Und nun weiter!“ hob Dornbusch wieder an, „wir geben den Rothhosen das Geleit! Die Arbeit, die wir heut thun, bleibt uns morgen erspart! Vorwärts!“

Das Häuflein stürmte durch das Gehöft und auf der anderen Seite hinaus, dem abziehenden Feinde nach.

Der den Zug befehligende Lieutenant, der mit dem größten Theil seiner Leute den Westrand der genommenen Meierei besetzt hatte, sah, wie eine Sektion unter Führung des Gefreiten Dornbusch vorbrach.

„Hier geblieben!“ rief er den Kampfberauschten nach, „wir müssen uns erst sammeln.“

Sie hörten nicht. Da verließ der Offizier seine Deckung und lief hinter den Durchgängern her.

„Seid ihr denn taub und blind? Himmeldonnerwetter, zurück!“

Die Sektion stutzte. Dornbusch kehrte sich um und bemerkte den athemlos herankommenden Zugführer.

„Sammeln!“ rief dieser.

„Kehrt! sammeln!“ wiederholte Dornbusch, und die Sektion wandte sich und zog sich wieder nach dem genommenen Gehöfte zurück. Aber ein heulender Kugelhagel wurde ihr nachgesandt.

„Unser Lieutenant!“ rief plötzlich ein Soldat und deutete rückwärts.

Der Offizier war zusammengebrochen und lag verlassen und hilflos auf der ungedeckten Ebene, preisgegeben den Geschossen des in kurzer Entfernung sich wieder einfindenden Feindes.

„Ich hole ihn!“ sagte Dornbusch, „Ihr andern, marsch, marsch ins Gehöft!“

Die Sektion war verschwunden. Ueber die Wiese vor den Häusern schritt stolz und aufrecht der Gefreite bis zu dem ungefähr zweihundert Schritt entfernt liegenden Gefallenen. Aus dem Wäldchen jenseits der Wiese zischte eine Chassepotkugel um die andere nach dem todesmuthigen Manne. Er lächelte der Gefahr und schritt so ruhig vorwärts, als ob ihn nur Mücken umschwärmten. Was war ihm der Tod auf dem Felde der Ehre? Ein herzlich willkommener Freund, der ihn erretten würde vor der Schmach eines Kriegsgerichtes und vor dem schimpflichen Ende eines Verbrechers!

Aber dieser Freund war treulos; er hatte wohl den armen Sergeanten und manch anderen tapferen Kameraden vom Schützenzuge gefällt; er hatte dort nach dem jugendfrischen beherzten Lieutenant die knöcherne Hand ausgestreckt; den Gefreiten Dornbusch aber wollte er nicht bemerken, er schonte ihn, obgleich dieser ihn mit allen Fibern seines Herzens herbeisehnte.

„Sind Sie verwundet, Herr Lientenant?“ fragte Dornbusch und knieete neben dem Stöhnenden nieder.

„Sie? Dornbusch?“ hauchte dieser und sah den Retter mit matt aufglänzendem Auge an. „Das lohne Ihnen Gott, daß Sie mich hier nicht liegen lassen wollen! Ich bin in die Brust geschossen … schlimm genug! Aber wenn ich in die Hände des Feindes fiele, das wäre noch schlimmer! Helfen Sie mir!“

„Ich trage Sie durch Feuer und Wasser, Herr Lieutenant, durch Himmel und Hölle, wenn’s sein muß!“ Er umfaßte den Verwundeten und hob ihn mit seinen herkulischen Armen ohne besondere Anstrengung auf.

„Dann lieber in den Himmel,“ lächelte der Offizier, den der Eifer seines Getreuen rührte, „oder noch besser, nach dem Verbandplatze! Ich bin ja erst zweiundzwanzig Jahre und denke, ein so junges Fell wird wieder geflickt werden können.“

Der Hauptmann, der zu seinem Zuge vorgeeilt war, stand hinter der Gehöftmauer und sah, wie der Gefreite Dornbusch den verwundeten Lieutenant durch den Kugelregen so besorgt zurücktrug, wie etwa eine Mutter ihr Kind getragen haben würde.

„Jammerschade um den braven Jungen!“ brummte er in den Bart, während ihm die kampferhitzten Augen feucht schimmerten, „ich schlage ihn, hol’ mich der Teufel! zum Kreuze vor, und wenn er es auch nur eine Woche lang tragen sollte!“ –

Das französische Heer hatte vor der Ueberlegenheit der deutschen Waffen das freie Feld nicht mehr behaupten können; es hatte sich in die Feste Metz zurückgezogen und hauste dort wie ein fabelhaftes Ungethüm in seiner Höhle. Ab und zu öffnete es ein Loch in seinem Schlupfwinkel und streckte seine riesigen Fangarme in Gestalt hervorbrechender Kolonnen aus oder es suchte uns sein ätzendes Gift, in Form von zischenden Granaten, in die Augen zu spritzen; wir aber standen fest und lockerten den Kreis nicht, in dem wir es eingeschlossen hielten.

[681]

Morgen am Zürichersee.
Nach einem Gemälde von R. Koller.

[682] Eines Nachmittags in der zweiten Hälfte des Augusts – der andauernde Regen der letzten Zeit hatte gerade einmal nachgelassen – ritt ich gemächlich hinter der vordersten Einschließungslinie entlang.

Ich war im Divisions-Stabsquartier gewesen und wollte wieder zu dem Bataillon zurück, das ich befehligte. Mit manchem guten Kameraden, den ich unterwegs antraf, tauschte ich Gruß und Händedruck. Ein Major, mit dem ich zusammen Kadett gewesen war, hielt mich in seinem Bivouac fest. „Du mußt ein Stündchen hier bleiben,“ bat er dringend, „ich habe eine Kiste Rothwein erwischt und wir wollen ein Glas leeren auf den Sieg unserer Waffen.“

Ich stieg ab, übergab mein Pferd einem Trainsoldaten und setzte mich mit meinem Kameraden ans Lagerfeuer. Ehe wir es merkten, war der Abend hereingesunken. Blaue Schatten hatten sich über das Gelände gebreitet; am verschwimmenden Horizonte standen in dunklen riesenhaften Massen die Außenforts der von uns eingeschlossenen Festung.

„Ich muß jetzt zu meinen Leuten,“ sagte ich aufstehend und mich nach meinem Pferde umsehend, „da vorn fängt es wieder stärker zu knallen an; wer weiß, was es die Nacht noch für uns giebt!“

„Ich geleite Dich ein Stück,“ versetzte mein Freund.

Als ich aus dem Bivouac ritt, schritt er neben mir her.

„Dort hinaus, bei der Lagerwache vorbei! Du findest dort festeren Boden; hier nebenan ist das Erdreich vom Regen ganz aufgeweicht und gleicht einem Sumpfe.“

Bei der Lagerwache vorüber reitend, bemerkte ich einen Gefreiten ohne Waffen, der auf dem Mantel, den er angezogen hatte, das Eiserne Kreuz trug. Ich grüßte den Mann und rief ihm ein „Gratuliere“ zu. Mein Begleiter seufzte, und als wir aus Hörweite der Wache waren, sagte er bekümmert: „Der Kreuzritter, den Du da sahst, macht mir schweres Herzeleid; morgen soll Kriegsgericht über ihn gehalten werden; er hat im Streit einen Unteroffizier niederschlagen.“

„O, das thut mir leid! Erzähle doch, wie ging das zu?“

Und nun erfuhr ich die ganze Geschichte. Als ihm sein Kommandeur vor versammeltem Bataillon das Kreuz auf die Brust geheftet hatte, war er in Thränen ausgebrochen. „Das Kreuz gebührt mir nicht,“ – hatte er bescheiden abgewehrt – „es war nicht Muth, daß ich den Kugelregen nicht fürchtete, ich wollte ein ehrliches Ende finden.“

„Gefreiter Dornbusch,“ hatte ihm der Major erwidert, „diese Anspruchslosigkeit ehrt Sie um so mehr. In meinen und Ihrer Kameraden Augen haben Sie sich durch Ihre Tapferkeit völlig rein gewaschen und Ihr Vergehen wider die Disciplin wett gemacht. Die Bestrafung durch das Kriegsgericht wird Ihnen freilich nicht erlassen werden; aber, komme auch, was da kommen mag, tragen Sie bis dahin das Kreuz in Ehren und seien Sie versichert, daß wir alle Ihnen ein gutes Andenken bewahren werden.“

Der Gefreite hatte geschluchzt wie ein Kind und dem ganzen Bataillon war das Wasser in die Augen getreten. Er hatte sich über die Hand des Kommandeurs gebeugt und sie an seine Lippen führen wollen; dieser aber hatte ihn umarmt und auf die Wange geküßt.

Noch jetzt, da mir mein Freund die Geschichte erzählte, zitterte ihm die Stimme.

„Und wenn man ihn auch kriegsgerichtlich über den Haufen knallt,“ sagte ich bewegt, „er wird doch einen schönen Tod sterben, denn er wird das Ehrentreuz mit in die Grube nehmen.“

Wir drückten uns die Hand und schieden von einander. Mein Kamerad kehrte zu seinem Truppentheil zurück und ich ritt weiter, um zu meinen eigenen Leuten zu gelangen.

Es wurde immer dunkler und stiller; nur ab und zu sauste eine heulende Granate vom St. Julien oder von Plappeville herüber und störte den feierlichen Frieden der hereinbrechenden Nacht. Ich sann über den Begriff der Tapferkeit nach. Der Gefreite Dornbusch hatte meiner Ansicht nach gar nicht so unrecht, wenn er seine Gleichgültigkeit gegen die feindlichen Kugeln nicht als Todesmuth ausgelegt sehen wollte; jemand, der verzweifelnd den Tod sucht, kann füglich nicht mehr „tapfer“ genannt werden; „tapfer“ ist nur der, der den Tod nicht sucht und dennoch auch nicht fürchtet. Aber daß der schlichte Soldat diesen feinen Unterschied gemacht und frei von aller Eitelkeit seinem Empfinden so offenen Ausdruck gegeben hatte, das verlieh ihm in meinen Augen einen Adel der Gesinnung, der vielleicht noch mehr werth war als bloßer Muth.

Ein Plätschern und ein halb unterdrücktes Stöhnen machte mich aufmerksam. Mein Auge suchte die Dunkelheit zu durchdringen und gewahrte irgend etwas Helles auf der Erde, das sich hin und her zu bewegen schien. Mein Pferd stutzte und wollte nicht recht vorwärts. Unwillkürlich fuhr ich mit der Hand nach meiner Satteltasche, wo der Revolver steckte, und rief gebieterisch:

„Wer ist da?“

Eine klägliche weibliche Stimme antwortete mir:

„Ach mein Gott, schießen Sie nicht! Ich bin ein Mädchen, das sich verirrt hat … beinahe wäre ich hier in den Graben gestürzt.“

Ein Verdacht stieg plötzlich in mir auf. Ich drängte mein Pferd an die nächtliche Umhertreiberin heran und fragte nicht ohne eine gewisse Schadenfreude:

„Es ist Ihnen wohl nicht gerade erwünscht, mein schönes Kind, daß ich Sie hier abfasse? Sie haben Zeit und Ort vortrefflich gewählt; ohne meine Begegnung wären Sie in einer halben Stunde drüben bei den Franzosen gewesen. Sie sprechen dazu ein so vortreffliches Deutsch, daß eine arglose Seele in Ihnen nimmermehr eine Kundschafterin vermuthen würde. Bitte, begleiten Sie mich gefälligst, und zwar immer hübsch dicht neben meinem Pferde; sollten Sie mir entlaufen wollen, so würde ich so unhöflich sein und mit diesem Revolver hinter Ihnen herschießen.“

„O! Sie halten mich doch nicht für eine Spionin, Herr … Herr … Herr Offizier? Ich weiß nicht, was der Herr ist … aber wenn Sie ein preußischer Offizier sind, dann erbarmen Sie sich einer unglücklichen Landsmännin! Ich suche den kommandirenden General, unter dem das Regiment meines Bräutigams steht.“

„Und wer ist Ihr Bräutigam?“

„Der Gefreite Dornbusch von der nten Kompagnie des nten Regimentes.“

Betroffen hörte ich diesen Namen.

Um vieles milder fragte ich:

„Wie in aller Welt kommen Sie denn hierher?“

„Ich komme direkt aus X“ – sie nannte das rheinische Oertchen, das mir mein Freund, der Major, vorhin als Heimath des Unglücklichen bezeichnet hatte. „Tag und Nacht bin ich gelaufen, bis ich mich nach Saarbrücken durchgefunden hatte; dort hat mich ein barmherziger Johanniterritter, dem ich den Zweck meiner Wanderung erzählte, auf der Bahn ein Stück mitgenommen; als die Bahnfahrt zu Ende war, habe ich mich von einem Truppentheil zum andern durchgefragt und so bin ich endlich hierher gekommen. Hier in der Nähe – ich habe den französischen Namen des Dorfes vergessen – soll der kommandirende General liegen; wenn ich mich in der Dunkelheit nicht verirrt hätte, wäre ich vielleicht längst am Ziele; bitte, helfen Sie mir auf den rechten Weg! Es handelt sich um Leben und Sterben meines Bräutigams … o mein Gott! Wenn ich nur nicht schon zu spät komme!“

Sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Das war Wahrheit, was sie mir da erzählt hatte; solche Töne konnte Lüg und Trug nimmermehr finden. Und dennoch muthete mich ihre Erzählung wie ein Märchen an. Ein junges schwaches Frauenzimmer, ohne Schutz und Beistand, fern von der Heimath, in Feindes Land, mutterseelenallein auf dem großen leichenbedeckten Schlachtfelde zweier Nationen! Noch lagen die unbeerdigten Leichen zahlreicher Menschen und Thiere an den Wegen und in den Ackerfurchen; und über dieses grausige Golgatha wanderte der schwache Fuß eines rheinischen Mädchens, das – o rührende Herzenseinfalt! – den hohen Vorgesetzten ihres Liebsten zu finden strebte, weil sie glaubte, mit ihrem kindischen Flehen das Unheil vom Haupte eines dem Tode Geweihten abwenden zu können! Es wäre zum Lachen gewesen, wenn es nicht so unendlich herzbewegend, so über alle Maßen traurig gewesen wäre.

(Schluß folgt.)




[683]

Deutsche Städtebilder.

Posen.
Von C. Fontane.       Mit Federzeichnungen von C. Ludwig.

Der Dom.

Wie kommt Posen in die Reihe der deutschen Städtebilder? So werden viele verwundert fragen, wenn sie die Ueberschrift dieser Aufzeichnungen erblicken. Im Auslande und selbst im Süden und Westen des lieben Vaterlandes ist vielfach die Meinung vorherrschend, daß Posen nicht nur seinem Ursprunge nach eine polnische Stadt sei, sondern auch noch heutigen Tages in überwiegendem Maße den Charakter einer solchen sowohl in seiner äußeren Erscheinung wie in den Nationalitätsverhältnissen seiner Bevölkerung aufweise, daß man es nur seiner politischen Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche halber allenfalls als „deutsche Stadt“ bezeichnen könne.

Nichts ist irriger als diese Anschauung, wie wir im nachfolgenden zeigen werden.

Die Stadt Posen, deren Einwohnerschaft sich nach der Zählung des Jahres 1885 auf 68 315 Seelen belief, läßt sich in drei ihrer äußeren Erscheinung nach grundverschiedene Theile zerlegen, deren Entstehung auch um Jahrhunderte auseinander liegt.

Auf dem rechten Ufer der Warthe liegt der älteste Stadttheil, dessen Ursprung sich in das Gebiet der Sage verliert. Dort, an der Stelle, wo das Flüßchen Cybina in die Warthe mündet, sollen drei slavische Brüder, Ruß, Tschech und Lech, welche der Strom der Völkerwanderungen getrennt hatte, zufällig wieder zusammengetroffen sein, und der Freudenruf „poznaje!“ (ich erkenne) hat nach der Sage den Anlaß zu Begründung einer Niederlassung gegeben, welche den Namen Poznań, woraus das deutsche Posen wurde, erhielt. Ruß zog weiter nach Osten, wo er das russische Reich gründete, Tschech wanderte mit seinen Anhängern nach Böhmen und wurde der Gründer des Tschechenreiches, während Lech an der Cybina blieb und als Stammvater der Lechiten das Polenreich begründete.

Soweit die Sage. Die Geschichte berichtet uns, daß Mieczyslaw I. aus dem Stamme der Piasten im Jahre 968, nachdem er kurz zuvor das Christenthum angenommen hatte, das Bisthum Posen errichtete. Mieczyslaw mußte den deutschen Kaiser Otto I. als Lehnsherrn anerkennen, und dieser unterstellte das neue Bisthum dem Erzbisthum Magdeburg.

Jener älteste Stadttheil, welcher sich im Osten auf dem rechten Wartheufer um den Dom herum gruppirt, zeigt vielfach noch den Charakter eines alten polnischen Landstädtchens. Kleine, ärmliche, zum Theil mit Schindeln gedeckte Häuser, mit den Giebeln an der Straße stehend, geben diesem Stadttheile ein Ansehen, welches zu demjenigen der beiden Stadttheile auf dem linken Wartheufer einen starken Gegensatz bildet. Hier lebt auch der größere Theil der polnischen Bevölkerung der Stadt, hier hat namentlich das rege Leben und Treiben bei den großen Festen der katholischen Kirche seinen Mittelpunkt.

Das hervorragendste Gebäude dieses östlichen Stadttheiles ist der Dom, der allerdings, wie unser Bild erkennen läßt, in seiner äußeren Erscheinung nichts Ueberwältigendes hat. Die alte Form der Kathedrale ist durch wiederholte Zerstörungen und Wiederherstellungen vollständig vernichtet worden. Der gegenwärtige Bau stammt aus dem Jahre 1775. Im Innern birgt das Gebäude jedoch bemerkenswerte Kunstschätze, so namentlich ein Standbild der Könige Mieczyslaw I. und Boleslaw Chrobry, deren Gebeine hier ruhen, nach einem Modell von Rauch in Erz gegossen, ferner verschiedene künstlerisch vollendete Grabdenkmäler und werthvolle Bilder.

Dem Dome gegenüber, auf unserem Bilde aber durch diesen verdeckt, liegt der bischöfliche Palast, ein äußerlich schmuckloses, im Innern aber schön und würdig ausgestattetes Gebäude. Während der Schwedenkriege arg verwüstet, wurde es im Jahre 1732 fast gänzlich neu aufgebaut. 77 Bischöfe und 6 Erzbischöfe haben hier der Reihe nach ihren Sitz gehabt; der letzte derselben, Erzbischof Dinder, ist zugleich der erste Deutsche auf dem erzbischöflichen Stuhle von Posen und Gnesen.

Dem ältesten Stadttheile rechts gegenüber breitet sich auf dem linken Ufer der Warthe die sogenannte Altstadt aus, der Kern der heutigen Stadt Posen. Dieser Theil, in der Niederung auf dem Westufer der Warthe errichtet, wurde gegen Ende des 13. Jahrhunderts durch deutsche Ansiedler als selbständige Stadt begründet und nach magdeburgischem Recht verwaltet. Der Führer der Ansiedler, ein gewisser Thomas aus Guben, war der erste Vogt des neu begründeten Gemeinwesens.

Das Nachod-Denkmal und die königliche Kommandantur.

[684] Gleich vielen mittelalterlichen Städten wurde diese deutsche Siedelung von vornherein nach einem bestimmten Plane angelegt, während die alte Piastenstadt auf dem rechten Flußufer allmählich aus einer dorfartigen Niederlassung in ganz unregelmäßiger Gestalt entstanden war. In der Mitte des quadratischen Marktplatzes liegt das Rathhaus, umgeben von einer Gruppe von Gebäuden, welche zum Theil noch heute mit ihrer schmalen Front, den hohen Giebeln und den kleinen unregelmäßigen Fenstern, mit den vorgebauten Buden und Kramläden den Charakter jener Zeit tragen.

Die Grabenkirche.

Das Rathhaus, zu Ende des 13. Jahrhunderts erbaut, seitdem aber wiederholt umgestaltet und erweitert, ist ein sehr sehenswürdiger Bau, dessen Vorderfront mit den schönen Loggien den reinen Stil der Renaissance zeigt. Auf den sechs Seitenfeldern dieser Front waren ursprünglich Malereien religiösen Inhalts angebracht, welche unter Stanislaus August durch Bildnisse polnischer Könige ersetzt wurden. Auch diese sind jetzt vom Zahn der Zeit zernagt und bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Abgesehen von der Vorderfront, zeigt das ehrwürdige Gebäude in seiner Bauart, in den Gewölben der Kellerräume, einzelnen Thüren und den Nischen am Thurme deutlich den germanischen Stil, wie er in Deutschland bis zu Anfang des 16. Jahrhunderts vorherrschend war. Im Innern ist besonders die große Halle bemerkenswerth, welche früher die ganze Breite des Rathhauses einnahm und später auf den Rath Schinkels wegen Baufälligkeit des Gewölbes durch eine Mauer in zwei Theile geschieden wurde. Die Decke dieser Halle ist mit eigenartigen Stuccaturarbeiten verziert. Im Sitzungssaale des Magistrats, dessen Decke nach dem Muster eines Bibliotheksaales im Vatikan gemalt ist, befindet sich ein lebensgroßes Standbild des letzten Polenkönigs Stanislaus August.

Eine Rolandssäule, in früherer Zeit als Pranger benutzt, steht vor dem Rathhause. Hier, unter dem alten Wahrzeichen der städtischen Gerichtsbarkeit, entfaltet sich wie vor Jahrhunderten an den Markttagen ein lebendiges und den aufmerksamen Beobachter fesselndes Leben und Treiben. Neben der polnischen Bäuerin in der üblichen Landestracht sieht man die stattlichen Bambergerinnen, die Nachkommen deutscher Kolonisten aus der Bamberger Gegend, welche sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts in den Kämmereidörfern um Posen angesiedelt haben. Sie sind im Laufe der früheren Jahre durch den Einfluß von Kirche und Schule polonisirt worden, haben aber ihre besondere Landestracht treu bewahrt. Hier hört man den breiten gemüthlichen Dialekt schlesischer Bauern, die sich in der Provinz Posen eine neue Heimath gegründet haben, hier sieht man neuerdings auch die kräftigen Gestalten der deutschen Ansiedler aus dem Süden und Westen des Vaterlandes, welche die Errichtung neuer Kolonistendörfer auf den vom Staate angekauften Gütern der polnischen Aristokratie herbeigezogen hat.

Das Rathhaus.

Bunt und eigenartig wie die äußere Erscheinung der Marktbesucher ist auch die Sprache, in der hier verhandelt wird: zumeist ein seltsames, drolliges Gemisch von Deutsch und Polnisch, welches den fremd Hierhergekommenen anfangs zur Verzweiflung bringt, dem sich aber besonders die Hausfrauen rasch anbequemen. Mark und Pfennig sind hier zum Theil noch fremde Begriffe, hier bietet die polnische Verkäuferin, noch unbeleckt von der modernen Kultur, ihre Ware nach wie vor nach polnischen Gulden und Groschen zum Verkaufe an und überläßt es dem Käufer, sich mit der Rechnung zurecht zu finden.

Noch manche bemerkenswerthe Gebäude, so namentlich das alte Schloß auf dem Schloßberge, der Dzialynskische Palast, verschiedene Kirchen und frühere Klöster, befinden sich in der Altstadt; der Raum gestattet aber nicht, näher darauf einzugehen. Nur bei der bescheidenen evangelischen Kirche, welche unser Bild zeigt, der sogenannten Grabenkirche, wollen wir noch kurz verweilen.

Die Reformation hatte frühzeitig auch in Posen Eingang gefunden und unter dem polnischen Adel mächtige Anhänger gewonnen; aber der Einfluß der katholischen Kirche war stärker, und so [685] fristete die im Jahre 1570 aus der Vereinigung von Luteranern, Reformirten und böhmischen Brüdern entstandene Gemeinde nur mit Mühe ihr Dasein. Ihre Kapellen wurden im Laufe des nächsten Jahrhunderts wiederholt von dem aufgehetzten Pöbel zerstört. Lange Zeit hielt die Posener lutherische Gemeinde ihre Gottesdienste in dem benachbarten Städtchen Schwersenz, erst im Jahr 1786 wurde ihr von dem Könige Stanislaus August gestattet, sich an der Grabenstraße, am Ufer der Warthe, jene Kirche zu erbauen, deren hundertjähriges Bestehen im Jahre 1886 festlich begangen worden ist.

Wenden wir uns nun von der Altstadt weiter nach Westen, so gelangen wir in einen Stadttheil, welcher mit seinen breiten, regelmäßigen Straßen, seinen großen, schönen, zum Theil mit gärtnerischen Anlagen geschmückten Plätzen, seinen eleganten, größtentheils neuen Gebäuden einen ganz modernen Eindruck macht. In diesem bedeutend höher als die Altstadt gelegenen, nach Westen hin von den Festungswerken begrenzten Stadttheile, der sogenannten Oberstadt, bilden der Wilhelmsplatz und die nach Art der Berliner Linden mit einer schönen Promenade versehene Wilhelmsstraße gewissermaßen den Mittelpunkt des Verkehrslebens.

Die rasche Entwickelung dieses Theiles der Stadt, welcher früher nur eine wenig bewohnte Vorstadt gewesen war, beginnt 1815 mit der Einverleibung des Großherzogthums Posen in den preußischen Staat. Die Bestrebungen der Regierung zur Stärkung des Deutschthums in Stadt und Provinz fanden ihren Ausdruck in verschiedenen Maßnahmen, unter anderem auch in der durch einen namhaften Zuschuß aus der königlichen Schatulle und unentgeltliche Ueberlassung des Bauplatzes ermöglichten Errichtung eines Stadttheaters auf dem neu angelegten Wilhelmsplatze. Die Einweihung des Theaters, dessen erster Pächter der bekannte Schauspieldirektor Döbbelin war, fand am 17. Juni 1804 statt. Es war ein mäßig großes, schmuckloses Gebäude, welches jedoch den damaligen bescheidenen Ansprüchen genügte. Selbst Heinrich Heine, welcher im Jahre 1822 Posen besuchte und dort sehr viel zu tadeln fand, lobte das Theatergebäude.

„Ein schönes Gebäude,“ so schreibt er aus Posen an den Gubitzschen „Gesellschafter“, „haben die hiesigen Einwohner den Musen zur Wohnung angewiesen, aber die göttlichen Damen sind nicht eingezogen und schickten nach Posen bloß ihre Kammerjungfern, die sich mit der Garderobe ihrer Herrschaft putzen und auf den geduldigen Brettern ihr Wesen treiben. Die eine spreizt sich wie ein Pfau, die andere flattert wie eine Schnepfe, die dritte kollert wie ein Truthahn und die vierte hüpft auf einem Beine wie ein Storch. Das entzückte Publikum aber sperrt ellenweit den Mund auf. – Auch einen Theaterrecensenten giebt es hier. Als wenn die unglückliche Stadt nicht genug hätte an dem bloßen Theater.“

Den Ansprüchen der Neuzeit genügte das alte Theatergebäude aber doch nicht mehr; so wurde es im Jahre 1877 abgebrochen und an seiner Stelle mit einem Kostenaufwande von 400 000 Mark der stattliche Neubau errichtet, welchen unsere Abbildung S. 686 zeigt. Auch zu diesem Bau hat die königliche Privatkasse einen namhaften Beitrag geleistet und sie gewährt außerdem zur Unterhaltung des Theaters einen jährlichen Zuschuß. Unter tüchtigen Direktoren wie Grosse, Scheerenberg und Jesse hat sich das neue Theater stets auf der Höhe einer guten Provinzialbühne behauptet, wenngleich die Theilnahme des deutschen Publikums viel zu wünschen übrig läßt und die polnische Bevölkerung die ausschließlich deutschen Vorstellungen im Stadttheater überhaupt nicht besucht.

Die St. Pauli-Kirche.

Außer dem Stadttheater besitzt die Oberstadt noch eine ansehnliche Zahl schöner Gebäude. Wir nennen davon zunächst die am Wilhelmsplatz belegene Raczynskische Bibliothek, eine Stiftung des Grafen Eduard Raczynski. Der nach dem Vorbilde des Louvre hergestellte Prachtbau enthält etwa 20 000 Werke und einige hundert Handschriften und Urkunden.

Ebenfalls am Wilhelmsplatz liegen die Kommandantur und das umfangreiche Gebäude der Polizeidirektion. Bemerkenswerth sind ferner das noch im Ausbau begriffene neue Generalkommando auf dem Kanonenplatz, das Postgebäude, das Provinzial-Ständehaus, das Oberlandesgericht und das Landgericht, sowie das Gebäude der Provinzial-Steuerdirektion, alles Bauten in modernem Stil. – An Kirchen ist die Oberstadt weniger reich als die älteren Stadttheile. Ein schöner Bau in gothischem Stil ist die evangelische Paulikirche, von welcher wir eine Abbildung beifügen. Nahe derselben, von dicht belaubten Bäumen umschattet, liegt in stiller Abgeschiedenheit das schlichte Bauwerk, welches der Zeichner mit aufgenommen hat, die Leichenhalle des Garnisonlazareths. Der Vorübergehende hemmt hier unwillkürlich den Schritt und liest die zu ernster Betrachtung mahnende Inschrift, welche über dem Portal angebracht ist: „Requiem aeternam dona iis, Domine!“ („Schenke ihnen, o Herr, die ewige Ruhe!“) So mancher jugendfrische Soldat, die Freude und der Stolz seiner Eltern, ist hier, von tückischer Krankheit gefällt, in das letzte harte Bett gelegt worden. – Auch eine historische Erinnerung knüpft sich an diese Stätte. Von hier aus wurden im Winter 1870 bis 1871 alle die französischen Kriegsgefangenen, welche, erschöpft von den Strapazen des Feldzuges, in der Gefangenschaft starben, von ihren [686] Kameraden zur letzten Ruhestatt fern von der Heimath und ihren Lieben getragen.

Werfen wir nun zum Schluß noch einen Blick auf die öffentlichen Denkmäler, welche Posen besitzt. Es sind deren nur wenige. Auf dem Alten Markt befindet sich eine zur Erinnerung an das Thorner Blutbad von 1724 errichtete Bildsäule des St. Johannes (Nepomuk), ohne besonderen Kunstwerth. Ein schönes Marmordenkmal ist dem polnischen Dichter Adam Mickiewicz (1798 bis 1855) im Garten der katholischen Martinskirche errichtet worden. Auf dem Wilhelmsplatze, vor dem Haupteingange zum Stadttheater, steht, umgeben von hübschen Gartenanlagen, das sogenannte Nachod-Denkmal, dessen Abbildung S. 683 steht. Das Postament trägt einen den Gegner trotzig herausfordernden Löwen. An den Ecken des Postaments sind vier Kriegergestalten angebracht, welche die Porträtköpfe der vier Generale des 5. Armeecorps: v. Steinmetz, Graf Kirchbach, v. Löwenfeld und v. Wnuck, zeigen. Während dieses Denkmal der Erinnerung an den Feldzug von 1866 gewidmet ist, gilt ein am Kanonenplatze vor dem neuen Generalkommando errichtetes, noch der Enthüllung harrendes Monument der Erinnerung an den Feldzug gegen Frankreich. Dasselbe ist von Bärwald modellirt und trägt auf dem Sockel ein schönes Standbild des Neubegründers des Deutschen Reiches, des unvergeßlichen Kaisers Wilhelm I.

Das Stadttheater.

Wir sind mit unserer Wanderung durch die Hauptstadt des Großherzogthums Posen zu Ende. Dem Leser, welcher uns auf derselben begleitet hat, wird diese kurze Skizze gezeigt haben, daß Posen wohl den Anspruch erheben darf, in der Reihe der größeren deutschen Städte einen bescheidenen Platz zu finden. Posen zeigt nicht allein äußerlich in seinem weitaus größten Theile das Bild einer deutschen Stadt, auch die Bewohnerschaft der Stadttheile westlich der Warthe gehört in überwiegendem Maße dem deutschen Volksthum an. Der Einfluß der beiden Nationalitäten, welche sich im ganzen der Zahl nach ungefähr gleich stehen, zeigt sich recht deutlich in der städtischen Vertretung, welche zur Zeit aus 32 deutschen und 4 polnischen Stadtverordneten besteht.

Nimmt Posen doch auch in der Reihe der Bollwerke, welche Deutschlands Grenzen zu schützen haben, als Festung ersten Ranges und vermöge seiner Lage an der Ostgrenze des Reiches eine ganz hervorragende Stellung ein. Im Jahre 1828 wurde mit den Befestigungsarbeiten begonnen, welche erst in neuerer Zeit ihren vollständigen Abschluß erreichten.

Große Vereinigungen, welche sich über ganz Deutschland erstrecken, wie der „Volkswirthschaftliche Kongreß“, die „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ und der „Gesammtverein der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine“ haben in Posen ihre Versammlungen abgehalten. Die Besucher derselben sind mit den besten Eindrücken von der gastlichen Stadt geschieden und haben in ihrer Heimath so manches eingewurzelte Vorurtheil gegen dieselbe zerstreut.

Wenn es dem Verfasser dieser kurzen Schilderung gelungen sein sollte, durch dieselbe auch ein wenig zur Beseitigung solcher Vorurtheile beigetragen zu haben, so wird er sich reich belohnt finden.




Neue Heilmittel.

Unsere Aerzte schreiben nicht mehr die ellenlangen Rezepte, die in früheren Zeiten üblich waren. Der Arzneischatz ist einfacher geworden und viel Kraut und Fett, das werthlos war, ist aus den Apotheken verschwunden. An Stelle der alten Heilmittel treten aber neue. Das war früher auch der Fall, und wir werden immer von neuen Heilmitteln hören, denn wir müssen vorwärtsschreiten und kennen noch lange nicht alle heilsamen Stoffe, welche die Natur erzeugt.

Das Auftauchen neuer Heilmittel ist aber in unserer Zeit besonders häufig geworden, denn einerseits ist die wissenschaftliche Erforschung ferner Länder eine gründlichere geworden, andererseits hat die Chemie ungeahnte Fortschritte gemacht und überschüttet uns förmlich mit neuen Stoffen. Wir können mit dieser regen Thätigkeit zufrieden sein. Viel Gutes und Segensreiches ist damit erreicht worden. Denken wir z. B. nur an das Cocain, mit dessen Hilfe schmerzlose Augenoperationen gemacht werden! Und doch haben die neuen Heilmittel einen Uebelstand mit sich gebracht, der im allgemeinen Interesse aufgedeckt werden muß.

In irgend einer Klinik werden Versuche mit irgend einer neuen Drogue oder neuerzeugten Verbindung angestellt, sie berechtigen zu den schönsten Hoffnungen und der Leiter der Klinik theilt seine Erfahrungen in einem ärztlichen Fachblatte der ärztlichen Welt mit. Er bezweckt damit, daß seine eigenen Beobachtungen durch sachverständige Kollegen kritisch geprüft werden, damit alsdann, vielleicht nach einer Reihe von Jahren, über das neue Heilmittel ein zutreffendes Urtheil abgegeben werden kann. Aber die Mittheilungen des Arztes erlangen rasch weitere Verbreitung. Unsere Presse muß für Neuigkeiten sorgen: je mehr Aufsehen die Neuigkeit macht, desto lieber wird sie gelesen. Die Medizin bietet da ein recht dankbares Gebiet, von dem man viel Ueberraschendes holen kann, und diese Neuigkeiten interessiren so viele, denn viele sind krank und fast jeder hat einen kranken Freund oder Verwandten.

Der Versuch des Klinikers wird also ins Volk getragen. In ein paar Druckzeilen – denn die Notizen müssen für unsere hastige Zeit möglichst kurz gehalten werden, damit die schwachen Nerven der Leser nicht ermüden – wird die Quintessenz der mühevollen Forscherarbeit mitgetheilt und die Laienwelt liest eines schönen Morgens, daß dieser oder jener berühmte Professor in einer afrikanischen Drogue oder in einem Nebenerzeugniß der Anilinfabrikation ein neues Heilmittel gegen Herz-, Lungen- oder Nervenleiden aufgefunden habe! Von Neben- und Nachwirkungen desselben ist in der Notiz selten die Rede; dazu fehlt es ja an Raum und das würde auch die Wirkung abschwächen. So schafft eine kritiklose Sucht nach Neuheit eine Art Reklame für ein Heilmittel, welches die Aerzte selbst nur in bestimmten Fällen und mit größter Vorsicht anwenden. Diese Reklame bleibt nicht ohne Folgen; ein Droguenhändler oder Fabrikant wendet dem neuen Heilmittel seine „besondere Aufmerksamkeit“ zu. Es stand ja gedruckt, daß es gegen Migräne, Nervenschwäche oder dergleichen geholfen habe. Der unternehmende Mann verarbeitet es in Pastillen, Thee oder Wein, und bald darauf ist das neue Heilmittel überall zu kaufen und wird in zahllosen Zeitungsinseraten als Heilmittel gegen bestimmte Krankheiten anempfohlen.

Kann dadurch die Gesundheit der Abnehmer geschädigt werden? Diese neuen Heilmittel, meinen die meisten, sind doch keine Gifte! Wären sie Gifte, so würde man den Verkauf nicht gestatten. Dafür giebt es ja Gesetze!

Darauf ist zu erwidern, daß es auch Stoffe giebt, die nur bei längerem Gebrauch zerrüttend wie Gifte auf den Organismus wirken, und viele der neuen Heilmittel sind gerade solche schleichende Gifte. Der Mißbrauch, der mit ihnen von dem verleiteten Publikum getrieben wird, enthüllt alsdann diese verderblichen Eigenschaften, welche unter steter sorgfältiger ärztlicher Bewachung nicht hätten zur Geltung kommen können.

Ein Beispiel: Es sind erst wenige Jahre verflossen, seitdem die ersten Loblieder auf das Cocain ertönten und leider eine Unzahl von Cocainpräparaten in den Handel gebracht wurde, die ohne ärztliche Verordnung im Handverkauf abgegeben wurden. Wer dachte bei diesem Mittel, welches ja die Indianer zur Stärkung brauchen, an verderbliche Folgen?

Und heute? Unter den Heilanstalten am Rhein empfiehlt sich eine auch für Morphiumkrankheit, Cocainismus und Schlaflosigkeit. Der „Cocainismus“, die Cocainsucht, ist eine neue Krankheit, die wir vor nicht langer Zeit noch nicht kannten, eine neue Form der Nervenzerrüttung, die durch den Mißbrauch der Cocainpräparate hervorgerufen wird. Sie ist dem Morphinismus ähnlich, aber schlimmer als dieser und der Alkoholismus. Wer hätte das gedacht? Nachdem die Sucht um sich gegriffen hat, denkt man an Abwehr. In Schwarzburg-Rudolstadt wurde neuerdings das Cocain im Handverkauf verboten, und andere Verbote werden diesem bald folgen. Das neue Heilmittel hat indessen seine verhängnißvolle Nebenwirkung geübt. [687] Eine neue „Sucht“ ist wiederum in Sicht, die sich bald der Morphium- und Cocainsucht anreihen dürfte! „Hört! Hört! Ein neues Heilmittel, heilt Migräne, Kopfschmerzen, neuralgische Schmerzen, hebt die Nachwehen von übermäßigem Wein- und Biergenuß auf! Vertreibt Rheumatismen! Kauft Antipyrin!“ So ruft die Reklame, und das Antipyrin, das, vom sachverständigen Arzte im gegebenen Falle in entsprechender Dosis vorübergehend verordnet, treffliche Heilwirkungen zu erzielen vermag, wird als Hausmittel benutzt und neben Antifebrin und Phenacetin „wie Sodawasser und Brausepulver“ gegen Katzenjammer und Aufregung gebraucht. Auch dieser Mißbrauch wird sich rächen, und bald wird man auch von Heilanstalten für „Antipyrinismus“ hören. In Norwegen ist schon ein Verbot erlassen worden, wonach Antipyrin und Antifebrin nur auf ärztliche Verordnung abgegeben werden dürfen. Bei uns kann man es in „allen Apotheken“ kaufen.

Es giebt noch trefflichere neue Heilmittel, welche den an Schlaflosigkeit Leidenden den so peinlich vermißten Schlaf bringen. Man hat früher einmal von dem „unschädlichen und gefahrlosen“ Paraldehyd geschrieben; heute liegt uns ein amerikanischer Krankheitsbericht vor, die neue Krankheit nennt der betreffende Arzt „Paraldehydomanie“; eine Dame, die das Mittel fortgesetzt gebraucht hatte, war das Opfer derselben.

Doch genug der Beispiele! Wir könnten noch eine Reihe von Fällen anführen, in denen das Publikum werthlose neue Heilmittel erhält, die zwar nicht schaden, aber auch nichts nützen und nur dem Verkäufer Gewinn bringen. Die Wissenschaft hat längst deren Unzulänglichkeit erkannt, aber der Geschäftsmann weiß noch den ersten Glanz derselben auszubeuten.

Giebt es denn keine Mittel, diesen thatsächlichen Uebelständen abzuhelfen? Man rufe nicht gleich nach Gesetzen; unsere Behörden sind nicht müßig, aber sie können doch nicht vorausahnen, welche Droguen Amerika, Afrika, Asien und Australien uns in den nächsten Jahren schenken werden, oder was für neue Stoffe die Chemie erfinden wird; sie können nur das verbieten, was als schädlich erkannt worden ist, denn gesetzliche Verbote müssen auf Thatsachen begründet sein.

Das beste Mittel, diesen und ähnlichen Uebelständen abzuhelfen, bietet ein vernünftiges besonnenes Verhalten des Publikums. Es sollte durch den Schaden so vieler Opfer gewitzigt sein und den sogenannten „neuen Heilmitteln“ nicht über den Weg trauen; es sollte sich durch die Reklame nicht beirren lassen und Medizin, welcher Art sie auch sei, grundsätzlich nur auf ärztliche Verordnung einnehmen. Es nützt dem Laien nichts, wenn er, auf sein Halbwissen gestützt, die als schädlich bekannten Mixturen meidet, Cocain oder Antipyrin zurückweist, aber mit einer anderen „in“- oder „ol“- Substanz auf eigene Faust Versuche anstellt. Nur ein grundsätzliches Ablehnen aller durch Reklame angepriesenen „neuen Heilmittel“ oder Geheimmittel schützt ihn vor Gefahr die an Leib und Leben.




Blätter und Blüthen.

Leopold von Dessau und die Annaliese. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) Wer kennt ihn nicht, den „Alten Dessauer“, dessen Name ein halbes, an Kriegen und Schlachten überreiches Jahrhundert erfüllt, dessen Andenken der „Dessauer Marsch“ bis in unsere Tage herein lebendig erhält, der unter dem Großen Kurfürsten als blutjunger Regimentskommandeur seine Sporen verdiente und noch Friedrich dem Großen seine ersten Siege gewinnen half? Fast ebenso bekannt wie sein Schlachtenruhm ist seine heiße Liebe zu der Anna Luise Föse, der „Annaliese“ oder „dem lieben Wiesgen“, wie er sie selbst in seinen Briefen nennt. Sie war die schöne und reichbegabte Tochter eines Apothekers zu Dessau; von ihrem siebenten Jahre an war sie mit dem um ein Jahr älteren, 1676 geborenen Fürstensohne zusammen aufgewachsen und Leopold gleich von Anfang an der holden Gespielin überaus gewogen, die allein seine fast unbezähmbare Wildheit und seinen halsstarrigen Trotz zu bändigen vermochte. Mit den Jahren aber erwuchs aus dieser kindlichen Zuneigung eine wilde Leidenschaft, die das ganze Wesen des heißblütigen Jünglings beherrschte. Vergebens suchte die Mutter des Prinzen durch Trennung der Liebenden die Flamme zu ersticken, vergebens schickte sie den Sohn im November 1693 mit dem Marquis von Chalisac auf eine mehr als jahrelange Reise nach Italien, damit er in dem rauschenden Leben der dortigen Fürstenhöfe der heimischen Geliebten vergäße, es war alles umsonst – kaum nach Dessau zurückgekehrt, ritt er am Schloß und an der Ehrengarde vorüber vor das Haus der Geliebten, um dann erst im Schlosse seine Mutter zu begrüßen. Ein furchtbares Ereigniß belehrte diese endlich, welch elementare Gewalt der Leidenschaft sie sich im Kampfe gegenüber hatte. Unter den Mitteln und Mittelchen, die sie ergriff, um dem Sohne die unebenbürtige Heirath zu verleiden, war auch das, Leopold die Treue seiner Geliebten verdächtig zu machen. Ein junger Arzt, Verwandter der Anna Luise, war von weiten Reisen zurückgekehrt und bezeigte der schönen Base harmlose Aufmerksamkeit. Kaum hatte die Mutter bemerkt, daß die Eifersucht Leopold zu reizen begann, so wußte sie es zu veranstalten, daß er, zufällig am Hause des Apothekers vorübergehend, den jungen Mann mit Anna Luise in traulicher Stellung am Fenster stehen sah. Aber die Wirkung dieses Anblicks war eine ganz andere, als die kurzsichtige Mutter gehofft haben mochte. Von fürchterlicher Wuth erfaßt, stürzte Leopold in das Haus, drang mit gezogenem Degen auf den unglücklichen Arzt ein, erreichte den Fliehenden in einem entlegenen Gemache und stach ihn nieder.

Der Widerstand, den die fürstliche Familie der Heirath des Thronerben gegenüberstellte, war damit zu Ende. 1698, in demselben Jahre, in welchem Leopold I. die Regierung des Fürstenthums aus den Händen seiner Mutter, welche sie bis dahin vormundschaftlich geführt hatte, übernahm, führte er auch seine heißgeliebte Annaliese als seine Gemahlin heim, und 47 Jahre lang, bis zu ihrem Tode am 5. Februar 1745, lebte er mit ihr in der glücklichsten Ehe, die nicht bloß ihm selbst die spärlichen Friedensmonate verschönte, sondern auch dem Lande zum Segen gereichte. „Denn Anna Luise verstand es meisterhaft, auf die rauhe, zur Willkür geneigte Gemüthsart ihres Gemahls besänftigend einzuwirken, sie hatte inniges Verständniß für alle Verhältnisse des dessauischen Landes und seiner Bewohner, sie befleißigte sich, wenn sie während der oft lange dauernden Abwesenheit des Fürsten die Regentschaft führte, einer weisen Sparsamkeit, sie war eine treffliche Mutter ihrer Kinder und erwarb sich, selbst aus dem Volke hervorgegangen, in hohem Grade die Zuneigung und Liebe desselben, so daß ihr Andenken noch jetzt in Segen steht.“

Bald nach ihrer Verheirathung, im Jahre 1701, wurde sie vom Kaiser in den Reichsfürstenstand erhoben und damit für vollständig ebenbürtig, ihre Nachkommenschaft für erbfolgefähig erklärt.

Der Künstler hat uns den Augenblick dargestellt, wo der jugendliche Fürst nach der Rückkehr von seiner italienischen Reise Anna Luise vor dem Thore ihres Vaterhauses – es wird heute noch in Dessau dem Schlosse gegenüber gezeigt – begrüßt. Gesenkten Hauptes und niedergeschlagenen Blickes, in holder jungfräulicher Zurückhaltung steht sie vor dem Geliebten, während er ihr vom Rosse herab zärtlich das Kinn streichelt. In ehrerbietiger Haltung verharrt der Vater, in stiller Theilnahme schauen Mutter und Geschwister auf die rührende Gruppe; die Begleiter des Fürstensohnes aber blicken mit allen Zeichen der Unruhe und Sorge hinüber nach dem festlich bewimpelten Schlosse, von dem ein Hoffourier eilig gelaufen kommt, den in seiner Liebe sich vergessenden Prinzen zu holen. S.

Ein Bühnenhaus für klassische Opernwerke. In Salzburg, der Geburtsstadt Mozarts, besteht eine „Mozartgemeinde“ oder, wie sie sich mit ihrem offiziellen Namen benennt, die „Internationale Stiftung Mozarteum“, welche sich neben der Erhaltung der Mozartschen Erinnerungen in Salzburg die Pflege der Tonkunst im allgemeinen und diejenige Mozartscher Musik im besonderen zur Aufgabe gestellt hat und welche unter dem Schutze der Kronprinzessin-Witwe Stefanie steht. In Verfolgung ihrer schönen Ziele hat diese Mozartgemeinde nun den Plan gefaßt, in Salzburg ein großes Festspielhaus zu errichten, in welchem die klassischen Opern deutscher Meister, wie Beethovens, C. M. v. Webers u. a., insbesondere aber Mozarts zur Aufführung kommen sollen. Hervorragende Größen der musikalischen Welt, u. a. Hans Richter, Frau Rosa Papier, Th. Reichmann haben ihre Unterstützung zugesagt und es ist kein Zweifel, daß ein Gelingen des Werkes für die Verehrer Mozarts und einer edlen Tonkunst Tage hohen Genusses bringen wird. S.

Huzulenjäger. (Zu dem Bilde S. 677.) Wer je den Boden jener wildromantischen Bergwelt betreten hat, welche unter dem Namen „Karpaten“ Ungarn von Galizien scheidet, dem weht aus dem Bilde Kowalskis sofort jene rauhe und doch so köstlich erquickende Bergluft entgegen, welche das Leben unter den einfachsten Bedingungen, ja schon das Athmen zum Genusse macht.

Die Menschen zwar, welche uns des Malers Pinsel vor das Auge führt, haben selbst keine Ahnung von dieser Wunderwirkung ihrer Heimath auf den Fremdling, aber das verringert ihnen kaum den Genuß derselben. Die Gesundheit der Lunge, die unverwüstliche Ausdauer und Kraft des Leibes, die Schärfe der Sinne, Eigenschaften, welche sie mit ihren treuen vierfüßigen Gefährten, ihren Rossen und Hunden, theilen, lassen auch sie bei aller Armuth das Leben sonder Sorge und Kummer genießen, jeder Gefahr kühn ins Auge schauen.

Daß der Huzule diese Eigenschaften aber nur der stählenden Luft seiner Heimath verdankt, geht schon daraus hervor, daß derselbe keiner bevorzugten Rasse, sondern gleich anderen mit Sondernamen bezeichneten Karpatenbewohnern gemeinschaftlich dem großen Volksstamme der Ruthenen (auch Russinen, Rusniaken oder Kleinrussen genannt) angehört, welcher in der Stärke von etwa drei Millionen Seelen zu beiden Seiten der Karpaten bis in die Tiefebenen der angrenzenden Ländergebiete die fruchtbare Scholle bebaut, dort aber den Stammesgenossen in den Bergen so wenig gleicht wie sein Ackergaul oder Hofhund.

Es ist Spätherbst. Mit dem ersten Schnee ist für den Bergbewohner die Zeit gekommen, seinen und seiner Herden Todfeinden, den Wölfen, auf den Leib zu rücken.

Angethan mit einer Hose aus selbstverfertigtem Wollstoff, dem Leibrock aus gleichem Zeuge, die Lenden vom breiten Ledergurt – Messer, Schießbedarf und Tabaksblase enthaltend – umschlossen, die Füße mit wasserdichtem Ziegenhaarstoff und Opanken (Sandalen), den Kopf mit der Pelzmütze verwahrt, den Schafpelz um die Schultern geschlagen, ausgerüstet mit der alten, vom Vater auf den Sohn vererbten Flinte und dem unentbehrlichen „Nasenwärmer“ – einer kurzen Pfeife mit kaum fingerlangem Rohr – und begleitet von seinen treuen Hunden, so zieht der Huzulenjäger auf seinem Rosse wohlgemuth zum ernsten Weidwerk aus.[1]

Haben die Hunde die Witterung ihrer Gegner erfaßt oder ihre Spur entdeckt, dann wird des Jägers Muth und Umsicht zugleich auf die Probe gestellt. Denn auch die Wölfe haben ihre Kriegstaktik, und [688] es ist nichts Seltenes, daß sie den einzelnen Reiter in der Ueberzahl zu überfallen suchen.

Indessen unser Jäger scheint, wie sein scharf spähender Blick beweist, kein Neuling im edlen Weidwerk zu sein, und man darf getrost annehmen, daß er wie immer so auch heute mit reicher Beute beladen heimkehrt zu den Seinen. F. Schifkorn.

Morgen am Zürichersee. (Zu dem Bilde S. 681.) Eine Perle der nördlichen Schweiz ist er, der Zürichersee, mit seinem Kranze von Städten, Dörfern und Villen und mit seiner stillen Insel Ufnau, die einst Ulrich von Huttens letzte Seufzer vernahm, und wer unter unsern Lesern noch nicht aus eigener Anschauung den schönen Fleck Erde kennt, der hat doch durch Hörensagen eine Vorstellung von seinen Reizen und seiner Anmuth bekommen. Der Maler unseres Bildes freilich zeigt uns den See in einem anderen Charakter. Eine einsame Stelle des Ufers hat er sich ausgesucht, von der aus keine menschliche Wohnstätte sichtbar ist. Nur ein Fährboot benützt den frischen kühlen Morgenwind, mit seiner Last über den See zu segeln; eine Herde stattlicher Rinder ist von der angrenzenden Weide herausgetreten in das Geröhricht des Strandes, um seinen Morgentrunk zu thun. Noch bedeckt ein grauer Schleier den Himmel, aber fern im Osten beginnt es zu leuchten und das nahende Tagesgestirn umrändert die Wolken mit purpurnem Saume. Auf der ganzen Landschaft liegt der Zauber der schlaferquickten Natur, eine köstliche Frische und Ruhe weht uns aus dem stimmungsvollen Bilde entgegen.

Gefährliche Heizapparate. Seit einigen Jahren werden unter dem Namen „Carbonnatronöfen“ oder „Transportable Regenerativheizöfen für Räume ohne Rauchabzug“ Heizapparate in den Handel gebracht, die nach den im Laufe der Zeit gemachten Erfahrungen für Leben und Gesundheit gefährlich sind. Das „Carbon“, mit dem diese Oefen geheizt werden, ist eine Art Buchenholzpreßkohle, die mit Salpeter imprägnirt ist und die, sobald sie einmal in Gluth versetzt worden ist, fortglimmt, ohne Rauch oder üblen Geruch zu entwickeln. Fälle, in denen bei Benutzung dieser Oefen in Schlafräumen Menschen ums Leben gekommen sind, veranlaßten eine gründlichere Prüfung dieser von vielen Fachleuten und Fachzeitschriften günstig beurtheilten Apparate. Professor Wolpert, der bei Versuchen mit einem derartigen Ofen selbst bewußtlos wurde, hat zuerst einen Warnungsruf dagegen erlassen, dann auch der Ortsgesundheitsrath zu Karlsruhe. Neuerdings hat Regierungsrath Dr. K. J. Petri durch seine Proben im hygieinischen Institut zu Berlin die Frage endgültig entschieden. Es handelte sich dabei vor allem darum, festzustellen, ob die rauchlosen Oefen giftige Gase als Verbrennungserzeugnisse entwickeln. Es wurde zu diesem Zwecke eine ganze Reihe wissenschaftlicher Methoden angewandt und zuletzt als die ausschlaggebende der Versuch am Thiere. Das Zimmer, in welchem ein Carbonnatronofen der kleinsten Nummer geheizt wurde, blieb verschlossen und es wurden an verschiedenen Stellen desselben, oben und unten, Drahtkäfige mit weißen Mäusen aufgestellt. Das Ergebniß ist sehr ungünstig: „Die aus dem Carbonofen in ein Zimmer von 101 Kubikmetern entweichenden Gase sind imstande, eine über dem Ofen befindliche Maus in fünf Stunden zu tödten. In der Entfernung von 1 bis 3 m aufgestellte Mäuse sind nach Ablauf der erwähnten Zeit moribund (dem Tode nahe). Im Blute aller dieser Thiere ist Kohlenoxyd mit Sicherheit nachweisbar.“ Regierungsrath Petri gab infolgedessen über die Carbonöfen folgendes Gutachten ab: „Die Heizvorrichtung muß als eine das Leben und die Gesundheit in hohem Grade gefährdende unbedingt verworfen werden.“

Diese Oefen werden nun von der Firma, die sie vertreibt, zur Heizung von Schlafzimmern nicht empfohlen; im Gegentheil, es wird gesagt: „In Schlafzimmern werden nur die größeren Oefen tagsüber mit Abzug in Kamin oder Schornstein gebrannt und vor Schlafengehen, nachdem das Zimmer genügend erwärmt, aus demselben herausgestellt.“

Dieser „Abzug“ soll nun durch ein Blech- oder Gummirohr, das an einem der Ventile befestigt wird, bewirkt werden. Ueber diese Abzugsvorrichtung äußert sich Regierungsrath Petri:

„Eine unzweckmäßigere, ja, mit Erlaubniß, verrücktere Konstruktion für den gewünschten Zweck hätte wohl kaum erfunden werden können . . . Eine nur oberflächliche Kenntniß physikalischer Verhältnisse reicht aus, um die Unmöglichkeit des Rauchabzuges in vorliegendem Fall einzusehen.“

Außer den genannten Oefen werden nun noch Kochapparate, Badeöfen ohne Schornstein, Zugtödter für Doppelfenster, Plätt- und Bügeleisen etc. – alles mit Carbonheizung, empfohlen. Wenn auch bei dem verhältnißmäßig geringeren Verbrauch des Heizstoffes die Gefahr bei Benützung dieser Apparate verringert wird, so können doch diese nach dem Obengesagten schwerlich als Vorrichtungen angesehen werden, welche den Ansprüchen der Hygieine genügen, obwohl sie durch ihre Einfachheit und die Reinlichkeit bei der Handhabung sehr bestechen.

Vielen dürfte es bekannt sein, daß vor diesen Oefen in letzter Zeit auch von seiten der Polizei gewarnt worden ist. Sie gehören nicht in bewohnte Räume! *

Vom Haarschneiden. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, daß man durch Abschneiden oder Rasieren des Haares dessen Wachsthum befördern könne. Nach zuverlässigen Beobachtern lassen sich darüber ungefähr folgende Regeln feststellen. Jedem Haar kommt eine bestimmte Länge zu. Wird nun das Haar abgeschnitten, so sucht es diese wieder zu erreichen, und zwar wächst es ziemlich rasch, bis es die Hälfte der ihm zukommenden Länge erreicht hat, später aber verlangsamt sich das Wachsthum bedeutend, bis ein Stillstand eintritt und das Haar nach einer Lebensdauer von 3 bis 6 Jahren ausfällt. Auf dieser Thatsache beruht ohne Zweifel die Ansicht, daß das Schneiden dem Haarwachsthum förderlich sei; durch unmittelbare Beobachtungen konnte dieser Einfluß bei gesundem Haar nicht festgestellt werden. Es verträgt den Eingriff, und so kann man die Frisur je nach Belieben tragen, ohne das Haar zu schädigen. Das Abschneiden der Spitzen bringt keinen Nutzen, wie viele Frauen meinen möchten.

Was nun das kranke Haar anbelangt, so ist ein stärkender Einfluß des häufigen Abschneidens gleichfalls nicht beobachtet worden, eher könnte man behaupten, daß es das Ausfallen beschleunigt.

Wir haben in Europa eine Zeit durchgemacht, wo die Hautpflege ziemlich vernachlässigt war, und diese Vernachlässigung erstreckte sich auch auf die Kopfhaut. Richtige Stärkung und Reinhaltung dieser befördert aber den Haarwuchs; denn man muß das Uebel nicht an der Haarspitze, sondern an der Wurzel fassen. Mütter, die ihren Kindern guten Haarwuchs sichern wollen, sollten daher weniger auf die Scheere und mehr auf die richtige Pflege der Kopfhaut bedacht sein. *

Eisen in der Telegraphie. Die Telegraphendrähte der Welt wiegen nach den Berechnungen des Engländers Preece bei einer Länge von 2.759.540 km etwa 400.000 Tonnen und die 172.270 km unterseeischen Kabel entsprechen 200.000 Tonnen Eisen, welche mit den Landtelegraphendrähten zusammen einen Kapitalwerth von etwa 1800 Millionen Mark darstellen.

Rösselsprungrebus.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Kleines Institutsfräulein in H. Es ist zwar bedauerlich, daß Ihr gewiß niedliches Konterfei durch den Poststempel unbarmherzig entstellt worden ist, aber eigentlich ist Ihnen nur ganz recht geschehen. Wer Photographien in Briefumschlägen verschickt, der soll sich die kleine Mühe nicht verdrießen lassen, zwei Pappstückchen zurecht zu schneiden und das Kärtchen dazwischen zu legen, sonst findet der Empfänger immer die Stempelspuren auf dem Bild. Zwanzig Pfennig kostet die Sendung so wie so – also doch lieber sie so einrichten, daß der Beschenkte auch eine Freude daran hat!

Osc. L. in Reichenbach i. S. Besten Dank für das unserem Blatte entgegengebrachte Interesse! Wir werden sehen, ob wir mit der Zeit den einen oder andern Ihrer Wünsche erfüllen können.

H. P. in Brünn. Wir ersuchen behufs brieflicher Beantwortung Ihrer Anfrage um Angabe Ihrer genauen Adresse.

A. V. in Antwerpen. Die in Ihrem Besitz befindlichen Schildkröten sind ohne Zweifel gewöhnliche Sumpfschildkröten (Emys europaea). Man kann dieselben auf zweierlei Weise den Winter zubringen lassen: 1) Man läßt sie in den Winterschlaf verfallen; dies ist das Bequemste und Natürlichste, da die Sumpfschildkröte im Freien das Wasser verläßt und sich in Erdlöchern verbirgt. Im Haushalte setzt man die Schildkröten in einen geräumigen Kasten, auf dessen Grund sich Sand oder Sägespäne und darüber eine reichliche Lage von Moos oder Heu befinden. Man deckt den Kasten mit einem Deckel von Gaze zu und bringt ihn in einen kühlen, aber durchaus frostfreien Raum, also in einen guten Keller. Hier bleiben die Schildkröten bis Anfang April stehen, um diese Zeit bringt man sie wieder ins geheizte Zimmer, erweckt sie durch lauwarme Bäder und giebt ihnen zu fressen. Ins Freie sollte man sie erst Mitte Mai setzen, wenn keine Fröste mehr zu erwarten sind. 2) Interessanter, aber beschwerlicher ist es, die Schildkröte auch den Winter hindurch munter zu erhalten. Dazu genügt der Aufenthalt im geheizten Zimmer, nur muß man von Zeit zu Zeit die Schildkröte warm baden und ihre Freßlust anregen. Schwimmt sie andauernd mit geschlossenen Augen und angezogenen Beinen in dem Aquarium, so ist das ein Zeichen, daß das Wasser für sie zu kalt ist.

W. F. in Flensburg. Vielleicht giebt Ihnen ein brauchbares Muster das „Generalregister der Gartenlaube“ 1853 bis 1880, welches zum Preise von M 4 durch jede Buchhandlung bezogen werden kann.

C. F. in Wien. In der Sammlung „Aus Studienmappen deutscher Meister“, herausgegeben von Julius Lohmeyer (Verlag von C. T. Wiscott in Breslau) sind jüngst auch 10 Studienblätter F. Geselschaps erschienen, durch welche Sie sich mit dem eigenartigen Schaffen des Meisters näher bekannt machen können. Die einleitende Charakteristik enthält zugleich einen kurzen Lebensabriß des Künstlers.

L. M. in Berlin. Wenden Sie sich gefl. an Ihren Hausarzt, damit dieser von den zahlreichen Mitteln das für Sie bequemste aussuche.

C. F. in L. Besten Dank für Ihre höchst interessante Mittheilung, die unsere Antwort an den „Stammtisch in Posen“ über die weißen Kinder der Negerinnen hübsch ergänzt. Wir verfehlen nicht, Ihre Zuschrift zur Kenntniß unserer Leser zu bringen. Dieselbe lautet: „Bekanntlich wurden vielfach weiße Reisende von den Negern für heimkehrende verstorbene Häuptlinge gehalten; so z. B. erging es Pogge und Wißmann in Lubuku. Aehnliches begegnete auch dem Afrikaforscher Premierlieutenant Zeuner in einem Kameruner Dorfe; die Witwe des verstorbenen Häuptlings Djanga meinte, Zeuner sei der vor kurzem verstorbene Häuptling, der, zurückkehrend, seine Leute und sein Dorf wiedersehen wolle. Ueber ihren Irrthum belehrt, blieb sie dennoch dabei fest, daß Zeuner wenigstens ein Abgesandter ihres Mannes sei; denn, sagte sie, es würden ja alle schwarzen Leute weiß geboren, und weshalb nun sollten dieselben nach ihrem Tode nicht wieder weiß werden können?“



Inhalt: Sicilische Rache. Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans (Fortsetzung). S. 669. – Guten Morgen! Illustration. S. 669. – Wie entstehen Moden? Von Cornelius Gurlitt I. S. 674. – Ein deutsches Mädchen auf dem Kriegspfade. Von Dagobert von Gerhardt (Amyntor). S. 678. – Deutsche Städtebilder. Posen. Von C. Fontane. S. 683. Mit Illustrationen S. 683, 684, 685 und 686. – Neue Heilmittel. S. 686. – Blätter und Blüthen: Leopold von Dessau und die Annaliese. S. 687. Mit Illustration S. 672 und 673. – Ein Bühnenhaus für klassische Opernwerke. S. 687. – Huzulenjäger. Von F. Schifkorn. S. 687. Mit Illustration S. 677. – Morgen am Zürichersee. S. 688. Mit Illustration S. 681. – Gefährliche Heizapparate. S. 688. – Vom Haarschneiden. S. 688. – Eisen in der Telegraphie. S. 688. – Rösselsprungrebus. S. 688. – Kleiner Briefkasten. S. 688.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Die häufig vorkommende Meinung, daß der Huzule eben so oft Räuber wie Jäger sei, mag daher rühren, daß das schwer zugängliche Wohngebiet der Huzulen zu allen Zeiten von Bösewichtern aller Art als Asyl benützt wurde. Dem Schreiber dieser Zeilen wenigstens wurde, obgleich er monatelang in unmittelbarer Nachbarschaft der Huzulen lebte und deren rauhe Heimath nach allen Richtungen durchstreifte, nicht der geringste Beleg für obige Annahme bekannt.