Die Gartenlaube (1889)/Heft 30
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No. 30 | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Gold-Aninia.
Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war Surley die bedeutendste Ortschaft im oberen Engadin, im Bereich der Seen von Sils, Silvaplana und Campfèr, welche dort, rings umgeben von starrenden Gletschern und Felshäuptern, in das Hochthal eingebettet sind. Silvaplana zählte damals nur wenige Bewohner, die sich auf dem Geschiebe des vom Julier herabfließenden Wildbaches angesiedelt hatten. Die einzelnen Ortschaften waren durchaus unabhängig; sie schufen sich ihre Satzungen selbst, denn „nächst Gott und der Sonne war jeder gemeine Mann seine eigene Obrigkeit“, wie ein alter Spruch der Engadiner besagte. Doch um der Ordnung und des Friedens willen fügten sie sich auch einer selbstgewählten Obrigkeit, ihrem „Dorfmeister“, dem „Cavig“. Mehrere Ortschaften vereinigten sich zu einer Pfarrgemeinde, die sich wiederum einen Ammann wählte, der mit geschworenen Leuten jede ernstere Streitigkeit der Dörfler zu schlichten hatte.
Eine solche Pfarrgemeinde bildeten im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts die Dörfer und Dörfchen Islas (Isola), Sils-Baseglia, Sils-Maria und Silvaplana, mit Surley als Hauptort. Zum Ammann hatte die Pfarrgemeinde den dortigen Bauer und Cavig Gian Madulani gewählt, der als der reichste Mann der ganzen, im Grunde recht armen Thalgegend galt. Madulani war ein hochgewachsener Fünfziger von gewaltiger Körperkraft, seine scharfen dunklen Augen blickten durchdringend aus einem wettergebräunten Gesicht, dessen Ausdruck ebenso wohl von Verschlagenheit wie von einem festen, unbeugsamen Willen
[502] Zeugniß ablegte. Die Dorfgenossen liebten ihn nicht, aber sie fügten sich der überlegenen Persönlichkeit, deren Wirken, wenn es auch nicht frei von Härte war, doch der Gemeinde immer zum Vortheil gereicht hatte. Und ebenso wie in der Gemeinde herrschte Madulani im eigenen Hause, das unter den ärmlichen steinernen Wohnstätten sich durch Größe und Wohlhäbigkeit auszeichnete. Es ging darin alles seinen geregelten, ruhigen Gang; ernst und wortkarg beaufsichtigte die stattliche Hausfrau das Gesinde und den großen Viehstand, welcher Madulanis Hauptreichthum ausmachte und nicht wenig zu seinem Selbstgefühl beitrug. Ebenso stolz wie auf sein Besitzthum aber war er auf einen andern Schatz, dessengleichen im ganzen Engadin nicht mehr zu finden war: eine reizende Tochter, die unbestritten als das schönste Mädchen weit und breit galt. Naninia oder, wie man sie abgekürzt nannte, Aninia war weit entfernt, den Stolz ihres Vaters auf den Reichthum zu theilen. Auch von der düstern Strenge der Mutter hatte das blonde Kind nichts geerbt, ihre wunderschönen dunklen Augen lachten fröhlich in die Welt, und um das rosige Gesicht lag wie ein Glorienschein die köstliche Fülle ihres lockigen, goldblonden Haares, das, aufgelöst, wohl die ganze, nicht große, aber anmuthig gebaute Gestalt hätte umwallen können. Man nannte sie deshalb, auch wohl mit einer Anspielung auf den Wohlstand ihres Vaters, allgemein die „Gold-Aninia“. Daß ein Mädchen mit solchen Eigenschaften, dazu in heirathsfähigem Alter, der Bewerber viele haben mußte, konnte nicht ausbleiben, auch blickten alle ledigen Burschen der fünf vereinigten Dörfer bewundernd, mit begehrlichen Augen zu ihr auf, ohne daß bis jetzt einer den Muth gefunden hätte, seine Neigung dem schönen Mädchen oder gar dem Vater gegenüber laut werden zu lassen; denn der Gian Madulani wollte mit seinem Kinde hoch hinaus und hatte schon bei mancher Gelegenheit, wenn man ihm gegenüber auf den und jenen als den künftigen Schwiegersohn anspielte, mit verächtlichem Auflachen geantwortet: „Bildet Euch nicht ein, daß mir einer von den armen Schluckern gut genug wäre, der Mann müßte noch geboren werden, dem ich hier meine Gold-Aninia zum Weibe gäbe!“
Die Männer schüttelten dann wohl nach seinem Weggehen die Köpfe über den maßlosen Hochmuth, aber es blieb auch still von Bewerbern um Aninias Hand.
Wer sich darum am wenigsten kümmerte, war Gold-Aninia selbst in ihrer jugendlichen Herzensfröhlichkeit; aber auch ihre Mutter Barbla schien durchaus nicht von den Empfindungen beseelt, welche andere Mütter heirathsfähiger Töchter unter solchen Umständen ergreifen. Sie beobachtete im Gegentheil mit einem geheimen Vergnügen, welches aber keinen Widerschein in ihren kalten, verschlossenen Zügen fand, die abschreckende Wirkung von Madulanis Hochmuth. Dieser theilte, ohne es zu ahnen, das alte Tyrannenschicksal, die Gegenpartei im eigenen Hause zu haben. Denn in Frau Barblas Kopf war ebenfalls ein Plan für Aninias Verheirathung fertig, der freilich von dem ihres geldgierigen Mannes himmelweit verschieden war.
In einer der kleinsten, ärmlichsten Hütten von Surley wohnte mit ihrem erwachsenen Sohne eine Witwe, Maria Büssin; beide ernährten sich kümmerlich von ihrer Hände Arbeit und dem Ertrage, welchen ein paar Ziegen abwarfen. Das war die Schwester des reichen Mannes, der ungerührt ihre Noth sah und am liebsten seinem Weibe untersagt hätte, der Schwägerin irgend eine Unterstützung zu leisten. Aber so herrisch und gewaltthätig er sonst seinen Willen durchzusetzen pflegte – hier wich er scheu zurück, wenn in einem heftigen Wortwechsel über diesen Gegenstand Frau Barbla plötzlich die scharfen schwarzen Augen auf ihn richtete und kurz abweisend sagte: „Ich lasse mir von Dir nicht verbieten, das zu thun, was Du selber müßtest, wenn Dein Herz nicht von Stein wäre!“
Dann fluchte der Cavig wohl noch eine Zeit lang über den verdammten Weibereigensinn, aber doch in gemäßigterem Tone, und er wandte die Augen weg, wenn Frau Barbla mit gefülltem Korbe die Brücke überschritt, welche von seinem Hause über den Surleybach zur Dorfstraße hinüber führte. Er würde ihr nachgeeilt sein und sie mit Gewalt zurückgerissen haben, hätte er geahnt, daß ihr Erscheinen der armseligen Hütte der Büssin noch einem anderen Zwecke galt: deren Sohn Clo, ein gutmüthiger, langer Bursche, in Madulanis Augen der letzte der letzten, trug eine verschwiegene Liebe zur Gold-Aninia im Herzen, und die beiden Mütter hatten sich’s in den Kopf gesetzt, dieser Liebe zum Sieg zu verhelfen.
Deshalb war Frau Barbla so zufrieden, daß sich bis jetzt kein anderer gemeldet hatte – sie hoffte, allmählich mit Schlauheit und Ueberredungskunst ihren ungefügen Eheherrn der Heirath geneigt zu machen. Aber plötzlich änderte sich die Lage, es trat ein zweiter Bewerber um die Hand der schönen Aninia auf, und dieser stellte sich sofort als sehr gefährlich für die Pläne der beiden Frauen heraus, denn Vater Madulani lieh seinen Reden ein geneigtes Ohr.
Aus dem nahen Sils-Baseglia war vor Zeiten ein junger Bursche als armer Waisenknabe in die Welt hinausgewandert. Volle zehn Jahre vergingen; da kehrte er in seine bergige Heimath zurück, doch ein ganz anderer, als er einstens ausgezogen war. Er trug ein modisches Habit von feinem Tuch, mit schweren silbernen Knöpfen, eine lange gestickte seidene Schoßweste und darüber einen mit Pelz besetzten Roquelaure, wie auch einen dreieckigen goldbordirten Hut, sogar einen zierlichen Degen an der Seite! Und würde er einem der stolzen Adelsgeschlechter der Planta, Salis oder Juvalta angehört haben, er hätte nicht hoffährtiger einherstolzieren können. Auf keinen Fall vermochte man den ehemaligen armen Peider in ihm zu erkennen. Doch sein auffallend reiches Aeußere war nicht das eines Abenteurers, er besaß Gold, wirkliches Gold, blinkende Louisdor, die man in den Dörfern sich nicht erinnerte, je gesehen zu haben; und es waren deren so viele, daß sie im Engadin ein gewaltiges Kapital ausmachen mußten. Wie er sie erworben, wie seine merkwürdige Umwandlung sich vollzogen? – mit der Lösung dieses Räthsels hielt er nicht hinterm Berge; er erzählte es laut und lustig jedem – allen, die es nur hören wollten.
Den armen Peter oder Peider, wie er auf Romanisch gerufen wurde, hatte es nicht in der Heimath geduldet, die ihm nichts als Entbehrungen, Hunger und Schläge bot. Er war den Malojapaß hinab durch das Bergell nach Chiavenna gezogen; dann hatte er hungernd und bettelnd den Weg durch Italien nach Frankreich und der großen Stadt Paris gesucht, um sich dort bei den schweizer Soldaten, von denen er auf seinen Wegen gehört hatte, anwerben zu lassen. Endlich nach vielen Mühseligkeiten am Ziel seiner Sehnsucht, in Paris, angelangt, führte ihn ein glücklicher Zufall wenn auch nicht in die Dienste des Königs, doch in die von dessen Bruder, dem Grafen von Provence, und dabei nicht in eine Kaserne, sondern in einen weit angenehmeren Aufenthalt, die prinzliche Küche. Hier wurde er dem Departement der Leckereien, der Konfitüren und feinen Bäckereien, der Torten und Kuchen, Bonbons und Chokoladen zugetheilt, anfangs nur als Küchenjunge für allerlei Handleistungen und die groben Arbeiten, doch seine Anstelligkeit, sein Trieb, sich nützlich zu machen und zu lernen, brachten ihn rasch in bessere Stellung. Nach wenigen Jahren war er ein geschickter Confiseur des Laboratoriums der Küche Sr. königlichen Hoheit geworden, endlich sogar Chef des süßen Departements, und er verdiente Geld über Geld. Aber dies schöne Pariser Leben dauerte leider nicht allzulange; das Jahr 1789 kam heran, mit ihm der Sturm auf die Bastille und – die Revolution. Der älteste Bruder des Königs, der Graf von Provence, war einer der ersten, welcher die Bedeutung der revolutionären Bewegung erkannte, in ihren schweren Folgen voraussah und sofort seine Maßregeln dagegen traf. Er löste seinen großen kostspieligen Hausstand auf und mit den Getreuen seines kleinen Nebenhofes verließ er Paris und Frankreich. Unser Engadiner Konditor, dem man in Paris den Namen „Pierre“ gegeben hatte, folgte rasch dem Beispiel seines Herrn; er raffte sein schönes Gold zusammen, noch bevor er es hätte in Assignaten umsetzen können, fügte seine Pretiosen, Geschenke hoher Gönner, hinzu und packte diesen Schatz in die besten Kleider seiner Garderobe. Dann verließ er die schöne französische Hauptstadt und eilte auf gradem Wege seiner schweizer Heimath zu.
Gegen Ende des Winters, im März 1790, zog Pierre in Sils-Baseglia ein. Hatte schon der anscheinend vornehme Reisende, der weder Mühen und Gefahren noch Geld scheute, um in dieser Jahreszeit nach dem ärmlichen Dörfchen zu gelangen, überall großes Aufsehen erregt, so erreichte das Staunen dort den höchsten Grad, als man in dem Fremden den ehemaligen ärmsten Burschen der Gemeinde wiedererkannte. Die guten Leute wollten und mußten wieder an Wunder glauben, bis Pierre ihnen das Unerhörte und Unbegreifliche auf natürliche Weise erklärte. Er fühlte sich durch das Aufsehen, welches sein Erscheinen erregte, reichlich entschädigt für die nicht geringen Reisestrapazen und das [503] theure Geld, welches er dafür ausgegeben hatte. Vor der Hand genügte ihm der Aufenthalt in der alten Heimath, er konnte noch eine gute Weile forterzählen und sich bewundern lassen, um dann, bei Eintritt der besseren Jahreszeit, seine Reise, oder richtiger, seinen Triumphzug durch das ganze Engadin fortzusetzen. Er gedachte geradesweges nach der Kaiserstadt Wien zu ziehen; was sollte auch er, der geschickte Pariser Confiseur, hier in dem öden Alpenthal und bei seinen armen Bewohnern treiben? Doch es kam zunächst ganz anders, als der „Pariser“ oder „Franzosen“-, auch „Gold-Peider“, welche Namen seine Landsleute ihm rasch beigelegt hatten, es geplant hatte.
Der Ruf des Wundermannes aus Sils-Baseglia hatte sich bald in den nächsten Dörfern verbreitet, und wo es der Schnee zuließ, kam man herbei, ihn anzustaunen, sich von ihm seine merkwürdigen Lebensschickale erzählen zu lassen. Auch der Cavig Gian Madulani zog nach Sils-Baseglia, um sich den Vielbesprochenen anzusehen, der noch mehr Geld haben sollte als er, der bisher reichste Bauer der ganzen Pfarrgemeinde. Gian fand sich so befriedigt von der gewandten und gar nicht üblen Persönlichkeit, von den blanken Goldstücken und den Erzählungen des Landsmannes, daß er diesen einlud, ihn in Surley zu besuchen. Peider erschien schon in den nächsten Tagen, sah bei dieser Gelegenheit die Gold-Aninia, und geblendet von der seltenen Schönheit des Mädchens, seltsam getroffen durch den Beinamen, der so gut zu dem seinigen paßte, beschloß er, seine Reise nach Wien so lange aufzuschieben, bis er die Gold-Aninia als sein Weibchen mit nach der Kaiserstadt an der Donau führen konnte. Denn daß das Mädchen sich sträuben würde, seine Bewerbungen, falls er sie ernstlich vortrüge, anzunehmen, kam ihm nicht entfernt in den Sinn, ebenso wenig, daß Vater Madulani sich weigern könnte, eine solche Verbindung gutzuheißen. Peider glaubte sogar seiner Zustimmung schon jetzt sicher zu sein; hatte der Alte doch bereits bei einer Anspielung darauf geschmunzelt, was wohl anstatt einer ermuthigenden Rede gelten konnte.
Also war der zweite, gefährliche Freier der schönen goldblonden und reichen Engadinerin beschaffen. – Bald jedoch sollte ein dritter und wohl noch weit gefährlicherer hinzukommen.
Der Mai desselben Jahres 1790 war gekommen und mit ihm der Frühling für die Hochthäler des Engadins, die nach der Behauptung eines volksthümlichen bitteren Scherzwortes „neun Monate Winter und drei Monate schlechtes Wetter“ haben. Diesmal aber war es anders, denn schon mit Ende April war der Schnee des Thals zergangen und der junge Frühling mit seinem frischen Grün und den knospenden Alpenrosen überraschend schnell eingezogen. Alle Angehörigen der Pfarrgemeinde Surley aus den umliegenden Ortschaften hatten sich am letzten Sonntag des Mai in ihrem Hauptort zusammengefunden, um nach glücklich überstandenem Winter in althergebrachter Weise mit Trinken, Gesang und Tanz des Frühlings Einzug zu feiern. Der große, freie Platz, eine vom Surleywasser durchflossene, im schönsten saftigen Grün sich weit ausbreitende Wiese, zwischen dem Dorfe und dem Stückchen Inn, das – hier noch „Sela“ benannt – die beiden Seen von Silvaplana und Campfèr verband, war wie gewohnt als Fest- und Tanzplatz ersehen worden. Die Matte erstreckte sich nach Osten hin bis zu dem vorspringenden, dichtbewaldeten Hügel Crestalta, wo vor vielen Jahrhunderten ein Kloster gestanden haben soll; jetzt gab es dort nur noch einige Ruinen und Steinhaufen, die indessen einen einsamen Bewohner, einen aus dem italienischen Veltlin eingewanderten alten Mönch, Fra Battista geheißen, beherbergten.
Die ziemlich große und recht bunte Gesellschaft hatte sich in drei sichtlich scharf getrennte Gruppen geschieden. An einzelnen roh gezimmerten Tafeln, die sich an die Kirche und die Wohnstätten lehnten, saßen die Alten, Männer und Frauen, während zu beiden Seiten, in weiter Ausbreitung, nach dem Silvaplanaer See hin die Burschen, nach der schattigen Halde des Crestalta zu die jungen Mädchen, theils an Tischen saßen, theils schon auf dem sonnigen Rasen lagerten. Der reiche Gian Madulani hatte aus dem italienischen Veltlin ein Faß des dort wachsenden köstlichen Rothweines herbeigeschafft, das er nun mit seinen älteren Standesgenossen leerte; der Pariser Peider, der nicht umsonst „Gold-Peider“ heißen wollte, that ein Gleiches für die junge Welt. Mit den alten und neuen Freunden aus Baseglia hatte er ein noch größeres Faß als das des Ammanns über den Berninapaß dahergeführt und gab dessen würzigen, berauschenden Inhalt den jungen Burschen zum besten. Die Frauen hatten nach altem Brauch kleine Kuchen aus Kastanienmehl gebacken, mit Rosinen und Zirbelnußkernen verziert, eine begehrte und seltene Leckerei. Es ging für die an Entbehrungen gewöhnten, genügsamen Engadiner hoch her und die fröhlichste Stimmung herrschte allerwärts.
Gian Madulani saß zwischen seinem Weibe Barbla und seiner Schwester, der Büssin; erstere war eine schmächtige Gestalt mit bleichen gutmüthigen Zügen, doch mit einem Blick der dunklen Augen, der deutlich sagte, daß auch ihr die Energie innewohnte, welche den abgehärteten Bewohnern des rauhen Engadins eigen ist. Die Büssin war eine große, starkknochige Frau, mit gebräuntem Antlitz, sichtlich energisch und eigensinnig wie ihr Bruder, dessen Züge sie trug. Beide Frauen hatten den heutigen Festtag mit seinem feurigen Veltliner als vorzügliche Gelegenheit erkannt, zu Gunsten des Clo nun einmal offen dem Vater zu Leibe zu gehen, welcher bisher die vorsichtigen Anspielungen seiner Frau immer zu überhören für gut fand.
Eine ganze Weile ließ Gian sein Weib von der einen, dann seine Schwester von der andern Seite auf sich einreden; immer geläufiger gingen ihre Zungen, gestalteten sich die Reden, und da der Ammann hartnäckig schwieg, dabei gar nicht unfreundlich blickte, nur dann und wann den gefüllten Weinkrug zu langem Zuge an die Lippen führte, so glaubten sie sich bereits dem gehofften Ziele, ihrem vollständigen Siege nahe. Schon wollten die Angriffe, die Bitten und Schmeicheleien in schüchterne Dankesworte übergehen, – da öffnete Gian endlich den Mund zu etwas anderem als zum Trinken. Mit einem kräftigen Schlage setzte er den Weinkrug auf die Tafel nieder, und seine ganze mächtige Gestalt reckend und dehnend, die beiden Frauen nach einander mit blitzenden Augen anschauend, sprach er laut, unbekümmert, ob seine übrige Umgebung es hörte oder nicht:
„Nun ist’s genug! Nun hört meine Meinung, und an der ist nichts zu ändern, das merkt Euch. Hättest Du“ – er wandte sich an seine Schwester – „nicht einen Habenichts geheirathet, so säßest Du heute nicht als die ärmste Frau von Surley in dem elendesten Steinhaufen des Dorfes und brauchtest Dir nicht von Deiner Schwägerin, hinter meinem Rücken, von Zeit zu Zeit das Allernothwendigste zu erbetteln. Das ist für Dich, Maria Büssin. Dir, meinem Weibe, aber sage ich, daß ich mich nicht mein ganzes Leben lang dafür geplagt haben will, damit ein zweiter Habenichts sich mit dem, was wir erworben haben, gütlich thun kann. Geld muß zu Geld, Gut zu Gut, so gehört es sich und so muß es bleiben, so lange Grund und Grath stehen! Ich halte es also, so wahr mir Gott helfe! oder – ich müßte denn selber ein Bettler und arm geworden sein wie die da!“
Gians Schwester saß in sich gekrümmt da und weinte; die sonst so starke Frau fand keine Erwiderung auf den leidenschaftlichen Ausfall ihres Bruders, der, so lange sie denken konnte, nicht mit einer solchen Rücksichtslosigkeit zu ihr gesprochen hatte. Doch die Schwägerin antwortete für die zu arg Mißhandelte. Die schmächtige Gestalt hob sich langsam von ihrem Sitz empor, die Arme stemmte Frau Barbla auf die Tafel, ihr sonst so bleiches Antlitz war geröthet und die Augen, auf ihren Mann gerichtet, sprühten Feuer. Dann sprach sie, ihre Aufregung, so viel es ihr nur möglich war, zu bemeistern suchend:
„Unser Herrgott mag Dir Deine sündigen Worte verzeihen! Der Geldteufel verblendet Dich, Gian Madulani, daß Du kein Herz mehr hast für Deine Schwester und ihren Sohn. – Du weißt es so gut wie ich, daß sie nicht arm wären, wenn –“
„Genug der einfältigen Reden!“ rief der Cavig mit zornbebender Stimme. „Nicht ein Wort mehr will ich hören, und was ich geschworen habe, das habe ich geschworen.“
„Gut,“ erwiderte Frau Barbla, mühsam an sich haltend, „ich kann Dich nicht zwingen, unser Kind dem Clo zu geben, der ein guter Bursch ist und ehrenwerth und ein Herz für sie hätte. Aber,“ fuhr sie mit starker Stimme fort, „etwas anderes kann ich: meine Einwilligung als Mutter verweigern, wenn Du sie aus Habgier, um Geld und immer mehr Geld, an den Freier, der Dir im Kopfe steckt, verkaufen willst. Da habe ich mit dreinzureden, und so gelobe auch ich, Schwur gegen Schwur: So lange Grund
[504][505] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [506] und Grath stehen, soll der windige Franzosen-Peider nicht der Mann meiner Aninia werden, es sei denn, sie wolle es selber.“
„Weib, schweige! – oder bei Gott!“ – schrie der Ammann in jäh aufloderndem wilden Zorn, alles um sich her vergessend. Zugleich fuhr die geballte Faust so mächtig auf die schwere Bohlentafel nieder, daß diese mit den darauf befindlichen Trinkgeschirren zitterte und schwankte. Er fühlte es heiß in seine Schläfen steigen und mußte sich Gewalt anthun, um nicht die Hand zu erheben gegen das Weib, welches seine geheimsten Gedanken errathen und dieselben nicht nur ungescheut vor der ganzen Gemeinde ausgesprochen, sondern ihm zu gleicher Zeit Trotz geboten hatte mit einem Wort, das ihm so viel wie ein heiliger Schwur galt. Das war unerhört – das konnte er als Hausherr, als Cavig und Ammann nicht dulden! – Alle Gespräche ringsum waren verstummt und die Augen aller auf die Drei gerichtet, deren ganzes schwerwiegendes Reden und Streiten man Wort für Wort vernommen und nur zu gut verstanden hatte. Wie ein Blitz fuhr der Gedanke daran dem Ammann durch das Hirn; sekundenlang kämpfte in ihm der blinde Zorn mit dem Bewußtsein, daß er sich jetzt nicht durch ein ungeschicktes Wort bloßstellen dürfe, und gewaltsam rang der starke willenskräftige Mann nach Fassung; da – gleichsam als Antwort auf seinen eben niedergefallenen Faustschlag, der schallend die Tafel getroffen hatte, erhob sich plötzlich an der Seite des Festplatzes, dort, wo die Mädchen weilten, ein lauter Tumult, der jäh anschwoll. Schallende Männerstimmen, kreischende Rufe der Weiber tönten durcheinander, der Lärm wuchs immer weiter, so daß sich im Nu alles von den Sitzen erhob.
Auch der Ammann schnellte empor, horchte einen Augenblick, wohl um sich zu sammeln, dann aber, als er auch die Stimme seiner Aninia zu vernehmen glaubte, flog er, die Bank überspringend, mit der Gelenkigkeit eines jungen Burschen davon und den Streitenden entgegen. Die beiden Frauen und die meisten der sonst noch dort Weilenden folgten ihm in athemloser Hast, die übrigen Festgenossen eilten von allen Seiten herbei, um zu sehen, was sich auf der Wiese zugetragen, während drüben am Tisch die Alten stritten.
Dort hatte inzwischen der Franzosen-Peider einen dichten Kreis von Zuhörern, alten und neuen Freunden um sein Faß Veltliner versammelt und prahlte in gewohnter Weise mit seinen Erfolgen und Abenteuern. Er hatte sein bestes und reichstes französisches Habit angelegt und ging heute in seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, sogar mit einem großen schwarztaffetnen Haarbeutel im Nacken einher. Daß er seinen stählernen Galanteriedegen durch die Rockschöße gesteckt hatte, war selbstverständlich; sah man ihn doch nie ohne diese Zierat. So nahe als möglich bei ihm hatte sich der lange Clo hingepflanzt und lauschte mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen den Erzählungen des Parisers. Schön war er gerade nicht, der Sohn der Maria Büssin, und er würde mit seiner derbknochigen Gestalt, mit den scharfen Gesichtszügen nimmer zu der hübschen und feingegliederten Gold-Aninia gepaßt haben. Auch schien er sich just nicht als unglücklich Liebender zu fühlen, zum wenigsten nicht in diesem Augenblick, wo ihn sichtlich nur ein Gedanke, die Abenteuer und das viele Geld seines Landsmannes, beherrschte.
Der Franzosen-Peider war bei seinem Lieblingsthema, den Frauen, angekommen. „Und die Weiber, die Pariserinnen erst!“ so rief er, dabei mit den Lippen schnalzend, als ob er die süßeste der Konfitüren zu kosten gehabt hätte! „Eine solche Sorte giebt es ein zweites Mal nicht wieder, und wer bei denen in die Schule gegangen ist, dem widersteht keine mehr. Kinder, ich sage Euch nochmals: die schönsten, reizendsten Weiber giebt es nur in Paris! sie sollen leben – hoch!“ Und sein Trinkgeschirr hebend, stieß er mit den anderen Burschen an, die lärmend, doch verständnißlos sein „Hoch“ wiederholten.
Nur der Clo schwieg. Unbeweglich, die knochigen Ellbogen auf die Tafel, das Kinn in die beiden Fäuste gestützt, saß er da und sagte, als der Lärm sich gelegt hatte, gelassen:
„Nun, Pariser, ich denke, auch bei uns giebt es schöne Mädchen, wie zum Beispiel – die Gold-Aninia.“
„Und die lange Staschia Cadruvi!“ rief ein anderer Bursche dazwischen, was bei den übrigen ein lustig neckendes Lachen zur Folge hatte, denn man wußte aller Orten gar wohl, daß der lange Clo, bevor er sich an die Gold-Aninia herangewagt, der längsten Dirne von Surley, der übrigens gar nicht üblen Staschia Cadruvi, den Hof gemacht hatte.
Der Stich hatte getroffen und verlegen senkte Clo die Augen, biß die Lippen zusammen und verstummte. Da rief der Franzosen-Peider schon wieder:
„Des Gian Madulani Tochter, die Gold-Aninia, lasse ich gelten, nur muß sie sich bessere Manieren angewöhnen und Eure abscheuliche, veraltete Tracht modernisiren. Doch das werde ich schon besorgen – wenn ich mich überhaupt entschließen sollte, sie zu meinem Weibe zu nehmen.“
„Oho!“ brummte der Clo, der durch diese übermüthigen Worte aus seinem Brüten wieder aufgeweckt worden war. „Weißt Du denn so bestimmt, daß sie Dich überhaupt will?“
Hell lachte der Peider auf und sagte dann, sich dabei auf die Stirn tippend: „O Du baumlanger, kurzsichtiger Bauer! Weißt und siehst nicht einmal, was in Deiner Nähe, fast unter Deiner Habichtsnase vorgeht! Reibe Dir nur erst den Schlaf ordentlich aus den blöden Augen, dann wirst Du allerhand sehen, was Deinem dicken Schädel bis jetzt nicht eingefallen ist. Aber hört nur,“ fuhr er, plötzlich den Ton ändernd, zu den andern gewendet fort, während Clo mit geballten Fäusten dastand, unschlüssig, ob er zuschlagen sollte oder nicht, „hört nur! Die Mädels drüben rufen nach uns, sie haben das Tanzlied angestimmt und werden gleich den Reigen beginnen! Da müssen wir hin, wenn sie uns nicht für ungalante, dumme Tölpel halten sollen. Und Du,“ sagte er jetzt so vertraulich, als sei nicht das mindeste vorgefallen, zu seinem noch immer ingrimmig dreinblickenden Gegner – „und Du, halte Dich an mich und merke auf, dann wirst Du sehen, wie ich mit Deiner Gold-Aninia stehe, und wie Du es anstellen mußt, um ein Frauenzimmer, sei es auch das schönste, stolzeste und störrischste, zu kirren.“
Damit eilte er, von der ganzen, bereits stark angeheiterten Gesellschaft begleitet, der auch Clo sich mit seinen längsten Schritten anschloß, über die Wiese der Stelle zu, wo die Mädchen in der That bereits nach einer Liedweise, die sie lustig sangen, einen Reigentanz begonnen hatten.
Dort war bis jetzt die schöne Gold-Aninia der Mittelpunkt des ziemlich großen und heiteren Mädchenkreises gewesen. Sie war mit ihrer zierlichen, anmuthigen Gestalt, mit dem frischen, rosigen Gesichtchen, den schwarzen strahlenden Augen und dem reichen goldblonden Haar wirklich eine Schönheit seltener Art. Dabei zeigte ihr ganzes Gebahren eine natürliche Gutmüthigkeit, wenn auch aus den dunklen Augen gelegentlich ein starkes Aufleuchten ging, das von kräftigem Willen und einer leidenschaftsfähigen Seele sprach.
Die Gold-Aninia hatte sich am Nachmittage vorzugsweise und recht angelegentlich mit einem Mädchen beschäftigt, das viel zu groß und stark war, um wirklich hübsch genannt werden zu können. So verschieden die beiden in ihrem Aeußeren auch waren, so mußte sie doch eine echte und rechte Freundschaft verbinden, denn es waren intime Herzensangelegenheiten, die sie halblaut mit einander verhandelten, wobei Aninia endlich lächelnd und doch recht ernst sagte:
„Gieb Dich nur zufrieden, Staschia, ich fange Dir Deinen langen Clo, der so gut zu Dir paßt, nicht weg; – denn erstens mag ich ihn nicht, und dann würde der Vater nun und nimmer in eine solche Heirath willigen. Ist auch die Mutter dafür, so hilft ihr Zureden doch nichts, wenn ich selber nicht will. Ich brauche nur dabei zu bleiben, daß ich meinen leiblichen Vetter nicht zum Manne nehme, dann können sie’s nicht erzwingen, sie und Vatersschwester. Sei nur ruhig, der Clo ist und bleibt Dir gewiß.“
„Du denkst vermuthlich an den Pariser?“ warf die Lange, tief und erleichtert aufathmend, ein.
Gold-Aninia schlug eine helle Lache auf. „Gefehlt, Staschia, weit gefehlt!“ rief sie mit einer fast übermüthigen Lustigkeit. „An den Franzosen-Peider würde ich zu allerletzt denken – und dann nicht einmal! Der ist in meinen Augen nichts weiter als ein Schwätzer, ein Aufschneider.“
„Aber Du hörst ihm doch immer so gern zu, lachst mit ihm, wenn er zu Deinem Vater nach Surley kommt –“
„Weil mich sein Geschwätz unterhält; wenn er aber zu toll prahlt und lügt, lache ich ihn aus.“
„Dann muß Dir auf alle Fälle doch ein anderer im Sinn liegen,“ meinte die lange Staschia recht treuherzig, doch auch nicht wenig neugierig. „Du hast doch auch ein Herz!“
[507] „Nun, das will ich meinen,“ lachte Aninia, „wenn es auch nicht so verliebt ist wie die Euren sammt und sonders.“
„Gefällt Dir denn keiner von den Burschen?“
„Sie gefallen mir alle, aber keiner besser als der andere; ich mag keinen von ihnen nur halb so gern, als früher einen armen Buben, der mein Spielkamerad war. Gott weiß, wo er hingekommen ist; wäre der hier geblieben, so könnte wohl sein –“ sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann im alten lustigen Ton fort: „Ach was – das ist alles dummes Zeug. Soll mir heute einer gefallen, so muß es auf den ersten Blick geschehen, und geschieht’s – dann, Staschia, darfst Du Dich darauf verlassen, daß ich den Burschen – mag er sein, wer er will – zum Manne nehme. – Und nun laß uns das Tanzlied anstimmen, damit die faulen Burschen ihre Weinkrüge im Stiche lassen und wir endlich tanzen können, Du mit dem Clo, ich mit dem Pariser!“
Damit sprang sie fröhlich, das wohlbekannte Tanzliedchen singend, zu den Freundinnen zurück, die sofort einen Reigen bildeten, der durch das rasche Hinzutreten der Burschen immer größer und lustiger wurde und zugleich immer kühnere und drolligere Schwenkungen und Verschlingungen ausführte.
Eine volle halbe Stunde ohne Aufhören mochte dies lustige Tanzen und Singen gedauert haben, wenn auch manchem Paare dabei vor Lachen und Anstrengung zeitweilig der Athem ausgehen wollte. Der Franzosen-Peider hatte in der That sich sofort an die Seite der Gold-Aninia gedrängt, war auch von derselben recht freundlich als Tänzer angenommen worden, und der lange Clo fand sich – er wußte wahrhaftig nicht, wie es geschehen! – an der Seite der gleichgroßen Staschia Cadruvi. Beide bildeten ein sehr stattliches Paar, das fast um Kopfeslänge den größten Theil der übrigen Tänzer und Tänzerinnen überragte. Der äußerst gewandte und lustige Franzosen-Peider hatte es so einzurichten gewußt, daß die lange Schlangenlinie der Tanzenden sich mehr und mehr den Arven des Crestaltahügels näherte.
Dort, ziemlich hoch am Hügel droben, zwischen den dichten Stämmen des dunklen Nadelholzes, von Büschen knospender Alpenrosen verdeckt, kauerte schon seit geraumer Zeit eine seltsame Gestalt. Den Oberkörper hüllte eine Art ärmelloser Jacke von zottigem Bärenfell ein, und unter dem dichten schwarzen Haar, das in krausem Gelock den Kopf umgab, leuchtete ein Paar dunkelglühender Augen hervor, die nur auf einen einzigen Gegenstand gerichtet schienen. Der Mann hatte sich einen Lagerplatz ausgewählt, von dem aus er zwischen den Baumstämmen durch auf die nahe Wiese hinabschauen konnte, die nun zum Tanzplatz geworden war, und von hier aus starrte er unverwandt auf Aninia und ihren feurigen Tänzer.
Beppo, der Bergamasker, wie ihn die wenigen Leute nannten, mit denen er verkehrte, war übrigens ein noch junger, sogar in seiner Art schöner Bursche, nur etwas verwildert sah er aus. Er stammte aus dem jenseit des Valtellino gelegenen Alpenlande der Bergamasker. Dort stand er in Diensten des in jenem armen Berglande begüterten Grafen Branzi, dessen Schafheerden mit beginnendem Frühling auf die Alpenmatten des Engadins zur Sommerweide getrieben wurden. Als Knabe war er mit seinem Vater und den hochbeinigen Schafen des Grafen auf die Triften Surleys gezogen, dann verschwanden beide und ein anderer bergamasker Schäfer trat an ihre Stelle. Erst im vorigen Jahre war Beppo wieder als Führer der Heerde erschienen, doch hielt er sich scheu von allen Menschen fern und nur wenige Leute waren mit ihm in Berührung gekommen. Auch jetzt war er über den Berninapaß gezogen, um mit dem Cavig von Surley an Ort und Stelle, wie es Brauch und Herkommen wollte, den Weidevertrag für seine Schafe zu bereden, und war nun auf dem Wege nach Surley. Von dem Fest auf der Wiese überrascht, rastete er zwischen den Arven des Hügels.
Der Reigentanz war mit seinem eigentlichen Führer, dem Franzosen-Peider, am Rande des Hügels angelangt; er mußte mit der letzten Kraft der Tanzenden zu Ende gehen. Schon löste sich hier und da die lange, verschlungene Kette, und Paar um Paar flog einzeln, wirbelnd davon, bestrebt, sich auf den Füßen zu erhalten, aber die Mehrzahl kollerte unter Schreien und Gelächter auf den Rasen hin. Da dies der Hauptspaß vom Tanze war, fand niemand etwas Auffallendes dabei, die Mädchen standen schnell wieder auf den Füßen oder neckten ihre Tänzer, wenn es ihnen gelungen war, sich aufrecht zu erhalten. Im allgemeinen Getümmel aber riß der Franzosen-Peider seine Tänzerin weit von den andern fort, nach den Arven hin, indem er sie unausgesetzt so im Wirbel drehte, daß Aninia völlig athemlos plötzlich die Besinnung schwinden fühlte und taumelnd in einer Art von Ohnmacht unter den Bäumen auf den Rasen glitt.
Auf der Tanzwiese begann das fröhliche Lärmen von neuem. Diejenigen Burschen und Mädchen, welche sich aufrecht erhalten hatten, lachten die Gefallenen, Uebereinandergekollerten aus, und diese suchten sich wieder zu erheben, was nicht ohne neues Lachen und Jubeln abging. Plötzlich ertönte unter den Bäumen hervor das schrille, angstvolle Aufkreischen einer wohlbekannten Mädchenstimme, dem sofort ein gräulicher französischer Fluch folgte, den nur der Peider ausgestoßen haben konnte, begleitet von gellenden, weithintönenden und fremdartig klingenden Drohworten einer zweiten Männerstimme. Die Fröhlichen auf der Wiese hatten überrascht, erschrocken kaum die Blicke nach den nahen Bäumen des Crestaltahügels gewendet, da flog der Peider mit zerrissenem, weithinflatterndem Habit, wie von einer Riesenfaust in weitem Bogen aus dem Walde geschleudert, auf die Wiese, wo er keuchend vor Aufregung und Schmerz zusammenbrach. Doch alsbald trat auch ein Mann in zottigem Bärenfell, die scheinbar leblose Gold-Aninia auf den Armen tragend, heraus auf den Tanzplatz.
Was da Schlimmes geschehen, war das Werk weniger Augenblicke gewesen. Der im Grunde nicht bösartige, aber bis zur Gewissenlosigkeit leichtfertige Franzosen-Peider, der den Wein schon bedeutend spürte, war von der Ueberanstrengung und dem verführerischen Anblick des schönen Geschöpfes, das sich für ein paar Minuten in seiner Gewalt befand, bis zum Wahnsinn erregt und verwirrt. Nur dem Trieb des Augenblicks folgend, stürzte er auf das fast besinnungslose Mädchen zu und bedeckte das bleiche, doch so schöne Gesichtchen mit verzehrend glühenden Küssen.
Da wachte Gold-Aninia jäh aus ihrer Betäubung auf, stieß einen schrillen Angstschrei aus, um dann einer wirklichen und tiefen Ohnmacht zu verfallen. Doch zugleich packten den unseligen Menschen zwei nervige Fäuste, hoben ihn mit schier übermenschlicher Kraft vom Boden empor, um ihn dann wie einen leichten Ball in weitem Schwunge auf die Wiese hinaus zu werfen. Der dies gethan, war der Bergamasker, welcher auf seinem Lauerposten die Frechheit des Burschen mitangesehen hatte, aber auch im selben Augenblick den Berg hinab gerannt und mit Blitzesschnelle über ihn hergefallen war. Dann nahm er die ohnmächtige Aninia auf seinen Arm und trug sie unter den Bäumen heraus und zu den übrigen Mädchen zurück.
Kaum vermochte er, sie sanft auf den Rasen niederzulegen, denn im gleichen Augenblicke rückte man von allen Seiten gegen ihn an. „Der Beppo, der Bergamasker,“ schrieen entrüstet die Burschen, jedermann glaubte, in ihm den frechen Störenfried zu sehen, und ein drohendes Ungewitter zog sich über seinem Haupte zusammen, wenn es sich auch vorerst nur durch heftige Scheltworte und Flüche ankündigte. Die Freunde des Franzosen-Peiders, besonders die von Sils-Baseglia, die mit ihm gezecht hatten, stellten sich auf Seite des Mißhandelten, den man vorläufig für ungerecht angegriffen hielt. Nur Clo blieb, wenn auch noch halb zögernd, bei dem Bergamasker stehen, weil ihn ein inneres Gefühl zu dessen Gunsten anwandelte: hatte er doch dem verhaßten Franzosen-Peider ein Tüchtiges ausgewischt!
Dieser aber hatte sich wieder aufgerafft und, jetzt erst recht sinnlos vor Wuth und Scham, seinen Degen gezogen. Unter gellenden Wuthschreien und Flüchen drangen er und seine Freunde auf den Bergamasker ein, der den Nahenden die geballten Fäuste entgegenstreckte. Er war rasch mehrere Schritte von dem noch immer ohnmächtigen Mädchen weggesprungen, um dessen Wiedererwachen sich die Freundinnen bis jetzt vergebens bemühten, und nun entwickelte sich ein Handgemenge, das sich bald zu einem dichten Menschenknäuel gestaltete. Wuchtig fuhren die Fäuste des Bergamaskers auf seine Angreifer nieder und Clo half bei solchem Zuschlagen redlich und sehr wirksam mit. Doch der ungleiche Kampf dauerte nur wenige Augenblicke, da stieß der Beppo plötzlich einen Wehschrei aus, die Hände fuhren nach der Brust, und während die Burschen erschrocken rasch nach allen Seiten auswichen, taumelte der arme Bergamasker einige Male hin und her und sank dann wie leblos zu Boden. Auf der Seite drang ihm ein heller Blutstrom, der den Rasen blutroth färbte.
Der Kanal von Korinth.
Ob es weise war, die Hauptstadt des jungen Königreichs Griechenland auf der Stätte des alten Athens zu errichten, die Frage ist früher oft aufgeworfen und meist verneint worden. Der außerordentlich schnelle Aufschwung des neuen Athens und nicht minder das Emporblühen seiner Hafenstadt Piraeus haben jedenfalls die ärgsten Befürchtungen zu Schanden gemacht: Athen mit Piraeus sind thatsächlich im besten Zuge, nicht nur zur Hauptstadt Griechenlands und des ganzen „Hellenismus“, nein, auch zur europäischen Großstadt sich auszuwachsen.
Um so hemmender macht sich die große Entfernung Athens von den Brennpunkten der westeuropäischen Welt fühlbar, und je mehr sich der Seehandel zwischen dem Westen und dem Osten Europas, oder gar zwischen Europa und Vorderasien den Piraeus zum Kreuzungspunkt aussucht, desto empfindlicher wird gerade für den Seeverkehr die Entlegenheit des ausgezeichneten griechischen Hafens und desto störender der Uebelstand, daß derselbe auf der Fahrt von Westen her erst nach einer beschwerlichen, ja oft gefährlichen Umsegelung der peloponnesischen Halbinsel zu erreichen ist.
Die ungünstige Lage des Piraeus hat denn auch schon im Alterthum Bestrebungen hervorgerufen, den Seeweg dorthin abzukürzen, und ein Blick auf die Karte zeigt, daß dazu weiter nichts nothwendig ist, als die Durchstechung des schmalen Bandes, welches Nordgriechenland mit dem Peloponnes vereinigt. Nur reichten die Mittel Athens, der einzigen für solche großgriechischen Pläne berufenen Macht, nicht zur Durchführung hin, und an eine gesammtgriechische Betheiligung an einem solchen, in erster Reihe ja doch Athen zu gute kommenden Werke war bei der Zersplitterung des alten Griechenlands in eifersüchtige Kantone und Kantönli nicht zu denken.
Erst als Rom seinen erobernden Arm auch über Griechenland ausgestreckt hatte, wurde der Kanal von Korinth zu einer unabweisbaren politischen Nothwendigkeit. Er hätte ja die gerade, kurze Verbindungslinie hergegeben zwischen Italien und Griechenland und weiter nach den römischen Provinzen in Vorderasien. So waren es denn wesentlich Gründe der militärischen Sicherheit des gesammtrömischen Reiches, die einen der nichtsnutzigsten römischen Kaiser bewogen, mit schneller Entschlossenheit an das große Werk zu gehen.
Mit 6000 jüdischen Arbeitern wurde der Durchstich der korinthischen Landenge unter Nero begonnen. Zunächst trieb man eine genügende Zahl von Bohrlöchern, in Abständen von etwa 1000 Fuß, in den Boden, um sich von der Art des Gesteins zu überzeugen, durch welches man in die Tiefe zu dringen haben würde. Die Bohrlöcher sind fast sämmtlich heute noch gut erhalten und geben uns ein deutliches Bild von der Linie, welche Neros Ingenieure für den Kanal ausgewählt. Sie hatten die Gesteinsart, die Bodenerhebungen, die Meeresströmungen so vorzüglich studirt, daß noch heute, nach 1800 Jahren, die jetzige Kanalbaugesellschaft nichts Besseres zu thun wußte, als einfach dem alten Zuge des Neronischen Kanalplans zu folgen, nachdem man mehrere Jahre mit Vermessungen und Bohrversuchen hingebracht hatte.
Nero mußte sein Werk bald nach dem Beginn unterbrechen, weil es in Italien dringendere Geschäfte gab und seitdem ist es liegen geblieben bis zum Anfang der achtziger Jahre unseres Jahrhunderts. Der General Stephan Dürr ist es, dem Griechenland und überhaupt die Länder, die mit Griechenland in Handelsbeziehungen stehen für die Vollendung des gewaltigen Werkes zu danken haben werden. Man hat ihn einmal vor 41 Jahren zum Tode verurtheilt wegen seiner Theilnahme an der ungarischen Revolution, hat ihn aber nicht hängen können, weil man ihn nicht hatte. In Italien fand der ausgezeichnete Offizier die freundlichste Aufnahme und hat es beim König Viktor Emanuel bis zum General und zu des Königs persönlichem Adjutanten gebracht. Mit den Jahren hat sich sein revolutionäres Feuer besänftigt, aber ganz erloschen ist es nicht. Er revolutionirte nach wie vor, aber er hatte es dabei nicht mehr aus politische, sondern auf friedliche Umwälzungen des großen Völkerverkehrs abgesehen, und diese gelangen ihm auch besser als seine früheren revolutionären Heldenthaten. Zuerst hatte er sein Augenmerk auf den Kanal von Panama gerichtet da es ihm aber nicht gelang, das ungeheure Kapital aufzubringen, so stand er von jenem Riesenunternehmen nicht ohne Bedauern ab, warf sich dafür aber mit verdoppelter Thatkraft auf die Ausführung des korinthischen Kanals.
Zunächst bildete General Dürr mit Unterstützung französischer Geldmänner eine Internationale Gesellschaft für den Seefahrtskanal von Korinth“, d. h. eine Aktiengesellschaft welche das nöthige Geld, die Kleinigkeit von 35 Millionen Franken hergab. Diese Gesellschaft schloß sodann einen Vertrag mit einer zweiten Gesellschaft, die sich verpachtete, für 24 Millionen Franken den Kanal innerhalb 8 Jahren herzustellen und betriebsfähig zu übergeben, natürlich immer unter der Ueberwachung der ersten Gesellschaft, die sich von der Tüchtigkeit der geleisteten Arbeit zu überzeugen oder Verbesserungen zu verlangen das Recht hat. Im Beisein des ganzen Hofes, der Minister und zahlreicher eingeladener Gäste that der König Georgias von Griechenland den ersten Spatenstich zu dem Kanal am 10. April des Jahres 1882. Unsere Abbildung bietet eine von Norden her gesehene Skizze des Geländes, durch welches der Kanal führt, und verdeutlicht die Lage der wichtigsten Punkte am Kanal selbst und an seiner Umgebung.
Leicht ist die Arbeit nicht, trotz der anscheinenden Niedrigkeit des Erd-Rückens, durch den man sich von Meer zu Meer hindurchwühlen muß. Von Akrokorinth aus gesehen, sinkt die Landenge scheinbar zur Bedeutungslosigkeit eines Feldrains herab, und man glaubt es kaum, wenn man liest, daß selbst die flachste Kanallinie eine Bodenerhebung von 78 Metern zu durchbohren hat. Aber außer dieser beträchtlichen Höhe hat die Arbeit auch mit der Schwierigkeit des Gesteins, und zwar auf eine nicht unbedeutende Länge, zu kämpfen. Die Geologen werden einst ihre Freude daran haben, wenn die Kanalgesellschaft ihre schöne geologische Karte des Isthmus veröffentlicht! Die Natur hat auf diesem kleinen Raum einen wahren Höllenfandango getanzt und alle nur irgend vorkommenden Gesteinsarten sind hier bunt durcheinander gerüttelt und gequetscht. Es ist hier richtiges Erdbebenland, und sollte dem Kanal jemals eine ernste Gefahr drohen, so dürfte sie nur aus den Tiefen der Erde kommen. Auch jetzt grollt und schüttert es in ihren Eingeweiden jeden Monat im Durchschnitt zweimal, leichte Stöße, von denen man gar kein Aufhebens macht, die so hingenommen werden wie anderswo ein heftiger Gewitterregen.
Die größte Tiefe, die bei der angenommenen Kanallinie erreicht werden muß, liegt wie gesagt 78 Meter unter der höchsten Erhebung am Ufer des Kanals.
Unglücklicherweise ist gerade diese Stelle, in der Mitte des Isthmus belegen, festes Gestein, und ihre Aussprengung hat Millionen und Millionen verschlungen, und diese Umstände haben gerade in der letzten Zeit zu bedenklichen Störungen der Arbeiten, ja zur zeitweisen gänzlichen Einstellung derselben geführt. Das feste Gestein bildet überhaupt nahezu die Hälfte der ganzen Kanalmasse, nämlich 3 Kilometer Länge, während der Kanal von Meer zu Meer 6350 Meter mißt. Die Masse des auszusprengenden Gesteins und der fortzuschaffenden Alluvialschichten beträgt rund 9 Millionen Kubikmeter! Die Tiefe des Kanals nach der Vollendung wird 8 Meter betragen, somit auch den größten Schiffen die Durchfahrt gestatten. Da ferner die Eisenbahnbrücke der Linie Piraeus-Patras 80 Meter hoch über dem Wasserspiegel hinüberführt, so braucht auch der höchste Mastbaum der Erde bei der Durchfahrt nicht verkürzt zu werden.
Von überall her hat die Gesellschaft ihre Arbeiter kommest lassen müssen, denn die Griechen sind nun einmal keine Wegebauer, überhaupt keine ausdauernden Erdarbeiter. Sie bestellen im Schweiße ihres Angesichts ihren steinigen Weinberg und ihr Ackerfeld, aber sie eignen sich nicht für den Bau von Straßen und Kanälen. Außer wenigen Wasserarbeitern sind nur Aerzte, Apotheker, Lazarethgehilfen, Aufseher u. dergl. Nebenpersonal eingeborne Griechen.
Die eigentlichen Kanalarbeiter kommen von anderwärts her. Da sind zunächst die wichtigsten von allen die Montenegriner, die Bohrer und Minensprenger, hohe, schlanke, dabei muskelkräftige Gestalten mit Schultern von fast zwei Drittel Meter Spannungsweite, und mit Fußknöcheln, stark wie die eines Pferdes. Ich habe sie bei meinen wiederholten Wanderungen über den Isthmus nicht ohne Schaudern an den schwindelsteilen Böschungen des Kanals auf winzigen Vorsprüngen stehen und die Spitzhacke [509] oder die Zündschnur handhaben sehen. Sie sprengen sich buchstäblich den Boden unter den Füßen weg, und nur da, wo es die zwingende Noth gebietet, hängen sie sich an eine Leine, die sie vorher mittels einer eisernen Klammer über sich am Felsen befestigt haben.
Auch die Italiener bohren gelegentlich eine Mine, aber ihr Hauptwerk besteht in der Mauerarbeit und im Straßenbau das heißt in der Herrichtung der Geleisunterlagen für die zahlreichen Eisenbahnlinien, die zur Fortschaffung der ausgesprengten und ausgeschaufelten Erdmassen erforderlich sind.
Die eigentlichen Erdarbeiter, die Schaufler und Kärrner, sind die Armenier. Denen ist am wohlsten, wenn sie tief im Schoß der Erde wühlen können. Selbst nach gethaner Arbeit bleiben sie am liebsten unter der Erde. Während sich die Italiener luftige Holzbaracken aufgezimmert haben, die Montenegriner in einem Mittelding von Holz- und Steinbude hausen, graben sich die Armenier tiefe Löcher in die Erde, meist an einem Hügelabhang, und führen dort ihr Maulwurfsleben.
Der Gesundheitszustand auf dem Isthmus ist ein überraschend guter. Mir hat der Gesellschaftsarzt versichert, daß ihm keine Gegend Griechenlands bekannt sei, wo weniger gefährliche Krankheiten, namentlich ansteckende, vorkämen als gerade dort um „Poseidons Fichtenhain“ herum. Die durch alle Jahre hindurch beobachtete Thatsache, daß so gut wie keine Lungenkrankheiten, vollends gar keine chronischen, auf dem Isthmus vorkommen, hat den General Türr bestimmt, ernstlich den Plan einer Luftkuranstalt auf dem höchsten Punkte des Isthmus zu erwägen.
Die Eisenbahn läuft schon seit vier Jahren über den Isthmus, und zwar vom Piraeus – über Athen, Eleusis, Megara – nach Korinth und von hier weiter nach Patras im Westen und nach Nauplia im Süden. Die Kanalgesellschaft rechnet darauf den Wettbewerb selbst mit der Eisenbahnlinie Patras-Korinth-Athen siegreich bestehen zu können. Die Ersparniß an Zeit bei der Eisenbahnfahrt Patras-Athen wird gegen die Dampfschiffahrt auf dem kurzen Wege durch den Kanal höchstens 3 bis 4 Stunden betragen, und dieser verhältnißmäßig geringen Ersparniß halber werden die Güter gewiß nicht der theuren Umladung vom Schiff auf die Eisenbahn unterzogen werden. Aber auch die Reisenden werden es in den meisten Fällen vorziehen, ruhig auf dem Schiff zu bleiben, mit dem sie nach Patras gelangt sind, und von dort auf dem herrlichen korinthischen Meerbusen angesichts des Parnassos, des Kithäron und der Kyllene nach Korinth oder weiter durch den Kanal nach dem saronischen Meerbusen und an Salamis und Aegina vorüber nach dem Piraeus zu fahren. Der korinthische Meerbusen kommt an Erhabenheit der Uferumgürtung den meisten schweizer Seen gleich, und der Parnaß hat denn doch noch einen andern Klang für ein klassisch gebildetes Ohr als der Uri-Rothstock.
Auch sonst fußen die Berechnungen der Kanalgesellschaft bezüglich der Verzinsung ihres Kapitals und der Deckung ihrer Betriebskosten auf einer sehr gesicherten Unterlage. Die griechische Handelsflotte ist schon jetzt eine der bedeutendsten der Welt, – eine Thatsache, die noch lange nicht richtig gewürdigt wird –, und die Kanalgesellschaft rechnet nicht ohne Grund auf eine stattliche Zahl von Schiffen fremder Flagge, die ihre Fahrt nach den Häfen der Levante auf dem kürzeren Wege durch den Kanal nehmen müssen und nehmen werden. Der österreichisch-ungarische Lloyd hat sich bereit erklärt, seine Schiffe nach Konstantinopel, den Häfen von Kleinasien und des Schwarzen Meeres in Zukunft durch den Kanal von Korinth fahren zu lassen, und schon der Konkurrenz wegen müssen die anderen Gesellschaften, die der Engländer, der Italiener, der Franzosen folgen. Bei einer Durchfahrtsgebühr von höchstens 1 Frank für die Tonne werden namentlich die größeren Schiffe, zumal die Dampfer, sicher dem zeitraubenden, kostspieligen und nicht ganz unbedenklichen Weg um die drei Südkaps des Peloponnes den sturmsicheren, um einen ganzen Tag kürzeren durch den Kanal vorziehen. Die Passagierschiffe werden es schon der Passagiere wegen thun müssen, und die großen Kauffahrteifahrer werden das Gleiche im Interesse von Reedern und Verfrachtern thun.
Außer der erwähnten Gefahr von seiten der Erdbeben ist für den Betrieb des korinthischen Kanals nichts zu befürchten, zumal nachdem man gegen eine Versandung, wie sie beim Suezkanal immerwährend stattfindet, das kostspielige, aber sichere Mittel der Böschungsmauern aus bearbeitetem Felsgestein angewendet hat. Die Meeresströmung ist an beiden Mündungen des Kanals eine so sanfte, daß je ein Bagger ausreichen wird, den etwa antreibenden Sand bequem zu bewältigen.
Auch die sonstigen Betriebskosten werden gering sein und sich eigentlich nur auf die geschäftliche Verwaltung beschränken. An jeder Mündung des Kanals wird ein Bureau sich befinden, wo die Schiffspapiere geprüft und die Durchfahrtsgebühren in Empfang genommen werden. Es wird auch einiges Wachpersonal längs des Kanals aufgestellt werden; aber von den kostspieligen Ausweichehäfen, wie sie beim Suezkanal durch seine Länge nöthig geworden sind, wird beim Kanal von Korinth keine Rede sein. Da die größte Ersparniß eines Dampfers bei der Durchfahrt durch den Kanal nur einen Tag beträgt, so muß der Dienst Tag und Nacht stattfinden, damit nicht durch Stillliegen während der Nacht die Hälfte des beabsichtigten Zeitgewinns wieder verloren gehe. Man wird also den Kanal von Korinth auch bei Nacht passiren und zwar bei elektrischer Beleuchtung, deren Zwecken ein am Rande des Kanals errichteter Thurm (k auf unserer Abbildung) dient.
Obwohl nun die Arbeiten an dem Kanal dieses Frühjahr wegen Mangels an Mitteln eingestellt worden sind, so darf man [510] doch annehmen, daß die Unterbrechung nur eine vorübergehende sein werde; und es ist nicht daran zu zweifeln, daß dieser neue Seeweg noch am Ende dieses oder zu Anfang des nächsten Jahrzehnts zu einem der befahrensten des ganzen südlichen Europas gehören wird. Er wird die kürzeste Wasserstraße zwischen dem Mittelländischen Meer und dem griechischen Archipel und weiter hinauf mit dem Schwarzen Meer herstellen. Für Griechenland wird er vor allen Dingen die Bedeutung haben, daß er dessen Hauptstadt um einen vollen Tag dem Seeverkehr näherrücken wird. Erst durch die Vollendung des korinthischen Kanals wird der verzeihliche Fehler wieder gutgemacht sein, daß man vor mehr als 60 Jahren Athen statt Patras oder Korinth zur Hauptstadt Griechenlands erwählte. Athen aber, schon jetzt eine Stadt von über 100 000 Einwohnern, und ganz besonders der Hafen Piraeus, beiläufig auch schon eine Stadt von 25 000 Einwohnern, werden nach der Eröffnung des Kanals zu einer Stellung im Handelsverkehr gelangen, die selbst die glänzendsten Zeiten früherer Größe überholen wird.
Schatten.
(Fortsetzung.)
Nun war der folgende Tag gekommen. Ein Briefchen lag neben Konrad bei seinem Erwachen. Es war schon am Abend für ihn abgegeben worden, meldete der Kellner. Nur wenige herzliche Worte seiner Braut, die ihm mittheilte, daß ihr Vater eben zurückgekehrt sei und er nun am folgenden Vormittag kommen möge.
Es war nun doch eine eigene Erregung, die sich seiner bemächtigte. Nicht Bangigkeit, – dazu war er zu sehr daran gewöhnt, für eine „begehrenswerthe Partie“ gehalten zu werden. Es war eher eine gewisse Scheu, mit seinem Glück an die Oeffentlichkeit zu treten, und doch auch wieder Erwartung, den Schatz, den er erworben, nun aller Welt zu zeigen. Wenige Stunden noch, und er war Bräutigam, und der Telegraph brachte seinen nächsten Angehörigen die beglückende Nachricht.
Er malte es sich aus, welchen Eindruck sie machen würde. Freude, Staunen, ja ein wenig Neid und Aerger bei spekulirenden Müttern und Töchtern.
Dann setzte er die Verlobungsanzeige auf, und ein freudiger Schauer durchrieselte ihn, als er die beiden Namen nebeneinander schrieb . . . Alles Gute in ihm wallte mächtig auf, er überließ sich freudigen, zuversichtlichen Gedanken und sagte sich, daß er mit dem Einsatz seiner ganzen Person das junge Wesen glücklich machen werde, das so vertrauend und voller Liebe sich an ihn schmiegte.
In weicher und gehobener Stimmung trat er den Weg an, und an dem bekannten Hause angelangt, sah er pochenden Herzens zu dem Fenster empor, an dem er gestern Gertruds liebes Gesicht entdeckt hatte.
Heute war es leer. Kam er zu früh? War es ein böses Zeichen? Auch auf dem Flur keine Spur von ihr. Ein freundliches Dienstmädchen führte ihn durch das trauliche Gemach, das ihm gestern so hold erschienen, in des „Herrn“ Zimmer …
Einen Augenblick darauf standen sich dann zwei gegenüber, die sich mit forschenden Blicken maßen.
Kein alter Herr, wie sich Konrad seinen künftigen Schwiegervater vorgestellt hatte, eher ein gleichalteriger, stattlicher Mann, der ihn mit Gertruds Augen fest anblickte.
Unwillkürlich regte sich in Konrad etwas wie Opposition unter diesem Blick. Der herzliche Ton seiner Stimme schwand, und klar, kühl trug er dem Herrn Baurath seine Bitte vor, „gegründet auf das Einverständniß mit dem Fräulein Tochter“. Er legte, ohne unterbrochen zu werden, seine fast glänzenden Verhältnisse dar, sprach von den Erkundigungen, die der Herr Baurath hier und dort einziehen könnte, und schwieg dann plötzlich, auf den schweren, schmerzlichen Seufzer, den sein Zuhörer ausstieß.
„Mein Herr,“ nahm der nun mit energisch klingender Stimme das Wort, „meine Tochter hat mir von der Liebe gesprochen, die sie für Sie empfindet, und das hat mich bewogen, Ihnen so lange ohne Unterbrechung zuzuhören. Ich muß Ihnen gleich bemerken, daß glänzende äußere Verhältnisse, wie Sie sie mir da schildern, keinen Reiz für mich haben und für Gertrud, hoffe ich, ebenso wenig. Der Mann, den ich meiner Tochter wünschte, sollte ein einfacher Mensch sein, der sich in behagliche, wenn auch beschränkte Verhältnisse hinein gearbeitet hat, denn solche Männer, das habe ich vielfach erfahren, sind es, die eine gewisse Gewähr für gute und schlimme Tage bieten.“
Konrad hörte mit Staunen zu. Wollte der Mann ihm Schwierigkeiten machen, weil er reich war und in seinem Beruf viel verdiente?
Er lächelte überlegen.
„Daß ich zufällig in der Lage bin, Ihrem Fräulein Tochter etwas mehr zu bieten als ein beschränktes Los, kann doch unmöglich ein Hinderniß in Ihren Augen sein,“ sagte er.
„Das nicht ganz,“ erwiderte Gertruds Vater entschieden. „Aber daß Sie durch Ihre Verhältnisse zu Lebensanschauungen geführt worden sind, die meinem Kinde fern liegen, – daß zu Ihren Gewohnheiten ein Ton gehört, der mir selbst unverständlich ist und es meiner Tochter stets bleiben soll.“
Konrad sprang auf.
„Ich verstehe Sie nicht,“ rief er erregt.
„Ich war gestern abend im ‚Deutschen Hause‘ und saß in Ihrer Nähe,“ erwiderte Herr Hein gedrückt. „Meine Tochter hatte mir gleich nach meiner Ankunft alles erzählt, und da trieb es mich, Sie zu sehen, womöglich kennen zu lernen . . . Ich weiß nicht, ob Sie es verstehen werden, daß das ganze Wesen des Kreises, in dem Sie sich wohl fühlten, mir zuwider ist, meiner ganzen Natur und meinen Ansichten nach, so sehr, daß ich – verzeihen Sie! – es schmerzlich bedaure, daß die Wahl meiner Tochter auf Sie gefallen ist.“
Konrad wurde sehr blaß. Sein besseres Gefühl sagte ihm, daß der Mann recht habe, daß ein Vater, dem das Glück seines Kindes am Herzen läge, nicht viel Vertrauen zu ihm habe fassen können – und mit Blitzesschnelle flogen die gestrigen Unterhaltungen in seinen Gedanken vorüber. Er hätte dem Vater, der um die Zukunft seines Kindes bangte, sagen mögen, daß sein Herz weit ab von dem ganzen Treiben gewesen sei, daß er es im Grunde verabscheue – daß die Sehnsucht nach einem andern Leben an Gertruds Seite mächtig in ihm sei . . . aber steif und hochmüthig, wie er war, brachte er nichts von alledem über die Lippen. Nur mühsam stieß er hervor:
„Und Sie weisen mich ab wegen eines in lustiger Herrengesellschaft verlebten Abends – Sie lehrten Gertrud, mich durch Ihre Augen sehen, und sie denkt wie Sie?“
„Wäre das noch möglich, so würde ich uns beiden von vornherein diese peinvolle Unterhaltung erspart haben,“ erwiderte Gertruds Vater. „Aber meine Tochter liebt Sie“ – er sprach es mit Widerstreben aus – „ich kenne sie zu gut, um mich darüber zu täuschen. Andererseits aber habe ich wohl Rechte an ihren Gehorsam, soweit er sie im großen ganzen nicht in dem beschränkt, was sie nach reiflicher Ueberlegung für ihr Leben beschließen wird.“
„Was soll das heißen?“ fragte Konrad in ansteigendem Zorn.
„Daß ich einen Aufschub verlange, ein näheres Bekanntwerden, ehe ich meine Einwilligung zu einer Verlobung Gertruds gebe.“
„Und wie sollte das zu ermöglichen sein? Ich lebe, wie Sie wissen, in Berlin und bin so viel beschäftigt, daß ich außer den Ferien nicht daran denken darf, für längere Zeit zu verreisen. Andererseits können Sie Gertrud doch nicht für diesen Zweck nach Berlin senden und im übrigen“ – hier übermannte ihn die gekränkte Eitelkeit – „ich bin mir sehr wohl bewußt, was ich von meiner Frau verlange und was ich ihr zu bieten habe, und ich überschätze mich dabei nicht. Hätten Gertrud und ich außerdem nicht vom ersten Augenblick an unsere gegenseitige Zugehörigkeit empfunden – ich glaube nicht, daß ich mich noch einmal der Möglichkeit einer Abfertigung, wie ich sie eben erfahre, aussetzen würde.“
[511] „Ich zweifle nicht,“ entgegnete Hein finster, „daß Sie eine augenblicklich sehr heftige Neigung für mein Kind empfinden, und es leuchtet mir das sehr wohl ein bei dem Gegensatz, den sie wohl zu den Frauen bildet, mit denen Sie zu verkehren gewohnt sind. Aber vielleicht verdrängt bei nächster Gelegenheit –“
„Mein Herr,“ rief nun Konrad empört, „Sie vergessen sich! Ich gebe zu, daß der Ton, den ich gestern der Gesellschaft angemessen gebrauchte, nicht der beste war, aber darum Voraussetzungen auszusprechen, die einen Mann von Ehre und Gefühl aufs äußerste verletzen müssen, nenne ich den Vortheil mißbrauchen, den Sie im Augenblick einem Bittenden gegenüber haben.“
Er griff nach seinem Hut. Es schien ihm, als ob alles vorbei wäre und eine unüberbrückbare Kluft sich zwischen ihm und diesem Mann geöffnet hätte, dem doch die Entscheidung über sein künftiges Leben oblag.
Kein Wort hätte er mehr vorbringen können und er wäre in schroffer Weise aus dem Zimmer geschritten, wenn er nicht eine eigenthümliche Wahrnehmung gemacht hätte: die strengen Falten in dem Gesicht des Bauraths waren dieselben, aber die Augen, die eben noch so strafend und hart blickten, standen voll Thränen.
Da besann er sich plötzlich. Er streckte dem bekümmerten Vater die Hand entgegen und bemühte sich, aus seiner tiefen Bewegung heraus zu sprechen. Es wollte ihm nicht recht gelingen, aber wie sie so Hand in Hand da standen, trotz der eben noch feindlichen Gefühle, öffnete Gertrud die Thür und sah mit gespannten ängstlichen Blicken herein, um gleich darauf mit hellem Jubelruf den Vater zu umarmen.
„Ich ertrug es nicht länger,“ sagte sie. „Ihr wart plötzlich so still und mir wurde bange, aber ich wußte ja doch, daß Ihr einander verstehen würdet . . . Vater . . . Liebster . . .“ Und von heller Gluth übergossen, wendete sie sich Konrad zu, ihm halb zaghaft die Hand reichend.
Er hatte nicht oft so sehr das Bedürfniß empfunden, sie in die Arme zu nehmen, in leiser, friedlicher Zärtlichkeit ihr die strahlenden Augen zu küssen und ihr tausend liebe Worte zu sagen - aber er mußte sich ja bezwingen, und so trat er einen Schritt zurück, mit einer stummen Handbewegung auf ihren Vater deutend.
Bestürzt sah Gertrud zu diesem auf, und ein unbeschreiblicher Ausdruck verdunkelte ihr glückseliges Gesicht.
„Was bedeutet das?“ fragte sie zitternd – und Konrad glaubte zu bemerken, daß ein banger Blick voller Zweifel ihn streifte.
Da wallte der Zorn von vorhin wieder in ihm auf.
„Geprüft, gewogen und zu leicht befunden,“ sagte er bitter.
Gertruds Vater legte ihm die Hand auf den Arm.
„Besinnen Sie sich doch,“ sagte er, sein blasses Kind zärtlich ansehend. „Sie erschrecken meine Tochter und beleidigen mich fast mit Ihren Worten . . . Wir sind sehr verschiedene Menschen; Herr Rechtsanwalt Herrendörfer und ich, liebe Gertrud – und konnten nicht ganz einig werden, ob Eure Verlobung gleich zu veröffentlichen wäre . . . Ich wünsche das nicht, aus Gründen, die ich jetzt nicht näher erörtern kann – und ich hoffe, Du, mein liebes Kind, wirst Deinem Vater noch eine kleine Zeit gönnen, in der er Dich ganz für sich hat – da Du ihn ja doch einmal für immer verlassen willst.“
Was hätte Konrad in diesem Augenblick drum gegeben, wenn ein Blick, ein Wort der Auflehnung aus Gertruds Mund ihm geholfen hätte, die Kränkung zu überwinden, die in des Bauraths Bescheid für ihn lag!
Er wartete eine bange Sekunde und fühlte sich merkwürdig erkältet, als Gertrud mit ihrer klaren Stimme, in der eine leise Bewegung zitterte, sagte:
„Das ist wohl meine Pflicht, lieber Vater, wenn ich mir auch nicht denken kann, warum Du einen solchen Aufschub bestimmst.“
Und dann endlich traf Konrad ein Blick voll der alten Liebe, des kindlichen Vertrauens, der es ihm fast schwer machte, zu sagen, daß es eine harte Probe wäre, auf die man ihn stelle, daß er der Tochter weniger Bereitwilligkeit zugetraut hätte, wo es sich um eine unabsehbare Zeit des Fernseins von einander handelte. Was ihr Vater an ihm und seinen Verhältnissen auszusetzen hätte, würde sich in einer noch so langen Zeit nicht ändern, und es schmerze ihn tief, so ohne Gewißheit über ihr zukünftiges Leben zu seiner täglichen Arbeit zurückkehren zu sollen.
Gertrud hatte mit steigendem Schreck zugehört; als er schwieg, wendete sie sich an ihren Vater und sagte hastig:
„Du willst ihn fortschicken, Vater, ohne daß Du uns Deinen Segen gegeben . . . lieber Konrad – es ist ein Mißverständniß – ich begreife es nicht – sagt mir alles! warum sollen wir nicht glücklich sein? – wir haben uns doch so sehr lieb!“
„Dank für dies Wort, Gertrud!“ sagte Konrad aufathmend, „ich will es in Gedanken behalten, wenn ich mich jetzt dem Willen Ihres Vaters beugen und Königsberg verlassen muß, ohne daß wir seine Einwilligung erhalten haben.“
Er machte wieder eine Bewegung nach der Thür. Ein Angstruf Gertruds ließ ihn nochmals zögern.
„Wie lange können Sie im äußersten Fall bleiben?“ fragte der Vater mit bewegter Stimme.
„Diese Woche noch,“ sagte Konrad.
„Nun, dann bitte ich Sie, für diese Zeit nach Belieben unser Gast zu sein. Ich habe zwar eine kleine Reise vor, aber meine Schwester wird Dir in der Zeit meiner Abwesenheit Gesellschaft leisten, Gertrud – und Sie mögen meine Tochter besuchen – ohne daß das zwischen Euch bestehende Verhältniß berührt wird. Nach meiner Rückkehr, die in etwa drei bis vier Tagen erfolgen kann, soll dann alles geklärt werden.“
„Warum nur, warum nur?“ fragte Gertrud, ängstlich und verständnißlos bald den Vater, bald den Geliebten ansehend.
Konrad zuckte die Achseln, der Vater sagte:
„Weil es meine Pflicht ist, mit den Verhältnissen, in die Du treten sollst, bekannt zu werden.“
Mit einer kleinen Erleichterung hörte Konrad das halbe Einverständniß aus diesen Worten und empfahl sich, indem er der Einladung für den nächsten Tag Folge zu leisten halb widerwillig versprach. Gertrud reichte ihm dabei mit festem Druck die Hand, von dem Vater verabschiedete er sich mit förmlicher Verbeugung – Gertrud gab ihm nicht, wie gestern, das Geleite, und halb zornig, halb bedrückt ging er, ohne sich umzusehen, die lange Königstraße hinunter und nach seinem Hotel.
Gedemüthigt und enttäuscht vernichtete er seine Schreibübungen, die er am Morgen so frohen Muthes niedergekritzelt hatte, und je mehr er über das eben Erlebte nachgrübelte, desto zorniger und aufgebrachter wurde er.
„In meinem Alter gemaßregelt wie ein Schulbube,“ dachte er ingrimmig, „und weiß Gott wie alles noch endet! Natürlich will der Alte nach Berlin, um da persönlich Erkundigungen über den lockern Vogel einzuziehen“ . . . Das mochte er nur, Konrad war sich mit Stolz seines Ansehens bewußt und er freute sich ordentlich darauf, daß der gestrenge Herr ihm seine Entschuldigungen machen müßte wegen der herabwürdigenden Behandlung, die er ihm heute hatte angedeihen lassen.
Und dann mußte er über den Irrthum lachen, in dem er sich eine Zeit lang befunden hatte: daß seine gut geordneten reichen Verhältnisse auf den Vater dieser Tochter Eindruck machen würden – er mußte lachen, daß ihm, dem Vielbegehrten, Selbstbewußten, das begegnen konnte. Aber die augenblickliche Heiterkeit verging ihm bald wieder. Anstatt als erklärter Bräutigam Gertruds mit allen Vorrechten eines solchen bei dem geliebten Mädchen zu weilen, sollte er noch tagelang steif und förmlich mit ihr verkehren wie ein Fremder, nein, schlimmer als das, befangen in dem Gefühl, daß man sie mißtrauisch gegen ihn gemacht habe. Sie würde nun nicht mehr wie in den Wochen ihres früheren Verkehrs zu ihm aufschauen wie zu einem besseren und höheren Menschen – ihr Vater erklärte ja, daß er ihrer nicht würdig wäre.
Ein heißes Schmerz- und Zorngefühl wallte in ihm auf. Was war Gertruds Liebe ihm noch ohne jenes süße, reine Vertrauen, das ihm aus ihren schönen Augen entgegengestrahlt, das alle guten Gedanken und Eigenschaften in ihm geweckt, das ihn überselig gemacht und unbewußt die besten und edelsten Vorsätze in ihm hatte erstehen lassen!
Welche Grausamkeit und zugleich welche Unklugheit von dem Vater, in seinem Kinde dieses Vertrauen zu zerstören, ihr den in seinen Augen schönsten Schmuck zu nehmen!
Wie ängstlich Gertrud ihn angesehen hatte! – und lag nicht schon ein Zweifel an ihm in ihrem Gehorsam gegen den Vater?
[512] War das dasselbe Mädchen, das ihm gestern glückstrahlend, unbekümmert um alles andere auf der Straße entgegengestürzt war – und das heute ihm nicht einmal das Geleit gegeben hatte? Wie sie ihn morgen wohl empfangen würde, in Gegenwart der angekündigten Tante? Am liebsten wäre er gar nicht hin gegangen, aber am Ende war es dieser Familie gegenüber nicht angebracht, Empfindlichkeit zu zeigen. Er mußte die Sache wohl gehen lassen – und im Grunde konnte er sich ja gewiß jeder Prüfung unterwerfen, in der Voraussicht, daß ihm eine vollständige Ehrenerklärung von dem widerstrebenden Vater werden müsse.
Er war ein fleißiger, in seinem Beruf hochangesehener Mann, sein öffentliches, wie sein Privatleben lagen klar vor jedermanns Augen und er konnte sich sagen, daß er sich rein von den unter seinen Genossen üblichen Ausschreitungen gehalten – allerdings, nachdem er seine Erfahrungen gemacht und theuer bezahlt hatte.
Aber darüber waren Jahre vergangen. Damals, nachdem er so schändlich betrogen worden war, hatte er das von der Jugend vielgebrauchte, seelentödtende Betäubungsmittel eines sogenannten „tollen Lebens“ an sich probiert, aber seine starke Natur hatte widerstanden und er war nach kurzer Zeit in sein altes Geleise zurückgekehrt, das durch seine vornehmen zurückhaltenden Gewohnheiten fest eingedämmt war.
Auf solchem Wege führten seine Gedanken ihn wieder zu dem traurigen Erlebniß seiner Vergangenheit zurück, und dann fiel ihm auch die gestrige Begegnung wieder ein.
Auch jetzt dachte er nicht ohne eine gewisse Beklommenheit an die Möglichkeit eines Wiederbegegnens mit Magdalene . . . um sich gleich darauf über sich zu ärgern. Was kümmerte ihn heute jene Frau, die ihn schamlos betrogen hatte, heute, wo ein junges, reines Mädchen bereit war, sein Weib zu werden?
Ja, war sie denn bereit dazu? . . . Alle Wetter, da war er wieder auf dem Ausgangspunkt seines Grübelns, und er wollte nicht grübeln, es konnte ihn nur erbittern und verstimmen. Und er war seit dem „shocking“ von gestern abend niedergedrückt genug. Hatte dieses Erkennen und dieses Erinnern ihn nicht zudem in die leichtsinnige Gesellschaft geführt, in der Gertruds Vater ihn beobachtete? Er hatte es sich gleich gedacht, es war ein böses Zeichen gewesen, es hatte ihm Unglück gebracht, dieses abscheuliche shocking.
Und wieder, während des ganzen öden Tages, den er zwecklos und grüblerisch verbrachte, beunruhigte es ihn; – er sah die Gestalt der alten Miß vor sich und endlich gar, in der langen, schlaflosen Nacht, kam ihm plötzlich der Wunsch, sie wiederzusehen. Erst verwarf er ihn – welcher Gewinn sollte ihm daraus erwachsen? Aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Gründe fand er, ihn für entschuldbar, natürlich und endlich leicht ausführbar zu halten.
Im Grunde war es ja geradezu Schicksalsstimme, die ihn nachzog. Schon hatte seine Braut ihm von einem gewissen Zusammenhang mit der Engländerin erzählt – übrigens merkwürdig, wie die Welt klein war – suchte er sie nicht selbst auf, so traf er sie vielleicht zufällig, und das wäre ihm weniger angenehm, als wenn er sie besuchte . . . „Doch wozu all diese Scheingründe,“ sagte er sich schließlich ärgerlich, „ich habe eben den Wunsch, die gute, ehrliche Sikes einmal zu sehen, und überflüssige Zeit, diesem Wunsch gerecht zu werden, habe ich wahrlich auch.“
Entschlossen ließ er sich beim Morgenkaffee das Adreßbuch geben und notierte sich die Adresse der Miß Sikes, Sprachlehrerin, Hintertragheim.
In einem schiefwinkeligen, düstern Zimmer, dessen Fenster auf einen von hohen Mauern umgebenen Hof sah, saß Miß Sikes und korrigierte Hefte. Sonst war das ihre Abend- oder besser gesagt Nachtbeschäftigung, denn es wurde oft zwei Uhr und darüber, ehe die scharfen kleinen blauen Augen sich zur verdienten Ruhe schlossen.
Heute war durch die Absage einer Schülerin eine freie Stunde auf die Mittagszeit gefallen, die konnte gut verwendet werden. Das zu korrigierende Häuflein Hefte wurde immer kleiner. Befriedigt blickte die alte Engländerin darauf hin, dann lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück und legte die Hand über die leise gerötheten Augen.
In die vorhin nur durch das Geräusch ihrer korrigierenden Feder unterbrochene Stille drang jetzt aus dem Nebenzimmer kreischendes Vogelgeschrei.
„Garstiges Thier,“ dachte die Engländerin – aber was war da zu machen: Magdalene liebte ihn so sehr, sie sprach mit ihm, erzählte ihm von ihren Träumen . . . arme, arme Magdalene!
Eine zärtliche Sehnsucht nach ihrem Schmerzenskind ließ sie von ihrem Arbeitsplatz aufstehen und die Thür zu dem Nebengemach öffnen.
Seufzend blickte sie hinein, seufzend, obgleich Glanz, Blumenduft und Behaglichkeit aus dem geräumigen Zimmer in ihre dunkle Arbeitsstube geradezu strahlten.
Da standen in sinnigster Anordnung bequeme und doch zierliche Möbel, denen man die Sorgfalt, mit der sie ausgesucht waren, ordentlich ansah. Stück für Stück hatte Miß Sikes sie erworben, mühsam zusammengespart und mit so feinem und besonderem Geschmack gestellt, als ob sie sich in diesem hellen, freundlichen Zimmer für alle Dunkelheit und Unbehaglichkeit ihres übrigen Daseins hätte entschädigen wollen. Und doch waren es nur wenige Augenblicke in ihrem arbeitsvollen Leben, die sie in diesem Blumengarten zubrachte, und Freude und Erholung fand sie nicht in ihnen.
Ihr trauriger Blick streifte die dem Eingang gegenüber in einem niedrigen Sessel liegende Frau, die den schreienden Papagei neckte.
Welche Formvollendung in diesem herrlichen Körper, welch hinreißende Schönheit in diesen Zügen, gleich auffallend in Form und Farben! Dazu dieses volle wellige Goldhaar, in schweren Flechten den kleinen Kopf schmückend! Nun wendete sie ihn, – und der Ausdruck des Entzückens in den Augen der alten Lehrerin wich dem der tiefsten Trauer.
Die wundervollen blauen Augen hatten einen irrenden, träumenden Blick, um den kleinen, schöngeschnittenen Mund lag ein eigenthümlich schlaffer, müder Zug, der es deutlich erkennbar machte, daß eine kranke Seele in dieser schönen Form sich barg.
Miß Sikes fuhr sich mit der magern Hand über die Augen, – ihr Eintritt war nicht bemerkt worden, so ging sie denn, ohne die Thür zu schließen, an ihren Tisch zurück und verscheuchte die trüben Gedanken, indem sie einen fehlerhaften Satzbau in dem gerade vor ihr liegenden Heft mit dicken, rothen Strichen und großen Buchstaben rügte.
Da klang draußen die Glocke, – Miß Sikes horchte danach und stand langsam auf, um die Thür zu dem Nebenzimmer zu schließen.
Ein Blick auf die ihr von dem Mädchen gebrachte Karte ließ sie in ihrem Vorhaben innehalten. Mit ungläubigem Staunen las sie:
„Konrad Herrendörfer, Rechtsanwalt und Notar“, und mit Mühe brachte sie ein „ich bitte“ als Bescheid auf die stumme Frage des wartenden Mädchens hervor. –
Das also war Konrad Herrendörfer, den sie in blühender Jugendfrische so oft gesehen hatte, dessen letzter Anblick, obgleich viele Jahre darüber vergangen waren, ihr in dauernder, schrecklicher Erinnerung geblieben war!
Der sehr schlanke, etwas überlegen dreinschauende, nicht mehr ganz junge Mann erinnerte sie wenig an den ihr bekannten Konrad Herrendörfer, den sie wie verlegen und staunend in ihrem Gast suchte und auf dessen Anrede sie wartete.
Konrad selbst empfand in dem Augenblick, in dem er dem alten Mädchen gegenüberstand, daß er es besser unterlassen hätte, sie wieder aufzusuchen.
Er sah an ihrer mühsam behaupteten Fassung, an der wechselnden Farbe des unverändert gebliebenen Gesichts, daß sein Kommen einen peinlichen Eindruck gemacht hatte; die beiderseitige Wohlerzogenheit machte dann dem sekundenlangen Schweigen ein Ende – sie reichten sich die Hände und Miß Sikes führte ihren Besuch zu dem alten, mit Leder bezogenen Sofa in der Ecke.
Darüber kamen sie an der offenen Thür vorbei. Die blonde Frau stand einen Augenblick im vollen Sonnenlicht in all ihrer berückenden Schönheit vor ihnen . . . Miß Sikes schloß leicht zusammenfahrend die Thür und sah ängstlich nach ihrem Gast, der sehr blaß geworden und seinem Gesicht einen möglichst unbefangenen Ausdruck zu geben bemüht war.
Feldblumen.
Wenn du wandelst durch die Aue
Und im Korn dir Blumen pflückst,
Feuerrothe, himmelblaue,
Und dir Hut und Mieder schmückst,
Und dein Auge übermüthig
Und dein Mund so herzig lacht,
Ueberstrahlst du tausendblüthig
Rings im Feld die Blumenpracht!
Max Kahlenberg.
Auf der Pilzjagd.
Kinder, heute ist’s Sonntag, die Sonne glänzt prächtig am klaren Himmel, heute nachmittag ‚geht’s in die Pilze‘!“ So lautet der volksmäßige Ausdruck im lieben Schlesierlande.
Diese Ankündigung der Eltern wurde von uns Kindern stets mit stürmischem Jubel begrüßt, und mit Körben und Taschenmessern ausgerüstet, rückte die ganze Familie zum Feldzug gegen die widerstandslosen Erzeugnisse des Waldes aus.
Auf die jugendliche Phantasie wirkt der Wald mit seinem geheimnißvollen Leben und Weben, seiner erhabenen Ruhe und Einsamkeit um so mächtiger ein, als sich damit ein gruseliger Furchtschauer vor einem unbekannten Etwas verbindet, ähnlich wie er bei Kindern auch durch Erzählung von Gespenstergeschichten am Abend hervorgerufen zu werden pflegt. Wird dieser Furchtschauer im Walde aber durch das Bewußtsein behoben, daß man sich unter der sichernden Obhut der natürlichen Beschützer befindet, dann tritt die volle, süße Waldeslust mit heller Freude in ihre Rechte.
Eingerückt in den grünen, schattigen Naturdom, durch den sich hie und da freundliche Sonnenstrahlen stehlen, gilt es nun, sich als tüchtiger Finder und Sammler zu zeigen; triumphirende Rufe erschallen von da und dort, wenn einer oder der andere ein recht schönes Pilzexemplar entdeckt hat und seinem Korbe einverleibt. Die Zeit vergeht im Fluge, bis die Eltern, welche bis dahin fortgesetzt sorgten, daß die Schar in ihrem Gesichtskreis bleibe, bei schon tiefstehender Sonne den Sammelruf erschallen lassen. Auf weichem Moospolster wird im Kreise gelagert, und jeder schüttet seine Schätze vor sich aus, damit, nach Art und Menge des Gesammelten, bei dessen Prüfung praktische Belehrungen stattfinden, zunächst festgestellt werde, wer als König oder Königin des Tages zu ehren sei. Ein aus Waldblumen geflochener Kranz, auf das Haupt des Würdigsten gesetzt, ist das sehr erstrebte und mit Stolz getragene Zeichen der errungenen Anerkennung, und frisch und froh tritt die Familie den Heimweg an, in Erwartung des schönen Pilzgerichtes, das Mutter am Abend bereiten wird.
Dergleichen Jugendeindrücke sind bleibend und machen sich gelegentlich im späteren Alter wieder geltend. So ist es auch mir ergangen.
Jetzt erst, im höheren Alter, ist es mir gestattet, mich anhaltend und unbehindert der seit der Jugendzeit unvergessenen und nun neu erwachten Lust zur Pilzjagd hinzugeben und dieselbe, mich zum „Fex“ ausbildend, als Sport zu betreiben. Diese unterhaltende Jagd regt zu andauerndem Aufenthalt im schönen grünen Wald und seiner ozonreichen Luft an und veranlaßt zu einer anhaltenden, die Gesundheit fördernden Bewegung, die ohne diese Unterhaltung vielleicht ermüdend sein würde. Die Ergebnisse dieser Jagd sind auch nicht gering zu achten. Das Wild ist im freien Walde überall zahlreich vorhanden und verfällt dem Jäger, ohne daß er eine Jagdpacht dafür zu erlegen hat. –
Bei dem hohen Interesse, welches sich den Pilzen, oder wie man in Süddeutschland sagt, den Schwämmen als vorzüglichem, infolge mangelhafter Kenntniß leider noch zu wenig ausgenutzten Nahrungsmittel in neuerer Zeit zugewendet hat, ist eine große Zahl wissenschaftlicher Werke über dieselben erschienen, die aber auf den Zweck der praktisch auszuübenden Pilzjagd wenig oder gar nicht zugeschnitten sind. Diese letztere zu behandeln, auf zeitliche und örtliche Betreibung derselben hinzuweisen und die darin gemachten Erfahrungen zu Nutz und Frommen werdender oder schon angehender Pilzjäger mitzutheilen, ist der Zweck dieses Aufsatzes. Ich werde dabei nur diejenigen vier Pilzarten behandeln, deren Werth als gesundes, wohlschmeckendes und kräftiges Nahrungsmittel allgemein anerkannt ist, allen andern voran steht, und bei deren Einsammlung wegen der leichten Unterscheidbarkeit keine Gefahr der Verwechslung mit Giftpilzen zu befürchten steht. Wer diese vier Pilzarten noch nicht kennt, findet, wenn ihm nicht plastische Nachformungen derselben zu Gebote stehen, oder er von einem Manne der Erfahrung praktisch in deren Kenntniß eingeführt wird, in mehreren Pilzwerken recht naturgetreue Abbildungen, so namentlich auch in dem im Verlage von Schreiber in Eßlingen erschienenen Werke des Professor Dr. Ahles in Stuttgart, dessen Abbildungen von Heinrich Groß ausgeführt sind.
Die gedachten vier Pilzarten, nach ihrem Erscheinen im Jahr zeitlich geordnet, sind: 1) Die Morchel; 2) der Champignon; 3) der Steinpilz; 4) der Reizker.
Die Morchel. Die am häufigsten vorkommenden beiden Arten derselben sind die kegelförmige schwarzgraue Spitzmorchel (morchella conica) und die gelbe oder gelbbraune Speisemorchel (morchella esculenta) mit rundem oder ovalem Hut. Die Morcheljagd gewährt um deswillen einen erhöhten Reiz, als sie in die Jahreszeit fällt, in welcher alle Knospen springen und die Blüthenkelche sich öffnen. Wenn die gelbe Butterblume auf den Wiesen in Blüthe steht und die Primeln erscheinen, da rüstet sich der Pilzjäger zu den ersten Ausflügen des Jahres. Die Morchelsaison steht am höchsten während der Blüthe der Mairöschen. Die ersten Morcheln erscheinen, wenn die Luft feucht und warm ist, besonders nach warmem Regen, manchmal schon Mitte März, namentlich die Spitzmorchel, welche immer früher auftritt als die Speisemorchel. Nach mehrjährigen Erfahrungen liegt die eigentliche Morchelzeit vorzugsweise zwischen dem 10. April und dem 15. Mai.
Auf sandigem, nicht feuchtem Waldboden mit Laubholzgebüsch bestanden, auf kurzrasigen Berg- und Waldwiesen mit gleichem Boden, an den Abhängen von Bachschluchten hat man sie zu suchen; namentlich wird man sie aber an diesen Orten selten ohne Erfolg suchen, wenn daselbst die Esche wächst. Die Morchel steht in merkwürdiger Beziehung zu diesem Baum, denn an Orten, wo sie dauernd heimisch ist, wird man in der unmittelbaren Nachbarschaft fast immer die Esche und namentlich alte Exemplare dieses Baumes finden. Ob nun die beiden so ungleichen Gewächse nur durch die gemeinsame Liebhaberei für den gleichen Boden sich zusammenfinden, oder ob hier, wie man neuerdings entdeckt haben will, eine noch innigere Beziehung zwischen Baum und Pilzart vorliegt, indem die Hyphen, die Fadenzellen gewisser Pilze zur Beförderung der Ernährung der Wurzeln entsprechender Bäume beitragen, sei dahingestellt, jedenfalls spricht meine Erfahrung für innige Gemeinschaft zwischen Esche und Morchel, eine Beobachtung, die mir noch in keinem Pilzwerke entgegen getreten ist.
Im Gebüsch, wo die Erde mit dem abgefallenen Laube bedeckt ist, dessen Farbe mit der der Speisemorchel übereinstimmt, ist es für den Anfänger nicht leicht, den Pilz zu entdecken, doch bald übt sich das Auge und die Suche wird lohnender.
Außer an Orten, wo sie heimisch ist, erscheint die Morchel manchmal überraschend auch an anderen Punkten, wenn eine günstige Ablagerung ihres Samens, der Sporen, dort stattgefunden hat; aber dann in der Regel nur einmal, wenn die Bedingungen für ihr dauerndes Fortkommen nicht vorhanden sind. So habe ich die Spitzmorchel bisweilen auch in Gärten, in den Buchsbaumeinfassungen der Gänge gefunden, namentlich wenn letztere mit Lohe bestreut waren.
In den Falten des Hutes der Morchel setzt sich in der Regel Sand oder Humus ein, und das hohle Innere des Hutes dient oft Schnecken oder kleinem Gewürm zum Aufenthalt; man mag die Morchel nun frisch genießen oder trocknen wollen, so muß sie außen und innen gereinigt werden. Zu diesem Zweck schneidet man sie der Länge nach durch in zwei Theile und behandelt sie beiderseitig mit einer kleinen weichen Bürste.
Der Preis für ein Pfund getrockneter Morcheln stellt sich im Handel auf etwa 6 Mark; für denjenigen, der frische Morcheln kauft, diene als Anhalt für die Werthbestimmung, daß ein Pfund frischer Speisemorcheln getrocknet nur ein Zehntel, ein Pfund frischer Spitzmorcheln getrocknet nur ein Achtel Pfund wiegt. Mit der Morchelsuche kann man das Einsammeln von jungem Waldmeister sehr zweckmäßig verbinden.
Der Champignon. Von der künstlichen Kultur dieses Pilzes wird hier, wo es sich um die Suche in Wald und Flur handelt, abgesehen.
Die Champignonzeit beginnt mit dem Anfang Juni und dauert den ganzen Sommer und Herbst hindurch bis zum Eintritt des Frostes. Ich habe Mitte November noch ganz junge Champignons gefunden. Der Farbe des Hutes nach giebt es zwei Arten: den weißen, glatthäutigen, der sich, wo er nicht unter Gesträuch wächst, dem Auge schon auf große Entfernung bemerkbar macht, und den braunen, dessen Oberhaut schuppig ist. Der weiße Champignon wechselt sehr in der Größe, bei der größten Spezies spielt die Oberhaut des Hutes etwas ins Gelbliche. Der Champignon ist zu sammeln, so lange der Hut noch ganz geschlossen oder nur glockenförmig geöffnet ist; ist der Hut ganz geöffnet, tellerartig flach, und sind die Lamellen, Blättchen an der Unterseite, von dunkler Chokoladenfarbe oder gar abfärbend, dann lasse man ihn stehen, er ist für den Genuß nicht mehr brauchbar.
Das Vorkommen des Champignons ist noch weniger an den Wald gebunden, als das der Morchel; er zeigt sich, oft truppweise, an Chausseegräben, auf Weide- und Exerzierplätzen, Mistbeeten, Komposthaufen, vorzugsweise da, wo verwesende Auswurfsstoffe, namentlich Pferdemist, abgelagert sind. Im Walde erscheint er meist nur an den Rändern oder in den Moospolstern lockerer Waldbestände, jedoch habe ich ihn auch in höherem Nadelstangenholz gefunden.
Der Steinpilz. Bei der Jagd auf diesen Edelpilz darf man die richtige Zeit nicht versäumen, weil sein Erscheinen in den Jahren, in welchen er massenhaft auftritt, zwar in der Regel zweimal in Menge erfolgt, aber immer nur auf eine Dauer von fünf bis zehn Tagen. Man muß daher zu den weiter unten anzugebenden Fristen die Reviere täglich abgehen, um die richtige Zeit wahrnehmen zu können und die Exemplare jung zu erlangen. In den Wäldern am Ufer des Ueberlinger (Boden-) Sees fand im Jahre 1884 die erste Saison vom 1. bis 10. August, die zweite vom 17. bis 22. September statt; im Jahre 1885 die erste Saison vom 15. bis 25. Juli, die zweite vom 15. bis 25. September. In diesen Zeiten habe ich Steinpilze zu vielen Hunderten gesammelt, vereinzelte wohl auch vor- und nachher bis Mitte November.
Das Jahr 1882 war in seinem Erträgniß dürftig, es ergab nur 68 Stück, im Jahre 1883 gab es so gut wie gar keine, ich fand trotz eifrigster Jagd im ganzen nur 4 Stück. Der Einfluß der Witterung kann nach meinen Tagebuchnotizen bei dieser auffallenden Verschiedenheit des Erscheinens in den gedachten 4 Jahren nicht allein maßgebend gewesen sein. Um, wenn der Steinpilz massenhaft auftritt, beim Sammeln nicht für den Genuß weniger brauchbare, für die Fortpflanzung aber noch dienliche Exemplare abzuschneiden, drücke man vorher mit dem Finger auf den Hut. Macht der Finger keinen Eindruck, so ist der Pilz jung und man schneide ihn ab, andernfalls lasse man ihn stehen. Beim Sammeln aller Pilze beobachte man die Regel, den Stiel dicht am Boden abzuschneiden und die stehen gebliebene Schnittfläche mit Moos oder noch besser mit Boden zuzudecken, damit die Pilzfliege nicht ihre Eier hineinlege und die daraus entstehenden Maden der ferneren Entwickelung nachtheilig werden.
Der Steinpilz ist ein richtiger Waldpilz, der nur im Walde oder an dessen Rändern vorkommt; er liebt lichte, luftige Stellen des Waldes, daher man ihn auch häufig an den Waldwegen findet; den lichten Hochwald ohne Unterholz zieht er dem dichten Bestande vor; er wendet sowohl dem Laub- als dem Nadelholzwald seine Neigung zu, doch scheint ihm von allen Baumarten die Eiche am meisten zuzusagen, wenn er zu ihr auch nicht in so innigen Beziehungen steht wie die Morchel zur Esche.
Der Reizker. Er wird, im Gegensatz zu dem in seiner äußern Erscheinung ihm ähnlichen Giftreizker, der echte Reizker genannt, doch ist eine Verwechselung der beiden Pilzarten auch für den Laien dadurch ausgeschlossen, daß der echte Reizker beim Schnitt oder Bruch einen stark [515] hervorquellenden orangefarbenen, der Giftreizker dagegen einen weißen milchigen Saft von sich giebt.
Der Reizker ist ein Herbstpilz, und die Zeit, in welcher er nach Menge und Güte am besten zu sammeln ist, geht von Mitte September bis Mitte Oktober. Vereinzelt kommt er schon Ende Juli vor und so auch nach der Hauptsaison bis in die Mitte des November.
Was die Oertlichkeiten betrifft, an denen dieser Pilz zu suchen ist, so liebt er das Nadelstangenholz mit trockenem sandigen Boden, wo man ihn, namentlich im Tannenholz, oft in größerer Menge antrifft, in Hochwaldungen erscheint er nur vereinzelt. Die ergiebigste Ernte jedoch macht man an kurzrasigen Rändern, wenn solche das gedachte Stangenholz umsäumen, und auf wenig begangenen Graswegen, die durch dasselbe führen.
Man sammelt nur solche Exemplare, deren Hutränder noch nach unten gebogen sind, ein Zeichen der Jugend; in der Regel werden die so geformten Exemplare noch klein sein, doch habe ich alljährlich wiederkehrend an einer bestimmten Stelle riesige und stets ganz gesunde und frische Reizker mit nach unten gebogenem Hutrande gefunden, die eine besondere Spielart dieses Pilzes zu sein scheinen. Einen derselben habe ich gemessen, dessen Hut 18 cm und dessen Stiel 3 cm im Durchmesser hatte, diese Riesenreizker haben stets einen vollen, massiven Stiel, während dieser beim gewöhnlichen Reizker meist hohl zu sein pflegt.
Der Reizker giebt, sowohl frisch als getrocknet, auch ohne Fleischbrühe nur in Wasser mit etwas Gries gekocht, eine ganz vorzügliche Suppe, die in der Farbe der Krebssuppe gleicht, dieselbe aber an Wohlgeschmack wegen des eigenthümlichen Pilzaromas noch übertrifft. Das Kochen in Fleischbrühe steigert die Güte. Die ausgekochten Pilze werden mittels Durchschlags beseitigt.
Zum Schlusse noch einige allgemeine Bemerkungen.
Außer den vorstehend behandelten vier Edelpilzen, welche sowohl in frischem als getrocknetem Zustande für den Genuß vorzüglich zu verwerthen sind und die ich, jede Art für sich, getrocknet besonders aufbewahre, trockne ich alle übrigen genießbaren Pilze und verwahre sie zusammen gemischt; sie geben – einige Hand voll – ohne weitere Zuthat wie die Reizker ausgekocht, ebenfalls vorzügliche Suppen; bei der Verwendung von Fleischbrühe genügt eine erheblich geringere Menge.
Die Aufbewahrung der getrockneten Pilze, welche in Säcken leicht Feuchtigkeit anziehen, erfolgt am besten in gut verschlossenen gläsernen oder thönernen Gefäßen und in Blechbüchsen an trockenen Orten.
Die Ausrüstung zur Pilzjagd besteht zunächst in einer großen Botanisirbüchse zur Unterbringung des Gesammelten, innerlich mit einem Schieber versehen, um leicht zerbrechliche Pilze von den schweren massiven trennen zu können. Will die Büchse für die gemachte Beute nicht ausreichen, so werden die Pilze gleich im Walde geputzt, da sie dann erheblich weniger Raum beanspruchen.
Ferner versieht man sich mit einem derben, gegen Sonne und Regen zu brauchenden, event. als Stock dienenden Schirm und einem Plaid zur Herstellung einer behaglichen Lagerstätte. Bei größeren Ausflügen wird auch Speise und Trank in die Büchse gepackt, und ein nach flottem Marschieren und reger Sammelthätigkeit durch scharfen Appetit gewürztes Mahl, gelagert auf Plaid und weichem Moospolster, im schönen grünen Wald, ist wahrlich ein gut Ding und Pilzjägers Lust und Lohn. A. T.
Blätter und Blüthen.
Johnstown. Ungeheuerlich, fast über alles Begreifen und Verstehen schrecklich ist das Unglück, das am 30. Mai dieses Jahres über die Stadt Johnstown in Pennsylvanien und ihre Umgebung hereingebrochen ist. Man denke sich eine mittlere deutsche Stadt von 15 000 Einwohnern, etwa in der Größe von Marburg, durch einen fürchterlichen Schlag vernichtet; zertrümmert, verkohlt, weggeschwemmt die Häuser, die stolzen wie die bescheidenen, todt die meisten Bewohner, ertrunken, verbrannt, ja vom Entsetzen allein entseelt; ausgestrichen das ganze blühende Gemeinwesen aus dem Buche des Bestehenden – und das alles das Werk einer einzigen Nacht, fast eines einzigen Augenblicks! Kein Wunder, wenn die ganze gesittete Welt aufs tiefste erschüttert ist von diesem ungeheuren Schicksalsschlage, der das ferne Thal des Conemaugh getroffen, kein Wunder aber auch, wenn die ganze gesittete Menschheit wie ein Mann in werkthätiger Barmherzigkeit sich aufmacht, auf diesem Schlachtfeld der Elemente ihren Samariterdienst zu üben. Wie einst der alte Römer Marcus Curtius seine Vaterlandsliebe, so wirft sie ihre Menschenliebe in den Abgrund, daß er sich schließe.
Ganz besonderen Grund zu inniger Antheilnahme, zu thätiger Beihilfe hat Deutschland, denn Johnstown hatte eine starke deutsche Bevölkerung, mehrere deutsche Kirchen, Schulen, Anstalten, einen deutschen Turnverein, mehrere deutsche Gesangvereine und Freimaurerlogen.
Es war immer Brauch der „Gartenlaube“, in solchen Augenblicken unter den Vordersten zu stehen und an die unerschöpfliche Milde ihrer Leser zu appelliren; und niemals hat sie umsonst geworben und gebeten. Aber die Verhältnisse haben sich im Laufe der Jahre wesentlich verschoben. Die schöne Sitte, in Fällen öffentlicher Noth den hilfsbereiten Mitmenschen ein Vermittler ihrer Gaben zu sein, ist heute ein Gemeingut der gesammten Presse geworden, und da die Hilfe ja immer eine doppelte ist, wenn sie schnell kommt, so sind es naturgemäß die Tageszeitungen, denen die Rolle des Bittens und des Sammelns zufällt. Sie haben denn auch in diesem Falle ihre Aufgabe ergriffen und durch sie hat auch bereits ein von hervorragenden deutschen Männern gebildetes Unterstützungskomitee seinen Aufruf für die Opfer der Wassersnoth in Pennsylvanien erlassen. Die „Gartenlaube“, die einerseits zu ihrer sorgfältigen Herstellung begreiflicherweise längere Zeit in Anspruch nimmt und die infolge ihrer starken Auflage allein zum Drucke vierzehn Tage bedarf, kommt zu spät. Aber nichts liegt ihr ferner, als eine Empfindung des Neides, daß sie ihr schönes Ehrenamt, die Vermittlerin für ihrer Leser menschliches Mitgefühl zu sein, hat abtreten müssen. Im Gegentheil, sie freut sich von Herzen, daß die Ungeduld unserer Zeit sich wie im Leben so auch im Geben äußert, und mit Genugthuung beobachtet sie, wie ihre Nachfolger die übernommene Aufgabe rascher und darum besser lösen.
Sollte vielleicht doch ein Leser dieser Zeilen noch nicht den Weg gefunden haben, da er sein Scherflein zur Linderung der Noth jener armen Unglücklichen von Johnstown anbringen kann, so ist die „Gartenlaube“ selbstverständlich gerne bereit, seine Gabe in Empfang zu nehmen und an den Schatzmeister des deutschen Unterstützungskomitees, Dr. G. Siemens, Direktor der Deutschen Bank in Berlin, Mauerstraße 29, weiterzubefördern.
Das Ruhrkohlenbecken. Zwischen Ruhr, Lippe und Rhein, durchflossen von der bei Holzwickede entspringenden Emscher, liegt das in letzter Zeit vielgenannte Becken, wo der Bergmann tief unter der Erde das schwarze Gold dem dunklen Schachte entringt und gewaltige Maschinenkräfte die gehobenen Schätze an die Oberfläche befördern, damit sie nährend und belebend, Licht und Wärme spendend, in die weite Welt hinausgehen.
Der Steinkohlenbergbau im Becken der Ruhr wird nach Dr. Gurlt zuerst 1317 in einer Stiftungsurkunde für ein Hospital von Bettelmönchen im Stifte Essen erwähnt. Die älteste noch jetzt betriebene „Zeche“ ist wohl Grube „Vereinigte Hagenbeck“, die ursprünglich „Goiß“ und später „Kohlberg Steut“ hieß. Sie hatte eine freiwillig vereinbarte Bergordnung vom Jahre 1575, welche auf einen schon lange vorher geführten Betrieb hindeutet. Die Zeche „Bröckling“ wurde 1682 „beliehen“; „Schödlerpad“ wird 1678 erwähnt und „Sälzer“ und „Neuack“ schon um 1623. Die Gruben waren sämmtlich Stollenzechen, die durch einen Stollen, eine „Aack“ oder „Aackaldruft“ (aquaeductus) gelöst wurden. Zeche „Wolfsbank“ wurde 1763 beliehen. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts war der Betrieb sämmtlicher Ruhrkohlenbergwerke nur unbedeutend, weil es an genügendem Absatz fehlte, der erst durch die sich mehr und mehr entwickelnde Eisenindustrie und später durch die Gasbereitung und die allgemeine Einführung der Dampfmaschinen geschaffen wurde.
Heutzutage ist der Verbrauch von westfälischer Steinkohle ein geradezu riesiger. 98 000 Bergleute förderten im Jahre 1887 über 30 Millionen Tonnen, die Tonne zu 1000 Kilogramm, im Haldenwerthe von 139 Millionen Mark. Etwa 40 000 Eisenbahnwagen waren unausgesetzt im Rollen, um diese ungeheuren Massen nach den verschiedensten Himmelsrichtungen zu befördern; Paris, Rotterdam und Amsterdam, Antwerpen und andere Städte zählen zu den regelmäßigen Abnehmern.
Ungefähr 2000 Geviertkilometer umfaßt das Ruhrkohlengebiet und es soll nach den Berechnungen des Bergraths Dr. Schulz in Bochum weit über 50 000 Millionen Tonnen bergen – eine genügende Menge, um nach dem Maßstabe der heutigen Förderung wenigstens noch anderthalb tausend Jahre vorhalten zu können.
Rast in der Wüste. (Zu dem Bilde S. 504 und 505.) Das Gemälde, welches wir heute in Holzschnittwiedergabe unseren Lesern vorlegen, ist eine Frucht der Orientstudien des Landschaftsmalers Friedrich Perlberg. Er hat außer Oberägypten und Nubien nicht nur die Sinai-Halbinsel, sondern auch Palästina durchzogen und längere Zeit in Jerusalem verweilt, ging dann nach Damaskus und unternahm den beschwerlichen Ritt nach Balbeck und Palmyra. Welch schöne Ausbeute diese Reisen für die Kunst ergaben, das bekundete die mit Skizzen und malerischen Entwürfen reich ausgestattete Mappe des heimgekehrten Künstlers, sowie eine Anzahl farbenprächtiger Oelgemälde, welche die Besucher der Ausstellungen des Münchener Kunstvereins zu sehen bekamen. Zu diesen Werken zählt in erster Linie unser Bild: „Rast in der Wüste“. Die aus einer kleinen Karawane bestehende Reisegesellschaft, welche den ganzen Tag über die Wüste durchzogen hat, ist schließlich ermattet am Fuße eines Felsengebirges angelangt und hat sich in der Nähe einer Quelle zur Rast niedergelassen. Mit großer Gewandtheit haben die Araber, welche die Gesellschaft begleiten, an einem schützenden Felsenvorsprung rasch ein buntfarbig gestreiftes Leinwandzelt aufgeschlagen, vor welchem sich, nachdem zuerst ein Feuer zum Kochen angezündet worden ist, Menschen und Kameele theils sitzend, theils stehend gruppieren.
Der vornehmere Theil der arabischen Gesellschaft hat sich im Vordergrund bei den Dromedaren niedergelassen; von letzteren trägt das eine das farbenreiche Baldachinzelt, in welchem die Frauen und Kinder des Beduinenchefs während des Zuges ihren Sitz haben. Der wachhabende Araber ist allein auf seinem Dromedar, das lange Gewehr auf den linken Schenkel gestützt, sitzen geblieben und betrachtet sich so von oben herab seine Schutzbefohlenen, während der in seinen weißen Burnus gehüllte Beduinenchef vor dem Familienbaldachin steht, mit der linken Hand sein arabisches Pferd am Zügel hält und mit der rechten die Hand seiner vor ihm sitzenden Gemahlin ergreift. Rechts im Hintergrund sehen wir noch die Nachhut in Gestalt eines in einen weißen Burnus gehüllten und bewaffneten Arabers auf einem Dromedar heranreiten.
Es ist Abend geworden und die Sonne gießt noch jene magische Lichtwärme auf die Berge dieser Wüstengegend aus, wie sie dem Orient eigenthümlich ist. Die Stimmung, die über dem ganzen Gemälde liegt, ist eine ganz wunderbare, und so oft ich in Betrachtung vor dem Originalbilde stand, schwebten mir unwillkürtich die Verse Freiligraths aus dessen Gedicht „Gesicht des Reisenden“ vor dem Gedächtniß:
„Tiefe Stille; nur zuweilen knistert das gesunk’ne Feuer,
Nur zuweilen kreischt verspätet ein vom Horst verirrter Geier.“
George Morin.
[516] Naturwissenschaftlicher Unsinn in den Tageszeitungen. 1. „Ein Schwan kämpfte schwer mit den wogenden Eisschollen. Immer wieder hob er sich empor, doch stets brach das dünne, scharfe Eis und er stürzte zurück. Mit letzter Kraftanstrengung hatte er noch einmal eine Scholle erklommen, schon jubelten die mitleidig theilnehmenden Zuschauer, da krachte die Eisdecke von neuem, der Schwan fiel abermals zurück und versank in der tiefen, wilden Fluth.“ Fragen wir da nicht unwillkürlich: was ist schwerer, ein Pfund Federn oder ein Pfund Eisen? – 2. „Das bedauernswerthe Mädchen konnte ihren Liebeskummer nicht überwinden, sie ward des trostlosen Lebens überdrüssig und griff zu dem Gift, welchem die Dienstmädchen sich meistens zuwenden, sie trank Oleum.“ Eine solche Angabe ist leider fast täglich in den Berliner Zeitungen zu finden. Nun aber bedeutet das lateinische Wort Oleum bekanntlich Oel, und zwar hier Rüb- oder Brennöl, während das gemeinte Gift Olium, Schwefelsäure, ist. – 3. „Er schläft wie eine Ratte“ und „er stiehlt wie ein Marder“, das sind Redensarten, die man täglich hören und lesen kann und die doch keinen rechten Sinn haben. Die Ratte, vornehmlich die jetzt fast allenthalben heimisch gewordene Wanderratte, ist bekanntlich wie eins der schädlichsten und lästigsten, so auch eins der muntersten Thiere. Mit jener Redensart meint man gewöhnlich den Iltis, welcher auch der „Ratz“ genannt wird, aber auch bei ihm ist jenes Wort nicht zutreffend, denn er ist in Wirklichkeit keineswegs ein Thier, welches sich durch vielen und festen Schlaf auszeichnet. Noch weniger zutreffend ist die Redensart vom Marder als Dieb. Unsere beiden Marder, Stein- wie Hausmarder, sind, wenn sie in einen Geflügelstall, Taubenschlag u. a. eindringen, die furchtbarsten Mörder, die es giebt, denn sie beißen meistens sämmtliche Hühner oder Tauben todt; aber gestohlen. d. h. fortgeschleppt findet man höchstens ein einziges Stück. Widersinnig ist es nun, vom „Geld“-, „Bücher“- oder wohl gar „Paletotmarder“ zu reden!
Möchte man sich beim Gebrauch solcher Redensarten doch immer ihre Berechtigung klar machen. Dr. Karl Ruß.
Geräucherte Frauen. Unsere Frauen parfümiren sich – man braucht noch lange kein „Seelenriecher“ zu sein, um all die Düfte herauszuerkennen, die in der Garderobe vor einem Ballsaale schweben: Mille fleurs, Eßbouquet oder gar „Nationalparfüm“ und Patschuli! Aber alle Parfümeriekünste
der modernen civilisirten Salondamen sind gar nichts im Vergleich mit den Wohlgerüchen der Frauen in dem so viel umstrittenen und so viel besprochenen ägyptischen Sudan. Die dortigen Frauen räuchern sich ein, und gemäß ihren kräftigen Nerven und gesunden Sinnen wählen sie hierzu so ausgiebige Mittel, daß die Anwesenheit einer Gruppe frisch geölter, gesalbter und geräucherter Weiber auf hundert Schritt sich unserm Geruchssinn verräth. Das Räuchern ist Gegenstand besonderer Sorgfalt. Die Frauen im nubischen Nilthale, berichtet Dr. W. Junker, im östlichen und westlichen Sudan, die Bewohnerinnen der Halbinsel Sennar sowohl als diejenigen von Kordofan, wie auch die Koldadji-Schönen in Dar-For, widmen allwöchentlich mindestens einige Stunden dem Räuchern. In dem Hofe jeder Hütte, unter beinahe jedem Zelte kann man im Boden eine kleine Grube finden, 1 Fuß tief, ¾ Fuß im Durchmesser haltend, die entweder mit hartem Thon sorgfältig ausgefüttert oder in die ein Topf eingesetzt ist. Darin wird ein langsam brennendes Holzkohlenfeuer unterhalten und mit Spezereien, wie Nelken, Ingwer, Zimmet, Weihrauch, Sandelholz, Myrthe, wozu Späne der Talha-Akazie hinzugefügt werden,
bestreut. Ueber dieses Feuer setzt sich die möglichst leicht bekleidete Frau und bedeckt sich mit dem mantelartig ausgebreiteten Tôb (Hemdentuch) so sorgfältig, daß nichts von dem kostbaren Rauch unbenützt in die Luft entweicht. Sie geräth allmählich in ausgiebigen Schweiß und nimmt ein förmliches Dampfbad. Am Ende der Sitzung, nach 15 bis 20 Minuten, ist die Frau derart eingeräuchert, daß, wie schon gesagt, der Geruch allein sie auf weite Strecken verräth. *
K. B. in Stettin. Der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen hat ein neues, bedeutend erweitertes Verzeichniß der Fahrscheine für zusammenstellbare Rundreisehefte herausgegeben, welches einzeln zum Preise von 50 Pfennig und mit der dazu gehörigen Uebersichtskarte für 65 Pfennig zu haben ist. Das Werkchen bedeutet einen Fortschritt: man hat mit der früheren, mehr für den Dienstgebrauch geeigneten Form gebrochen. Eine Anweisung über den Gebrauch des Büchleins leitet dasselbe ein. Dann folgen praktische Winke über Feststellung von Reiseplänen, eine Anweisung über Ausfertigung von Bestellscheinen, Erläuterungen über Begriff, Arten und sonstiges Wissenswerthe über Rundreisen, ferner ein Verzeichniß der Ausgabestellen und derjenigen Grenzorte des Vereinsgebiets, an denen der Aus- und Wiedereintritt gestattet ist, endlich in alphabetischer Reihenfolge das Verzeichniß der Fahrscheine selbst und zwar in fünf Gruppen: Deutschland mit Luxemburg; Oesterreich-Ungarn und Rumänien; Belgien und die Niederlande; die Schweiz; Dänemark, Schweden und Norwegen. Ihre Zahl erreicht die stattliche Höhe von 2718 Nummern. Die Gültigkeit der Rundreisehefte bleibt nach wie vor bei Rundreisen von 600 bis zu 2000 Kilometern 45 Tage, bei Entfernungen von über 2000 Kilometern 60 Tage; die Ausgabe erfolgt während des ganzen Jahres.
R. R. in Hofheim. Die auf der II. Beilage zu Nr. 21 der „Gartenlaube“ als Auflösung des „Königszuges“ (in der I. Beilage zu Nr. 20) abgedruckten Strophen „Auf hohen Bergen liegt ein ew’ger Schnee“ etc. sind von Robert Hamerling.
H. Martin. Mit Dank abgelehnt.
Frau B. L. in Bromberg. Ihre herzlichen Worte der Anerkennung und des Einverständnisses haben uns eine große Freude gemacht und wir möchten sie nicht hinnehmen, ohne Ihnen hier durch den Briefkasten unsern herzlichsten Dank dafür auszudrücken, welchen wir Ihnen gern schriftlich abgestattet hätten, wenn wir nur Ihre genaue Adresse besessen hätten. Die überaus freundlichen und liebenswürdigen Lobsprüche, welche Sie uns zu theil werden lassen, sollen uns ein Sporn sein, in der Erfüllung unserer Pflichten gegen das Publikum – mit Recht haben Sie diesen Ausdruck gebraucht – nicht müde zu werden. Möge auch die Befriedigung, welche Sie heute über die Art und den Inhalt der „Gartenlaube“ empfinden, immer die gleiche bleiben!
Josef G. in Zürich. Den Mangel einer Briefwaage sollte man nicht als Entschuldigung für ungenügende Frankirung eines Briefes gelten lassen. Es ist so einfach, dieselbe zu ersetzen. In jedem Haushalt pflegt ja doch eine Schalenwaage vorhanden zu sein. Wenn nun hierzu die kleinen Gewichte fehlen, vermittelst deren man das Gewicht eines Briefes bestimmen könnte, so nehme man zwei Zehn-, zwei Fünf-, sowie ein Einpfennigstück. Diese fünf Geldstücke haben nämlich ein Gesammtgewicht von 15 Gramm, bekanntlich die Grenze für einen einfachen Brief.
A. W. in Berlin. Den bereits in Nr. 51 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ besprochenen „Studienmappen deutscher Meister“ von Franz v. Defregger und Ludwig Knaus hat die Verlagshandlung von C. T. Wiscott in Breslau kürzlich eine dritte Mappe von Adolf Menzel folgen lassen, welche gleichfalls vorzüglich wiedergegebene Studienblätter enthält.
„Rosen und Reben in Graz.“ Die Dichterin wohnt in Leipzig.
Inhalt des eben erschienenen Heftes 10 (Preis 40 Pfg.):
Treue Kameraden. Erzählung aus den holländ. Kolonien von E. von Barfus. Mit Illustr. von Alexander Zick. – Die ersten Lebenswege großer Astronomen. Mit Bildnissen. Von F. Jarke. – Des Märchens Wanderfahrt. Von Agnes Bochow. Mit Zeichn. von Eugen Klimsch. – Sprüche. Von F. W. Weber. – Waldgang. Von Frida Schanz. – Knackmandeln, Räthsel u. s. w.
Inhalt: Gold-Aninia. Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué. S. 501. – In Todesangst. Illustration. S. 501. – Der Kanal von Korinth. Von Dr. E. Engel. S. 508. Mit Abbildung S. 509. – Schatten. Novelle von C. Lauckner (Fortsetzung). S. 510. – Feldblumen. Gedicht von Max Kahlenberg. Mit Illustration. S. 513. – Auf der Pilzjagd. S. 514. – Blätter und Blüthen: Johnstown. S. 515. – Das Ruhrkohlenbecken. S. 515. – Rast in der Wüste. Von George Morin. S. 515. Mit Illustration S. 504 und 505. – Naturwissenschaftlicher Unsinn in den Tageszeitungen. Von Dr. Karl Ruß. S. 516. – Geräucherte Frauen. S. 516. – Kleiner Briefkasten. S. 516.
Allen Freunden einer gemütvollen, im besten Sinne unterhaltenden und fesselnden Lektüre empfehlen wir die Subskription auf die neu erscheinende, billige Lieferungs-Ausgabe von
Die neue Ausgabe erscheint vollständig in 108 Lieferungen in Stärke von durchschnittlich 5–6 Druckbogen, alle 14 Tage eine Lieferung.
Inhalt: Tannengrün. – Am Kamin. – Erzstufen. – Das Schwalberl. – Mein Eden. – Alte und neue Geschichten aus Baiern. – Der bairische Hiesel. – Der Kanzler von Tirol. – Der Habermeister. – Süden und Norden. – Almenrausch und Edelweiß. – Friedel und Oswald. – Im Morgenrot. – Die Gasselbuben. – Das Münchener Kindel. – Der Bergwirt. – Die Zuwider-Wurzen. – Der Loder. – Der Bauernrebell. – Mütze und Krone. – Hund und Katz’. – Konkordia. – Aufg’setzt. – Ledige Kinder. – Die Türken in München.
Herman Schmid’s Schriften, den älteren Gartenlaube-Lesern wohlbekannt, eignen sich in hervorragendem Maße zur Anschaffung für die Familienbibliothek, welche durch die Erscheinungsweise in billigen vierzehntägigen Lieferungen auch den weniger Bemittelten ermöglicht wird.
Die meisten Buchhandlungen nehmen Bestellungen auf die neue Ausgabe entgegen und senden auf Verlangen die soeben erschienene erste Lieferung zur Ansicht. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die