Die Gartenlaube (1889)/Heft 31
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No. 31. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Gold-Aninia.
Plötzlich stand der Ammann in dem Kreise der Streitenden.
„Was geht hier vor? Wer von Euch hat die Blutschuld
auf dem Gewissen?“ so donnerte
er mit weithinschallender
Stimme die zu Tod erschrockenen
Burschen an und
ließ dabei die scharfen zürnenden
Blicke fragend in die
Runde gehen. Doch nicht
lange, dann wußte er die
Antwort, der Schuldige konnte
nur der Pariser sein, denn
nur dieser hatte eine Waffe und
seine Hand hielt noch den von
Blut gerötheten Galanteriedegen,
der gewiß zum erstenmal
in solcher Weise befleckt
ward. Da änderte sich Miene
und Ton des gestrengen Richters.
„Geht heim, Peider!“
sagte er mit auffallender Ruhe
zu dem tieferschüttert dastehenden
Halbfranzosen. „Geht
heim und gelobt mir, Euch
nicht von Sils zu entfernen,
bis die geschworenen Leute
gesprochen haben. Daß sie
recht richten werden, dafür
bürge ich Euch. Den Verwundeten
bringt in mein
Haus, der Cavig selbst wird
ihn pflegen. Geht!“
Jetzt wandte er sich dem Beppo und seiner Tochter zu. Der Bergamasker war nur verwundet und gewiß nicht lebensgefährlich; er stöhnte leise und schmerzlich, indeß die Frau des Ammanns und andere Weiber sich um ihn bemühten, das Blut zu stillen und seine Wunde, so gut es gehen wollte, zu verbinden. Nun war auch Aninia endlich aus ihrer Betäubung erwacht. Als sie den Bergamasker regungslos in seinem Blute daliegen sah, ihn, den sie als ihren Schützer und Retter erkennen mußte, warf sie sich mit einem gellenden Wehschrei neben den Armen nieder. Das weiße Linnentuch riß sie sich vom Halse und half der Mutter, die im Verbinden und Pflegen von Wunden wohl bewandert war. Währenddem hatten die vollständig nüchtern und stumm gewordenen Burschen eine der breiten Bohlen, die als Tafeln dienten, herbeigebracht. Auf diese wurde der Verwundete, welcher nach Stillung der Blutung bald wieder zu sich kam, gelegt, und dann setzte sich der Zug nach dem Dorfe in Bewegung. Indeß man den armen Bergamasker Hirten ins Haus des reichen Madulani schaffte, zog der vollständig zerknirschte Franzosen-Peider mit seinen Freunden der ziemlich fern gelegenen Heimath Sils-Baseglia entgegen, ein Heimgang, der nicht im entferntesten dem fröhlichen Auszug am Morgen glich. Das Engadiner Frühlingsfest hatte übel geendet, und es gab manchen im Dorf, der daraus kommendes Unheil für das Jahr weissagte.
Der verwundete Bergamasker Schäfer hatte eine Pflege gefunden, wie sie ihm besser und wirksamer nicht hätte werden können. Ein
[518] Arzt war zu jener Zeit in diesem einsamsten Theil des Engadins eine unbekannte, fast sagenhafte Persönlichkeit. Man hätte weit laufen müssen, bis nach Chiavenna, nach Chur oder in eines der fernen Klöster des Unterengadins, um jemand zu finden, der etwas mehr gewesen wäre als ein Quacksalber oder ein ganz gewöhnlicher Bader – jetzt, wo noch große Schneemassen die Pässe bedeckten, wäre ein solcher Gang schwer genug gewesen, zur Winterszeit war er überhaupt unmöglich. Deshalb gab es in jedem der Orte eine heilkundige Persönlichkeit, welche durch lange Erfahrung ersetzte, was ihr an Wissenschaft abging. In Surley war es Mutter Barbla, die Frau des Cavigs, die sich in hervorragender Weise auf Heilung äußerer Schäden, auf das Verbinden und Pflegen von Wunden verstand. Auch wußte sie Kräuter für innere Leiden zu finden, die als besonders heilkräftig weit und breit berühmt waren. Unter ihrer Pflege hatte also der Bergamasker das beste zu erwarten, sie war es aber nicht allein, die sich um ihn mühte, denn auf die erste Kunde von dem Unglücksfalle war der alte weißbärtige Fra Battista herbeigeeilt, der Mönch des Crestalta, der auf seinem kleinen Maulthier überall dort erschien, wo es galt, die wenigen, zerstreut in weiter Runde lebenden katholischen Bewohner des Engadins in schweren, letzten Nöthen zu trösten. Seinem armen italienischen Landsmann wollte er vor allem beistehen, aber er fand ihn schon in der allerbesten und wirksamsten Pflege, denn Aninia wich Tag und Nacht nicht von dem Lager des Verwundeten. Die Degenspitze war glücklicherweise von der oberen Rippe abgeglitten und hatte dadurch nur die Fleischtheile der Brust verletzt; nachdem der starke Blutverlust, welcher eine augenblickliche große Schwäche verursucht hatte, einmal gehemmt war, drohte keine unmittelbare Gefahr mehr. Eine leichte Entzündung und ein damit verbundenes Wundfieber war schon am ersten Tage eingetreten, doch alle Anzeichen sprachen für eine rasche Heilung des kräftigen und sonst durchaus gesunden Menschen. Mit großen, andachtsvollen Augen, als ob er eine Madonna erblickte, hatte der einfache Sohn der wilden Bergamasker Berge anfänglich zu dem schönen bleichen Mädchen aufgeschaut, das, unbekümmert um die Mahnungen der Mutter, um den finster umhergehenden Vater, hilfeleistend bei ihm weilte, als ob es seine Schwester gewesen wäre. Nun er im leichten Fieber lag, unruhig und ohne Schlummer, redeten seine Lippen zu ihr, und jetzt war es wirklich die Madonna, der die einzelnen abgerissenen Worte, die irren, sehnsüchtig suchenden Blicke galten. Und Aninia saß mit ihren Gedanken, die sie weit in ihre Kinderzeit zurückführten, neben seinem Lager, einsam und allein mit dem Verwundeten bis spät in die Nacht hinein, kühlte mit nassen Tüchern seine heiße Stirn, flößte ihm mit liebevollen Worten den heilkräftigen Trank ein, den die Mutter gebraut hatte.
Dann saß sie wieder lange, in stummes Anschauen verloren, während Beppos brauner Lockenkopf sich unruhig auf den Kissen hin und her bewegte, und sie wußte nicht, warum ihr gerade der Anblick seines blassen Gesichtes so zu Herzen ging. Er dauerte sie, weil er sein junges Leben um ein Haar breit verloren hätte, sie war ihm dankbar, daß er es um ihretwillen aufs Spiel gesetzt hatte, aber das war es alles nicht, was ihr das Herz so voll neuer süßer Gewalt pochen machte. So wie sie damals der Freundin scherzend gesagt hatte, so war ihr nun geschehen, auf einmal war’s gekommen, und sie wußte es nun: der arme Hirt mit den treuen Augen und dem leidenschaftlichen Herzen war ihr lieber als alle andern, sie hätte ihn in dem kleinen getäfelten Stübchen für immer behalten und nichts mehr von denen draußen hören mögen. Sie wußte jetzt auch aus seinen verworrenen Reden, daß er der Beppo ihrer Kinderjahre war, an den sie noch lange und oft gedacht, der braune Junge, der das kleine goldhaarige Mädchen damals wie ein höheres Wesen angebetet und auf Händen getragen hatte. Ob er auch noch der schönen Zeiten und ihrer glücklichen Kinderspiele auf den Alpenweiden dachte? Und warum, wenn dies der Fall, war er so lange nicht mehr nach Surley gekommen, da doch die Heerden seines Grafen nach wie vor dort weideten? Oder hatte er sie ganz vergessen?
Aninia fühlte sich völlig verwirrt von den vielen Zweifeln und Fragen, die plötzlich in ihrem bis dahin so gleichmüthigen Innern auftauchten. So oft sie in Gedanken so weit gekommen war, that sie einen leisen Seufzer und beugte sich über den im Fieber murmelnden Beppo, glättete ihm mit sanfter Hand die wirren Haare und küßte leise, leise die glühende Stirn. Dann zog ein Schimmer von Lächeln über sein Gesicht, er wurde ruhiger und flüsterte einzelne abgerissene Worte mit glücklichem Ausdrucke vor sich hin. Aninia hielt seine Hand und betete still für Beppos Genesung zu dem, dessen Augen wie sie glaubte, allein ihre Neigung und die stille Glückseligkeit sahen, die jetzt ihr Herz erfüllte.
Aber hierin irrte sie doch und hatte keine Ahnung, daß noch zwei andere Augen scharf nach ihr ausschauten, daß jede ihrer Bewegungen, jedes ihrer geflüsterten Worte von einer dritten Person gesehen und gehört wurden. Hinter der Kammerthür, welche in eine dunkle Geräthstube führte und ein kleines Fensterchen hatte, stand Mutter Barbla. Unhörbar schlich sie heran und gleich leise wieder in ihre Schlafkammer zurück. Aber es war kein Ausdruck von Zorn in den Augen, womit sie die unschuldige Zärtlichkeit ihres schönen Kindes beobachtete. Es schien sogar, als empfinde sie eine rachsüchtige Freude darüber, doch hütete sie sich wohl, ihr heimliches Wissen auch nur mit einer Silbe ihrer Tochter gegenüber zu verrathen. Ernsthaft und wortkarg wie immer verrichtete sie ihr Tagewerk, sah nach Beppos Verband und that, als ob sie weiter nichts bemerkte. Frau Barbla mußte etwas ganz Besonderes planen, und das konnte nur gegen den Vater, nimmer gegen die beiden jungen Leute gerichtet sein.
Der Cavig ging mit schweren Schritten im Hause umher, die Brauen hatte er finster zusammengezogen und die Lippen fest aufeinander gepreßt. Es gährte noch gewaltig in ihm von dem schlimmen Festtage her, er fühlte sich in seiner Hausherrnwürde beleidigt und herabgesetzt und empfand ein brennendes Bedürfniß, seinem rebellischen Weibervolk den Meister zu zeigen. Deshalb kümmerte er sich vor der Hand weder um den Verwundeten, noch um Frau und Tochter, die denselben pflegten, er strafte sie alle zusammen mit finsterem Schweigen; ebenso wenig schien er den alten Mönch des Crestaltahügels zu bemerken, der des Beppos wegen in seinem Hause ein- und ausging. Dafür weilten seine Gedanken um so mehr bei dem Franzosen-Peider, mit dem er sich ja überhaupt als Richter zu beschäftigen hatte.
Nicht nach geschriebenem Recht, sondern nur nach altem Brauch hatte der Ammann nach einem begangenen Verbrechen oder einem schweren Vergehen, bei dem Blut geflossen war, die Geschworenen der Dörfer, welche die Pfarrgemeinde bildeten, zum Gericht zu versammeln. Da diese Gemeinde aus fünf größeren und kleineren Dörfern bestand, von denen jedes einen Geschworenen zu stellen hatte, die nach Bedeutung der Ortschaften der Reihe nach ihren Wahrspruch fällten, so waren diese fünf geschworenen Leute für den nächsten Sonntag zum Gericht nach Surley, das öffentlich unter freiem Himmel vor der Kirche abgehalten werden mußte, von dem Ammann berufen worden. Als er nach einigen Tagen mit seinen Gedanken und heimlichen Plänen im reinen war, ließ er den Angeklagten kommen, um ihn, wie er vorgab, zu verhören, nicht in seinem Hause, sondern draußen an dem Ort der That, wohin er denn auch den recht zerknirschten Franzosen-Peider führte. Nicht mit der Strenge des Richters, sondern mit einer scheinbar theilnehmenden, väterlichen Freundlichkeit forschte er ihn aus über das, was eigentlich vorgegangen sei und das brutale Einschreiten des Bergamaskers veranlaßt habe. Der Pariser, durch diese unerwartet freundliche Behandlung des als hart und streng verschrieenen Mannes ermuthigt, hielt nicht hinterm Berge und erzählte, natürlich sein Thun beschönigend, – was der Ammann wohl schon wußte oder doch ganz bestimmt ahnte – daß er die Gold-Aninia, die ihm gar so schön erschienen sei, nur ein paarmal geküßt habe.
Bedenklich schüttelte der Ammann in gut gespielter Entrüstung den Kopf, dann sagte er ernst, doch immer noch nicht unfreundlich: „Schlimm, sehr schlimm! Schon dieser Ueberfall eines unbescholtenen Mädchens, das unfähig war, sich zu vertheidigen, ist nach unserem Recht ein schweres Vergehen, das nur mit einer harten Strafe gesühnt werden kann. Dazu noch der Degenstich, das in vollem Festesfrieden vergossene Blut – das kann Euch den Hals kosten. Die geschworenen Männer können Euch nur – zum Strang verurtheilen.“ Jetzt erst fiel sein tiefernster Blick auf den Peider, der wie Espenlaub zitterte und sich bereits am Galgen baumeln sah, und wieder den theilnehmenden, väterlichen Freund spielend, fuhr der Ammann fort, sein Opfer nunmehr nicht aus den Augen verlierend: „Ja, wenn Ihr nicht in einer augenblicklichen Aufwallung gehandelt hättet – wenn Ihr die Aninia wirklich liebtet, ein Recht auf sie besäßet, dann – dann läge die [519] Sache freilich anders. Denn den wirklichen Schatz, oder gar den – Bräutigam des Mädchens könnte und würde auch keine Strafe treffen. Der Degenstoß wäre dann einfach eine Nothwehr oder doch nur die in einer berechtigten leidenschaftlichen Aufregung, in einem unbedachten Augenblick verübte Vergeltung einer erduldeten – tödlichen Schmach gewesen.“
„Aber so ist’s – gerade so ist’s, Ammann!“ rief der Franzosen-Peider, wie von einer entsetzlichen Last befreit, mit einem fast jauchzenden Freudenton, denn er hatte den Wink nur zu gut verstanden. „Ich liebe die Aninia – meine Kameraden können bezeugen, wie oft ich dies gesagt und wiederholt habe, und alles, was ich besitze, gäbe ich mit Freuden darum, dürfte ich sie als – mein Weib freien!“
„Wirklich?“ sagte der Ammann langgedehnt und vermochte nur schwer die Freude über das Gelingen seiner List zu verbergen. „Wenn das wirklich die Wahrheit ist,“ fuhr er jetzt rascher und die Worte schärfer betonend fort, „warum habt Ihr denn nicht schon längst offen und ehrlich mit der Aninia oder doch mit dem Vater, der im Grunde allein zu entscheiden hat, gesprochen?“
„Ich hatte nicht – den Muth dazu,“ entgegnete der andere wieder kleinlaut.
„Und Ihr rühmtet Euch doch laut genug, in Paris die rechte Courage den Weibern gegenüber gelernt zu haben!“ sagte nun der Ammann spöttisch, um dann sofort wieder in den früheren wohlwollenden Ton überzugehen. „Und wer sagt Euch, daß sie – oder der Vater Euch abgewiesen haben würde? Seht, Peider, ich will offener und ehrlicher handeln als Ihr und sage Euch gerade heraus: Ihr wäret mir, dem reichen Madulani, als Eidam schon recht.“
Nun war es mit aller Angst des Peiders vorbei, er war wieder der alte übermüthige Pariser geworden, wenn er auch keineswegs das Wunder begriff, das ihn da vom sicheren Galgen in die Arme des schönsten und reichsten Mädchens im ganzen Engadin führen sollte. Er wollte vor unsinniger Freude aufjauchzen, doch ein drohender Blick des Ammanns hinderte ihn, einen solchen Freudenlaut, wenn auch im Freien, fern von dem Dorfe, auszustoßen, einen Ton, der nimmer zu der Untersuchung hätte passen können, die ein Richter mit einem Missethäter zu führen hatte. Dafür ergriff der Peider die Hand des Ammanns, und sie mit leidenschaftlicher Gewalt drückend, sagte er keck: „Nun denn Vater Gian Madulani, so halte ich hiermit in aller Form um die Hand Eurer Tochter Aninia an! All meine Goldstücke – und ich besitze ihrer noch eine ganze Anzahl in meinen Kleidern eingenäht, – all meine Pretiosen – und die sind wohl noch viel mehr werth, bringe ich ihr als Heirathsgut dar, sofort nach der Hochzeit. Seid Ihr dessen zufrieden, Vater Gian?“
Des Ammanns Augen funkelten in heftiger Gier nach dem Golde, das ihm hier in so sicherer Aussicht stand. Dann schlug er derb in die dargebotene Hand des Franzosen-Peiders ein. „Abgemacht, Peider,“ sagte er. „Du wirst mein Schwiegersohn, und acht Tage nach dem Gericht ist die Aninia Dein Weib!“
„Abgemacht!“ rief der andere, den Druck der Hand leidenschaftlich erwidernd. „Nun wird wohl auch die hochnothpeinliche Verhandlung am nächsten Sonntag überflüssig geworden sein, denn Ihr werdet doch nicht über Euren zukünftigen Schwiegersohn zu Gericht sitzen wollen?“
„Erst recht!“ entgegnete der Ammann wichtig. „Ich muß auf alle Fälle meines Amtes warten – was sollten die Dörfler sonst denken? Sodann mußt Du Dich doch vor den geschworenen Leuten und den sämmtlichen Gemeinden reinigen, und dies kann nur auf eine Weise möglich gemacht werden. Also merk’ auf und präge Dir wohl ein, was ich sage, willst Du Deinen Hals retten und meine Aninia Dir gewinnen!“
In größter Spannung horchte der Franzosen-Peider auf, die Ueberlegenheit des Ammanns erkennend, und nachdem dieser einen Augenblick nachgedacht, sich dabei nach allen Seiten umgeschaut hatte, ob nicht ein unberufener Lauscher ihn hören könnte, fuhr er leise, im Flüsterton und dennoch jedes seiner Worte schwer betonend, also fort: „Du gehst jetzt heim, trittst fest und bestimmt, doch nicht übermüthig und lustig auf, verräthst keine Furcht mehr, denn Du bist Deiner Unschuld – oder doch Deiner Sache gewiß. Daß kein Wort unsere Abmachung verräth, ist selbstverständlich; solltest Du dennoch so dumm sein, etwas davon auszuplaudern, so leugne ich alles ab und der Galgen ist Dir gewiß. Dies bedenke! Erst am Sonntag vor den Geschworenen und allen Leuten – sämmtliche Dörfler werden ganz sicher dabei sein wollen! – sagst Du einfach, daß Du die Aninia geküßt habest, was zu wehren der Beppo nicht berechtigt gewesen sei, denn das Mädchen sei Deine Braut! Am selben Morgen – merke dies wohl! – am selben Morgen habest Du um ihre Hand angehalten und ich habe Dir mein Jawort gegeben. Verstanden?“
„Vollkommen, Vater Gian! Ihr seid ein Richter, weise wie Salomon,“ entgegnete der Franzosen-Peider, den Ammann mit einem bewundernden Staunen betrachtend.
„Dann geht heim und thut, wie ich gesagt habe, – wir haben schon zu lange mitsammen geplaudert. Am Sonntag wird sich’s zeigen, ob Ihr acht Tage später gehängt oder mein Schwiegersohn werdet. Gott mit Euch!“
Hochaufgerichtet drehte Madulani sich mit der ganzen Würde und Strenge eines unerbittlichen Richters um, und ohne dem wieder eingeschüchterten Peider, der doch sein Schwiegersohn werden sollte, die Hand zum Abschied zu reichen, schritt er gemessen dem Dorfe und seinem Gehöfte entgegen, so ruhig und selbstbewußt, als hätte er seines wichtigen Amtes wie ein gerechter und unbestechlicher Richter gewaltet.
Der Franzosen-Peider aber trollte seelenvergnügt heim, nur im Schatten des Bergrückens des gewaltigen Gravasalvas, der den Silser See an der Wegseite einschloß, that er einen verstohlenen Freudensprung. Denn gewiß hatte er sich die Weisung seines vortrefflichen und sehr klugen zukünftigen Schwiegervaters wohl gemerkt und natürlich auch beschlossen, danach zu handeln. Der Fall lag ja einfach: entweder der Galgen oder die schöne Gold-Aninia. Die Wahl konnte ihm nicht schwer werden.
Es war am sechsten Tage nach dem blutigen Vorfall auf der Festwiese, in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, der so verhängnißvoll für die arme Gold-Aninia zu werden drohte. Aninia weilte wie bisher wachend an dem Lager Beppos, die Mutter hatte sich schon längst zur Ruhe begeben und alles war still im Hause; Aninia hielt den Kopf gesenkt und sah mit unverwandten Blicken nach dem ruhig und tief Schlafenden hin. Mit dem heutigen Tage war eine unverkennbar günstige Wendung eingetreten. Das Fieber hatte gänzlich nachgelassen und die Züge trugen einen friedlichen Ausdruck, gleichmäßig senkte und hob sich die Brust mit ihrem Verbande unter der leichten Decke. Die Heilung der Wunde war im besten Gange, und voraussichtlich konnte Beppo wohl schon in wenigen Tagen sein Lager verlassen.
Aninia war über diese guten Aussichten zuerst hocherfreut gewesen, aber auf einmal spürte sie etwas wie einen Stich, der ihr tief ins Herz hinein drang. Wenn Beppo genas, dann mußte er ja gehen, dann war es aus mit dem stillen Beisammensein im arvengetäfelten Stüblein – das Mädchen fühlte bei diesem Gedanken schwere Thränen aufteigen und langsam über die Wangen rollen. Sie beugte den blonden Kopf tief zu Beppos dunklem Lockengewirr hinunter, blickte ihm lange, lange ins Gesicht und flüsterte endlich leise: „Gute Nacht, Du herzlieber, guter Beppo! Die arme Aninia wird wohl zum letzten Mal bei Dir gewacht haben, dann gehst Du fort und weißt es nicht, wie lieb ich Dich im Herzen hab – ach, so lieb!“ Vorsichtig überzeugte sie sich noch einmal, daß er fest schlafe, und dann – sie konnte nicht widerstehen – senkte sie ihr Köpfchen tiefer und küßte, zum letzten Mal, wie sie dachte, seine Stirn, dann aber, von einer unüberwindlichen Sehnsucht getrieben, auch seine Lippen.
Dabei fiel ein warmer Thränentropfen aus ihrem Auge und auf das Antlitz des Kranken nieder. War er dadurch erwacht, oder schon längst wach gewesen? – Aninia fühlte plötzlich ihre beiden Hände gefaßt, sah, sich erschrocken aufrichtend, in zwei gluthvolle Augen und hörte eine halberstickte, von Leidenschaft zitternde Stimme, die leise sagte: „Madonna! – süße liebe Aninia!“
Sie wollte sich ihm entwinden, er flehte aber, sie festhaltend: „Geh’ nicht fort! Wenn Du fortgehst, muß ich sterben. Denn was soll der arme Beppo noch auf Erden, wenn er Dich nicht mehr sehen und Deine Stimme nicht mehr hören kann!“
„Sei ruhig, Beppo,“ flüsterte das Mädchen, selbst am ganzen Körper zitternd, „Du hast geträumt, schweige jetzt ganz still, das viele Reden kann Deiner Wunde schaden.“
[520] „Wenn das ein Traum war, was ich da auf meiner Stirn – auf meinen Lippen gefühlt habe, dann will ich lieber sterben, als ohne dies weiterleben,“ rief Beppo außer sich, mit einer starrsinnigen Energie in den düstern Augen. Er ließ Aninias Hand fahren und tastete mit der seinen nach dem Verband, um ihn von der Wunde herunter zu reißen. Doch Aninia war schneller als er. Sie stürzte über ihn, unfähig in diesem schrecklichen Augenblick, nur einen Laut von sich zu geben. Aber entschlossen und kraftvoll riß sie seine Hände zurück und schützte seine Brust mit ihrem Angesicht. Thräne um Thräne rann von ihren Augen, sie wollte sprechen und konnte nicht. Endlich stammelte sie: „Nein, Beppo – nein! – es war kein Traum! Ich bin und bleibe Dir gut!“ Zugleich erfaßte sie leidenschaftlich mit beiden Händen seinen Kopf und drückte einen langen, heißen Kuß auf seine Lippen. – Im folgenden Augenblick war sie aus der Kammer verschwunden.
Zitternd vor Freude und Erschöpfung ließ der Kranke den Kopf vollends in das Kissen zurücksinken. Seine Kraft war zu Ende, aber er fühlte sich von einer Seligkeit durchströmt, wie sie bisher das Herz des armen Burschen nicht gekannt hatte. – Viel Nachdenken war Beppos Sache überhaupt nicht, und heute wollte sein noch müder Kopf keinen andern Gedanken fassen als: „Sie hat Dich geküßt, sie hat Dich lieb!“ Das stellte er sich so lange immer wieder vor, bis allmählich die Bilder und Gedanken zum Traum ineinanderflossen und ein wohlthuender Schlaf den Glücklichen umfing.
Als Aninia in athemloser Hast in ihrer Kammer angekommen war, sich dort in einen Sitz warf und, die Hände vor das Antlitz gedrückt, sich zu beruhigen, zu sammeln suchte, da hörte sie draußen leichte Schritte; in der Nebenstube, wo die Mutter schlief, wurde die Thür leise geöffnet und geschlossen.
Seltsam! Die Mutter mußte also doch nicht zur Ruhe gegangen, sondern noch im Innern des Hauses gewesen sein.
Friedrich List.
Deutschlands innere Einigung in diesem Jahrhundert hat wie jede große geschichtliche Umwälzung ihre Märtyrer; der größten einer aber ist Friedrich List. Nicht äußere Gewalt hat ihn weggerafft, sondern die innere Zernichtung, die hoffnungslose Enttäuschung, die unsägliche Trostlosigkeit dessen, der auf ein von den höchsten Idealen getragenes, von rastlosen Mühen erfülltes Dasein zurückblickt mit dem bittern Gefühl, daß alles umsonst gewesen, daß das hohe Gut, dem all sein Streben gegolten, verloren, sein Dank nur Mißgunst und Verfolgung, das Endergebniß nur Zerrüttung seiner Arbeitskraft und seiner Familien- und Vermögensverhältnisse sei.
Und doch war sein Wirken nicht umsonst gewesen! Aber des kühnen Mannes glühender Drang nach vorwärts ließ ihn über der Vorstellung des großen Endziels die kleinen Anfänge nicht sehen, ließ ihn, der von dem Bilde köstlicher Früchte erfüllt war, die schüchternen, scheinbar kümmerlichen Ansätze mißachten. Das ist das Tragische in seinem Geschick. So starb er, ein Opfer seiner widerstrebenden Zeit, aber auch ein Opfer seines eigenen allzu stürmischen Charakters.
Am 6. August sind es hundert Jahre, seit Friedrich List als der Sohn eines vermöglichen Weißgerbers zu Reutlingen in Württemberg das Licht der Welt erblickte. Reutlingen war bis zum Jahre 1802, bis zu seiner Einverleibung in Württemberg, eine Freie Reichsstadt, und das ist nicht ohne Bedeutung für die Entwickelung Lists gewesen. „Er sog,“ sagt sein Biograph, Ludwig Häusser (Friedrich Lists gesammelte Schriften I. Stuttgart und Tübingen, Cotta, 1850), „das reichsstädtische Selbstgefühl, die Vorliebe für freie bürgerliche und korporative Verhältnisse, die Abneigung gegen Beamtenthum und Schreiberwesen, man kann sagen mit der Muttermilch ein.“ So konnte denn auch der verzweifelte Versuch Lists, der die Lateinschule seiner Vaterstadt ohne besonderen Glanz besucht und dann kurze Zeit in seinem väterlichen Geschäft widerwillig eine Lehre durchgemacht hatte, der Versuch, im württembergischen Staatsdienste als einer dieser „Schreiber“ sich eine berufliche Existenz zu schaffen, kaum von Erfolg begleitet sein. Eine kurze Zeit, während unter dem Minister Wangenheim die liberalen Ideen im württembergischen Staats- und Gemeindeleben zur Geltung kamen, fand auch List eine ihm zusagende Wirksamkeit, zuerst als Beamter im Ministerium, dann als Professor an der neugegründeten staatswirthschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, aber mit dem Sieg von Wangenheims reaktionären Gegnern, Ende 1817, war auch seiner Stellung der innere und äußere Halt genommen.
Lists Lösung vom württembergischen Staatsdienst, die unter solchen Umständen kommen mußte, ward schließlich durch ein Vorkommniß herbeigeführt, welches in der Geschichte der wirthschaftlichen Entwickelung Deutschlands einen Markstein bildet. Seit Jahren schon regten sich in dem deutschen Handelsstand die Bestrebungen zur Besserung des wirthschaftlichen Nothstands in den deutschen Ländern. Insbesondere waren es die Binnenzölle, das heißt die Zölle, welche die einzelnen deutschen Staaten an ihren Grenzen gegen einander erhoben, gegen die sich die öffentliche Meinung immer entschiedener auflehnte. Es fehlte nur an einem Manne, der es verstand, diese getheilten, zersplitterten, zum Theil auch noch ganz unsicher tastenden Strebungen mit kräftiger Hand und klarem Geiste zusammenzufassen.
Im Frühjahr 1819 reiste nun List zu wissenschaftlichen Zwecken nach Göttingen. Unterwegs traf er in Frankfurt a. M. mit einer Anzahl von Kaufleuten und Fabrikanten zusammen, welche mit ihm die Noth der Zeit besprachen und ihn schließlich darum angingen, in ihrem Auftrag eine Bittschrift an die Bundesversammlung in Frankfurt zu richten, in welcher um „Aufhebung der Zölle und Mauthen im Innern Deutschlands und um Aufstellung eines allgemeinen deutschen, auf dem Prinzip der Retorsion (das heißt der Wiedervergeltung fremder Eingangszölle durch eigene) beruhenden Zollsystems gegen die angrenzenden Staaten“ ersucht wurde. Freudig ging List darauf ein, ja, er trieb seine Auftraggeber weiter, als sie ursprünglich selbst gewollt hatten, er veranlaßte sie, zur Wahrung ihrer Interessen und zur Verbreitung der in der Eingabe vertretenen Ideen einen Verein zu gründen, der unter dem Namen „Deutscher Handels- und Gewerbeverein“ längere Zeit eine beachtenswerthe Rolle spielte und zu dessen Konsulenten List sich ernennen ließ. Daran knüpfte die württembergische Regierung an, um den ihr unbequemen Beamten abzuschütteln. Sie forderte List zur Rechtfertigung darüber auf, wie er als Beamter ohne eingeholte Erlaubniß eine weitere Stellung habe annehmen können, und List antwortete mit einem Entlassungsgesuch. Es wurde am 21. Mai 1819 genehmigt, und damit war List losgeankert von dem festen Boden einer heimathlichen bürgerlichen Existenz, um fortan rastlos umherzuwandern, nirgends seßhaft, nirgends heimisch, sorgenvoll um sicheren Grund und Boden für seine Familie ringend, und doch selbst für Ruhe und Beharren nicht geschaffen.
Zunächst benutzte List seine Freiheit zu einer umfangreichen Agitation im Dienste des Handelsvereins. Da der deutsche Bundestag zu Frankfurt das eingereichte Bittgesuch und ebenso ein zweites ablehnte und die Bittsteller an die Einzelregierungen verwies, so bereiste List die Höfe von München, Stuttgart, Karlsruhe, Berlin und Wien, bearbeitete fünf Monate lang die in letztgenannter Stadt zum Kongresse versammelten Staatsmänner, war unermüdlich und in allen Formen schriftstellerisch thätig, beschäftigte sich nebenbei mit dem Plane einer deutschen Industrie- und Kunstausstellung, ohne freilich auf irgend einem Felde nennenswerthe Erfolge zu erzielen.
Hatte dieser letztere Umstand schon seine Beziehungen zu den rechnenden Kaufleuten des Handelsvereins gelockert, so wurden sie vollständig gelöst durch ein Ereigniß, welches wohl den dunkelsten Punkt in Lists an trüben Schicksalen wahrhaft überreichem Leben bildet. Von seiner Vaterstadt Reutlingen 1820 wiederholt in die württembergische Ständeversammlung gewählt – eine erste Wahl war wegen „unzureichenden Alters“ für ungültig erklärt worden – verfaßte der eifrige Abgeordnete im Einverständniß mit seinen Wählern eine Bittschrift, welche er an die Kammer einzureichen gedachte und in welcher er alle Schäden des württembergischen Regierungssystems mit rücksichtsloser Offenheit ans Licht zog und in vierzig Punkten seine reformatorischen Forderungen zusammenfaßte.
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[522] „Wo man hinsieht, nichts als Räthe, Beamte, Kanzleien, Amtsgehilfen, Schreiber, Registraturen, Aktenkapseln, Amtsuniformen, Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener herab,“ heißt es in der Schrift, „auf der andern Seite Unwerth der Früchte, Stockung der Gewerbe, Fallen der Güterpreise, Klagen über Geldmangel und Abgaben, Steuerpresser, Gantungen, bittere Beschwerden über unredliche Magistrate, gewaltthätige Beamte, geheime Berichte, Mangel an Unparteilichkeit der Obern, Jammer und Noth überall, nirgends Ehre, nirgends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit, denn allein in dem Dienstrock.“
Eine solche Sprache war unerhört. „Verleumdung der bestehenden Staatsgewalt und dringenden Verdacht eines begangenen Staatsverbrechens“ fand das Stuttgarter Kriminalamt darin, vergebens protestirten gesinnungstüchtige Männer in der württembergischen Kammer, unter ihnen Uhland, gegen eine gerichtliche Verfolgung des Abgeordneten – genug, nach einer langen Kette der peinlichsten Quälereien – es kam sogar soweit, daß man List mit Stockprügeln drohte – fiel am 6. April 1822 nach fünfvierteljähriger Verhandlung das Urtheil, das List zu zehnmonatiger Festungsstrafe verdammte. Das ertrug er nicht; er verließ seine junge Frau, die Tochter des Tübinger Professors Seybold, mit welcher er sich erst vor wenigen Jahren, 1818, vermählt hatte, und floh aus dem Lande, erst nach Straßburg, dann nach Baden, nach London und Paris, endlich in die Schweiz, hier wie im Elsaß und in Baden verfolgt von dem Hasse der schwerbeleidigten württembergischen Bureaukratie. Endlich kehrte er, wahrscheinlich im Mai 1824, nach Württemberg zurück. Man hatte ihn glauben gemacht, ein Gnadengesuch an den König sichere ihm die beste Aufnahme – aber kaum hatte er die Grenzen des Landes überschritten, da wurde er verhaftet, auf den Asperg gesetzt und erst im Januar 1825 zur „Auswanderung“ begnadigt. List ging nach Amerika, dem Lande, auf welches schon Lafayette in Paris seinen Sinn gelenkt hatte.
Wir haben bei diesen Schicksalen des Mannes länger verweilt, weil ihre Betrachtung geeignet ist, die patriotischen Verdienste Lists in das gebührende Licht zu setzen. Die Verfolgungen seiner württembergischen Feinde hatten damit noch kein Ende; sie hintertrieben seine Verwendung als amerikanischer Konsul in Hamburg, sie untergruben seine Stellung als Generalkonsul in Leipzig – und trotz alledem blieb „der Hintergrund aller seiner Gedanken immer Deutschland“. Weder kleinliche Nörgelei noch peinlicher Druck, weder Undank noch Verleumdung hatten ihn der geliebten Heimath entfremden können.
In Amerika war es, wo seine nationalökonomischen Ideen und Kenntnisse sich vertieften und erweiterten. Hier vollzog sich seine innere Lossagung von dem herrschenden kosmopolitischen Freihandelssystem des berühmten schottischen Nationalökonomen A. Smith, um der Ueberzeugung von dem Werthe der nationalen Schutzzölle, insbesondere von ihrer Nothwendigkeit für Deutschland Platz zu machen. Hier geschah es, daß er von ungefähr auf einem Ausfluge reichhaltige Steinkohlenlager entdeckte und diese Entdeckung ihn – ein Beispiel, wie fruchtbar bei List ein zufälliges Ereigniß seines Lebens wirken konnte – auf Ideen über die möglichst gewinnreiche Verwerthung dieser Kohlen durch Belebung und Erweiterung der Verkehrsmittel führte, – und „mitten in den Wildnissen der blauen Berge träumte er von einem deutschen Eisenbahnsystem“.
Es war ihm klar, daß nur durch ein solches die Handelseinigung Deutschlands, die schon der Kernpunkt seiner ersten öffentlichen Aeußerung gewesen war, in volle Wirksamkeit treten könne. So liefen die Linien seiner Gedanken wieder zusammen in dem einen Punkt – Deutschlands wirthschaftliche Einigung und damit auch Hebung seiner inneren Kraft und seines Einflusses nach außen.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß eine Anstellung Lists als Konsul der Vereinigten Staaten in Hamburg sich zerschlug, und daß List dafür das Generalkonsulat zu Leipzig übertragen erhielt. Im Jahre 1833 ließ er sich in dieser Stadt nieder und eine zeitlang schien es wirklich, als ob sich ihm endlich auch einmal die Bahn des Erfolges, und zwar im nationalen Sinne aufgefaßt öffnen sollte. Lists Flugschrift „Ueber ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems, und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden“ hatte die Wirkung, daß diese Bahn thatsächlich gebaut wurde, freilich nicht ohne daß sich für List persönlich sofort wieder Verkürzungen und Zurücksetzungen angeschlossen hätten; man machte ihm jede Mitwirkung an der Ausführung und jede finanzielle Betheiligung unmöglich und speiste ihn schließlich mit einem „Ehrengeschenk“ von 2000 Thalern ab, eine Enttäuschung, die ihn um so schmerzlicher traf, als ihr eine kurze Periode scheinbar berechtigter Hoffnungen vorausgegangen war. Bald traten neue Sorgen hinzu. Seine Stellung in Leipzig gerieth – wie List annahm, auf württembergisches Betreiben – ins Wanken und gleichzeitig verlor er infolge einer Finanzkrisis in den Vereinigten Staaten einen Theil des Vermögens, das er sich durch seine Kohlenbergwerke dort erworben hatte.
Noch einmal versuchte es List mit Württemberg, und man empfing ihn auch dort bei Freund und Feind mit großer Aufmerksamkeit. Er war, wie er selbst scherzend es ausdrückte, „the great lion“, der Löwe des Tages, und ganz Stuttgart sprach ein paar Tage lang von nichts als von dem Konsul List. Aber als der so Gefeierte um seine bürgerliche Wiederherstellung nachsuchte, da erhielt er den Bescheid, er werde als Ausländer betrachtet, welchem der Aufenthalt im Königreich „auf Wohlverhalten“ gestattet sei.
So kehrte List abermals der Heimath den Rücken. Er wandte sich 1837 über Brüssel nach Paris, unterwegs überall neue Verbindungen anknüpfend, darunter auch mit König Leopold I. Am folgenreichsten war wohl sein Zusammentreffen mit Kolb aus Augsburg, dem Redakteur der „Allgemeinen Zeitung“, mit welchem zusammen List einst auf dem Asperg gesessen hatte und den er jetzt in Ostende wiedersah. Nicht bloß blieb Kolb dem Vielumhergetriebenen ein treuer und aufrichtiger Freund bis zum Tode – Lists letzter, verzweiflungsvoller Brief ist an ihn gerichtet – sondern List erhielt auch in der „Allgemeinen Zeitung“ ein großes mächtiges Organ zur Verbreitung seiner Ideen.
Der Aufenthalt in Paris, welcher bis 1840 währte, gewann für List Bedeutung dadurch, daß er sich während desselben ganz auf geschichtliche und nationalökonomische Studien zurückzog. Der Anlaß dazu war eine von der französischen Akademie gestellte Preisaufgabe, deren Thema etwa lautete: „Wenn eine Nation die Handelsfreiheit einführen oder ihre Zollgesetze abändern will, welche Thatsachen muß sie in Betracht ziehen, um in möglichst gerechter Weise den Vortheil der Produzenten und den der Masse der Konsumenten zu vereinigen?“ List bewältigte in wenig Wochen die Arbeit, erhielt zwar keinen Preis, sondern nur mit zwei andern Bewerbern zusammen anerkennende Erwähnung, aber ein Sammelpunkt für seine Studien war ihm doch geworden, und aus dieser Preisschrift ist später Lists Hauptwerk, das „Nationale System der politischen Oekonomie“ (7. Aufl. 1883, Stuttgart, Cotta) erwachsen.
Als der erste Band dieses Werkes erschien, 1841, befand sich List schon wieder auf deutschem Boden, zuerst in Weimar, dann in Augsburg sich niederlassend. Die außerordentliche Wirkung des Buches „bestärkte List in dem Glauben, daß die Zeit jetzt gekommen sei, eine konsequente Agitation für das Schutzsystem mit Erfolg zu versuchen. Es war nun eine Partei vorhanden, die den Werth des Nationalen Systems anerkannte und sich um das Buch wie um ein Programm vereinigte; Freunde und begeisterte Anhänger regten sich bald ebenso laut wie die Gegner und Verächter, und in diesem raschen, sichtbaren Erfolg, dieser Unruhe und Gährung unter Freund und Feind lag der schlagendste Beweis dafür, daß List eine der mächtigsten Regungen der Zeit berührt hatte.“
Von Neujahr 1843 ab erschien dann ebenfalls bei Cotta das „Zollvereinsblatt“, das fortan den Mittelpunkt von Lists schriftstellerischer und agitatorischer Thätigkeit bildete und das er in der ersten Zeit fast ganz allein schrieb. Da traten sie alle von neuem wieder auf den Plan, die Gedanken, die er da und dort in die Welt geworfen: einheitliches Kanalsystem für Deutschland, einheitliche Post, gemeinsames Maß- und Gewichtswesen, gemeinsame Handels- und Patentgesetze, nationale Organisation der Auswanderung, regelmäßiger Packet- und Dampfbootverkehr, nationale Gewerbe- und Kunstausstellungen etc. Vor allem aber verlangte er die Einsetzung einer parlamentarischen Regierung im Zollverein, ein Zollparlament. Und List durfte mit dem Erfolge zufrieden sein; denn „ohne offizielle Stellung, ohne Zusammenhang mit einer Regierung, war er der Mittelpunkt einer großen Partei geworden.“
[523] Noch einmal ergriff der unruhige Mann den Wanderstab. Wie bekannt, war der seit dem 1. Januar 1834 bestehende „Deutsche Zoll- und Handelsverein“ im wesentlichen unter preußischer Führung zustande gekommen, und List, der sich immer den Zollverein auf der Grundlage des deutschen Bundes, d. h. also mit Einschluß Oesterreichs gedacht und sich auch schwer mit dem selbständigen Vorgehen Preußens ausgesöhnt hatte, war in seinem Zollvereinsblatte unermüdlich für die Annäherung zwischen Oesterreich und dem preußisch-deutschen Zollvereine thätig. Zu diesem Zwecke wollte er – es war dies bei der ungemein praktischen Natur Lists selbstverständlich – Land und Leute im deutschen Osten, besonders aber in Ungarn genau kennen lernen. Sein „Nationales System“ hatte seinen Namen auch zu den führenden Männern Ungarns, den Apponyi, Mailath, Zichy, Kossuth etc., getragen und seine Aufnahme daselbst war eine außerordentlich schmeichelhafte; lange blieb er dort, so daß man in der Heimath bereits von einer festen Anstellung Lists im österreichischen Staatsdienste – mit entgegengesetzten Empfindungen bei Freund und Feind – zu reden anfing. Und als er zurückkehrte, da erhielt er auch in Deutschland vielfache und aufrichtige Beweise der Theilnahme und Anerkennung aus allen Theilen des Vaterlandes.
Aber alle diese Anerkennungen konnten ihn über die Unsicherheit seiner ganzen Lage nicht hinwegtäuschen. Noch kurz vor seiner österreichischen Reise hatte er gehofft, in Bayern eine dauernde Stellung zu finden – vergeblich! Sein einziger Sohn war ihm 1840 gestorben, sein Vermögen war aufgezehrt, seine Verdienste um Deutschlands Handels- und Verkehrswesen trugen ihm wohl manche Ehre, aber keinen oder nur nothdürftigen materiellen Gewinn ein. Und neben dem allem die endlosen Chikanen der Gegner, die selbst seinen ehrlichen Namen nicht schonten. Lange trug er diese Mühseligkeiten mit stolzer Ruhe, ja mit einem gewissen Frohmuth, der oft in seinen Briefen an seine Gattin, an den Freiherrn v. Cotta, an Kolb u. a. einen erquickenden köstlichen Ausdruck findet. Mit Beginn der vierziger Jahre ließ das nach; er erlahmte körperlich und geistig. Eine Verleumdung empörendster Art gab ihm den letzten, man kann sagen tödlichen Stoß: das Werk seines Lebens, der Grundgedanke seines „Nationalen Systems“, wurde in der „Frankfurter Oberpostamtszeitung“ in den letzten Wochen des Jahres 1845 als aus einem Lehrbuch des sonst wenig bedeutsamen Nationalökonomen Schmitthenner entnommen hingestellt, er selbst mithin mit dem Verdachte des Plagiats behaftet. Dazu kam, daß in derselben Zeit in England, bisher dem Musterland des Schutzzolls, eine Schwenkung zu Gunsten des Freihandels sich vollzog, ein Vorgang, der nicht verfehlen konnte, auf Deutschland eine tiefgreifende Rückwirkung auszuüben. List fühlte das Werk seines Lebens unter seinen Händen zusammenschwinden; vergebens erhob er seinen Warnungsruf, vergebens reiste er selbst nach England und wies auf die gänzlich verschieden gearteten Verhältnisse hin, die das britische Beispiel für Deutschland unannehmbar machten – mit gebrochenem Lebensmuthe kehrte er von dort zurück, die körperlichen und geistigen Qualen steigerten sich ins Unerträgliche – da suchte der Gemarterte im freiwilligen Tode die Ruhe, die ihm das Leben vorenthielt. Am 30. November 1846 fand man in der Nähe von Kufstein, wohin er, seiner Aufregung zu entrinnen, noch gereist war, vom frischgefallenen Schnee schonend zugedeckt, seine Leiche.
Das Werk, das List sich vorgesetzt hatte, steht heute vollendet da, nicht ganz in den Formen, auch nicht ganz auf der Stelle, wie er es geplant und ausgedacht hatte, aber das Wesentliche, die völlige nationalökonomische und politische Einheit der Deutschen, ist erreicht, die fruchtbringenden Gedanken im Verkehrswesen sind zur That geworden – und dem großen Patrioten selbst, dem seine Vaterstadt Reutlingen schon im Jahre 1863 ein würdiges Erzstandbild durch den Schüler Rietschels, Gustav Kietz, errichten ließ, windet die Nation an seinem hundertjährigen Geburtstage gern und willig den vollen grünen Lorbeer, den ihm die Mitwelt, für seines Geistes Flüge noch nicht reif, nur widerstrebend und verkümmert zollte. Dr. H. Ellermann.
Von der Deutschen Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung.
Sechs Jahre sind verflossen, seitdem sich die Thore des Ausstellungsgebäudes am Lehrter Bahnhof zu Berlin für alle diejenigen öffneten, die bestrebt waren, ihren Nächsten bei Unglücksfällen Hilfe zu bringen und das theuerste Gut, die Gesundheit, zu schützen. Mit froher Zuversicht hatte man damals, dem Vorgange Belgiens folgend, eine „Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygieine und des Rettungswesens“ ins Leben gerufen. Wir wissen heute, daß alle Hoffnungen, die man an dieses gemeinnützige Unternehmen knüpfte, in Erfüllung gegangen sind, und das Hygieine-Museum in Berlin, die unerschöpfliche Quelle der Belehrung für die Wächter der öffentlichen Gesundheitspflege, ist ein Kind jener Ausstellung.
Heute drängt sich wieder der breite Menschenstrom in die festlich geschmückten Hallen, in denen Dampf und Gas tausend Räder schwirren lassen und das elektrische Licht weite Säle, Taucherbecken und Bergwerke erleuchtet. Müßige Neugierde lockt wohl viele der Besucher heran, aber keiner von ihnen verläßt die Räume ohne das erhebende Bewußtsein, ein seltenes Bild edelster Bestrebungen geschaut zu haben.
Wir sind gewohnt, den kriegerischen Siegen die Errungenschaften des Friedens entgegenzustellen: dem rauhen Kriegsgott gegenüber erscheint der Friede als ein holder zarter Knabe, Dichter singen so und preisen ihn in solchen Gleichnissen – vom Huf der Rosse zerstampfte Felder, Todte und Verwundete, brennende Dörfer, das sind die schauerlichen Wappenbilder des Schlachtengottes, lachende Fluren, glückliche Menschen umgeben den Friedensgenius. Wir vergessen zu leicht, daß auch die friedlichen Eroberungen nur im schweren Kampfe vollzogen werden können, daß die Nationen auch auf diesem Gebiete der Arbeit ihre Verlustlisten aufzuweisen haben, daß auch hier Todte und Verwundete auf dem Ringplatze liegen bleiben. Daran erinnert jeden die neue „Deutsche Allgemeine Ausstellung für Unfallverhütung“, und wer im Mittelpunkt der Ausstellungshalle stehen bleibt und die statistischen Tafeln über die Ergebnisse der Unfallversicherung im Deutschen Reiche 1887 prüft, der erfährt, daß in dem einen Jahre allein in den Berufsgenossenschaften und Staatsbetrieben 17 102 Menschen getödtet oder schwer verletzt wurden, daß 7083 Witwen und Waisen den Verlust ihres Ernährers zu betrauern hatten, und daß 115 579 weniger oder mehr Verletzte in die Verlustlisten des großen arbeitenden Heeres eingetragen werden mußten.
Diese Zahlen sprechen deutlich und ihr Bekanntwerden gab auch die Veranlassung zu dieser Ausstellung. Unsere Gesetzgebung hat durch das Unfallversicherungsgesetz das Los der Verunglückten und deren Hinterbliebenen sicherzustellen gesucht, und als infolge dessen die einzelnen Berufsgenossenschaften zu prüfen anfingen, in welchem Maße die Arbeiter in den Einzelbetrieben der Gefahr ausgesetzt sind, da stellte es sich heraus, daß die Brauerei- und Mälzerei-Berufsgenossenschaft die höchste Unfallziffer zu verzeichnen hatte. Die Leiter dieser Genossenschaft suchten nach Mitteln, um dieser bedauerlichen Thatsache abhelfen zu können, und von ihnen, namentlich von Professor Dr. Delbrück und Direktor Max Schlesinger, ist der Gedanke ausgegangen, eine Ausstellung von Apparaten und Einrichtungen zu veranstalten, welche eine Verminderung der Unfallgefahr im Brauereibetriebe herbeizuführen geeignet erscheinen. Dieser Gedanke fand in den betheiligten Kreisen die wärmste Aufnahme, und die Berliner Brauereien erklärten sich bereit, für die erforderlichen Geldmittel aufzukommen. Kaum wurde aber dieser Plan in weiteren Kreisen bekannt, so wurde auch der Wunsch rege, das Ausstellungsunternehmen auf alle Gewerbe ohne Ausnahme auszudehnen. Die Berliner Brauereien folgten dieser Anregung, übernahmen auch die weit höhere Geldbürgschaft, und die Stadt Berlin förderte den Plan, indem sie 100 000 Mark baren Zuschuß sowie unentgeltliche Lieferung von Gas und Wasser bewilligte. Die Regierung selbst hatte von Anfang an dem Unternehmen die thatkräftigste Unterstützung angedeihen lassen und Kaiser Wilhelm II. die Schutzherrlichkeit über [524] die Ausstellung angenommen, welche so sehr geeignet erschien, das große sociale Besserungswerk, zu dem sein ruhmreicher Großvater den Grundstein gelegt hatte, zu fördern und weiter auszubauen.
Mit der Theilnahme für dieses gemeinnützige Unternehmen, das erste seiner Art in der Weltgeschichte, wuchs auch der Umfang desselben. Zu klein erschienen die Räume des alten Ausstellungsgebäudes, und es mußten neue Maschinen- und Eisenbahnhallen errichtet werden, um alles das zu bergen, was zusammengestellt werden sollte als Zeichen des Wettstreites zum Schutze der Arbeiter, der heutzutage in erfreulichster Weise in den Kreisen deutscher Fabrikanten mit immer größerem Nachdruck bemerkbar wird; denn es galt nunmehr, nicht nur die Schutzvorrichtungen gegen Unfälle im engeren Sinne des Wortes öffentlich bekannt zu geben, sondern auch auf dem verwandten Gebiete der Arbeiterhygieine und der Wohlfahrtseinrichtungen für Arbeiter anspornend zu wirken.
Die hohe sociale Aufgabe unserer Zeit besteht ja nicht allein darin, den Arbeiter vor den Verstümmelungen des Körpers zu schützen; es soll und muß ihm auch der Schutz vor schleichenden Erkrankungen gewährt werden, es soll auch in seiner Seele die friedliche Stimmung Einzug halten, welche eine menschliche Fürsorge für sein Wohl zu erwecken imstande ist, es soll der Mißklang, der zwischen dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer vielfach herrscht, beseitigt und ein auf gegenseitiges Vertrauen gegründetes Einvernehmen hergestellt werden. Und was wäre wohl mehr geeignet, diese Eintracht zu fördern, als der Rundblick auf die zahllosen zum besten der Arbeiter geschaffenen Wohlfahrtseinrichtungen? Die gesunden und freundlichen Arbeiterwohungen, die Kinderkrippen, die Jugend- und Mädchenheime, die Kochschulen für junge Arbeiterinnen, die Bildungsanstalten für Arbeiter – diese gemeinnützigen Schöpfungen sind bereits in so großer Zahl von Fabrikanten gegründet worden, daß ihr Gesammtbild sicher erhebend wirkt und in dem Arbeiter das Vertrauen in seine Zukunft wecken muß.
Von Sachverständigen geleitet, werden die „Arbeiterabtheilungen“ durch die Hallen der Ausstellung wandern; sie werden an den Maschinen vieles lernen, sie werden aber auch vor den Modellen der Wohlfahrtseinrichtungen stehen bleiben, und wenn sie dann ihre Blicke zu den Worten erheben, die in goldenen Buchstaben über der Ausstellung der Mühlhausener Gesellschaft prangen, und den Ausspruch lesen, den Engel-Dollfuß vor 20 Jahren gethan: „Der Fabrikant ist seinen Arbeitern noch mehr schuldig als den Lohn“ – so werden sie auch die Ueberzeugung gewinnen, daß heute für die große Masse der Arbeitsherren diese Worte thatsächlich die Richtschnur bilden. Fürwahr, jeder, der diese Ausstellung besucht, wird auf Schritt und Tritt daran erinnert, daß zahlreiche ernste Männer unermüdlich bestrebt sind, das Leben, die Gesundheit und das friedliche Glück der Arbeiter zu fördern und zu schirmen, und durch das edle Beispiel aufgefordert, in seinem Wirkungskreise das Gleiche zu thun!
Das sind die Ziele dieser Ausstellung. Sie weist keine Riesenbauten auf, deren Spitzen über die blitzenden und donnernden Gewitterwolken hinausragen, aber in ihrer Bedeutung übertrifft sie die Ausstellungen, bei denen das Schaugepränge die Hauptsache bildet. Ihre Größe ruht in der Größe des Gedankens, der sie gezeitigt hat, und er ist ihr stolzester Schmuck zugleich, wenn wir zugeben, daß die echten Tugenden der Humanität die schönste Zierde der Menschen sind.
Freilich bietet die Ausstellung an und für sich des Sehenswerthen genug, um auch das Auge zu erfreuen. Ein Gang durch dieselbe ist nicht nur lehrreich, sondern auch genußreich. Wir verweilen gern in dem kühlen Gefrierschacht, wo ein weißer frischgefrorener Reif die Leitungsröhren bedeckt; wir durchwandern die düsteren Gänge des Kohlenbergwerks, in denen die Ventilatoren arbeiten, nur hier und dort eine Glühlampe ein mattes Licht verbreitet, und lauschen den belehrenden Erklärungen des uns leitenden liebenswürdigen Bergmannes; wir gehen auch in das Brauhaus, um zu sehen, wie das Bier gebraut wird, und verfolgen die Arbeit mit besonderem Interesse, wir wissen ja, daß das Brauhaus den Grundstein dieser Ausstellung bildet. Hier kann man keinen Durst leiden; gegen Verdurstungsunfälle sind reichliche und treffliche Schutzvorrichtungen getroffen. Und es fehlt auch nicht an „feuersicheren“ Theatervorstellungen, bei denen wir zu unserer Beruhigung hinter die Coulissen sehen dürfen – oder bester gesagt: sehen sollen.
Die frohen Klänge der Kapelle verkürzen uns die Zeit bis zum Abend; dann können wir auch in das Taucherhaus wandern und in dem durch elektrisches Licht erleuchteten Wasserbecken die eigenartigen Arbeiten des Tauchers betrachten.
In tausend Lichtern strahlen nunmehr und flimmern die Hallen und der Park. Die Witterung ist so herrlich und warm, da sitzen die Gäste, die Aussteller, die nach des Tages Mühe ausruhen – froher Sinn herrscht überall. Kein Wunder, ein solches Wirken erhebt den Geist und schafft uns frohen Sinn.
Aber es ist nicht unsere Aufgabe, Stimmungsbilder zu zeichnen. Wir laden unsere Leser zu ernsteren Gängen durch die Ausstellung ein. Wie der Unfall überall im Leben vorkommt, uns im eigenen Hause, auf Reisen etc. bedroht, so findet hier auch jedermann Gelegenheit, nützliche Kenntnisse zu sammeln. Wir wollen darum auch einiges herausgreifen, das ohne Zweifel nicht nur für den Fachmann, sondern für alle von Werth sein wird.
In einem der Ausstellungssäle bemerken wir eine Tafel, auf der einige Eisenplatten befestigt sind. Die Fläche derselben ist nicht glatt, sondern zernagt und aufgeworfen. Diese Tafel fesselt ganz besonders unsere Aufmerksamkeit; denn die Bezeichnung des Ausstellers lautet: „Aus den Dampfbetrieben Sr. Majestät des Kaisers in und bei Potsdam.“
Darunter ist aber die nähere Erklärung zu lesen:
„Diese Beschädigungen an Dampfkesseln sind im Betriebe erfolgt und wurden bei außerordentlichen Untersuchungen noch rechtzeitig vor Eintritt des Unfalls entdeckt.“
Wie schlicht auch diese Ausstellungstafel ist, sie besagt viel, sie lehrt uns, daß es nicht genügt, sich an den Wortlaut der gesetzlichen Verordnungen zu halten, sondern daß man unermüdlich auch darüber hinaus wachsam sein muß, wenn man Unfälle verhüten will. Das vordere Stück auf unserer Abbildung ist ein Stück vom mittleren Feuerblech des Kesselmantels mit Langriß, Querrissen und eigenartiger Auseinanderspaltung des Bleches im Schnitt; das dahinter sichtbare ein Stück vom vorderen Feuerblech des Kesselmantels mit vielen Kantenrissen an der Kopfnaht durch die Nietlöcher und neben denselben.
[525] Die Explosionen der Dampfkessel, wie verheerend sie auch wirken, sind jedoch nicht die häufigste Ursache von Unfällen in Fabrikbetrieben. Die Statistik hat erwiesen, daß die schwersten und zahlreichsten Verletzungen durch bewegte Maschinentheile veranlaßt werden. Darum ist schon im Plan der Ausstellung den Schutzvorrichtungen an den Maschinen besondere Aufmerksamkeit gewidmet und darum sehen wir auch auf ihr so viele Maschinen in emsiger Thätigkeit. Das Ganze hat dadurch für den ersten Anblick das Gepräge einer Industrieausstellung erhalten, aber auch nur für den ersten oberflächlichen Anblick. Bis jetzt wurde bei einem derartigen Wettstreit derjenigen Maschine der Preis zuerkannt, welche die größte Leistung vollbrachte. Hier werden die Maschinen nicht von diesem Standpunkt allein geprüft; auf dieser Ausstellung wird diejenige Maschine als die beste anerkannt werden, welche die größte Leistungsfähigkeit mit der geringsten Gefährdung des Arbeiters verbindet; denn hier gilt der Wahlspruch: „Nichts ist gering, was Menschenleben zu schützen und zu erhalten vermag!“
Wir müssen leider von vornherein verzichten, diesen Theil der Ausstellung ausführlicher zu besprechen, da wir sonst auf Fachfragen eingehen müßten. Wir ziehen es vor, die Bedeutung des Unternehmens auf einem leichter verständlichen Gebiet unsern Lesern klarzulegen, und wählen hierzu die persönliche Ausrüstung des Arbeiters, die ihn vor Unfällen schützen soll.
Es gab eine Zeit, wo unsere Gewerbe ihre besonderen Trachten hatten. Viele von ihnen waren nur Festanzüge, in denen die Gilden und Innungen bei feierlichen Anlässen erschienen; bei anderen waren auch Rücksichten auf den beruflichen Gebrauch maßgebend. Diese Trachten sind in unserer alles ausgleichenden Zeit fast sämmtlich verschwunden und nur wenige haben sich erhalten, wie z. B. die Knappschaftsanzüge, in denen die Abgeordneten der rheinisch-westfälischen Grubenarbeiter vor dem Kaiser erschienen sind. Die „Arbeiterbluse“, von der sonst so viel geredet wurde und die einen politischen Beigeschmack erhalten hat, kann unmöglich als eine Tracht angesehen werden.
Ein Gang durch die Ausstellung belehrt uns, daß auf diesem Gebiete eine Aenderung im Gange ist. Wir sehen Modelle von Arbeitern und Arbeiterinnen, an denen weiter nichts als der Anzug vorgeführt wird. Die erläuternden Inschriften lauten: „Normal-Arbeiter-Kleider“ oder „Normal-Arbeiter-Schutzanzug“. Es handelt sich aber dabei keineswegs um die schafwollene oder kameelhaarige Normalität, nicht der Stoff, sondern der Schnitt bildet hier die Hauptsache. – Faltige Kleider, Bauschärmel, fliegende Rockschöße u. dergl. passen nicht in Räume, in denen Maschinen schwirren; eine unzweckmäßige Kleidung kann das Eintreten von Unfällen begünstigen, eine zweckmäßige dieselben verhindern, und darum ist von den Fabrikaufsichtsbeamten der Kleidung der Arbeiter eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Wir bringen die Abbildungen einiger Arbeiterkostüme, die enganliegend, dabei aber gefällig sind und als ungemein praktisch gerühmt werden. Mechanische Kleiderfabriken besorgen die Herstellung derselben und können sie in Anbetracht des Massenbetriebes zu recht billigen Preisen liefern. Ein Blick auf die Abbildungen S. 524 belehrt über die Zweckmäßigkeit dieses modernen Arbeitsgewandes zu Genüge, wir sehen hier die Arbeitertracht des Maschinen-Jahrhunderts.
Es giebt jedoch Betriebe, in denen Köper oder Tricot, aus denen die Normalanzüge zumeist gefertigt werden, durch festere Stoffe ersetzt werden müssen. Sind bei der Fabrikation nur einzelne Körpertheile der Gefahr besonders ausgesetzt, so genügt es, diese zu schützen.
Ein empfindliches und leicht zu verletzendes Organ unseres Körpers ist das Auge. Feine Splitter, die, durch Meißel und Hämmer losgelöst, unberechenbare Bahnen beschreiben, können, wenn sie das Auge treffen, nicht nur langwierige Leiden, sondern auch den Verlust des Sehvermögens verursachen. Nicht minder gefährlich sind auch Rauch und Funken und ätzende Gase; selbst gegen den gewöhnlichen Staub muß in manchem Betriebe das Auge des Arbeiters geschützt werden.
Dies geschieht durch die Anwendung von Schutzbrillen. Die Zahl derselben ist sehr groß, und allein mit dem Aufzählen von Modellen könnte man viele Seiten füllen. Es giebt Brillen ohne Glas, nur mit Drahtgitter versehen, andere, die starke Gläser und Wandungen aus Drahtgaze haben, andere wieder, bei denen das Glas durch den Glimmer ersetzt wird, und solche, die das Auge luftdicht abschließen. Von den Verfertigern sind ganze Sammlungen solcher Schutzbrillen ausgestellt worden, und wer hier die Wahl hat, der hat auch gewiß die Qual. Aber bei aufmerksamer Prüfung der Ausstellung findet er auch Fingerzeige für die Wahl. Nicht nur die Verkäufer haben die Schutzbrillen ausgestellt, sondern auch die Abnehmer. Da haben wir Tafeln vor uns, auf welchen die benutzten Brillen befestigt sind, und unter einer jeden derselben ist in kurzen Worten mitgetheilt, ob und wie sich die Brille bewährt hat oder warum sie als nicht zweckmäßig anzusehen ist. Diese Sammlungen sind höchst lehrreich, und nicht allein der Fachmann, sondern auch der Laie betrachtet sie mit Interesse. Es befinden sich darunter auch im Gebrauch beschädigte oder zerstörte Brillen, und an den Sprüngen des dicken Schutzglases kann man die Kraft, mit welcher die kleinen Splitter umherfliegen, deutlich erkennen und sich ein Bild von der Schwere der Verletzung machen, die durch die Brille von dem Auge abgewehrt worden ist.
Die obere Brille auf unserer Abbildung ist bei Benutzung vor dem Schweißofen durch Gegenfliegen von Schlacke beschädigt, die untere durch Anfliegen des daneben abgebildeten Eisenstückes zerstört worden.
Neben der Sammlung von gebrauchten Schutzbrillen der Firma Friedrich Krupp in Essen steht auch das Modell eines Meißels mit Spanfängern, die zum Auffangen der von kalten und warmen [526] Stahlblöcken losgehauenen Späne dienen und auch die Hand des Arbeiters schützen. Daneben sind Handleder zum Schutz beim Hantieren mit scharfkantigen Eisenblechen und Handleder für Träger von Roheisen, an einer anderen Stelle Gummihandschuhe ausgestellt. Von Antwerpen kommt ein Lederhandschuh mit Eisenblechbekleidung; unwillkürlich denken wir dabei an die Fehdehandschuhe der alten Ritter, und wir werden gewahr, daß die Ausstellung ein Arsenal von Rüstungsstücken birgt, das nicht minder merkwürdig ist als ein waffenglänzendes Zeughaus und wie dieses ein Zeitalter zu kennzeichnen vermag.
Es sind auch Fußschienen da: Schienbein- und Fußschienen aus Leder und Holz oder Eisenblech für Walzwerksarbeiter, Gamaschen aus Asbest für Feuerarbeiter. Es giebt Betriebe, in denen der Arbeiter sozusagen gepanzert auftreten muß, und auch der neue Ritter der Arbeit hat seine Helme und Sturmhauben, mit denen er die feindlichen Elemente abwehrt.
Wir wissen ja, wie sehr in manchen Fabriken durch Staub, Gase und Dämpfe die Luft verschlechtert wird. Die Ausstellung ist reich mit Ventilatoren beschickt, welche die schlechte Luft und den Staub aus den Fabrikräumen absaugen und ihnen frische Luft zuführen sollen. Aber die Ventilationsanlagen genügen nicht immer; es giebt Betriebe, in denen die Arbeiter trotz der besten Ventilationsanlage dennoch der Lebensgefahr oder dem Siechthum ausgesetzt sein würden, wenn sie die betreffenden Räume ohne besondere Schutzvorrichtungen betreten wollten. Die moderne Industrie muß trotzdem ebenso wie die Feuerwehr in Räume eindringen, die mit giftigen Gasen erfüllt sind, und sie thut es, indem sie die Arbeiter mit Rauchhauben und Vorrichtungen zum Athmen ausstattet. Es ist ein erfreulicher Fortschritt, daß diese „Athmungsschutzvorrichtungen“ jetzt in so großer Vollkommenheit hergestellt werden, daß sie ohne Beschwerden bei der Arbeit benutzt werden können. Wer die Räume des Hygieine-Museums durchwandert, der kann solche vermummte Gestalten, Masken, wie deren zwei auf unserer Abbildung S. 525 kameradschaftlich nebeneinander stehen, finden. Fast abenteuerlich sehen die Figuren mit ihren Hauben, Brillen, Respiratoren und Signalpfeifen aus.
Die beste Uebersicht über die mannigfaltige Verwendung dieser Vorrichtungen bieten uns in der Ausstellung drei an lebensgroßen Figuren vorgeführte Apparate von Bernhard Loeb jr. in Berlin; der erste, eine Rauchhaube, verdient um so mehr unsere Aufmerksamkeit, als er auf den Kriegsschiffen der kaiserlich deutschen Marine eingeführt ist und so an dem Schutze des „schwimmenden Territoriums“ des Deutschen Reiches mitwirkt.
Diese obenstehend abgebildete Rauchhaube besteht aus einem besonders starken Hut f, welcher inwendig mit kreuzweis übereinander gespannten elastischen Bändern versehen ist, vermöge welcher derselbe auf dem Kopfe des Trägers aufliegt. An der Krempe des Hutes ist hinter einem beweglichen Gitter von Messing e ein mit sehr praktischer Wischvorrichtung versehenes Fenster angebracht, durch welches der Träger der Rauchhaube die außen befindlichen Gegenstände erkennen kann. Unterhalb dieses Fensters ist das messingene Ventilgehäuse c angeordnet und damit eine Röhre b in Verbindung gebracht, welche mit Lagen von trockener Watte, Glycerinwatte und Knochenkohle gefüllt ist. Außerdem werden sowohl unterhalb dieser Röhre (in dem Schwammkasten bei a) als auch innerhalb der Rauchhaube beim Gebrauch feuchte Schwämme eingelegt.
Durch den Riemen g, welcher an der hinteren Hutkrempe befestigt ist, sowie durch den mit ihm in Verbindung stehenden Leibriemen wird die Rauchhaube in ihrer senkrechten Stellung festgehalten. Das an dem Hute angebrachte Schultertuch h dichtet, durch Bänder um den Hals zusammengezogen, den Kopf gegen äußere Einwirkungen vollständig ab. Bei F ist das an dem Leibgurte befestigte Leitseil bemerkbar.
Mit einer derartigen Haube versehen, kann man nun Räume betreten, welche mit Rauch und Qualm ganz erfüllt sind, was ganz besonders beim Ausbruch eines Schiffsbrandes zur Aufsuchung des noch unbekannten Herdes des entstandenen Feuers von größter Wichtigkeit ist. – Mit dieser Rauchhaube kann man jedoch nur solche Räume betreten, in denen die atmosphärische Luft nur zum Theil mit schädlichen Gasen vermengt ist, indem durch den Respirator die schädlichen Beimengungen zurückgehalten werden und die gereinigte Luft in die Lunge gelangt. Es giebt aber Räume, die erfahrungsgemäß ganz und gar mit giftigen und unathembaren Gasen, die in kürzester Zeit tödlich wirken, erfüllt sind. Um diese zu betreten, wendet man einen „Respirator“ an. Derselbe besteht aus einer die Augen luftdicht umschließenden Schutzbrille mit Wischvorrichtung 6, aus einem Nasenklemmer, aus dem Athmungsgehäuse 1, aus dem elastischen Schlauche 2 und aus dem Filter 3, welcher mit dem Leibriemen 4 in Verbindung steht. An diesen Filter ist der Schlauch 5 angeschraubt, dessen Ende beim Arbeiten ins Freie reicht. Bei einer Schlauchlänge bis zu 30 Metern kann sich der Träger eines solchen Apparates einfach durch Mundathmung die Luft selbst zuführen, bei größerer Entfernung wird ihm die Luft zugepumpt.
Schließlich führen wir unsern Lesern noch eine Athmungsvorrichtung vor, die unter anderen in dem chemischen Laboratorium von Friedrich Krupp in Essen benutzt wird. Schutzbrille und Athmungsgehäuse sind dieselben wie bei dem vorherbeschriebenen Modell. Der Luftreinigungsapparat besteht aus einem Kasten, woran außen eine Röhre r angebracht ist zur Aufnahme von trockenen Füllungen. Innerhalb des Kastens ist ein Behälter, der je nach Verwendung entweder mit Wasser oder einer alkalischen event. sauren Lösung angefüllt wird, so daß bei Anwendung dieses Apparates die Luft erst eine trockene Füllung durchschneidet und dann durch eine Flüssigkeitssäule gezogen wird, wodurch schädliche Gase und Dämpfe neutralisirt oder gebunden werden. –
Zu allen diesen beschriebenen Apparaten gehört noch die schon erwähnte Signalpfeife, ein Ballon aus Kautschuk, in welchen oben eine Zinnpfeife eingesetzt ist. Im Augenblicke der Noth braucht der Träger des betreffenden Apparates nur mit der Hand den Ballon zu drücken, um sofort durch einen durchdringenden hellen Pfiff ein Signal nach außen hin geben zu können.
Der Nutzen dieser Apparate beschränkt sich jedoch keineswegs auf große Fabrikbetriebe. Jedermann hat von den Unfällen gehört, welche so oft durch Einathmung schädlicher Luftarten entstehen. In Kellern, in denen neuer Wein oder Bier gährt, bedroht den Arbeiter die Kohlensäure; ebendasselbe trifft oft für alte Brunnen zu; hier gesellen sich noch Grubengas und Schwefelwasserstoffgas zu der Kohlensäure; auf die Gefahr, der man schließlich beim Räumen von Senkgruben und Abzugskanälen ausgesetzt ist, brauchen wir nicht besonders aufmerksam zu machen.
Sind in solchen Räumen Menschen verunglückt, so ist die Rettung derselben wiederum mit Gefahr verbunden. Der Retter muß darauf achten, daß er selbst nicht verunglückt, denn in den allerseltensten Fällen sind solche Athmungsschützer zur Hand. Gewöhnlich vergeudet man die Zeit mit der sogenannten „Lichtprobe“, [527] ohne zu beachten, daß diese unzuverlässig ist, da das Licht in dem giftigen Schwefelwasserstoffgas weiter brennt; sie ist auch nicht unbedenklich, da die Grubengase oft entzündlich sind und die plötzlich aufsteigende Lohe die Retter verbrennen kann. Man muß sich darum mit anderen Mitteln behelfen, wie z. B. durch Herablassen und schnelles Wiederheraufziehen eines aufgespannten Regenschirmes eine starke Luftbewegung in der Grube zu erzeugen suchen; es wird auch Hineinschütten von vielem Wasser oder von Kalkmilch, welche die Gase bindet, empfohlen; aber alle diese Mittel sind nur halbe Maßregeln. Die rascheste und sicherste Hilfe wird von einem Retter gebracht, der in eine solche Grube mit dem Athmungsschlauch oder Luftzubringer ausgerüstet hinabsteigt. Ja, solche Athmungsschläuche gestatten überhaupt ein gefahrloses Reinigen derartiger verpesteter Räume.
In wie vielen Gemeinden ereignen sich nicht solche Unfälle, aber in wie vielen sind Athmungsschläuche nur vom Hörensagen bekannt!
Auf Schritt und Tritt erfahren wir auf der Ausstellung, in wie verständnißvoller Weise der Scharfsinn der Erfinder die Gefahren zu mildern verstand, die uns inmitten der neu geschaffenen Kultur bedrohen. Wir besitzen ein ganzes Rüstzeug, und es liegt nur an uns, es richtig zu verwerthen und wo möglich zu verbessern. Man wird die Unfälle nicht gänzlich aus der Welt schaffen können, aber gewiß liegt es in unserer Macht, ihre Zahl zu mindern. Und es ist noch so viel auf diesem Gebiete zu thun! Die Ausstellung giebt jedermann Gelegenheit, über wichtige Schutzvorrichtungen in seinem Berufskreise Aufschluß zu erlangen. Wir glauben durch die angeführten Beispiele ihr eigentliches Wesen genügend gekennzeichnet zu haben, und wünschen nur, daß recht viele sich veranlaßt sehen möchten, dieselbe zu besuchen und dort zu ihrem eigenen Besten und zum Wohl ihrer Mitmenschen Belehrung zu schöpfen.
Wir schließen hiermit diesen Bericht über die Ausstellung. Er soll nicht der letzte sein. Aus der Fülle der Anregungen, die sie uns bietet, werden wir einige, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind, herausgreifen und auf diese Weise, so weit es in dem Rahmen unserer Zeitschrift möglich ist, an der Erreichung jener hohen Ziele mitzuwirken suchen, welche so sehr geeignet sind, die Härten des Kampfes ums Dasein zu mildern.
Schatten.
(Fortsetzung.)
Es war ein Fehler, Miß Sikes, daß ich Sie hier aufsuchte,“ sagte Konrad mit leiserer Stimme als gewöhnlich. „Natürlich ahnte ich nicht … ich bin vorübergehend hier und glaubte, Sie gestern gesehen zu haben. Verzeihen Sie mir, es war eine sentimentale Regung, – ich dachte wohl auch –“
„Entschuldigen Sie sich nicht,“ sagte Miß Sikes lebhaft. „Sie machen mir eine große Freude. Es waren glückliche Zeiten, als wir uns kennen lernten, – und heute ist es mir eine Genugthuung, daß Sie nach so vielen Jahren noch an das alte Mädchen denken, das damals – doch nichts von damals! Auch ich erinnere mich, daß ich Sie gestern auf der Straße gesehen habe, wenn ich Sie auch nicht erkannte.“
Konrad war tiefer bewegt, als er zeigte. Eine feine Röthe bedeckte sein Gesicht, er hörte noch nicht recht auf die Worte Miß Sikes’, seine zerstreuten Blicke suchten die nun geschlossene Thür, und je mehr er die äußere Ruhe zu bewahren suchte, desto größer wurde der Aufruhr in seinem Innern.
Ob Miß Sikes seinen Zustand ahnte?
Sie sah ihn forschend an in der Hoffnung, von ihm zu hören, was ihn eigentlich hierher geführt hatte.
Daß es hauptsächlich der Wunsch gewesen war, der Zeugin seiner einstigen Niederlage, nun sie zufällig anwesend war, sein junges Glück zu zeigen, war ihm selbst nicht ganz bewußt gewesen, im Augenblick hätte er gar keinen Grund anführen können. Er hatte alles vergessen, sein Herz schlug stärker und alle seine Gedanken weilten in dem Zimmer, in dem ein kurzer Blick ihn die Jugendgeliebte hatte erkennen lassen.
„Arme, arme Magdalene!“ brach nun die Engländerin das Schweigen. „Sie haben sie gesehen und erkannt?“
Konrad nickte.
„Ist sie zu Besuch bei Ihnen?“
„Sie ist meine Tochter, mein Alles, Glück und Unglück zugleich, seit sie von jenem Elenden in Noth und Jammer verlassen worden ist.“
Konrad sprang auf.
„So mußte es kommen,“ rief er voll Erregung, – „so hat das Schicksal mich gerächt“ … und alles, was der Verrath des Mädchens ihm genommen hatte, stand einen kurzen, bittern Augenblick vor seiner Seele.
„Erzählen Sie mir!“ bat er hastig, – „aber ich möchte nicht mit ihr zusammentreffen.“
Miß Sikes schüttelte den Kopf.
„Das haben Sie nicht zu fürchten. Sie betritt dieses Zimmer nie ungerufen; ich gebe meine Stunden hier und hüte sie sorgfältig vor jeder Berührung mit Fremden, denn in dem noch so entzückend schönen Körper wohnt eine kranke Seele.“
„Sie hängt noch immer an jenem Elenden?“ fragte Konrad.
„Mit jedem Gedanken, soweit ihr Zustand ihr das erlaubt – sie ist geisteskrank.“
Da fuhr Konrad erschreckt zusammen. Das lebhafte, hinreißend schöne Mädchen, an dem er mit der ganzen Gluth einer vollen ersten Liebe gehangen hatte, schlimmer als nur todt, – vor der Zeit geistig gestorben – und noch so jung und noch so schön! – Der eine Blick vorhin hatte ihm den ganzen Zauber noch einmal vor Augen geführt, dem er so viel geopfert hatte.
„Wie ist das geschehen?“ fragte er tief bewegt. „Können Sie darüber mit mir sprechen? Ich beklage die Aermste und ich nehme gern die mir unwillkürlich entfahrene Aeußerung über die gerechte Strafe des Schicksals zurück.“
Miß Sikes wiegte bedächtig den grauen Kopf.
„Sie hatten wohl ein Recht dazu, bester Herr, von Ihrem Standpunkt aus … und doch nein! Ich habe mich damals selbstredend auf Ihre Seite gestellt, ich habe dem armen Mädchen die bittersten Vorwürfe gemacht, aber heute sehe ich, daß es ungerechte waren. Die Tiefe ihres späteren Leidens hat mir begreiflich gemacht, daß sie damals unter dem Zwang einer Gewalt handelte, gegen die sie machtlos war, die sie damals schon überwältigt haben würde, wenn sie ihren Willen nicht durchgeführt hätte. Sie waren nach den landläufigen Ansichten von dem armen Mädchen beleidigt, im Grunde war es aber nicht sie, sondern ihr Schicksal, das, indem es ihre eigene Vernichtung vorbereitete, auch Ihnen einen hoffentlich bald überwundenen Schmerz bereitete.“
Konrad nickte stumm, wenn er auch mit Recht hätte widersprechen können.
„Sie muß damals schon wahnsinnig gewesen sein,“ fuhr die alte Miß fort. „Das habe ich später klar gesehen. Dieses leidenschaftliche ungleiche Wesen – sonst ihrer Natur fremd – sobald es sich um den Elenden handelte, dieses Erröthen und Erblassen in seiner Gegenwart, diese bald scheue bald schrankenlose, ich muß wohl sagen unpassende Zärtlichkeit dem Mann gegenüber, der bald nicht mehr der aufmerksame Liebhaber war, diese vollkommene Unterwerfung unter seine abscheulichen, freigeistigen Ideen, – das alles kann nicht mehr gesund gewesen sein. Denken Sie sich, daß der Abscheuliche nicht einmal eine kirchliche Einsegnung gestattete und daß sie, mein frommes Kind, ohne weiteres in eine nur standesamtliche Trauung willigte! Doch was spreche ich darüber! Der gewaltsame Bruch mil Ihnen, dem sie sich doch aus freier Wahl, ohne jede Beeinflussung verlobt hatte, ist ja schon allein ein Beweis für das, was sich in ihrem Geist vorbereitete, wenn auch damals noch nicht erkennbar.“
Konrad mußte lächeln, obgleich er wieder einen nachträglichen, dumpfen Haß gegen den einst so geliebten Freund empfand. Die schranken- und bedenkenlose Liebe eines Weibes nannte dieses alte Mädchen, das das Zeitwort „lieben“ nur in seiner grammatikalischen [528] Bedeutung kannte – „Wahnsinn“. – Nun, er wußte es besser und empfand es als eine Beeinträchtigung seines Glückes, daß ihm eine solche schrankenlos hingebende Liebe nicht beschieden war. Schwankte nicht auch Gertrud zwischen ihrem Vater und ihm? – Magdalene hatte kein Schwanken gekannt; die sonst so Schüchterne, Sanfte hatte sich nicht gescheut, ihn tödlich zu beleidigen und ihre ganze sichere Existenz zu opfern, um dem Mann ihrer Liebe folgen zu dürfen. Diese Liebe war ihr Verhängniß geworden, aber sie hatte ihm nicht entgehen wollen, – und als sie endlich sah, daß sie vergebens liebte, verlor sie den Verstand darüber.
„Wie erging es ihr weiter?“ fragte er gespannt.
„Traurig, wie es vorauszusehen war,“ erzählte Miß Sikes gedrückt. „Sie ging mit ihrem Verführer, der ja vor dem Gesetz ihr Gatte geworden war, nach Italien und schrieb uns erst sehr glückliche Briefe. Die wurden aber seltener, nachdem ein Kind geboren und kurz nach der Geburt gestorben war, – und hörten schließlich ganz auf. Das junge Paar führte ein regelloses Wanderleben, unsere Briefe kamen als unbestellbar zurück und wir blieben lange, lange Zeit ohne Nachricht.
Endlich, nachdem ich sie schon wie eine Todte beklagt hatte, – Frau von Langendorf war immer stumpfsinniger geworden und empfand den Verlust der Tochter kaum mehr, – traf wieder ein Brief von Magdalenen ein, wunderlich, verworren und immer auf die flehentliche Bitte zurückkommend, wir möchten verhindern, daß die ‚Tigerin‘ in der Kommandantenstraße ausgestellt würde.
Ich verstand den Wunsch nicht und ging nach der Ausstellung.
An demselben Platz, Herr, wo einst meine süße Magdalene als Ophelia traurig und rührend schön aus dem Rahmen geblickt hatte, stand nun ein Bild, für das mein Anstandsgefühl keine Worte findet, das selbst von unsern krassesten Realisten trotz der technischen Vollendung, mit der es gemacht war, beanstandet wurde: ein schönes, schwarzhaariges, dunkeläugiges Weib, frech, mit höhnischem Lächeln, schien es mir, auf mich sehend; bezeichnet war es als ‚die Tigerin‘ von Werner Lemberg.
Ich hatte keine Zeit, über den zweifellosen Zusammenhang zwischen diesem abscheulichen Bilde und meiner Magdalene zu grübeln, denn Frau von Langendorf erkrankte gefährlich. Ich meldete es Magdalene sofort an die von ihr angegebene Adresse nach Venedig, mußte aber gleich darauf der Aermsten telegraphisch mittheilen, daß ihre Mutter schnell gestorben sei. Sie konnte dann zur Beerdigung noch da sein.
Und sie kam. Aber in welchem Zustande! Welk, grau, hohläugig und wie eine Träumende. Sie that, als ob sie von einem Ausgange heimkehrte, begrüßte mich zärtlich, fragte kurz nach der Mutter, küßte gleichgültig deren kalte Stirn und verlangte zu schlafen.
Und sie schlief immerzu. Ich mußte die Mutter allein zur letzten Ruhe begleiten, – sie schlief und sprach im Schlaf. Und es war Schreckliches, was sie in ihren Traumworten offenbarte. Der Schurke mußte sie Entsetzliches haben leiden lassen, – die schlimmste Rolle spielte jene ‚Tigerin‘ in Magdalenens Phantasien – er hat sie eben wie eine Frau behandelt, der man keine Achtung und keine Rücksicht schuldet, was im Grunde ja auch nicht unverdient war. Aber daß er es that, hat mein armes Kind um den Rest des Verstandes gebracht.
Die Aerzte schüttelten den Kopf, hofften aber, daß durch verlängerten Schlaf Körper und Geist ins Gleichgewicht kommen würden.
Darüber traf ein Brief von Lemberg an Magdalene ein, den ich öffnete. Er war ein Meisterstück an Leichtfertigkeit und Verlogenheit und seinen Hauptinhalt bildete der Wunsch, Magdalene möchte nicht wiederkommen, – er müßte frei sein und könnte sie nicht brauchen. Er hätte nichts Nennenswerthes geschaffen, seit sie sein Weib wäre, und er müßte nun vorwärts, aber ohne sie, die sie eine Fessel auf dem Wege des Ruhmes für ihn wäre …
Das arme Kind hat den Brief nicht gelesen. Eines Tages erwachte sie mit dem lieblichen unschuldigen Lächeln ihrer Mädchentage. Als sie mich sah, nickte sie mir zu und fragte:
‚Bist Du auch da? Es ist ein seltsamer Traum und eine sehr lange Nacht, ich bin sehr verwundert, daß ich nichts mehr von Werner träume.‘
Und so ist es geblieben. Sie hat die Wahnvorstellung, daß alles um sie ein Traum sei, – aber sie werde bald aufwachen, der geliebte Mann werde sie erwecken, und sie werden zusammen über das viele dumme Zeug lachen, das ihr im Traum eingefallen ist.
Sie nimmt alles gleichmüthig hin. Sie ist sanft wie ein Kind, hat ihre kleinen Freuden und Liebhabereien wie in der Mädchenzeit, nur kein Interesse an der Außenwelt und an geistigen Dingen. Träten Sie heute unversehens bei ihr ein, so würde sie sich nicht wundern, sie würde nur sagen: ‚Sind Sie auch da? – wie sonderbar, daß ich auch von Ihnen träume!‘
Körperlich hat sie ihre volle zauberhafte Schönheit wieder erhalten, ihr armer Geist aber ist in der Irre und niemals wird er sich wiederfinden, – die einzige Möglichkeit wäre zugleich ein schreckliches Erwachen, während sie jetzt im Traum wenigstens nicht leidet. Sie ist unheilbar krank, aber sie ist lieblich dabei wie die unglückselige Ophelia, die sie einst auf jenem verhängnißvollen Bilde verkörperte.“
Konrad fühlte es warm in sich aufsteigen. Wieder sah er sie auf dem Gemälde vor sich in ihrer berückenden Schönheit mit dem irren, traurigen Lächeln, blumengeschmückt und in den Bach starrend, in den sie ihre Gewinde geworfen. Es war ein überwältigendes Bild gewesen und jetzt, da es sich als eine so grausam richtige Prophezeiung erwiesen hatte, doppelt packend in der Erinnerung.
„Es ist ein wunderliches Schicksal,“ sagte er traurig sinnend. „Aber sie ist bei alledem nicht unglücklich. Ein Philosoph möchte sie vielleicht sogar glücklich preisen, denn schließlich: was ist das ganze Leben anders als ein Träumen?“
Miß Sikes erwiderte nichts darauf, und auch Konrad versank in ein bewegtes Sinnen, in dem die Gegenwart keine Rolle spielte. Bang und eigenthümlich erregt war ihm zu Muth. Es war ihm, als ob er selbst in einen wunderlichen Traum gerathen wäre, und erschrocken riß er plötzlich die Augen weit auf und blickte um sich. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er in seiner Berliner Wohnung erwacht wäre.
Aber es blieb alles, wie es war. – Da saß die alte Engländerin, in ihrem Aeußern fast wie früher, nur um einen Schatten grauer und härter in den Zügen, – und da – er fuhr entsetzt zusammen, – dieses eigenthümlich wohllautende Lachen, das da eben aus dem Nebenzimmer drang.
„Hat Lemberg denn nie mehr etwas von sich hören lassen?“ fragte er endlich, um sich aus seinem wachen Traum zu rütteln.
„Ohne Aufforderung nicht,“ erzählte Miß Sikes. „Als aber Magdalenens Krankheit zu Tage trat, machte ich ihm Mittheilung davon. Darauf schickte er etwas Geld und bat mich, die Pflege weiter zu übernehmen. Ich mußte das Geld behalten, denn meine kleinen Ersparnisse waren durch die lange Krankheit von Magdalenens Mutter aufgezehrt, und ich konnte nur wenig dazu erwerben.
Dann hofften die Aerzte viel von einem plötzlichen Wiedersehen mit Lemberg. Ich schrieb ihm das. Er antwortete, er könnte nicht kommen, er wäre schon halb auf dem Wege nach Afrika, wohin er mit einer Expedition zu gehen beabsichtigte.
Dazu schickte er wieder eine größere Summe, – und ließ nichts mehr von sich hören.
Und Magdalene verzehrte sich in ihren Traumphantasien nach ihm. Sie wollte alles ertragen, sie wollte die Frauen, die er ihr vorzog, selbst die ‚Tigerin‘, bei sich sehen und freundlich gegen sie sein, nur sollte er kommen und sie nicht so lange allein lassen. Ich bin überzeugt, sie wäre gesund geworden, wenn er gekommen wäre. – Ja, Herr, ich glaube, auch heute noch, – erschiene er plötzlich vor ihr, es wäre wirklich so, wie sie sich einbildet: ihr Geist erwachte und alles Erlebte erschiene ihr wie ein böser Traum. Aber er wird nicht mehr kommen; es ist nichts von ihm zu hören gewesen in all den Jahren. Ich habe alle Kataloge der größeren Kunstausstellungen, auf denen er sonst vertreten war, durchgesehen jahraus, jahrein, aber ich habe seinen Namen nicht gefunden. Vielleicht ist er auf jener Expedition zu Grunde gegangen, vielleicht auch an seinem zügellosen Leben. Ich rechne ihn zu den Todten.“
„Wie hat er eine Frau wie Magdalene verlassen können!“ brach es plötzlich aus Konrad mit einem Feuer, dessen er sich selbst nicht bewußt war, „ein so schönes, liebreizendes Weib, und so echt, so groß in ihrer Liebe!“
[529]
[530] „Sie hat ihn eben zu sehr geliebt, und das hat er nicht vertragen können,“ sagte Miß Sikes. „Viele Männer sollen diese häßliche Eigenschaft haben.“
Das klang so lehrhaft, Konrad hätte lachen mögen, ein nervöses gereiztes Lachen. Aber er bezwang sich.
„Noch eine offene Frage, Miß Sikes,“ sagte er, „die Sie dem alten Freunde nicht übel deuten mögen. Ist es Ihnen in pekuniärer Hinsicht nicht schwer geworden, Magdalene, die ja ganz ohne Mittel ist, bei sich zu behalten?“
Die alte Miß erröthete.
„Anfangs oft,“ sagte sie dann nach kurzem Bedenken. „Ich mußte Berlin verlassen, der vielen Bekannten wegen, die an Magdalenens Geschick Antheil nahmen oder Neugier dafür zeigten. Ich ging hierher und hatte anfangs oft schwere Sorgen. Aber allmählich bin ich bekannt geworden, man sucht jetzt meinen Unterricht und ich verdiene so viel, daß ich meinem Kinde ein behagliches Nestchen habe herrichten können und imstande bin, ihr armes Leben nach Kräften zu verschönen.“
Konrad drückte ihr gerührt die Hand.
„Ich bewundere Sie aufrichtig, Miß Sikes, und wenn Sie einmal einen Freund brauchen sollten, sei es in welcher Hinsicht auch, – ich würde zu Ihrer Verfügung stehen.“
Miß Sikes sah ihn mit sprechendem Blick an, als ob sie etwas sagen wollte, aber die Worte versagten ihr und sie wendete sich ab. Konrad stand auf.
„Bleiben Sie denn hier und wie kommen Sie eigentlich hierher, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ sagte sie da. „Ihr Erscheinen hier ist so wunderbar, so unerwartet.“
Da war Konrad mit einem Schlage ganz und gar in die Gegenwart versetzt, – aber seltsam, es war ein peinliches, unklares Gefühl, das in ihm aufkam.
Er erröthete auch und sprach von Familienangelegenheiten, die ihn noch einige Tage hier aufhalten würden, während deren er jedenfalls noch bei ihr vorsprechen würde.
„O richtig, Sie sind mit den Heins verwandt, es war ja Gertrud Hein, mit der ich Sie zusammen auf der Straße sah, als Sie –“
„Ich war unhöflich und bitte nachträglich um Entschuldigung,“ sagte Konrad hastig. „Aber Ihr ‚shocking‘ war die Veranlassung, daß ich Sie heute aufsuchte.“
Damit verabschiedete er sich herzlich, aber mit einem zögernden Blick auf die dunkle, geschlossene Thür, hinter der Magdalene den seltsamen Traum träumte, von dem sie erst mit dem Tode erwachen sollte.
Und noch auf der Straße glaubte er sie vor sich zu sehen, wie sie in dem flüchtigen Augenblick seines Eintritts dagestanden hatte, schöner als je in ihrer üppigen Entfaltung mit den goldschimmernden Haaren und den großen räthselhaften Augen.
Darüber entging ihm die schlanke Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite des Trottoirs, die bei seinem Anblick zögernd stehen blieb und mit verwunderten, ein wenig traurigen Blicken sein träumerisches Gesicht musterte. Es war Gertrud Hein, die er vorübergehen ließ, ohne ihrer Nähe gewahr zu werden, – während sie mit pochendem Herzen so lange auf seine Anrede wartete, bis er ihren Blicken entschwunden war. – – – – – – – – – – – – – – – – –
Gertrud hatte die schwersten Stunden ihres jungen, bisher so glücklichen Lebens durchlebt. Sie begriff den gütigen Vater nicht, sie wußte nicht, was sie von dem Geliebten denken sollte, der ihr mit der finstern, hochmüthigen Miene fremd war. Der Vater suchte sie zu beruhigen, aber da er es ohne Gründe, nur mit Zärtlichkeiten und der Bitte, ihm zu vertrauen, that, wurde sie immer unruhiger, ein peinliches, drückendes Gefühl verdrängte alle Hoffnungsfreudigkeit und die bräutlichen Glücksgefühle in ihr.
Am nächsten Morgen wollte der Vater wieder verreisen – da hatte sie mit den kleinen Reisevorbereitungen zu thun – aber die Nacht ging schlaflos für sie hin, wohl die erste derartige in ihrem Leben.
Erst als der Vater ihr beim Abschied sagte, er wolle ihre Zukunft ordnen, und er hoffe, eine glückliche, kleine Braut zu segnen, wenn er in einigen Tagen wiederkomme – sie solle nicht fürchten, daß er sie von dem Auserwählten zu trennen beabsichtige, dazu sei sie zu selbständig in ihrem Empfinden und Handeln – aber er selbst müsse in allem klar sehen, bevor er sein Kind an das Schicksal ausliefere, – erst da kam etwas Ruhe, das alte Vertrauen zum Vater und die Gewißheit von des Geliebten unangreifbarer Würde über sie. Ihre Augen wurden wieder klar, und das alte sonnige Lächeln erschien in dem lieblichen Gesicht.
Und nun war der Vater fort, Tante Karoline kam aus ihrem Stift erst am Nachmittag zu ihr; da blieb ihr noch manche Stunde zum Träumen und Denken an den nahen und doch fernen Liebsten.
Aber sie sehnte sich nach Aussprache und sie hatte niemand, mit dem sie über ihn sprechen konnte. Nicht über ihre Liebe, nein, die war ihr zu heilig, aber über ihn, seine hervorragende Person, seine – ja, da fiel es ihr ein: Miß Sikes kannte ihn ja, Miß Sikes, der sie längst einen Besuch hätte machen sollen. Im Grunde war es unartig, daß sie es noch länger aufschieben wollte, sie mußte der alten strengen Dame auch ein entschuldigendes Wort über ihr auffallendes Benehmen von der Straße sagen, und ohne sich klar zu machen, daß sie das ja nicht könne, ohne ihr Geheimniß preiszugeben, nur im Drange, den Namen des Geliebten von einem andern nennen, ihn loben zu hören – denn daß er gelobt würde, das war ja selbstverständlich! – kleidete sie sich an und ging den wohlbekannten Weg hinunter.
Mit ihrem scharfen Auge sah sie schon in größerer Entfernung Konrad aus dem Hause treten. Also auch er hatte die alte Lehrerin aufgesucht, vielleicht in derselben Absicht wie sie. Ob er sie nun ansprechen würde – natürlich, nun mußte er sie ja sehen! Aber er sah sie nicht, und als sie sich ihm bemerkbar machen wollte, fiel ihr der träumerisch versunkene Ausdruck seines Gesichts, die feine Röthe, die dasselbe überzog, auf, und es erfüllte sie auch mit freudigem Stolz, wie stattlich und vornehm er daherkam.
Und dann war er vorüber, und sie staunte, daß er ihre Nähe nicht geahnt hatte; sie empfand eine leise Enttäuschung.
„Aber er dachte ja an mich,“ sagte sie sich dann froh, „wie will ich ihn heute nachmittag mit seiner Versunkenheit necken!“
Und leichtfüßig eilte sie die beiden Treppen hinauf, die zu der Wohnung ihrer alten Lehrerin führten.
Die Flurthüre stand weit geöffnet, das Dienstmädchen war nicht da, sie anzumelden, und so klopfte denn Gertrud an die Thür des Zimmers, an dem sie oft in leiser Scheu vor der gestrengen Lehrerin gesessen hatte. Und während sie auf das „Herein“ Miß Sikes’ wartete, fühlte sie eine Anwandlung von Reue über ihr Kommen, gerade wie Konrad Herrendörfer vorhin. – Doch sollte sie nun umkehren?
In ihrem Sinnen hatte sie wohl die Aufforderung, einzutreten, überhört. Mechanisch öffnete sie die Thür, aber das Zimmer, in welches sie trat, war leer. Sollte sie sich an der andern Thür bemerkbar machen? Sie that es und öffnete auf das „Herein“ einer weichen Frauenstimme.
Entzückt und starr vor Staunen blieb sie an der Thür des reizenden Gemachs, das einen so starken Gegensatz zu dem düstern Lehrzimmer bildete, stehen und voller Entzücken sah sie die wunderschöne Frau an, die ihr klassisch schönes und dabei unsagbar liebliches Gesicht ihr voll zugewendet hatte und sie mit einem fragenden Blick musterte.
Das war also die Nichte der Miß Sikes, die so wunderlich zurückgezogen lebte! Gertrud hatte von ihr gehört, aber eine ältere Frau dabei in Gedanken gehabt – und nun diese märchenhaft schöne Erscheinung, inmitten eines blumendurchdufteten, luxuriösen Raumes, wie Gertrud ihn ähnlich nie gesehen hatte.
„Verzeihung,“ sagte sie endlich leise, „ich suchte Miß Sikes.“
Die schöne Frau gab keine Antwort, aber sie nahm Gertruds Hand und zog sie zu einem kleinen Sessel neben sich.
„Kommen Sie doch,“ sagte sie weich und mit eigenartiger Betonung, „ich habe Sie ja noch nie gesehen. Waren Sie schon öfters hier?“
Gertrud erzählte ihr von ihren Stunden, die sie bis zum vergangenen Frühjahr von Miß Sikes erhalten und die sie auch im Winter fortgesetzt hätte – wenn – ein glückliches Lächeln trat in ihr Gesicht, sie brach ab und sprach ihre Verwunderung aus, daß sie die Dame früher nie gesehen hätte.
„Auch ich habe noch nie von Ihnen geträumt,“ sagte Magdalene Lemberg, „und es geschieht selten, daß fremde Gestalten vor mir auftauchen. Aber es ist eine angenehme Unterbrechung, und Sie sehen lieb aus. Wie heißen Sie denn?“
[531] Gertrud nannte ihren Namen, sie konnte aber ein bängliches Gefühl nicht unterdrücken, wie sie die schönen, glänzenden Augen der Fremden mit träumerisch leerem Ausdruck auf sich ruhen sah.
Nun schüttelte Magdalene den Kopf. „Niemals sah ich Sie oder hörte Ihren Namen. Sonderbar, vielleicht sollen Sie mir sagen, wie man von gar zu langem Schlaf aufwacht.“ – Gertrud sah ihr verwundert in das schöne Gesicht.
„Nun, wie machen Sie es denn?“ fragte Magdalene ungeduldig.
„Ich schlafe nicht zu lange,“ antwortete Gertrud befangen.
„Und träumen Sie nicht viel?“
„Nein, sehr selten,“ sagte Gertrud immer befremdeter.
„Und ich träume, träume, träume,“ sagte Magdalene klagend, „und immer bin ich allein, ohne ihn, und ich habe solche Sehnsucht nach ihm, nach seinen Küssen. Und die Nacht ist so endlos lang. Ich träume von Tagen und Nächten, ich sehe die Sonne scheinen und den Mond, der Frühling kommt und der Schnee – aber ich kann nicht aufwachen, ich muß schlafen und von Personen träumen, die mir gleichgültig sind, gegen ihn, den ich liebe. – Warum kam er nicht statt Ihrer?“
Gertrud war aufgestanden. Wie gebannt starrte sie auf die schöne Frau, die nun plötzlich scharf nach ihr blickte.
„Sehen Sie mich an!“ sagte sie laut, „bin ich ein Wesen mit Fleisch und Blut, oder bin ich ein Bild? Ich stand als Ophelia an einer Weide und sah in die Wellen. – Hier am Hause, in dem ich jetzt träume, ist ein kleiner Garten und ein Wasser dahinter, die Weiden lassen ihre grünen Zweige hineinhängen. Wenn ich heimlich da hinunter gehe, den Weidenstamm umklammere und in das murmelnde Wasser blicke . . . ich weiß es nicht mehr, bin ich Magdalene . . . Ophelia . . . Magdalene . . . Ophelia –“
Sie ließ den Kopf sinken und starrte melancholisch ins Leere.
Gertrud faßte eine ungeheure Angst.
„Ich will mich nach Miß Sikes umsehen,“ stieß sie hervor.
Die Fremde nickte gleichgültig und schien keine Notiz mehr von Gertrud zu nehmen, die, immer den Blick auf sie gerichtet, dem Nebenzimmer zuschritt.
„Werner – Werner,“ krächzte da der Papagei von seiner Stange, und mit dem jauchzenden Ruf „Werner“ sprang die schöne Frau auf und liebkoste das Thier. Dazu schien die Sonne hell in die Blätter der fremdländischen Gewächse, die das Zimmer schmückten, ein starker Duft, von kleinen gelben Blüthen ausströmend, durchzog das Zimmer.
Als Gertrud angstvoll und doch gespannt die Thür geschlossen hatte, glaubte sie einen seltsamen Traum geträumt zu haben. Nüchtern wie das Alltagsleben sahen die wohlbekannten Geräthe des düsteren Unterrichtszimmers sie an.
Sie warf noch einen flüchtigen Blick umher, dann eilte sie mit klopfendem Herzen hinaus zu der noch geöffneten Thür, die Treppe hinunter.
Blätter und Blüthen.
Robert Hamerling †. Mit tiefer Trauer wird man in ganz Deutschland die Kunde von dem Tode des hervorragenden österreichischen Dichters aufnehmen, der in Graz nach langem Leiden am 13. Juli in seinem sechzigsten Lebensjahre dahingeschieden ist.
Wie groß ist die Todtenliste der deutschen Dichter des österreichischen Kaiserreichs! Fast droht der Parnaß desselben zu veröden. Die großen und besten Namen gehören nicht mehr den Lebenden an.
Da sind von den dramatischen Dichtern der hochgefeierte Altmeister Grillparzer, der einst die Bühnen beherrschende Friedrich Halm geschieden, und ihre Jünger Mosenthal und Joseph von Weilen sind ihnen, der letztere erst vor wenig Wochen, nachgefolgt. Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Karl Beck sind längst gestorben. Und nun auch Robert Hamerling!
Wir haben ein Bild und eine Charakteristik Robert Hamerlings bereits früher gebracht (Jahrgang 1885, Nr. 9), zugleich mit einer Darstellung seines im ganzen wenig ereignißreichen Lebens, das er kurz vor seinem Tode noch selbst in der Schrift „Stationen meiner Lebenspilgerschaft“ skizzirt hat. Auf der Hochwarte der Dichtung, wo die Opferfeuer echter Begeisterung lodern, hat er dauernd seinen Platz behauptet, unbeirrt durch eine Zeitrichtung, welche dem Schwung und den höheren Formen der Poesie sich allmählich immer mehr entfremdet hat; ja es gehört zu seinen Hauptverdiensten, trotzdem die allgemeine Theilnahme für sein Schaffen wachgerufen und festgehalten zu haben und damit auch den Sinn für die weihevollen Schöpfungen der ernsten Muse. Schon seine ersten Dichtungen, „Venus im Exil“ mit ihrer schönheitstrunkenen Begeisterung, „Ein Schwanenlied der Romantik“ und „Ein Germanenzug“, waren voll dahinfluthende Symphonien eines jungen Dichters, der formgewaltig und geistesmächtig über die Grenzen hinausgriff, welche der Dämmerungsflug der österreichische Lyrik gestreift hatte.
Auch die einzelnen Gedichte in „Sinnen und Minnen“ haben diesen höheren Flug zugleich mit kühnen Gedankenverbindungen, Weichheit und Ueppigkeit der Farbengebung.
Den Höhepunkt seines dichterischen Schaffens bezeichnen indeß die Epen „Ahasver in Rom“ und „Der König von Sion“. Hier herrscht Makartsche Farbenpracht und Farbengluth, neben der glühenden Schilderung hinreißender Schwung des Gedankens. Das Rom der Kaiserzeit ist selten mit einer so ausnehmend reichen und glänzenden Phantasie geschildert worden; der Gegensatz zwischen der Todessehnsucht und dem wildesten Lebensgenuß bildet den bedeutsamen geistigen Angelpunkt des Ganzen. Ebenso spricht sich der Reformdrang der deutschen Reformationszeit mit allen wüsten Ausschreitungen im „König von Sion“ heißblütig aus und die Schauspielerei des Kaisers Nero findet in derjenigen des Schneiders Johann Bockold, des Theaterkönigs im „neuen Sion“, ihr Gegenbild.
Was die Kritik auch an der Form dieser beiden Dichtungen aussetzen mag, sie sind reich an genialen Zügen, an Gedanken von großer Tragweite, und durch sie hat sich Hamerling in unserer Litteratur einen dauernden Platz gesichert. Die Revolutionstragödie „Danton und Robespierre“, der griechische Roman „Aspasia“, das aristophanische Lustspiel „Teut“ zeugen für die Vielseitigteit seines Talentes, das nirgends ins Oede und Seelenlose verfiel; seine „Aspasia“ hat sogar zahlreiche Nachahmer gefunden. Seine „Sieben Todsünden“, sein „Amor und Psyche“ sind reich an Schönheiten, die über das Alltägliche durch ihren geistigen Adel hinausreichen; „Homunculus“ mit seinen heinisirenden Anklängen hat bei allem Seltsamen auch viel Tiefes, aber seinen Nachruhm sichern ihm vorzugsweise jene beiden großen Dichtungen.
Mit schmerzlichem Antheil hörte das deutsche Publikum oft genug von Erkrankungen des Dichters; jetzt ist er dahingeschieden und unser Volk klagt am Grabe eines echt deutschen Poeten, der, am Fuß der steiermärkischen Alpen lebend, uns stets die Bruderhand reichte, wie immer die Würfel der hohen Politik rollen mochten. †
Es wird regnen! (Zu dem Bilde S. 529.) Die Wissenschaft der Vorherverkündigung des Wetters hat in den letzten Jahren einen hervorragenden Aufschwung genommen. Die Staaten haben sachkundige Männer angestellt, die auf Grund einer bestimmten Methode die muthmaßlichen Aussichten berechnen, und der Telegraph trägt die Ergebnisse ihrer Feststellungen über das Land hin, um sie überall nutzbar zu machen.
Leider aber ist diese Methode doch keine so sichere, daß sie jede Täuschung ausschließen würde, und gerade ihre gründlichsten Kenner sind die letzten, die dies leugnen. In den Beobachtungen bleiben unvermeidbare Lücken, plötzliche, jeglicher Voraussicht spottende Zufälle und Störungen treten auf, und so konnte es nicht ausbleiben, daß das amtlich angekündigte Wetter in vielen Fällen eben nicht kam, sondern ein ganz anderes. Da wurde so mancher „Gebildete“ der Wissenschaft untreu und studierte das Wetter auf eigene Hand, erinnerte sich, daß er in seiner Jugend aus dem Munde der wetterkundigen Alten von allerlei Anzeichen in der Natur gehört hatte, und sah jetzt zu, ob Schwalbe und Grille, Hund und Katze, Fliege und Spinne das Voraussagen nicht besser verständen als die Herren von den Wetterwarten. Eine solche Naturbeobachtung hat doch ihren eigenartigen Reiz, denn man braucht weder Barometer noch Thermometer, weder den Telegraphen noch das Zusammenwirken von so und so viel „Stationen“, um sagen zu können: Es wird regnen! In diesen volksthümlichen Regenanzeichen ist die Weisheit von Jahrtausenden gesammelt, und ihre Zahl ist darum wohl auch so groß, daß wir niemals in die Verlegenheit gerathen, keine bestimmte Voraussage machen zu können.
Emil Schmidt hat in dem Bilde, das wir den Lesern vorführen, einige der hervorragendsten „untrüglichen“ Anzeichen zusammengestellt. Daß sie auf neuzeitliche Fortgeschrittenheit keinen Anspruch erheben, beweist das laubfroschgezierte Barometer, das nicht eine Millimeter-, sondern die gute alte Zollskala trägt. Die Großmutter, die darunter sitzt, braucht auch dieses nicht, sie trägt ihr Barometer leider in ihren Gliedern, der rheumatische Schmerz kündigt ihr den Regen an, wie auch der alte Veteran Regen prophezeit, wenn seine Narben ihn schmerzen. Das sind menschliche Regenanzeichen.
Und wie die Menschen, so sind auch die Hausthiere:
„Kätzchen am Herde rastet nicht,
Putzt immer wieder Kopf und Gesicht.
Mein Jagdhund – darf ich den Augen trau’n,
Verläßt den Knochen, um Gras zu kau’n –“
heißt es in einem diese Frage behandelnden Gedichte, das der berühmte Impf-Jenner gedichtet haben soll.[WS 1] Uebrigens kann sich beim Hofhunde auch in Trägheit und Schlafbedürfniß die Ahnung kommenden Regens äußern.
Auch durch die Vogelwelt geht vor dem Regen eine geheime Bewegung und sie läßt bedeutungsvolle Stimmen erschallen: der Pfau schreit und der Rabe krächzt schrill, während die Schwalbe sich tief niederschwingt und die Krähe „nachahmt des Geiers schweren Flug“. Ja, auch das, was da kreucht und schwimmt und fleucht, wird zum Wetterpropheten: der Laubfrosch schreit, der Teichfrosch wird braun, die Glühwürmer sind „reich an Glanz und Zahl“, die Grillen singen „scharf“, die Fliegen sind lästig und die Fische, die springen aus der Fluth und schnappen nach den Mücken, die wie immer stechen.
Die berühmteste Wetterprophetin ist aber die Spinne. Ihr Ruhm stammt schon vom Alterthum her und ihre Wetterprognosen wurden gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts von einem Franzosen Quatremère [532] Disjonval zu einem System zusammengefaßt. Sein eigenartiges Werk über die Spinnen, welches auch ins Deutsche übertragen wurde, war eine Gefängnißarbeit. Von den Holländern hinter Schloß und Riegel gehalten, studierte er die Spinnen, die seine Stubengenossinnen waren. Wird es regnen, so spinnen die Radspinnen und Kreuzspinnen gar nicht; die Winkelspinnen aber, die sonst aus ihrem Hüttchen mit dem Kopf hervorsehen, drehen sich, wenn der Regen in den nächsten vierundzwanzig Stunden kommen wird, um und stecken ihr Hintertheil aus dem Hüttchen heraus. Anno 1794 prophezeite genannter Quatremère auf Grund seiner Spinnenbeobachtungen der französischen Armee unter Pichegru Frost und Thauwetter, wonach sich dieselbe bei ihrem Einfall in Holland richtete.
Auch aus dem Verhalten der Pflanzenwelt wird auf Witterungswechsel geschlossen, und man kann bei unseren Stiefmütterchen, unserem Klee oder den Dolden der Möhren interessante Beobachtungen über die Beziehungen derselben zum Temperaturwechsel anstellen. Ganz vor kurzem aber, erst im vorigen Jahre, wurde die altbekannte Papilionacee Abrus precatorius, deren runde, korallenrothe, glänzende, mit einem schwarzen Fleck gekennzeichnete Samen als Paternostererbsen geläufig sind, unter dem geheimnißvollen und vielversprechenden Namen „Wetterpflanze“ den Freunden der Naturprophezeiungen für schweres Geld zum Kauf angeboten, da sie nicht nur Wetter, sondern auch Erdbeben voraussagen sollte. Es giebt viele Leute, die sich diesen neuesten Propheten gekauft haben.
In der Landschaft auf unserem Bilde sehen wir links einen Schweinehirten; er hat Mühe, seine grunzenden Thiere beisammen zu halten, denn auch ihnen ist die Ahnung des Witterungsumschlags in die Glieder gefahren. Der Rauch „kreucht träg zur Erd’“ – das ist auch ein Vorzeichen des Regens, dessen Betrachtung uns schon zu den modernen Ergebnissen der Forschung über die Druckschwankungen der Atmosphäre hinüberleitet. – In der volksthümlichen Wetterkunde, die wir hier nur flüchtig berühren konnten, sind Wahrheit und Dichtung mit einander kunterbunt gemengt und man braucht dem allmählichen Verschwinden dieser schönen Regeln keine Thräne nachzuweinen. *
Friedrich Gerstäckers ausgewählte Werke. Als Friedrich Gerstäcker im Jahre 1843, damals ein noch ziemlich unbekannter Mann, von seiner ersten Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika zurückkehrte, da wurde er gefragt, ob er der Gerstäcker sei, der seine Reise in den von Robert Heller redigirten „Rosen“ veröffentlicht habe. Gerstäcker verneinte das entschieden und mit gutem Gewissen, aber – wer beschreibt sein Erstaunen – die Leute erzählten ihm frischweg die schönsten Geschichten aus seinem eigenen Leben und er, er konnte nicht einmal bestreiten, daß sie vollständig auf Wahrheit beruhten. Das Räthsel löste sich, als der Weitgereiste nach Leipzig zu seiner Mutter kam. Von ihr erfuhr er, daß sie sein in Amerika verfaßtes Tagebuch an Robert Heller gegeben habe, welches dieser sodann zum größten Theil in seinen „Rosen“ veröffentlichte. „So hat mich denn,“ schreibt Gerstäcker in seiner Selbstbiographie in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1870, S. 246) „Robert Heller eigentlich zum Schriftsteller gemacht und trägt die ganze Schuld, denn in Dresden wurde ich später veranlaßt, diese einzelnen Skizzen zusammenzustellen und ein wirkliches – mein erstes – Buch zu schreiben.“ Es waren die „Streif- und Jagdzüge“, in welchen er seine abenteuerlichen Erlebnisse mit frischen Farben, wenn auch mit noch etwas ungeübter Hand schilderte. Das Buch gefiel, und bald folgten ihm einzelne ausgeführtere Bilder, die Romane „Die Regulatoren in Arkansas“ und „Die Flußpiraten des Mississippi“, Werke, die Friedrich Gerstäckers schriftstellerischen Namen mit einem Schlage begründeten. Seitdem sind zahllose Schriften aus seiner Feder geflossen; die „Gartenlaube“, mit deren Begründer er im engsten Verkehre stand, durfte ihn zu ihren treuesten und fruchtbarsten Mitarbeitern zählen; seine „Gesammelten Schriften“ umfassen die stattliche Zahl von dreiundvierzig Bänden.
Die eiserne Energie, welche den kühnen Reisenden die unsäglichsten Mühseligkeiten und Gefahren überstehen ließ, offenbarte sich auch in der Art seines litterarischen Schaffens. „Ohne Unterbrechung schrieb er des Tages seine sechs bis acht Stunden, und dies Wochen, ja Monate hindurch. Dann war er völlig abgespannt und erholte sich durch kurze Jagdausflüge, wenn es die Jahreszeit gebot, oder spielte regelmäßig seine Partie Whist,“ so berichtet von ihm Herbert König in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1872). Von Zeit zu Zeit aber trat er dann wieder eine jener großen Wanderungen an, die ihn fast in alle Gegenden der bewohnten Erde führten, Wanderungen, die ihm für seine Produktionsfähigkeit nothwendig waren. Er hatte das Bedürfniß, „die schwächer werdenden Bilder jener fremden Welt aufs neue aufzufrischen,“ wie etwa ein Maler über die aufgestapelten Vorräthe der Studienmappe hinaus immer wieder der lebendigen Berührung mit der Natur, des direkten Schauens bedarf. Das gab denn auch seinen Schriften jenen unverlöschlichen Reiz des Unmittelbaren, jenen praktischen, gesunden Realismus, welcher sie in so hohem Grade auszeichnet und welcher ihnen – neben dem stofflichen Interesse – auch heute noch einen ungeminderten Eindruck auf den Leser sichert. Man darf es deshalb als einen glücklichen Gedanken bezeichnen, daß die Verlagshandlung von Hermann Costenoble in Jena sich entschlossen hat, eine Neuherausgabe der besten Werke Gerstäckers zu einem möglichst billigen Preise zu veranstalten. Für die Auswahl und Bearbeitung wurde Dietrich Theden gewonnen, welcher es verstanden hat, das dauernd Werthvolle aus der Masse herauszugreifen und unter sorgfältiger Wahrung der Eigenart des Erzählers für den Neudruck zuzubereiten. Die Zahl der Bände ist von 43 auf 24 beschränkt, welche in zwei Serien lieferungsweise erscheinen. Wir zweifeln nicht, daß der vielgelesene Autor sich in diesem neuen Gewande neue Freunde zu den alten erwerben werde. S.
Der Charakter der Schlesier. In den „Gesammelten Aufsätzen“, welche uns Gustav Freytag, den Dichter von „Soll und Haben“ und der „Ahnen“, als Journalisten zeigen (Leipzig, S. Hirzel) und in denen er über Tagespolitik, über Geschichte, Litteratur und Kunst manch kräftig Wörtlein spricht oder vielmehr früher gesprochene in Buchform gesammelt hat, findet sich auch eine Charakteristik seiner schlesischen Landsleute; er äußert sich über Karl von Holtei, den echten und unverfälschten Vertreter seines Stammes, und sagt dabei: „Nur unsichere Ahnungen hatte man früher in der Außenwelt von dem schlesischen Gemüth, dem allerliebsten Gemisch von polnischer Lebhaftigkeit und altsächsischer Bedächtigkeit, von gutmüthiger Einfalt und kalkulirendem Scharfsinn, von sentimentaler Weichheit und reflektirender Ironie, von lauter Fröhlichkeit und andächtigem Ernst. Wer unterhält seine Kameraden auf der Gesellenbank? Der Schlesier. Wer weint mit seiner Geliebten im Mondenschein? Der Schlesier. Wer wischt sich diese Thränen mit dem Tabaksbeutel ab und denkt zuletzt: ‚Es ist alles Wurst‘? Der Schlesier. Wem steigt der Wein am schnellsten zu Kopf und wer hält doch am längsten beim Becher aus? Wieder der Schlesier! Wer verzückt sich am tiefsten in mystischer Gottseligkeit und wer spricht am gleichgültigsten mit dem Teufel? Immer der Schlesier. Alles, was man auf Erden nur werden kann, wird der Schlesier mit Leichtigkeit: Engländer und Russe. Minister und Seiltänzer, Posaune und Klapphorn, fromm und gottlos, reich und arm. Am liebsten wird er allerdings Poet, weil ihm das die Einseitigkeit erspart, irgend etwas Specielles zu werden.“ †
Wenn ein Spieler folgende 9 Karten:
(tr. B.) (p. B.) (c. B.) (tr. Z.) (tr. 9.) (tr. 8.) (p. As) (p. Z.) (p. K.) |
in der Hand und bezüglich der zehnten Karte zwischen
und | ||
(car. B.) | (tr. As) |
die Wahl hat, welche von den beiden Karten wird er wählen, um das danach sicherste und theuerste[1] Spiel ansagen zu können?
B. H. in Mißlitz. Als „Mittel gegen Wurmstich“ empfahl seiner Zeit eine englische Kommission, welche in Bezug auf die Vertilgung von Holzwürmern in fournirten Möbeln und Holzschnitzereien Versuche angestellt hatte, Benzin. Die betreffenden Möbel wurden in verschließbare Räume gebracht, in welchen während der warmen Jahreszeit flache Schalen mit Benzin aufgestellt wurden. Wenn der Inhalt der Schalen verdunstet war, füllte man die Schalen von neuem und wiederholte dieses Verfahren so lange, bis sich größere Mengen todter Holzwürmer oder Larven in den betreffenden Räumlichkeiten vorfanden. – Um hölzerne Gegenstände so zu schützen, daß überhaupt keine Holzwürmer sich daselbst einnisten können, empfiehlt es sich, die Gegenstände mit einem schwachen Leimüberzug zu versehen; um letzteren sehr wirksam zu machen, möge man auf einen halben Liter der Leimlösung noch ein Gramm Sublimat (Quecksilberchlorid) geben, nur vergesse man dabei nicht die nöthige Vorsicht, denn Sublimat ist sehr giftig.
Gustav W. S. in H. Das dem jungen deutschen Kronprinzen gewidmete sinnige „Frühlingsmärchen“ von Emil Frommel (mit Illustrationen von Alexander Zick) finden Sie in dem kürzlich erschienenen Heft 9 (Band VII) der „Deutschen Jugend“, dieser von Julius Lohmeyer herausgegebenen trefflichen Zeitschrift für unsere Knaben und Mädchen.
K. S., Braunschweig. Wir danken Ihnen bestens für Ihre freundliche Zuschrift und geben dieselbe gerne an dieser Stelle wieder, da sie ohne Zweifel von allgemeinem Interesse ist. Sie lautet: Was in Nr. 13 der „Gartenlaube“ über das allgemein Menschliche der Wörter „Papa“ und „Mama“ gesagt wird, ist unzweifelhaft richtig; das bezeugen die verschiedenartigsten Sprachen aller Erdtheile. Ebenso richtig ist der Hinweis auf die Unsicherheit der Herleitung aus indogermanischen Begriffswurzeln. Nicht berücksichtigt ist aber ein sprachgeschichtlicher Umstand, der jene Wörter für das Deutsche doch als Fremdwörter erweist. „Mama“ und „Papa“ mögen im Urgermanischen einmal bestanden haben, gerade wie in den verwandten Sprachen der Griechen und Römer; jedenfalls wissen wir davon nichts, und in keiner der altgermanischen Mundarten sind uns die Wörter überliefert, weder im Gothischen noch im Angelsächsischen, weder im Alt- noch im Mittelhochdeutschen, und auch nicht im Frühneuhochdeutschen. Sie treten vielmehr erst auf seit dem 17. Jahrhundert, das heißt, seitdem sich von unsern westlichen Nachbarn der verheerende Fremdwörterstrom über unsere blühenden Sprachgefilde zu ergießen begann. Französische Fürstenhöfe und Adelsfamilien, französische Bonnen und Gouvernanten sind es gewesen, die jene welschen Lallwörter bei den kleinen Kindern einführten und bei den großen Kindern weiterpflegten. Nicht väterliches Erbgut, sondern ein Erzeugniß der Nachäffung sind unsere jetzigen deutschen „Papa“ und „Mama“. Deshalb hat mit vollem Rechte und von einem gesunden Gefühle geleitet jene Mutter gesagt: „Ich bin eine deutsche Frau, nenne mich Mutter, mein Kind!“
Minna P. in M., Ostpreußen. Das Geheimniß der Eleganz bei bescheidenen Mitteln heißt: vorwiegend Schwarz tragen. Nur in solchem Fall passen alle Stücke der Toilette zusammen und können einzelne derselben aus Seide, Spitzen etc. allmählich beschafft werden. Wollen Sie einmal Farbe tragen, so müssen Sie bei jedem Stück im voraus überlegen, ob es zum Grundton: braun, blau, grau etc. stimme. Auffallende Farben und Muster sind nur bei raschem Wechsel möglich, müssen also in Ihrem Fall vermieden werden. Einfach in der Farbe, möglichst gut im Stoff, knapp und zierlich sitzend, so muß die Toilette einer Dame beschaffen sein, die bei kleinen Mitteln elegant aussehen will. Die so häufig auf unseren Straßen sichtbaren zufälligen Zusammenfügungen: brauner Hut, graue Jacke, grünes Kleid u. dgl., stellen freilich das äußerste Gegentheil davon vor und kosten doch ebenso viel wie ein vorher bedachter und deshalb harmonischer Anzug!
Inhalt: Gold-Aninia. Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué (Fortsetzung). S. 517. – Friedrich List. Von Dr. H. Ellermann. S. 520. Mit Illustration S. 517. – In Großmutters Märchenreich. Illustration. S. 521. – Von der Deutschen Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung. I. Von C. Falkenhorst. S. 523. Mit Abbildungen S. 524, 525 und 526. – Schatten. Novelle von C. Lauckner (Fortsetzung). S. 527. – Blätter und Blüthen: Robert Hamerling †. S. 531. – Es wird regnen! S. 531. Mit Illustration S. 529. – Friedrich Gerstäckers ausgewählte Werke. S. 532. – Der Charakter der Schlesier. S. 532. – Skataufgabe. Von K. Buhle. S. 532. – Kleiner Briefkasten. S. 532.
- ↑ Es gelten die Bestimmungen der „Allgemeinen Deutschen Skatordnung“ sowohl hinsichtlich der Gewinnstufen als auch der Werthberechnung.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Das Gedicht stammt von Edward Jenner, im Original betitelt Signs of Rain (in: The Life of Edward Jenner, M.D. Band 1, London 1838, S. 22–24 Internet Archive) – eine deutsche Übersetzung erschien in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, Jg. 1839, Band 1, S. 96 Fußnote „[…] Kätzchen am Herde mit sammtner Pfote […]“ Google und eine andere Übersetzung in: Der Bazar, Jg. 1865, Nr. 42, S. 367 „[…] Kätzchen am Herde rastet nicht […]“ MDZ München.