Die Gartenlaube (1889)/Heft 28
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No. 28 | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Nicht im Geleise.
Einen Besuch abzuweisen, gehörte nicht zu den Lebensgewohnheiten
der Frau Assessor Ravenswann; im Gegentheil, sie
bedauerte es immer sehr, wenn sie einen solchen verfehlt hatte.
Ludolfs Weisung, Germaine nicht mehr zu empfangen, konnte sie
durch einen Zufall leicht befolgen. Germaine kam zweimal, als
Mietze nicht daheim war. Diese Besuche blieben einfach unerwidert
und damit war der Bruch geschehen. Steinweber und
Haumond hatten sich gar nicht gezeigt.
Die Frau befand sich in der größten Erregung. Sollte sie sagen lassen, sie sei nicht zu Hause? unpäßlich? Aber der brennende Wunsch, Alfred zu sehen, von ihm selbst vielleicht alles zu hören, war so groß in ihr, daß sie sich plötzlich darauf besann, daß man nicht durch Dienstbotenmund Lügen bestellen dürfe.
„Ich bitte,“ sagte sie, lief aber in das Nebenzimmer, um sich etwas zu sammeln, ihre Schürze abzunehmen, ein frisches Taschentuch mit Kölnischem Wasser zu betupfen und ihr Haar noch besonders glatt zu streichen
Dann kehrte sie mit zitternden Knieen in das Gemach zurück, wo Alfred mit dem hohen Hut in der Hand stand und die Photographie eines Thumannschen Bildes, die an der Wand hing, ansah.
„Gott, wie ist er blaß!“ dachte Marie ergriffen. Natürlich, an Aerger und Kummer durch die Frau hatte es ihm nicht gefehlt.
„Wir haben uns lange nicht gesehen,“ sagte sie mit bebender Stimme.
„In der That“ antwortete Alfred mit einer Stimme und einer Miene, als sei nichts vorgefallen, „ich bin gegen meine gnädige Gönnerin nachlässig gewesen. Aber wenn Sie wüßten, was alles auf mir lag.“
„Ich weiß,“ sagte sie innig und traurig.
„Sie wissen?“ fragte er entgegen. „Das nimmt mich wunder. Ah, vielleicht durch Bendel. Ja, ich merke, daß ich doch bessere Arbeitskraft besitze, als ich mir immer zutraute. Ich hoffe auch, etwas Nützliches gethan zu haben, indem ich der deutschen Leserwelt ein bedeutendes englisches Buch zugänglich machte. Seit vierzehn Tagen bin ich mit der Uebersetzung fertig. Daneben und nachher hatte ich schrecklich viel zu thun mit der Ordnung meines Vermögens. Sie wissen, ich denke mich in Pommern anzukaufen. Bei der Bebauung meiner Scholle und der Beschäftigung mit meiner Bücherei hoffe ich ein befriedigtes Leben zu führen. Ich reise morgen ab, um einige Besitzungen, die mir angeboten sind, zu besichtigen. Man schreibt mir, daß die Gegend dort schneefrei ist. Mich zu verabschieden bin ich gekommen, denn es wäre mir, an dessen Unhöflichkeiten Sie so oft gütig Nachsicht geübt haben, doch zu ungezogen erschienen, mich aus Berlin zu entfernen, ohne Ihnen noch die Hand zu küssen.“
Nein, das war denn doch zu viel der Komödie! War er gekommen um sie dumm zu machen? Marie kämpfte mit Thränen.
„Und Germaine?“ entfuhr es ihr.
„Germaine? Wir haben
[470] eine alte Dame als Gesellschafterin für sie gefunden – aber, nicht wahr, Sie gestatten, daß ich mich setze? – mit dieser wird sie wohnen.“
Marie fiel fast in einen Stuhl, Alfred gegenüber, der sich lächelnd gesetzt.
„So ist es alles, alles gar nicht wahr?“ rief sie mit bebenden Lippen.
„Was?“
„Daß Sie sich scheiden lassen, daß S-teinweber Germaine heirathet,“ brach sie aus.
Alfred sah sie an. Er schien zu überlegen, ob er ernst oder spielend mit ihr sprechen solle und wie er am klügsten handle.
„Gewiß,“ gab er freundlich zu, „gewiß ist es wahr. Sie behalten Germaine, die sich zur Zeit natürlich zurückzieht und sich selbst das Vergnügen versagt, Sie zu sehen, hier in Berlin. Ich denke, daß im Frühling ihre Vermählung mit Marbod erfolgen soll, nachdem gestern schon die Scheidung perfekt wurde.“
„Gestern schon?“
„Es lagen eben besondere Verhältnisse vor. Unsere Ehe war nur Schein.“
„Mein Gott, davon s-prechen Sie so ruhig?“
„Warum nicht? Ich liebe Germaine, als wenn sie meine Schwester wäre, und wünsche ihr ein volles Glück mit Marbod.“
Marie faltete die Hände im Schoß, sie war geschlagen, verständnißlos, unfähig, mit einer zwingenden Frage der Sache auf den Grund zu kommen.
„Das vers-tehe, wer kann! Sind Sie denn gar nicht unglücklich?“
Da verstand er, daß sie ihn von Herzen gern bemitleidet und getröstet hätte. In seinen Augen blitzte etwas auf – ein kleiner, ganz kleiner Teufel.
„Unglücklich! Ach, meine Freundin, ich glaubte oft, daß Sie in meiner Seele läsen. Sie wissen, ich stürzte mich in die Ehe mit Germaine, ohne sie zu lieben. War es nicht meine Pflicht, Germaine die Freiheit wieder zu geben, damit sie fände, was ich ihr nie werden konnte: einen Gatten? Glauben Sie mir, Sie stehen hier schuldlosen, aber unglücklichen Menschen gegenüber. Germaine ist rein wie Sonnenlicht, ebenso Marbod.“
„Das will ich für meine Person so auch gern glauben,“ sagte Marie seufzend, „aber man kann es doch nicht alle Menschen glauben machen, die nun einmal schlecht von den beiden denken. Ach, es kommt wirklich nicht auf die Schuldlosigkeit an, sondern auf das, was die Leute s-prechen. Ich bin es wenigstens meinem Ruf und meiner S-tellung schuldig, nicht mehr mit einer Frau zu verkehren, die so ins Gerede gekommen ist.“
Der kleine Teufel in Alfreds Augen begann etwas kühner zu blicken.
„Und ich?“ fragte er mit einem Seufzer, indem er sich vorbeugte und ihre Hand ergriff, die sie ihm zitternd ließ, „wollen Sie auch mich verdammen, weil mein Herz das Glück nicht finden kann, nach dem es lechzt? O Marie, theure Freundin!“
„Sie – nein, Sie verdamme ich nicht,“ stammelte sie; „Sie hätten so glücklich sein können – Sie haben ein so gutes Herz.“
„Marie, ich kann und darf Sie nicht in mein Inneres blicken lassen. Aber Sie – lassen Sie mich nicht mit dem Gedanken scheiden, daß Sie mich falsch beurtheilen. Sagen Sie mir durch einen Händedruck, daß Sie mir ein gütiges Andenken bewahren werden, auch wenn ich nie mehr zurückkehre.“
„Nie – nie?“ rief Marie. Schluchzend drückte sie seine Hand. Alles, was er sagte, kam ihr so wunderschön und so todtraurig vor. Ja, er hatte doch ein edles und gefühlvolles Herz und unter ihrem Einfluß hätte noch ein ganz guter, solider Mensch aus ihm werden können. Fühlte er das selbst? Wollte er das nur Ludolfs wegen nicht gestehen? Wie sagte er doch? „Ich kann und darf Sie nicht in mein Inneres blicken lassen.“ Sie weinte immerfort.
„Aber so fassen Sie sich doch!“
„Es ist so furchtbar,“ schluchzte sie, „daß gerade Sie immer Frauen finden, die Sie nicht vers-tehen, oder nicht vers-tehen dürfen.“
Er stand vor ihr und sah lange mit eigenthümlichem Blick auf die weinende Freundin nieder. Ob Marie diese Thränen einer andern Frau verziehen hätte? Schwerlich. Ob sie sich genau bewußt war, weshalb sie ihr flossen? Ob ihre Seele dunkel danach schmachtete, die unbestimmte Beunruhigung, die durch ihre Nerven ging, von ihm sich klar machen zu lassen?
„Ich danke Ihnen für Ihre Theilnahme,“ sagte er endlich in ganz freundlich höflicher Weise, „und Sie werden Ludolf und Schneiders Grüße von mir bringen. Sobald ich mich angekauft habe, werde ich mir erlauben, es Ludolf mitzutheilen. Vielleicht kann ich ihn und Sie dann schon im kommenden Sommer bei mir als Gäste begrüßen. Und so leben Sie wohl!“
Sie stand wankend auf. Ihre ihn überragende Gestalt mußte Halt suchen. Sie faßte nach der Stuhllehne. Ihre Hand fühlte seinen kurzen kräftigen Händedruck.
Es wurde ihr ganz dunkel vor Augen. Wollte er gehen? So gehen? Ihr war, als müsse sich noch irgend etwas ereignen – noch irgend etwas Außerordentliches, Unerhörtes. Ihr Herz schlug. Ihre Lippen wurden trocken.
Wie durch einen Schleier sah sie, daß er ging, wirklich ging, nachdem er sich noch einmal an der Thür verneigt hatte. Die Thür fiel zu. Auf dem Korridor verhallte sein Schritt.
Sie warf sich in den Stuhl, auf dem er gesessen, und legte das Haupt an die Lehne, die seine Schulter berührt hatte.
Und sie weinte, laut und heftig und lange.
„Würde mein Kind mir gesunden, wenn ich es nach dem Süden führte?“ hatte Gerda den berühmten Arzt in Heidelberg gefragt.
„Ich glaube, daß eine Reise, und wenn Sie dieselbe mit dem größten Luxus ins Werk zu setzen vermöchten, Ihrem kleinen Sohn nur schaden dürfte,“ antwortete ihr der ernste milde Mann. „Die ungewöhnliche geistige Regsamkeit des Kindes ist die Todfeindin seiner Gesundheit. In immer derselben, möglichst ruhig heiteren Umgebung, in der Stille Ihres Heims kann er sich vielleicht erholen, auf einer Reise nach Kairo oder Madeira niemals. Vielleicht wären die Anlagen, die der Kleine offenbar von seinem Vater ererbt hat, nie zur verderblichen Entwickelung gekommen, wenn er vom ersten Jahr seines Lebens an in geeigneten Klimaten gewohnt hätte. Aber auch das ist schwer zu sagen. Wo die Tuberkel als konstitutionelle Eigenschaft einer Familie sich forterbt, sind unsere Rathschläge und Vorbeugungsmittel meist nur eine Beruhigung für unser eigenes Gewissen. Wir erleben da die wunderbarsten Fälle. Robuste, volle, kräftige junge Menschen sehen wir in solchen Familien oft in jähem Verfall sterben. Zarte, kränkelnde Menschenpflänzchen mit angegriffenen Lungen sehen wir zäh Widerstand leisten, erstarken und endlich den innern Feind besiegen. So kann Ihr kleiner Liebling vielleicht als erwachsener, verhältnißmäßig gesunder Mann Ihnen einst für die Sorgen danken, die Sie jetzt seinetwegen tragen.“
Und mit diesem Bescheide hatte die einsame Frau ihr geliebtes Kind wieder heimgeführt in das Haus auf den Waldbergen.
Was mit Erfindungsgabe, Geld und Fürsorge zu beschaffen war, geschah, um das Berghaus gegen die Rauhheiten des Winters zu schützen. Gerda ließ Heizungen und Ventilationen herrichten, ein Glashaus anbauen, wo das Kind unter immer grünen Bäumen spielen konnte, und mußte alle ihre Vorkehrungen täglich neu gegen das Tantchen vertheidigen.
Das alte Fräulein fand sich und ihre „Krankheit“ in der empörendsten Weise zurückgesetzt gegen den verzogenen Jungen, dessen bißchen Kränkeln die ängstliche Mutter überschätzte. Kaum fragte man sie, wie sie geschlafen habe, wie ihr die Pulver bekommen seien; niemand kümmerte sich darum, ob mittags auch ihre Speisen genau nach der neuen diätetischen Vorschrift bereitet wurden, die sie aus einer Broschüre entnommen und der Köchin klar gemacht hatte. Wenn der Arzt kam, beschäftigte er sich zumeist mit Sascha und dessen Husten. Das alte Fräulein hustete auch, seit das Kind es that, und quälte den Doktor, der ihr jeden Tag die Lungen behorchen sollte.
Endlich gab ihr dieser den Rath, nach San Remo zu reisen, denn der verständige Mann sah ein, daß die kleine anspruchsvolle Dame mit ihrem gewohnheitsmäßigen Kranksein Gerda quälte. Von da an bis zu dem Tag ihrer Abreise benahm das Tantchen sich wie jemand, der im Begriff ist, an der Schwindsucht zu sterben. Sie schrieb an alle ihre Bekannten, daß der Doktor sie wegen ihrer angegriffenen Lungen nach San Remo schicke. Sie ließ sich [471] eine ganze Litteratur kommen, welche die Lungenschwindsucht und die Wege ihrer Heilung behandelte, unterrichtete sich über alle Luftkurorte, die für solche Kranke in Frage kommen konnten, und wußte Höhenlagen, Temperaturgrade und Pensionspreise in allen Orten auswendig.
Sie gewöhnte sich an, zu sagen: „Ich ginge gern da oder da hin, aber das ist zu spät für mich, ich muß schon nach San Remo.“
Das ganze Haus athmete auf, als sie endlich abreiste.
Nun war Gerda mit ihrem Sohne ganz allein. Daß der Herbst gekommen war und der Winter, bemerkte man dort oben nur an den Regenschauern und Stürmen, die vorüberjagten. Von den ineinander sich verziehenden Linien der sanften Bergeshöhen sah der immergrüne Tannenwald herüber, und wo da oder dort das nackte Geäst kahler Eichen und Buchen aus dem dunklen Grün braune Flecken warf, beachtete man es kaum.
Gerda verließ ihr Haus nie mehr. Das Wägelchen des Verwalters fuhr jeden Morgen hinab in die Stadt und brachte alles herauf, was für die Ernährung des Kindes und der Hausbewohner nöthig war.
Kein Laut aus der Welt kam mehr herauf; kein Buch, nicht einmal mehr eine Zeitung nahm Gerda in die Hand. Sie spielte weder Klavier, noch nahm sie je eine Nadel, um zu arbeiten. Der ganze Tag gehörte ihrem Kinde. Sie spielte mit Sascha, hielt ihn auf dem Schoß, wenn sie ihm vorplauderte, wachte neben ihm, wenn er ruhen sollte, bereitete seine Speisen selbst. Aber ach, sie fühlte, daß ihrem Wort die leichte Heiterkeit fehlte, die ein Lächeln auf dem süßen Gesichtchen hervorzaubern konnte; daß ihr Blick nicht hell und frei genug war, um den fragenden Augen des Knaben ermuthigend zu begegnen. Er wollte immer belehrt sein, aber sie verstand es nicht, spielend zu belehren und seinem Verstande die ersehnte Nahrung zu geben, indem sie zugleich seine Phantasie schön beschäftigte. Auf die tausend merkwürdigen Fragen, die ein zugleich über- und unreifer Kinderkopf aufwirft, hatte sie Erklärungen, zerstörende oder bejahende, zur Antwort. So gab sie ihm zu schwere Denkarbeit.
Und bei jeder Frage, bei jedem Spiel, bei jeder Traurigkeit des Kindes erinnerte sie sich, wie Alfred ihm zu antworten gewußt: befriedigend, ablenkend und doch nicht unwahr; wie er mit ihm zu spielen gewußt: erfinderisch, wichtig, unermüdlich, wie er ihn zu erheitern gewußt, daß sein helles Lachen durch das Haus klang.
Wenn heute noch einmal die Stunde käme, wo sie fragte: „Was soll Dein Lebensinhalt sein?“ und er antwortete noch einmal. „Ich will Deinem Sohne leben,“ würde sie noch sagen: „Zu wenig Lebensinhalt für einen Mann!“?
Auf den Knieen würde sie ihm danken und von ihm die Gesundheit und das Leben ihres Kindes zurückerwarten.
Er war vermählt! Vielleicht schenkte ihm die Natur eines Tages ein eigenes Kind. Bei solchen Gedanken schloß Gerda die Augen und nahm ihren Sohn fest in die Arme. O, wie hatte er Sascha geliebt! Konnte er den Knaben so ganz, ganz vergessen haben, daß er den rührenden Ruf des kleinen bangen Herzens nicht einmal beantwortet hatte?
Tausend Vorstellungen gingen zermarternd durch ihren Kopf. Hatte er damals Saschas Brief empfangen, als es schon zu spät war, von seinem jetzigen Weibe sich wieder los zu machen? Aber ein Wort, ein armes kleines Wort hätte er dem Kinde doch wiederschreiben können. Oder hatte er gedacht, diese kindisch liebessehnsüchtigen Zeilen seien von ihr, von Gerda, diktirt gewesen, und hatte er herbe und stolz ihr durch sein Schweigen zeigen wollen, daß zwischen ihnen alles erstorben sei, selbst die Erinnerung?
Und bei solchen Gedanken gährte der alte Zorn gegen ihn in ihr auf. Ja, es war alles erstorben zwischen ihnen und sollte todt bleiben. Einen Mann, der von ihrem Herzen weg so unvermittelt in die Arme einer andern eilte, konnte sie nur hassen.
Aber des Kindes hätte er gedenken sollen. Daß die kleine kranke Seele nach einem Zeichen von ihm schmachtete, das mußte er fühlen und wissen. Vielleicht hatte ein neues Liebesglück auch das Bild des einst geliebten Knaben in seinem Herzen ausgelöscht. Vielleicht hatte die Hoffnung auf eigene Kinder ihn das Kind seiner Wahl vergessen lassen.
Riesengroß flammte oft in Gerda der Wunsch auf, ihn nur noch einmal, einmal zu sehen, um ihm zu sagen – daß sie ihn hasse. Dann malte sie sich mit peinvoller Deutlichkeit alles aus, seine Gestalt, seine Stimme, sein Lächeln, sein blondes Haar. Und die Flamme des Hasses wandelte sich, ihr unbewußt, in die Gluth heißester Sehnsucht.
Sie fühlte es oft deutlich, daß er wiederkommen müsse, daß er wiederkommen werde. Das war ihr so gewiß wie die Wiederkehr der Jahreszeiten in der Natur. Aber wenn sie an dies Wiederkehren die Gedanken klammerte und wenn sie diese Gedanken ausspann und sich ein Weiterleben mit ihm dachte – dann schien es, als vergingen ihr die Sinne und als bäume sich ihr ganzes Wesen auf zu einer gewaltigen Abwehr. Und die Sehnsucht ward ihr neu zum Zorn.
Das Kind sprach nie von ihm. Aber Gerda sah, daß Sascha jeden Gegenstand, den Alfred einst in die Spielstube des Kindes getragen hatte, sorgsam bewahrte, und als der Knecht das Gärtchen zur Winterruhe bereitete, schickte Sascha das Stubenmädchen hinaus mit der Bitte, die kleine Hütte aus Tannenzweigen möge man stehen lassen. Sascha konnte sie von seiner Stube gerade sehen. Das Hüttchen hatte er mit dem Kinde gebaut, er den Tisch und die Bank darin mitgezimmert, er unter dem niedern Tannenreisergeflecht mit dem Knaben zusammen gekauert.
Oft, wenn das Kind auf Gerdas Schoß saß und mit seinen großen, unnatürlich glänzenden Augen in die Abenddämmerung hinaus starrte, waren sie beide ganz still. Jeder hörte den Herzschlag des andern im dumpfen, gleichmäßigen Takt gehen. Die Arme der Mutter umschlossen die Gestalt des Knaben fest. Ihr Athem bewegte leicht einige Härchen seines dunklen Gelocks. Die Schatten fielen herab und durch die Einsamkeit sang die Stimme des Windes, der durch den nahen Tannenwald sauste. Sterne blinkten auf, über die schwarzen Bergesfernen wandelte die Nacht.
In solchen Stunden dachten sie beide den einen Gedanken, den unauslöschlichen: an ihn!
Der Winter rückte vor. Das Gesichtchen des Knaben wurde kleiner, seine Augen immer wundervoller. Sein Gebahren ward träumerischer; kaum griff er noch mit seinen mageren Händchen nach dem Spielzeug. Seine Nächte wurden immer fieberhafter; Gerda saß oft stundenlang, hielt seine heißen Hände und sah stumm, mit brennenden, thränenlosen Augen auf ihn herab. Die Dienerschast beschwor die Herrin, sich zu schonen. Der Verwalter erlaubte sich die Bemerkung, daß das Athmen Tag und Nacht im selben Raum mit dem Kinde für die Gnädige nicht gut sein könne, auch ihre Wangen seien schon seltsam rosig und sie huste wie das Kind. Gerda bestritt es, denn sie wußte nicht, daß sie huste oder fiebere; sie hatte ihr Ich ganz vergessen.
Es war in der zweiten Hälfte des Dezembers, als es zu schneien begann. Aus leichtem grauen Gewölk, das eine Weile am blauen Himmel stand und dann langsam weiterzog, fiel feiner weißer Staub auf die Tannenbreiten und zu Thal niedergehenden Gelände. Ein frischer Wind fegte die Tannennadeln wieder frei, die Mittagssonne nahm den Schnee aus den Ackerfurchen und von den Wiesenabhängen hinweg. Dann, Tag um Tag, schob sich fester und undurchdringlicher ein Wolkenmeer ineinander, heftiges Flockengeriesel wechselte ab mit kaum sichtbar herabstäubenden Schneetheilchen. Am Himmel verschwammen die finsteren dunklen Linien, die letzten blauen Durchblicke verblaßten; ein gleichmäßiges, lichtloses, blendendes Hellgrau spannte sich über die Erde und in unveränderter Ausdauer Nacht und Tag wirbelte der fallende Schnee herab. Die Flocken fielen auf die sich zu Thal senkenden Matten und häuften auf sie hohe lockere, weiße Decken; die Flocken rieselten durch das Gewipfel der ragenden Tannenwälder, beschütteten das Gezweig und beschichteten den Waldgrund, daß er silbern emporstieg an den grauen Stämmen, langsam, langsam, aber unaufhaltsam. Zuletzt lagen die untern Zweige mit ihren Spitzen auf weißem Wall, und auf dem sich breitenden Geäst lasteten die Schneemassen schwer. Kein Windstoß schüttelte mehr die dunklen Wipfel und sie hüllten sich alle in Weiß.
Die blauen Höhen der Ferne waren weiß, die grünen Berge der Nähe weiß, weiß das Gelände und unter weißen Kappen versteckt die Dächer im Thal. Kaum daß noch die grauen Felsenschroffen der alten Schloßruine aus dem unendlichen, stummen, todten Weiß hervorsahen.
Zuweilen zog die eigene Schwere ein Häuflein vom biegsamen Tannengezweig hinab zum Fall, dann stäubte ein Geflock auf, ähnlich einem Rauchwölkchen, aber der immer gleichmäßig fortrieselnde Schnee deckte bald wieder den nackt gewordenen grünen Zweig.
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[473] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [474] Der Schrei der Lokomotive, der zuweilen aus dem Thale heraufscholl, und das Gekrächz vorüberfliegender Raben waren die einzigen Laute in der fürchterlich verschwiegenen und verschneiten Welt.
Wenn das bange Auge am Abend noch einen letzten Blick hinauswagte, sah es fallendes, sanftes, gleichmäßiges Schneegeriesel; wenn der geblendete Blick morgens über die weißen Lande und Höhenzüge zu schauen suchte, sah er fallendes, sanftes, gleichmäßiges Schneegeriesel. Und so schneite es Tag um Tag und begrub die deutschen Berge, Wälder und Ebenen unter ungeheuren Schneemassen. Es wurde Weihnacht und es schneite noch immer fort.
Aber die Todtenruhe des Schneefalls wurde nächtens zuweilen jäh durchtobt von wilden Stürmen.
In dem Hause am Walde hatte man sich gewehrt gegen den lautlosen Feind. Mit großen Mühen hatte man den Fahrweg zum Thal einigermaßen brauchbar erhalten, wenn auch des Verwalters Pferd anstatt des Wägelchens nun einen derben Holzschlitten zog. Und auf diesem Schlitten kam alles herauf, was Gerda für ihr Weihnachtsfest brauchte.
Ihr Knabe zeigte eine Art von ungeduldiger Vorfreude auf den heiligen Abend. Doch sagte er jeden Tag, daß er sich nichts wünsche, nur einen Tannenbaum, diesen aber sehr schön. Der Verwalter hatte eine schöne Fichte zu beschaffen gewußt, und seit mehreren Tagen schlich sich Gerda, sobald das Kind etwas zu schlummern schien, in das Glashaus, in dessen Mitte man die Fichte eingepflanzt hatte, als wüchse sie da natürlich heraus.
Sie hing den herrlichen Baum voll mit all den Dingen, die ein Kinderauge blenden und ein Kinderherz entzücken. Was eine reiche Phantasie nur ersinnen konnte an stimmungsvollem Schmuck, hatte Gerda erhandeln lassen. Die grünen Zweige flimmerten von Silberfäden, Krystallzapfen, Goldsternchen. Die bunten Wachslichtchen waren nicht zu zählen und auf der Spitze des Baumes schwebte ein Engel mit schimmernden Flügeln, die Hände segnend ausgebreitet.
In der Glashalle standen rings an den Wänden Palmen, Lorbeern und Coniferen in großen Kübeln. Den Boden in der Mitte deckten dicke Matten und Teppiche. Eine künstlich verdeckte Heizung ließ eine behagliche Wärme nie unter den Grad sinken, den der Arzt als für Sascha nothwendig bezeichnet hatte. Für das Kind war dieser Raum in weniger als sechs Wochen hergestellt worden. Aber der arme Kleine hatte kaum die Lust gezeigt, darin zu spielen.
Für den Weihnachtsabend ließ Gerda bequeme Stühle, eine Chaiselongue und dergleichen hereintragen, damit der Knabe seinen Tannenbaum sehen und dabei still liegen konnte. Denn seit einigen Tagen zeigte er sich zu matt, um sich noch auf den Füßen zu halten.
Gerdas Angesicht war bleich und die eherne Schrift unaussprechlicher Leiden hatte scharfe Züge hineingeschrieben. Kein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers ihr fertiges Werk besah. Keine frohe Hast war in ihren Bewegungen, die nur eine letzte Willensenergie der Todmüdigkeit abzuringen schien. Nicht wie eine glückliche Mutter schmückte sie den Christbaum für ein jubelndes Kind. Diese Lichter sollten einen letzten Glanz auf den Weg zum Grab werfen, den ihr Kind, ihr einziges Kind ging.
O, könnte sie mitgehen! Die Welt mit ihren Freuden und Leiden war ihr versunken. Die Grabesstille der verschneiten Natur hatte auch Stille in ihr Herz gebracht. Sich hinlegen, nie mehr aufwachen und so sanft, sanft, immerzu den sachten Schnee auf sich herabrieseln lassen!
Die Kerze in ihrer Hand zitterte. Sie hätte sich da hinwerfen mögen auf den Boden und weinen – weinen. Aber in dem Zimmer, von welchem aus man in das Glashaus gelangte, war das Kind. Sascha hätte es hören können, wenn nur ein schluchzender Laut über ihre Lippen gekommen wäre.
Und die Riesenkraft der Mutterliebe besiegte zum unzähligsten Male den Jammer in der Brust der unglücklichen Frau, der endlich, endlich einmal laut aufzuschreien lechzte.
Sie zwang ihre Hand zum Gehorchen und ihren Blick, klar zu bleiben. Sie ging hin und wieder, ordnete die Geschenke für die Dienstboten und zündete alle Lichter an.
Die Glaswände warfen die Bilder der vielen kleinen Strahlenherde kalt blinkend zurück. Weiß schimmerte von draußen der Schneewall, der das Haus umlagerte, weiß grüßte vom durchsichtigen Dach die Decke herab, die draußen der Schnee auf die Glasplatten gehäuft hatte.
Trotz der Wärme, die hier drinnen herrschte, überlief es Gerda frostig.
Sie hielt noch einmal Umschau. Alles war fertig. Wie seltsam – eine Weihnacht für ein Kind ohne Geschenke! Sie wußte ja, ihr Knabe hatte mehr an schönen Sachen, als die wechselndsten Neigungen eines Kindes nur begehren konnten, und verlangte fast nie mehr nach Spielzeug oder nach Büchern. Aber wenn er doch einen, einen Wunsch gehabt hätte – selbst den thörichtsten, Gerda würde ihn mit Wonne erfüllt haben. Und doch, so ohne Wünsche, so voll heimlicher Vorfreude?
Welcher Einbildung, oder welcher Ahnung diese Vorfreude gelten könnte, wagte Gerda kaum auszudenken. Ihre Kniee versagten ihr den Dienst, wenn sie an die Enttäuschung dachte, die dieser Vorfreude folgen mußte.
Warum mußte?! Wenn seine Liebe den Knaben prophetisch gemacht hätte! – so an den Grenzen des Grabes wird die Seele hellseherisch. Wenn das wahr würde, was Sascha zu erwarten schien! Wenn er käme, endlich, endlich zurückkäme zu den beiden, die ohne ihn vergingen!
Gerda fühlte einen Schwindel. Aber jäh stockte ihr rasender Pulsschlag. Sein Weib fiel ihr ein. Zur Weihnacht bleibt man bei seiner Familie.
Armes Kind!
Gottfried Keller.
Einem schweizer Dichter, der am Ufer des von Klopstock gefeierten Züricher Sees, mit wenigen Unterbrechungen sein Leben zugebracht hat und dort noch jetzt im höheren Alter lebt, wendet an seinem siebzigsten Geburtstage sich die Theilnahme des deutschen Volkes zu; denn seine eigenartige Begabung und seines Wesens kernhafte Tüchtigkeit sind stets hochgeschätzt worden von allen Kundigen. Namhafte Kritiker haben der Ergründung seiner Eigenart und der Würdigung seiner Vorzüge größere Schriften gewidmet, und ein Litterarhistoriker wie Adolf Stern nennt ihn den innerlich reichsten, unmittelbarsten und gestaltungskräftigsten Dichter der Gegenwart. Das Leben Gottfried Kellers ist der beste Kommentar zu seinen Dichtungen. In kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren, hat er keine regelmäßige gelehrte Vorbildung genossen, sondern als Kunstschüler eine Epoche von Sturm und Drang und unsicherem Umhertasten durchgemacht, bis er später durch jahrelange Universitätsstudien Versäumtes nachzuholen und sich eine vielseitige Bildung zu erwerben suchte. Er war am 19. Juli 1819 in einem Dorfe in der Nähe von Zürich geboren, wo sein Vater als schlichter und nicht sehr vermögender Drechslermeister lebte. Dieser starb früh und nun sorgte die Mutter für die Erziehung des Knaben. Er widmete sich der Landschaftsmalerei, ging 1840 nach München, kehrte aber 1842 wieder in seine Heimath zurück, da er in jener Kunststadt nichts Rechtes vor sich brachte. Auf dem Gebiete der Poesie fühlte er sich infolge seiner mangelhaften Vorbildung unsicher, und doch trieb es ihn jetzt an, sich gerade auf diesem Gebiete Lorbeeren zu erwerben. So besuchte er 1848 die Universität zu Heidelberg und begab sich 1850 nach Berlin, wo er bis 1855 blieb. Von da ab schlug er wieder in Zürich seinen Wohnsitz auf und beschäftigte sich bis 1861 mit litterarischen Arbeiten; dann nahm er eine Stellung an als Staatsschreiber und wurde Mitglied des Großen Rathes, ein angesehenes Amt, in welchem er bis zum Jahre 1876 verharrte.
Die erste Veröffentlichung Kellers war eine Sammlung von „Gedichten“, die im Jahre 1846 herauskam; eine zweite folgte 1851; viel später erschienen die „Gesammelten Gedichte“ (1883). Die Lyrik Kellers gehört also ganz seiner jugendlichen Epoche an; denn in der letzten Sammlung sind nur ein im Heinisirenden Stil gehaltenes, an den „Romanzero“ und „Atta Troll“ erinnerndes phantastisch-satirisches Gedicht und einige Gelegenheitsgedichte hinzugefügt worden. An Heine erinnert Gottfried Keller sonst durchaus nicht in seinen Liedern, ebenso wenig an Geibel; er hat weder den einschneidenden Hohn des ersteren, womit dieser selbst seine dichterischen Blüthen zerpflückt, noch den weichen Hauch eines zartinnigen Gefühls, mit welchem der letztere seine Liederblüthen aufblättert; auch nur selten erinnern Klänge mit begeistertem Aufschwung an Herwegh und die politische Lyrik. Freilich hat Keller in der Regel auch nicht den melodischen, sich dem Ohr einprägenden Fluß und Guß dieser Poeten; seine Dichtweise hat etwas Schwerflüssiges, aber Gedankentiefes und ist von einer eigenartigen markigen Bildlichkeit. Der Natur und auch dem Alltagsleben lauscht er die geheimsten Züge ab und beseelt sie mit dichterischem Pulsschlag. Das Naturbild wird zum Seelengemälde durch das, was der Dichter in dasselbe hineinschaut und hineinfühlt, und umgekehrt das Seelengemälde zum Naturbild durch die Wahrheit der aus dem vollen Leben geschöpften Züge.
[475] Welche prächtigen Naturschilderungen in den Stimmungsbildern aus den Jahres- und Tageszeiten! Welch herrliche Farbengebung und kühne Anschauung!
An dem Faden der stimmungsvollen Landschaftsmalerei reihen sich einige der schmucksten dichterischen Perlen auf, wie „Erster Schnee“, „Abendregen“, „Wetternacht“, ein Gedicht, das sich oft zu hymnenartigem Schwung erhebt; das Auge des Landschafters ist in diesen Gedichten nicht zu verkennen, ebenso wenig in andern das Auge des Genremalers, mag uns ein Gemsjäger, ein Taugenichts, ein alter Bettler oder ein Schöngeist vorgeführt werden. Eine Reihe von Genrebildern enthält die „Feueridylle“, eine der besten Dichtungen Kellers, in welcher seine markige Pinselführung am meisten hervortritt. Es wird darin der Brand eines Bauernhauses geschildert: das Bild des habsüchtigen, reichen Bauersmannes, der nicht genug für sich zusammenraffen kann, zeichnet sich dabei in einer Menge einzelner Züge wie ein Vexirbild in den herunterbrennenden Wänden ab. Das Kruzifix, das ein bilderstürmender Ahn geraubt; die von einem Jüngling gerettete Bibel, während der Bauer lieber gewünscht hätte, sein Hauptbuch mit allen darin eingezeichneten Schuldnern gerettet zu sehen; der alte dürre Todtenkranz, der aus den Flammen geflüchtet wird: das sind solche in die Augen fallende Requisiten der sich vor uns entrollenden flammenhellen Schaubühne.
Eine andere Reihe von Gedichten schildert uns die Empfindungen eines lebendig Begrabenen; es ist darin viel Grauenhaftes, unheimlich Anschauliches, ein dumpfes Brüten der Gedanken, deren Gespinnste wie zerreißliche Grabesschleier aus der Tiefe emporflattern, zerreißlich auch allerdings für die kritische Erwägung, daß in solcher Lage kein Mensch Muße haben wird, so ruhig in der „Gedankenfabrik“ zu arbeiten.
Gottfried Keller ist ein echter schweizer Poet; nicht nur beweisen das zahlreiche Gedichte, besonders die „Ode ans Vaterland“:
„O mein Heimathland! O mein Vaterland!
Wie so innig, feurig lieb’ ich dich!“
und zahlreiche Lieder bei Sänger- und Kriegerfesten; das beweist nicht nur das landschaftliche Kolorit seiner Gedichte, in denen die Schweiz mit ihren hohen Alpen und blauen Seen immer den Hintergrund, oft den Mittelpunkt bildet; das beweist vor allem die Physiognomie dieser Gedichte selbst, die mit ihrer oft grandiosen Schlichtheit an die Alpennatur erinnern.
Einige Jahre nach der zweiten Sammlung der „Gedichte“ erschien Gottfried Kellers großes Hauptwerk: „Der grüne Heinrich“ (4 Bde., 1854–1855; zweite Bearbeitung 1879–1880), das einiges Aufsehen erregte und mit dem sich die hervorragende Kritik damals eingehend beschäftigte, das aber das größere Publikum nicht in gleichem Maße anzog. Es ist ein Künstlerroman, der im Inhalt etwas an die Romane der romantischen Schule und den „Wilhelm Meister“, in der Darstellungsweise, den breiten Einschiebungen und Einschachtelungen, den oft selbstgenügsamen reichen Naturschilderungen, der Vorliebe für Ausmalung der Kindheit und Jugendjahre an Jean Paul erinnert.
Der „grüne Heinrich“ ist ein Künstler, der es in seiner Laufbahn zu nichts bringt; was ihn fördern sollte, erweist sich vielfach als hemmend für ihn, und es liegt in seinem träumerischen Naturell eine Schranke für eine tüchtig zugreifende Thätigkeit. Desto reicher ist seine Gemüthswelt, und Keller leuchtet in alle ihre Tiefen hinein; da zeigt sich oft ein Farbenspiel von wunderbarem Glanze und großer Mannigfaltigkeit. Die Handlung des Romans selbst ist dürftig und bei einer kurzen Erzählung derselben würde man es unbegreiflich finden, wie der Dichter damit vier Bände füllen konnte. Ungefähr die Hälfte nehmen die eigenen Aufzeichnungen des „grünen Heinrich“ über seine Kindheit und Jugend ein; hier finden wir viel Frisches, jedenfalls Selbsterlebtes; doch wie wenigen ist solche Rückschau in die Geheimnisse der Kinderseele gegönnt! Das Bild des Vaters, vor allem das der Mutter, eine tüchtige poesievolle Zeichnung, tritt lebendig vor uns hin, ebenso die Gespielen und das ganze Treiben der Kinderwelt. In vorgerückteren Jahren berührt die Liebe in Doppelgestalt das Herz des jungen Helden: die zarte Anna, welche die sanftesten Accorde seines Seelenlebens anschlägt, die üppige Judith, welche ihn mit sinnlichem Zauber berauscht, sind in anmuthenden Kontrast gestellt. Schweizer Volkssitten, besonders die Tellaufführung durch das Volk selbst und mit dem Hintergrunde der freien schweizer Natur heben das Genrebild zu nationaler Bedeutung. Ein unausgegohrener Charakter, eine verfehlte Existenz, ein früher Tod aus innerstem Herzeleid – um diesen gleichsam „immergrünen Heinrich“ interessant zu machen, bedurfte es einer genialen Darstellungskraft.
An künstlerischem Maß, an knapper gedrungener Form sind dem großen Roman Gottfried Kellers weit überlegen seine Erzählungen: „Die Leute von Seldwyla“ später (1856, später 4 Bde. 1874), jedenfalls das Vollendetste, was seine Muse geschaffen hat. Paul Heyse spricht von den „unsterblichen Seldwylern“ und nennt Keller den Shakespeare der Novelle. Vielleicht mag zu diesem Lobe die Perle der Sammlung, die Erzählung „Romeo und Julie auf dem Dorfe“, Anlaß gegeben haben, die Geschichte einer innigen Liebe zwischen den Kindern zweier Bauern, die von erbitterter Feindschaft beseelt und dadurch zuletzt verkommen und zu Grunde gegangen sind. Der letzte Festtag dieser Liebe mit seinem wehmüthigen Glücksschimmer und der Tod der Liebenden, die sich von dem losgeankerten Heuschiff in die Fluthen stürzen, ist mit einem wahrhaft magischen Farbenzauber geschildert. Vergleicht man damit die etwas derb zugreifenden Dorfgeschichten eines Jeremias Gotthelf, so lernt man erst recht die dichterische Weihe des größern schweizer Poeten schätzen. Im übrigen werden uns von den lustigen Leuten von Seldwyla mancherlei anziehende und ergötzliche Exemplare vorgeführt. Zu der vermehrten Sammlung der letzten Auflage verdient am meisten die Novelle „Dietegen“ hervorgehoben zu werden, in welcher die tragischen Schlagschatten am tiefsten und schwersten fallen, lieblich Inniges und grauenhaft Schreckliches miteinander wechselt.
Wenn auch in den „Züricher Novellen“ (2 Bde. 1878) die Darstellungsweise Kellers nicht die gleiche helle, bezaubernde Farbe erreicht wie in den „Leuten von Seldwyla“, wenn das Alltägliche bisweilen auch in trockenerem Ton geschildert ist, so sind doch auch hier die Vorzüge seines markigen Talentes unverkennbar. Diese Novellen wurzeln im Boden der Stadt Zürich und haben zum Theil einen historischen Hintergrund wie die des schweizer Dichters K. F. Meyer. Ein eigenartiges Charaktergemälde ist die neueste Erzählung Kellers „Martin Salander“ (1886). Man hat derselben ihre Alltäglichkeit und überwiegende Spießbürgerlichkeit vorgeworfen. Freilich fehlt dem Hauptcharakter und den Kaufmannskreisen, in denen sich die Handlung bewegt, aller romantische Reiz, doch groß ist in dem Werke die Kunst der Gestaltung, der Beleuchtung, der feinen Detailmalerei und der stimmungsvollen Wirkung durch einfache Mittel. Noch erwähnen wir den Novellenkranz „Das Sinngedicht“ (1882), der viel Originelles und Tiefsinniges enthält, und die „Sieben Legenden“ eine Uebertragung kirchlicher Ueberlieferungen ins Weltliche, nur selten mit leichter spöttischer Beimischung, meistens ohne Gefährdung ihres echt menschlichen Kerns.
Von den Dichtern der deutschen Schweiz ist der mannhafte, tiefempfindende, eigenartige Gottfried Keller derjenige, der vor allen berufen ist, auf unserem modernen Parnaß an der Seite der Begabtesten zu sitzen; darum Ehre dem wackeren Dichter an seinem Gedenktage!
Die Wacht an der See im Frühling 1889.
(Schluß.)
Zwei Jahre zurück! Zwischen den Korallenriffen der Solomonsinseln oder vor den Admiralitätsinseln auf der australischen
Station fährt vorsichtig ein schlankes Schiff; die deutsche Kriegsflagge weht von der Gaffel und hebt sich licht ab von dem Dunkelgrün der Strandwaldungen, aus denen schwerer Duft mit der
linden Brise herüberweht; dort an Land steigt Rauch auf aus dem Dorf unter den Palmen und Mangobäumen mit seinen palmblattgedeckten Hütten; im Gebüsch verborgen lauern ängstlich dunkle Gestalten. Auf dem Kreuzer – es mag hier der „Adler“ sein oder dort der „Eber“ – steigt plötzlich eine weiße Rauchwolke auf; nun ein dumpfer Knall, ein heulendes Zischen – die Granate schlägt ein zwischen den Hütten – ein Krachen und Feuersprühen aus weißem Pulverdampf – und wieder und immer wieder; im Wald ist’s wie ausgestorben; das Dorf geht in Flammen auf: das Todtenmal für einen weißen Mann, den die dunkelbraunen Gesellen erschlagen und dessen Gut sie geraubt haben. Hinter dem Heck des Kreuzers hervor schießen vor behendem, gleichmäßigem Ruderschlag die Boote mit der Landungskompagnie, im Bug der Barkasse das blinkende Landungsgeschütz: Deutschland schützt – oder rächt das Blut seiner Söhne; und die scheue Kunde davon
fliegt von Insel zu Insel. – Dann kam Befehl für beide Schiffe nach den Samoainseln. Sie wußten nicht, daß der Palmenstrand von Upolu ihnen ein Kirchhof werden sollte. – Sie lagen da im Hafen von Apia. Da kam die „Olga“ noch dazu: das war das vierte Geschwader, den Deutschen dort zu Schirm und Wehr zugesandt. Die Leute von dem Geschwader fochten den Heldenkampf von Veilele – eine Handvoll gegen ein Heer, aber alles Männer; dreimal mit der blanken Waffe: „Marsch, marsch, hurrah!“ sich stürmend Luft schaffend und den Weg bahnend – – und viel deutsches Blut floß unter dem lichtgrünen Schirmdach der Pisangs und tropfte durchs dichtverschlungene Gebüsch zur Erde; und unter den Palmen am Strande der See ruhen die todten Seeleute im langen Schlaf. – –
Und dann kam der furchtbare 16. März 1889 mit seinem Orkangebrüll; und den „Eber“ hob eine Riesensee und schmetterte das ungeheure Gewicht auf das Riff; ein kurzes Schwanken – und das todwunde zerbrochene Schiff rollt mit allen, die darin leben, zurück in die rasende, tiefe See. – Und bald liegt auch der „Adler“ flügellahm und sterbend auf dem Korallenfels; der Todten und des Leids genug an einem Tage für Deutschland! –
[476]Die „Olga“ strandete in Sand und Schlamm, ward wieder abgebracht und konnte über See fahren, aber „Adler“ und „Eber“ fliegen nicht mehr über die See und kämpfen nicht mehr auf blauem Wasser. Doch den Todten hat ihr Kaiser die Leichenrede gehalten. „Nicht ertrunken sind unsere Kameraden in Samoa, sondern gefallen, ihre Pflicht bis zum letzten Augenblick erfüllend!“ Als Ersatz für die „Olga“ ist im April die Kreuzerkorvette „Alexandrine“ nach Samoa hinausgegangen, und vorher noch, gleich nach Eintreffen der Unglücksnachricht, war die „Sophie“ vom Sansibar-Geschwader abgesondert und nach dem so plötzlich schutzlos gewordenen Inselreich abgesandt worden. – Der Wechsel kommt schnell im Leben des Seemanns!
Auf der ostasiatischen Station mag der „Sperber“ im Hafen von Yokohama zu Anker gehen im Herbst, umringt von japanischen Zampans, und der „Iltis“ liegt wohl im Winter in Tientsin eisumklammert am Bollwerk.
Die weiße „Hyäne“ liegt in der Ruhe des Sonntagnachmittags still da in der Mündung des Kamerunflusses; kein Hauch kühlt die Hitze des Nachmittags und rührt die Wipfel der Kokospalmen; sie hat das Sonnensegel ausgeholt, und in seinem Schatten liegen die Schläfer an Deck, weiß vom Fuß bis zum Kopf, bis die Stunde des Urlaubs da ist; vier helle Schläge der Glocke – und es kommt Leben ins Schiff; – der Kutter setzt ab – aber nach sechs Uhr darf niemand an Land sein; nach Sonnenuntergang geht dort das Fieber um. – Nicht ganz so warm wird’s den Leuten sein auf dem „Greif“, dem schnellen, neuen Schiff, das zum Schutz unserer Hochseefischer in der Nordsee kreuzt und den englischen Fischern auf die Finger sehen soll: „Hübsch artig – und nicht zu dicht ’ran!“
Es ist eine kleine Welt für sich, solch ein reisiges Schiff, ob groß oder klein; und wenn’s – wovor Gott es behüten wolle! – an fremder, unwirthlicher Küste stranden sollte, aber alle Leute und alles Material retten könnte, dann dürfte es wohl möglich sein, aus dem Vorhandenen eine kleine Kulturheimath zu bauen und auszustatten. Aber keine Welt wär’s, auf der der alte, unerfüllbare Traum in Erfüllung ginge von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. So verschiedenartige und so eng an einander gedrängte Elemente zusammen zu halten, bedarf es eiserner Zucht und streng hochgehaltener Rangunterschiede.
Achtern in seiner Kajüte wohnt, über dem Ganzen gleichsam schwebend, nur im Nothfall selbst eingreifend, als das Geschick und die Vorsehung des Schiffs, als der alles Vermögende, alle Gewalt in seiner Hand Zusammenfassende, niemand an Bord Verantwortliche –: der Kommandant. Sein Organ, ihm verantwortlich für den ganzen Zustand und die Einrichtung des Schiffes, für die Ausbildung der Mannschaft, für die Ausführung jedes gegebenen Befehls, ist der Erste Offizier, der bei: „Alle Mann!“ selbst kommandirt, dessen Stellung vergleichbar ist mit der des vielgeplagten Kompagniechefs in der Landarmee, nur daß sie auf größeren Schiffen unendlich viel verantwortlicher, mühsamer und rastloser ist.
Für die nautische Führung des Schiffes ist der Navigationsoffizier bestellt, der die Länge und Breite berechnet und dem Kommandanten das tägliche „Besteck“ überreicht. Sein Gebiet sind die Seekarten, seine Furcht die Korallenriffe und Sandbänke, die Abtrift durch Sturm und Strömung; rennt das Schiff auf in einer schwierigen Flußmündung, setzt es sich auf den Fels bei der Hafeneinfahrt: ihn trifft die ganze Wucht der Verantwortlichkeit.
Der Batterieoffizier hat die Wehrhaftigkeit des Schiffes in seiner Hand. Er exerziert die Mannschaft am Geschütz; er läßt den Salut feuern im fremden Hafen, wenn am Großmast die Flagge des Landes aufgeht, an dessen Küste das Schiff ankert; und auf sein Kommando zischen heulend die Hartgußgranaten gegen den Panzer des Feindes, bis das gellende Hornsignal etwa schmettert: „Batterie halt; klar zum Entern!“ – oder: „Entern abschlagen!“
Der wachhabende Offizier – vom Unterlieutenant bis zum Kapitänlieutenant (Hauptmann) hinauf, je nach der Größe und Bedeutung des Schiffes – ist, so lange er im Dienst ist, verantwortlich für die Sicherheit des Schiffes. Es ist ein hartes Werk, je vier Stunden lang ohne Ablösung auf der Kommandobrücke auf und ab zu gehen, ohne Unterlaß in gespanntester Aufmerksamkeit mit dem Blick die Segel und die ganze Takelage, die Leute an Deck, die See draußen und den Himmel droben zu umspannen; alles zu bemerken, nichts, auch das Kleinste nicht außer Acht zu lassen, sofort, wo’s noth thut, mit dem richtigen Befehl einzugreifen; zumal bei stürmender See und in rabenfinsterer Nacht, wenn die vom Blick in die Dunkelheit schmerzenden Augen vom Regen geblendet sind, oder im Nebel, der wie ein Leichentuch überall herniederhängt; oder wenn der Schneesturm über den Atlantik herfaucht, den Heimkehrenden entgegen. Von Mitternacht bis vier Uhr morgens, das ist die böse „Hundewache“, auf der wohl mancher in strahlender Schöne die Sonne hat aus dem Meer tauchen sehen, aber auch mancher in Sehnsucht des Friedens der Heimath gedacht hat.
Diesen Offizieren allen stehen Hilfskräfte zur Seite, jüngere Offiziere, Deckoffiziere und Unteroffiziere. Die Deckoffiziere haben etwa die Stellung wie die Feldwebellieutenants in der Armee; die Obermaate – Obersteuermannsmaat für die Navigation, Oberfeuerwerksmaat für die Artillerie etc. – entsprechen den Sergeanten, die Maate den Unteroffizieren. Bei der Mannschaft ist der Obermatrose dem Gefreiten des Landheeres gleich, erkennbar an dem
[477] gelben Winkel am linken Arm; und dann kommt die große Masse der gewöhnlichen Matrosen, Heizer und Handwerker. Die beiden letzteren Klassen zählen zur Werftdivision, die sich von der Matrosendivision durch weiße Knöpfe und ebensolche Tressen an der Jacke unterscheidet sowie durch silbernen Namen am Mützenband, während letztere alles in gelbem Metall und in Gold trägt.
Die Größe der Mannschaftszahl ist auf den einzelnen Schiffen selbstredend außerordentlich verschieden. So hat der „König Wilhelm“ eine Besatzung von 759 Mann, die Ausfallkorvetten der „Sachsen“-klasse zählen 354, die Panzerkanonenboote wie „Brummer“, „Hummel“ u. s. w. 76, die Kreuzerfregatten bis zu 432, die Kreuzerkorvetten etwa 260, die Kreuzer (früher Kanonenboote 1. Klasse) bis 127, die Kanonenboote – die man sich nicht zu klein vorstellen darf, sondern die ausnahmslos alle dreimastig und ganz stattliche Schiffe sind – bis zu 87 Mann Besatzung. Die ganze Flotte auf Kriegsfuß erfordert 16000 Mann.
Den Kern der Marine bilden die eigentlichen Schlachtschiffe, die nur dazu da sind, um an der Küste zur Abwehr oder auf hoher See im Angriff dem Feind die Stirn zu bieten und ihn fern zu halten. Diese Schlachtschiffflotte setzt sich zusammen aus den großen und kleinen Panzerschiffen, an deren Spitze die mächtige, schon erwähnte Panzerfregatte „König Wilhelm“ steht mit einer Wasserverdrängung (gleich ihrem Eigengewicht) von 9757 Tonnen, einer Länge von 108 Metern, einer Breite von 18 Metern und einem Tiefgang von 8 Metern, einer Maschine, die mit der Macht von 8000 Pferdekräften arbeitet; mit einem Stahlpanzer von 30 Centimetern und einer gewaltigen Bewaffnung von 18 Stück 26-Centimeterkanonen (d. h. Kanonen, welche Granaten von 26 Centimetern Durchmesser schießen), 5 Stück 21-Centimeter- und 6 Stück 15-Centimetergeschützen, ohne die Revolver- und Landungsgeschütze. Der „König Wilhelm“ steht im ganzen mit 15 Millionen Mark zu Buch. An ihn reihen sich als Breitseitschiffe „Kronprinz“ und „Friedrich Karl“, als Thurmschiffe „Friedrich der Große“ und „Preußen“, als Kasemattschiffe „Kaiser“ und „Deutschland“. „Friedrich Karl“ hat von diesen allen den schwächsten Panzer, und die „Hansa“ ist, weil ihre Panzerhaut zu dünn war, im vergangenen Jahr von den Listen gestrichen und zum Kasernenschiff der Torpedodivision eingerichtet worden. So vergeht der Glanz der Welt! – Einst, wenn diese Riesen alle einherkamen, in Segel gehüllt vom Topp bis zu den Backspieren, war’s ein stolzer Anblick; jetzt tragen sie nur noch Pfahlmasten und fahren allein unter Dampf; für das Gefecht sind Segel heutzutage nur noch ein lästiges Hinderniß.
Wenig im Aeußern einem „Schiff“ ähnlich, aber an Brauchbarkeit im Kampf den genannten mindestens ebenbürtig sind die Ausfallkorvetten von der „Sachsen“-klasse, die 41 Centimeter stark schwergepanzerten und schwerbewaffneten, leichtbeweglichen, mit geringem Tiefgang von nur 6 Metern gebauten, im Scherz wohl sogenannten „aufgetakelten Bügeleisen“: „Baden“, „Bayern“, „Sachsen“, „Württemberg“, denen die „Oldenburg“ sich anschließt. Ein einziger Signalmast ragt aus den niedrigen, schornsteinreichen Ungethümen auf, in zwei Drittel seiner Höhe einen „Mastkorb“ tragend, auf dem Revolverkanonen aufgestellt sind. Zwei derartige Masten tragen, statt aller Takelage, auch die „geschützten“ Kreuzerkorvetten der neusten Ordnung: „Irene“ und „Prinzeß Wilhelm“. Die Ausfallkorvetten sind es vor andern, denen im Ernstfall der Schutz der Küsten, die Verhinderung einer Blockade oder einer Landung des Feindes anvertraut werden wird. Daneben aber fällt diese Aufgabe den 13 Panzerkanonenbooten zu, die in der Form den Ausfallkorvetten fast gleich, nur kleiner sind und nur 3 Meter Tiefgang besitzen. Diese vermögen sich vor einem übermächtigen Feind bis aufs Watt oder in die Flußmündungen zurückzuziehen, während ihr einziges 30-Centimetergeschütz – das schwerste Kaliber, welches die Marine kennt – dem Gegner noch Schuß auf Schuß auf den Panzer sendet. Sie selbst tragen einen Panzer von 20 Centimetern Stärke und sind um ihrer Kleinheit willen ein sehr schwer zu treffendes Ziel. Im unvermeidlichen Nahkampf können sie sich des Gegners bei gutem Glück immer noch durch „Rammen“ entledigen, durch einen machtvollen Stoß mit dem Sporn vorn am Bug unter Wasser, der furchtbaren Waffe, mit welcher alle Panzerfahrzeuge ausgerüstet sind und mit welcher der „König Wilhelm“ dem gepanzerten „Großen Kurfürsten“ die Todeswunde beibrachte. Im ganzen zählen wir [478] 26 gepanzerte Schiffe, von denen das älteste, der „Arminius“, allerdings nur noch als Eisbrecher Dienst thut.
Aber diese Rüstung wurde dem mächtig erstarkenden Reich zu eng. In der Marinedenkschrift, welche zur Etatsberathung 1889/90 dem Reichstag vorgelegt wurde, heißt es zum Schluß:
„Um der deutschen Marine denjenigen Platz unter den Seemächten zu geben, welcher den politischen, militärischen und überseeischen Interessen des Deutschen Reiches entspricht, und um ein Bündniß mit Deutschland auch in maritimer Beziehung zu einem erwünschten und gesuchten zu machen, erscheinen folgende Neubauten unabweisbar:
4 Panzerschiffe neuester Bauart, jedes zu 9 300 000 Mark, ohne Artillerie- und Torpedobewaffnung,
9 Panzerfahrzeuge für die Küstenvertheidigung, jedes zu 3 500 000 Mark,
7 Kreuzerkorvetten oder ‚geschützte Kreuzer‘, jede zu 5 500 000 Mark,
4 ungeschützte Kreuzer, jeder zu 1 600 000 Mark,
2 Avisos (für den Nachrichtendienst), jeder zu 1 000 000 Mark,
2 Torpedodivisionsboote, jedes zu 600 000 Mark. – Zusammen 116 800 000 Mark.
Diese Bauten wären zu vollenden je nach ihrer Dringlichkeit, so daß in den Staatshaushalt für 1894/95 die letzten 4 700 000 Mark einzustellen wären.“ – Und so ward es vom Reichstag beschlossen. Deutschland geht vorwärts und der Kaiser sorgt für seine heißgeliebte Marine. Ehe das Jahrhundert zur Rüste geht, sind der Nordostseekanal und dieser mächtige Zuwachs unserer Marine vollendet und ausgebaut!
Es war ein schöner, stolzer Anblick, als im vorigen Jahre vor der Kaiserjacht „Hohenzollern“ am 14. Juli das ganze Manövergeschwader in Kiellinie vorüberzog, vor dem kaiserlichen Herrn die Flaggen senkend; einzigartig war es, als dann die „Hohenzollern“ sich in Bewegung setzte, um die Führung zu übernehmen, und plötzlich gleich schwarzen, sprühenden Walfischen in schnaubender Fahrt von fünf deutschen Meilen in der Stunde die Torpedoboote beider Divisionen hervorschossen, auf das Schiff zu, das den Kaiser und sein Glück trug, ihm das Geleit gebend bis dort, wo der Leuchtthurm ragt, dann in fliegender Fahrt mit prächtigem Manöver einschwenkend und die „Hohenzollern“ umfassend. – Das alles ist auf deutschen Werften gebaut! Und zu uns kommen jetzt die Fremden und bestellen bei uns! Darauf dürfen wir schon ein wenig stolz sein!
Der Torpedo – er trägt seinen Namen von dem elektrische Schläge austheilenden Zitteraal, lateinisch torpedo genannt – ist die empfindlichste, feinste und verderblichste Waffe der Neuzeit. Da liegt ein Schiff zu Anker bei Nacht oder wendet im Pulverdampf des Gefechts; eine auserlesene Bemannung an Bord, lauter „gepanzerte Herzen“, jeder bereit, zehn Tode für sein Vaterland zu sterben: da schleicht sich’s heran, zu zweien und zweien, schwarz wie der Tod und die Nacht, kaum aus dem Wasser ragend, behende und schlank, ohne Licht zu zeigen in schauriger, eiliger Fahrt; nun sind sie nahe genug – von 400 Metern an kann mit einiger Sicherheit geschossen werden, je näher, desto sicherer; der Schuß ist abgegeben, lautlos gleitet der Torpedo in die See – schnell wenden die Boote und tauchen zurück in Nacht, aber unter dem Wasser eilt das Verderben dahin, die lange, sich selbst steuernde Bronzecigarre von 31/2 Metern Länge – nun stößt der mit Sprengstoff, nasser Schießbaumwolle, geladene Kopf unter der Wasserlinie gegen den Panzer des Feindes – eine Wassergarbe steigt auf – und tödlich getroffen neigt sich das stolzeste Schiff zur Seite. Durch das gesprengte Loch strömen gurgelnd die Wasser ein – was helfen dir nun deine gepanzerten Herzen?
Auf Schutzvorrichtungen gegen die Torpedos, z. B. eiserne Netze, hat man wohl auch Bedacht genommen, aber das alles gehört wie vieles andere ins Gebiet der Theorie, welche erst der nächste Seekrieg durch die Praxis bestätigen, ändern oder umstoßen kann. Deutschland besitzt zur Zeit über 70 solcher Torpedoboote, die etwa 70 Fuß lang und ganz aus Eisen gebaut sind.
Eine andere Art der Sprengwaffen sind die Seeminen, große, etwa birnenförmige eiserne Behälter, die in das Fahrwasser gelegt werden, um das dagegen rennende Schiff zu zerstören. Sie werden gleichwie die Küstenbefestigungen, Forts und Panzerthürme mit ihren schweren Riesengeschützen zum Schutz der Hafeneinfahrten und Flußmündungen von der Matrosenartillerie bedient. – Als Vertheidigungstruppe für diese Befestigungen und als Landungstruppe dienen die beiden Seebataillone, von denen das eine in Kiel, das andere in Wilhelmshaven liegt.
So wird mit Fleiß im Frieden der Krieg geübt. Wenn er einmal kommt und wir uns unserer Haut wehren müssen, wird in ihm viel gelernt werden; aber er wird auch viel edles Blut kosten. Doch fließt es nicht umsonst, wie auch all die unendliche, peinliche, gewissenhafte Treue und Arbeit nicht umsonst gewesen ist, mit der die deutsche Marine vor allen andern an ihrer Aufgabe bis zur Stunde gearbeitet hat: rastlos, rücksichtslos, unermüdlich, ohne einen Gedanken der Arbeitenden draußen und daheim an ihre eigene Bequemlichkeit. Alle Gedanken gehen auf in dem einen: „Dienst!“ Und ob’s süß oder sauer fällt, einerlei – Dienst ist Ehre! – So hält unsere Marine die Wacht an der See:
Der Vierfingrige.
(Schluß.)
Mir schwebten alle nur erdenklichen Todesarten vor. Ans Erwürgtwerden hatte ich bis dahin nicht gedacht, aber mit jeder Minute mehr dachte ich an mehr. Ich dachte an jede Möglichkeit. Erwürgen war für ihn doch wohl das Sicherste. Eine Kugel hinterläßt Spuren; auf der ersten besten Station konnte man sie bemerken. Ein Schuß mußte auch im Nachbarcoupé von den Engländerinnen gehört und auf der nächsten Station gemeldet werden. Mir wurde die Kehle trocken, so trocken, daß ich um ein Haar gehustet hätte.
Aber er saß noch still. Noch spürte ich nicht seine entsetzlichen Finger um meinen Hals. Er saß und lauschte auf die sich immer noch steigernde Geschwindigkeit des Zuges. – Und jetzt wußte ich auch, was es mit dem Verbergen der Packete für eine Bewandtniß hatte. So dumm zu sein, das nicht gleich zu wissen! Vor der belgischen Zollgrenze leert er seinen Koffer von dem Raube, von allem Verdächtigen, läßt alles unter dem Sitz, bis wir die deutsche Grenze passirt haben, stopft dann den Raub wieder in den Koffer und ist geborgen.
[479] Und dennoch, hat die Sache nicht ein Loch? Wenn nun ein Mitreisender, ich oder ein anderer, der unterwegs einstiege, ihn daran hinderte, – einer, der nicht so gut wie ich aufs ‚Schlafen‘ sich verstünde? – Spaß! Der Revolver oder was sonst räumt jeden lästigen Zeugen schnell aus dem Wege. Aber wer sollte in diesen Expreßzug unterwegs einsteigen? Höchstens ein über Aachen hinausfahrender Reisender; denn wer würde diesen unpassenden Zug benutzen, der durch alle größeren Städte Belgiens und die Grenzstädte Deutschlands mitten in der Märznacht fuhr, während es so viele bequemer liegende Schnellzüge auf dieser Weltverkehrslinie gab? Und angenommen, es stiege jemand ein, den jener Mordbube sich nicht getraute, zu ermorden, oder gar das ganze Coupé füllte sich mit Reisenden, – hatte er nur erst seinen Raub unter den Polstern versteckt, so konnte er ihn ja im schlimmsten Falle ruhig darunter lassen, bis wir in Köln ausstiegen, und ihn dort als letzter im Wagen bleibend wieder in den Koffer packen. Wie kindisch einfach das war; aber aufs Einfachste kommt man ja stets zuletzt. Jetzt sah ich alles wie von greller Sonne beschienen vor mir. Und noch lebte ich, und – lebend wich ich nicht von diesem Platz, ehe ich nicht am Ziel, das sich mir jenseit der deutschen Grenze lockend aufthat angelangt war. Das stand fest!
‚St. Quentin!‘ – Man öffnete hier gar nicht einmal die Thüren. Mein Reisegefährte hatte sich näher ans Fenster nach dem Perron zu gesetzt. Er horchte auf ein Gespräch dicht unter der Coupéthür, vielleicht zwischen dem Stationsvorsteher und dem Zugführer. Der eine scherzte:
‚Haben Sie vielleicht den Vierfingrigen in Ihrem Zuge?‘
‚Kann schon sein,‘ erwiderte der andere lachend, ‚aber gesagt hat er’s uns bis jetzt nicht. Wollen Sie ihn vielleicht mal fragen?‘ und beide lachten.
‚Aber das Comptoir war auch ohne den Diebstahl futsch, was?‘
Ja, so sagt man! – Aber wir müssen fort. Gute Nacht! Auf Wiedersehen! Ich komme morgen mit dem Schneckenzug, mit Nr. 11, zurück.‘
‚Gute Nacht!‘
Vorwärts! – Erst wartete mein Mann wieder, bis der Zug mit voller Kraft fuhr. Dann erhob er sich wie vorhin, nur vielleicht noch ängstlicher, behutsamer. Wieder zog er seinen Sitz, den er in Tergnier zurückgestoßen hatte, heraus, weit, ganz weit. Wieder klappte er seinen Koffer auf und hob Packet auf Packet, noch fünf zu den vorhin versteckten drei, alle von gleicher Größe, heraus, stopfte sie in den leeren Raum unter den Polstern, so geräuschlos, daß nur, wer alles schon wußte, etwas hören konnte. Aber ich hörte alles, hörte es aus dem Rasseln der Räder, dem Schnauben der Maschine, dem Klappern der Fensterrahmen heraus. Um mich kümmerte er sich nicht mehr; meiner war er sicher, so oder so, schlafend oder nicht schlafend.
Das Geschäft war bald erledigt. Im Koffer blieb so gut wie nichts, nur einige Wäschestücke, Schuhe, eine Bürste. Das machte ihn bedenklich, er sah mit komischer Verlegenheit in den leeren Koffer. An der Zollgrenze konnte der erst recht auffallen. Dann kam ihm ein Gedanke, jedenfalls ein guter, denn als er sich wieder mit dem Gesicht zu mir herumdrehte, lächelte er selbstzufrieden. Doch erst schob er, jetzt mit einiger Mühe, das Polster wieder über die verborgenen Packete; dann blieb er ein Weilchen sinnend stehen, zog seinen schweren Ueberrock aus und legte ihn vorsichtig auf den Eckplatz. Er konnte aber nicht verhindern, daß derselbe, wie durch ein schweres Gewicht hinabgezogen, auf den Boden glitt, auf den einen Heizblechkasten, mit einem gedämpften aber vernehmlichen Prall, wie umwickeltes Metall. –
Hatte ich etwas gehört? – War ich erwacht? – Mit einem krampfhaften Griff hatte er den Rock wieder aufgehoben, in die Seitentasche gefaßt, einen schweren Bulldoggrevolver herausgezogen und auf den Sitz gelegt.
Nein, ich hatte nichts gehört. Ich war nicht erwacht. Ruhig wie bisher lag ich da und athmete tief und langsam ein und aus. – Wie das wohl that, noch athmen zu können!
Ich hatte ihn entwaffnet. Wenigstens steckte er den Revolver mit dem Lauf nach unten in die rechte Hosentasche, daß nur das letzte Ende des Kolbens herausschaute. Darauf zog er sich den Rock, den er unter dem Ueberzieher trug, vom Leibe, dann auch die Weste, zog seinen Ueberrock übers Hemd wieder an, knöpfte ihn bis oben zu und steckte den Revolver wieder in die Tasche. Den ausgezogenen Rock sammt der Weste packte er unordentlich je in eine Tasche des leeren Koffers und verschloß diesen wieder mit dem Schlüsselchen.
Es ist vollbracht. Er hat seinen Raub in Sicherheit, da, wo niemand ihn sucht. Jetzt mag die Grenze, mag die zweite Grenze kommen, ihn ficht das nicht an!
Auch bei ihm wie bei mir läßt jetzt die Spannung nach; er ist müde geworden und legt sich der Länge nach auf die weichen Polster und ruht wie ein Drache auf seinen Schätzen.
Lange dauert’s nicht mit seiner Ruhe. Nach knapp zehn Minuten schnellt er wieder auf, diesmal ohne ängstliche Rücksicht auf meinen Schlaf, holt sich das Kursbuch aus dem Netz herunter und studirt darin, sinnend, blätternd, rechnend. Für mich giebt’s jetzt kaum noch etwas zu beobachten. Ich könnte jetzt wirklich schlafen, das heißt, wenn ich könnte. Aber es lohnte wohl auch nicht mehr, die Grenze mußte bald da sein. Wie bald? Auch ich rechnete. Und wie ich rechnete, fielen meine zwinkernden Blicke auf einen schwarzen Fleck am Fußboden, halb unter dem Sitze des andern, da unten zwischen seinen Füßen. Was das nur war? Regte es sich nicht? Kroch es nicht hervor? Nein, nur der unruhig hin und her zuckende Fuß des andern, bald der linke, bald der rechte, schob an dem schwarzen Ding, daß es sich selbst zu rühren schien. Der Schatten des tief hinab reichenden Sitzes gegenüber verbarg mir den größten Theil des schwarzen Flecks, und ich wagte nicht, meine Augenlider weiter zu öffnen als zum feinsten Spalt. Aber das Schwarze da ließ meine Blicke nicht mehr los. Wie eine dickgeschwollene schwarze Riesenspinne lag es am Boden und streckte seine wulstigen Beine gegen mich aus. – Seine Beine? – Nein, nein, Finger waren es, schwarze Teufelskrallen, gekrümmt wie zum Angreifen, zum Festpacken. Eine dicke schwarze Faust, – nein, eine Hand, – nein, ein Handschuh! Nichts als ein Handschuh, derselbe, der vorhin aus des Menschen Ueberrocktasche gefallen war, als der Rock selbst zu Boden glitt.
Er hatte nichts Geheimnißvolles mehr für mich, der schwarze, eben noch so unheimliche Fleck, der nichts war als ein ganz gewöhnlicher Handschuh, und dennoch ließ er meine Blicke nicht mehr von sich. Meine Augen hatten sich längst an das Halbdunkel gewöhnt; ich sah selbst die dunkelbraunen Raupen auf der äußeren Handschuhfläche. Ich sah jeden Finger. – Jeden?! – Nein, nicht jeden! – Daß ich nicht mit lautem Schrei aufsprang! – Nein, ich sah nicht jeden, denn der schwarze Handschuh hatte nur vier Finger! –
Ich hatte ihn! ich hatte ihn! Noch wußte ich nicht, wie alles zusammenhing; aber ich wußte bestimmt, ich hatte ihn, den vierfingrigen Mörder und Räuber!
Aber wie? Was ist’s mit diesem Handschuh? Ich schloß die Augen, um nichts mehr außen zu sehen, und suchte. Fünf Finger von Fleisch und Bein, kein Zweifel daran war möglich. Und trotzdem nur vier Finger von Leder? – – O du erzschlauer Tölpel, der du wie alle Erzschlauen nicht schlau genug gewesen bist! Eine Masche nur hast Du offen gelassen in dem Netz, und nun schlüpft die Entdeckung durch diese eine Masche hinein. Der du an den vierfingrigen Handschuh nicht mehr gedacht hast, womit du dir, zwei Finger in einen Lederfinger zwängend, ein so unübertreffliches falsches Signalement zurechtgeschneidert. Der du ihn nicht, zu Hause angekommen nach der Mordnacht, in tausend Stücke zerschnitten, ihn nicht verbrannt hast! – Hast was zugelernt, Mordgesell, he? – Wirst dich vor die Stirn schlagen und dich einen Esel schimpfen, wenn ich dich erst in Nummer Sicher gesetzt? Hättest doch besser gethan, mich kaltblütig zu erdrosseln, nur der Vollständigkeit wegen, – besser zu vorsichtig als zu nachsichtig, was? Beinahe hätte ich laut aufgelacht über die Dummheit dieses abgefeimten Satanskerls.
Wenn er nur später nicht zu dem Verdacht käme, ich könnte des Handschuhs gewahr geworden sein! Wenn er ihn nur bald vermißte, suchte, wieder einsteckte! Ich brauchte ihn ja nicht mehr, ich wußte alles. Auch der üppige schwarzgraue Backenbart machte mir jetzt keine Sorge mehr. Der war gewiß so neu wie alles andere, was der fliehende Mörder am Leibe trug.
Da lag also das Glück, der Reichthum auf Armeslänge vor mir. Fünf Prozent vom Inhalt jener acht Packete, fünf Centimes von jedem Franken, den der Millionendieb so dummschlau versteckt hatte, gehörten mir zu ehrlichem Besitz, wenn es mir gelang, lebend nur bis zur nächsten Station zu kommen. Und dann dachte ich an Dich, mein alter Junge, und an Deine kleine [480] Frau, und wie Ihr mich empfangen würdet, wenn ich, der stellenlos gewordene Banksekretär, ankäme mit der Viertelmillion oder so etwas ähnlichem zur Belohnung und als der glorreiche Aufspürer des größten Diebes der Neuzeit. Das war doch ein ander Ding, als anzukommen mit einer Tausendfrankennote und kaum genug Kleingeld, um einen lustigen Tag im lustigen Köln zu verleben!
Ja, aber hatte ich ihn denn schon, den Dieb? Hatte nicht vielmehr er mich? – Da saß er ja auf Griffes Weite mir gegenüber. Wären wir nur erst auf der nächsten Station! Am besten auf der Grenzstation. Dort mußten wir alle hinaus, ich konnte mit einem Polizeibeamten sprechen, konnte ihn verhaften, seinen Raub mit Beschlag belegen lassen, konnte –
So? Konnte ich wirklich? O ja, möglich war das, aber ob auch sicher? ob auch rathsam? Im fremden Lande, ich, der Prussien, auf einer kleinen französischen Eisenbahnstation, wo kein Mensch mich kannte? Wo man sicher lieber selbst die Belohnung eingesteckt hätte? Komm du hinterher und klage und beweise, daß du es gewesen bist, der seine Ergreifung veranlaßt hat! Der Himmel ist hoch und Bismarck ist weit. Und der Kerl war bewaffnet! Den ersten, der Hand an ihn zu legen versuchte, schoß er zweifellos nieder.
So sann und sann ich darüber nach, was ich mit dem Menschen anfangen sollte. ‚Das Fell des Bären,‘ weißt Du! – Da fielst Du mir ein, Richard!“ –
„So! Also erst jetzt! Hättest schon früher darauf kommen können!“
„Sei froh, daß ich in der Lage überhaupt auf etwas Gescheites kam. Und ans nächste denkt man ja immer zuletzt.
Ich muß dich bis über die deutsche Grenze haben, dachte ich; dich sammt deinen geraubten Millionen. Bis nach Aachen. – Warum nur bis nach Aachen? – Nach Köln, natürlich nach Köln! Und dort nimmt dich der ausgezeichnetste aller Polizeihauptleute Mitteleuropas in freundlichen Empfang, wir theilen uns in die viertel oder fünftel Million Belohnung und machen im Mai, dann aber mit Evchen, eine lustige Reise nach Paris zur Ausstellung. Das richtige Fell des Bären! Ich machte schon Pläne, was ich mit den auf mich fallenden hunderttausend Franken wohl am besten anfangen würde.
Wie sollte ich Dich nur zur Stelle schaffen? Morgens um halb sechs Uhr auf den Kölner Centralbahnhof. – Durch eine Depesche, wie sonst? Ja, aber wo und wie eine Depesche schreiben und aufgeben, ohne den Mörder Lunte riechen zu lassen? Und ohne daß der annehmende Telegraphist den ganzen Braten erführe? Sah mich der Vierfingrige auf der Grenzstation zum Telegraphenamt gehen, so war ich geliefert, oder ich durfte nachher nicht in dem Coupé mit ihm bleiben. Und suchte ich mir ein anderes, so wußte er, woran er war, und verschwand auf irgend einer kleinen belgischen Station; ich fand dann in Köln das Raubnest leer. Die Depesche mußte, wenn überhaupt, dann in französisch sprechendem Lande, in Frankreich oder Belgien, aufgegeben werden. Am besten noch in Frankreich oder recht nahe der französischen Grenze. Weiter nach Osten verstanden die belgischen Telegraphisten schon eher eine deutsch abgefaßte Depesche und konnten mir durch irgend eine selbst gutgemeinte Einmischung meinen Jagdplan zerstören. Hatte ich all das Entsetzliche der letzten Stunden durchgemacht und sollte noch so nahe am Ziele um meinen Fang gebracht werden? Vorsicht, mehr als bisher; laß dir Zeit!
Die Depesche! Ein anderes Mittel gab es nicht. Der annehmende Telegraphist würde sie mechanisch abklappern, und erst der auf der Empfangsstation oder der Empfänger selbst, also Du, Richard, würden wissen, um was es sich handelt. – Aber besser ist besser: selbst der empfangende Telegraphist in Köln durfte nichts Sicheres herauslesen, ebensowenig der Beamte an irgend einer Umschaltestelle unterwegs! Du allein! – Wenn ich das nur richtig heraus hätte! Schon die Adresse war bedenklich. Der ‚Polizeihauptmann‘ allein konnte alles verrathen. Und die Depesche selbst mußte alles und nichts sagen. Genug, um Dich zu bestimmen, pünktlich auf dem Posten zu sein, die ganze Geschichte nicht für einen Jux zu halten, – und doch nicht genug, um irgend einem Dritten etwas zu verrathen.
Ich sann nach. Nie hat die Abfassung einer kurzen Depesche einem menschlichen Gehirn so viel Mühe gemacht. Und wenn der Kerl mir zur Seite blieb, meine Depesche las? Ob er nicht am Ende Deutsch verstand?! Kerle von der Sorte sprechen meist mehr als eine Sprache. – Unaufhaltsam donnerte der Zug vorwärts, näher und näher der Grenze. Sollte die Depesche am richtigen Ort aufgegeben werden, so mußte ich sie jetzt im Kopf fertig haben. – War das schon die Grenze? Ich war noch nicht fertig, hatte eigentlich noch nicht das erste Wort meiner Depesche gefunden. – Nein, ‚Aulnoye!‘ rief es draußen, also noch nicht einmal Jeumont, die Grenzstation auf der Fahrt von Deutschland.
Der Zug hielt in Aulnoye mehrere Minuten; er wurde hier getheilt: ‚Wagenwechsel nach Brüssel!‘ schrie es den Zug entlang. Die vorderen Wagen gingen nach Brüssel, die hinteren nach Deutschland. Unser Wagen wird auf dem Bahnhof ein wenig hin und her geschoben und gerüttelt. Sich jetzt länger schlafend zu stellen, müßte selbst einem Einfältigeren als dem Mordbuben verdächtig erscheinen. So ‚erwache‘ ich denn bei einem besonders kräftigen Kuppelungsstoß, fahre auf, reibe mir die Augen und setze mich aufrecht hin. Ah, wie wohl das thut, wieder einmal zu sitzen, nicht mehr der Länge nach dazuliegen wie ein hilfloses Schaf auf der Schlachtbank! Ich rücke ans Fenster, die Scheiben sind von innen hauchbeschlagen, von außen verregnet. So wende ich mich denn mit Aufgebot all meiner Ruhe und Unbefangenheit zu dem Vierfingrigen: ‚Ist dies schon die belgische Grenze, mein Herr? Warum öffnet man nicht?‘
‚Nein, mein Herr,‘ antwortet jener sehr höflich, ‚dies ist erst Aulnoye. Wir halten noch in Maubeuge und in Jeumont, dann kommt Erquelinnes; noch fünfzig Minuten, mein Herr.‘
‚Hast Dein Kursbuch mit Erfolg auswendig gelernt,‘ denke ich und sage dann laut zu ihm: ‚Ach, da muß man bald seine Sachen zusammenpacken für die Zolldurchsuchung.‘
‚Ja,‘ meint der andere, ‚aber ich denke doch, man wird uns nicht zum Aussteigen zwingen?‘
Er ist ganz ruhig, fast heiter. In der Stimme klingt nichts nach Verdacht, nach Aengstlichkeit. Dies ist die Minute, oder keine, um ihm meine Depesche glimpflich beizubringen. Und ich antworte nach einer kleinen Pause, in der ich mir mit meinem Kopfkissen zu schaffen mache: ‚Aussteigen müssen wir sicher; die Belgier sind strenge Zöllner. Uebrigens, ich muß so wie so aussteigen, ich habe eine Depesche aufzugeben.‘
Das Wort ‚Depesche‘ hat ihn doch erschreckt. Nur ein blitzschnelles Zucken um die Augen, aber es war mir nicht entgangen. Jetzt nur vorwärts, da half nichts. – ‚Ja, eine Depesche an meine Schwester in Köln; ich habe in der Eile der Abreise ganz vergessen, ihr meine Rückkehr von Paris aus zu melden. Ich wohne nämlich mit meiner Schwester zusammen.‘
Er hatte sich beruhigt und fragte theilnehmend: ‚Werden Sie auch Zeit genug dazu in Erquelinnes finden? Sie wissen, gerade an den Zollstationen kann man nichts nebenbei besorgen.‘
‚Ja, ich glaube, Sie haben recht. Am besten schreibt man die Depesche schon vorher und giebt sie dann zur Besorgung.‘
Das gefiel ihm ausnehmend.
‚Ich habe nur ein Bedenken,‘ fuhr ich fort, ‚meine Schwester versteht nicht Französisch, und ich fürchte, der belgische Telegraphist in Erquelinnes versteht nicht Deutsch.‘
‚Wenn Sie recht leserlich deutsch mit lateinischen Buchstaben schreiben,‘ meinte er, ‚so wird das nichts auf sich haben. Deutsch allerdings wird der gute Mann in Erquelinnes sicher so wenig verstehen wie ich. – Was wollen Sie, wir Franzosen sind nun mal in solchen Künsten unverbesserliche Dummköpfe.‘
Gott sei Dank, er verstand also kein Deutsch! Oder war das nur eine Falle für mich? Unmöglich, das Bekenntniß seiner Unwissenheit hatte einen Klang elementarer Aufrichtigkeit. – Ich suche in der Brusttasche nach einem Stück Papier, finde aber nichts Brauchbares. Der Kündigungsbrief des Comptoirs geräth mir zwischen die Finger, daran hing ein großes leeres Blatt. Aber nein, der Mensch hätte die Siegel oder das Papier oder sonst etwas Verdächtiges daran erkannt.
‚Sie suchen gewiß ein Blatt Papier für Ihre Depesche, mein Herr?‘
Dies ist ein ‚comble‘, wie wir in Paris sagen: fängt der Kerl richtig an, selbst in den Taschen nach einem Stück Papier für mich zu suchen! Ich wehre ab, bitte ihn, sich keine Mühe zu geben, aber er ist nun mal im Eifer hilfreicher Dienstfertigkeit und sucht weiter. Da kommt ihm ein guter Einfall: ‚Bitte, mein Herr, nehmen Sie eines dieser leeren Blätter hinten aus dem Kursbuch, die sind sogar liniirt, der Drucker hat augenscheinlich an Fälle wie diesen gedacht,‘ – und er reißt mir zwei Blätter heraus. Ich danke ihm tiefgerührt. Hat man je einen angenehmeren Mörder gesehen?
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[482] Einen Bleistift habe ich selber. Um ihm jeden noch möglichen Schimmer des Verdachtes zu benehmen, schreibe ich meine Depesche, indem ich das Blatt sammt dem mir geliehenen Kursbuch als Unterlage auf die Kniee lege, so daß er, wenn er will, mitlesen kann. Er sieht flüchtig zu. Die erste Zeile recht vertrauenerweckend groß: ‚Madame Farne, Köln, Burgmauer 147.‘ Er sieht schon nicht mehr hin, sondern wischt mit der flachen Hand den Fensterschweiß weg und blickt in die Nacht hinaus. Um so besser!
‚Für Richard. – Erwarte Dich auf Tod und Leben fünfeinhalb früh Centralbahnhof Köln mit zwei handfesten Mannschaften Civil. – Verhafte schonungslos Menschen, dem ich aussteigend Hand schüttle. – Hänschen.‘
Wenn er das nur nicht für einen Ulk nimmt! Aber ‚auf Tod und Leben‘ schreibt man nicht um einen Ulk, und ein Polizeihauptmann hält so leicht nichts für einen Ulk. Ich war sicher, Du würdest kommen.
Einander behaglich gegenübersitzend fahren wir der belgischen Grenze zu. Der Mörder wird gesprächig, ordentlich unterhaltend und witzig. Warum sollte er auch nicht? Bis jetzt war ihm der Streich vortrefflich gelungen. Was der Polizeikommissar auf dem Nordbahnhof nicht hatte entdecken können, wie sollte das der belgische Grenzbeamte herausfinden? Und die höllische Schlauheit mit den vier Fingern! Ich las ihm die Freude vom Gesicht, von den triumphirend auf seinen Knieen ausgespreizten beiden Händen mit ihren je fünf vollständigen Fingern daran.
Wieder ein kleiner Halt: Maubeuge. Bald darauf Jeumont. ‚O diese Menge überflüssiger Haltestationen!‘ ruft der Mensch. Er ist doch ein wenig nervös. Sicherheit hin, Sicherheit her, Grenze bleibt Grenze! Ich strecke meinen linken Fuß ein wenig vor und schiebe den schwarzen Handschuh noch weiter unter den Sitz. Wenn er den jetzt noch entdeckte! Wenn er glaubte, auch ich hätte ihn gesehen! – Und wenn er ihn nun nachher vermißt? Beim Aussteigen oder beim Wiedereinsteigen? – Ach was, kommt Zeit, kommt Rath!
Jetzt fängt er wieder zu plaudern an. Er will seine Unruhe niederkämpfen, verreden: ‚Vielleicht hat man den Dieb inzwischen schon erwischt, und wir erfahren etwas davon an der Grenze.‘
‚Schon möglich; solche Menschen sind ja meist entsetzlich dumm. Laufen von Paris alle nach Brüssel oder doch nach Belgien. Da fängt man sie dann ganz gemüthlich ab wie die Krammetsvögel in der Schlinge.‘
‚Und nun gar solch ein Mensch mit nur vier Fingern!‘ und er lacht. ‚Ein Mensch mit nur vier Fingern an einer Hand sollte überhaupt nicht stehlen, sollte sich keinesfalls einer Verfolgung mit Signalement und Zubehör aussetzen.‘
‚Er wird eben nicht wissen, daß man seine Vierfingrigkeit bemerkt hat.‘
‚Und die Zeitungen? Das erste, was solch ein Mensch thut nach vollbrachter That, ist, die Zeitungen darüber zu lesen.‘
‚Ich bin überzeugt,‘ bemerke ich mit starkem Brustton, ‚der Dieb sitzt noch ganz ruhig in Paris, zählt seine Banknoten und lacht sich ins Fäustchen, daß man auf einen vierfingrigen Dieb fahndet. Diese ganze Geschichte mit dem glattrasierten Engländer oder so ähnlich, der Banknoten zu wechseln kam, ist doch gar zu einfältig. Warum soll der nun gerade der Dieb sein?‘
‚Ja,‘ meint er, ‚das sehe ich auch nicht recht ein. Aber in Ermangelung irgend einer andern Spur folgt die Polizei dieser einzigen, die sie hat. Wohl bekomm’s ihr!‘
Und dann nach einigem Besinnen: ‚Ist man übrigens schon so sicher, daß der Dieb nicht einer von der Bande im Comptoir d’Escompte selber ist?! Die haben doch noch ganz andere Flibustereien verübt.‘
Ich antwortete nichts, sondern zuckte mit den Achseln und brachte das Gespräch auf weniger verfängliche Dinge, auf Weltausstellung und Eiffelthurm. Er ging harmlos darauf ein, nur schien er neugierig geworden zu sein, wer und was ich wohl sei. So ließ ich denn zwanglos einfließen, daß ich ein deutscher Journalist sei, der für sein Blatt nach Paris gereist sei, um ein vorläufiges Bild der Weltausstellung zu geben. Das brachte uns unmerklich auf die Politik, auf Boulanger, für den er schwärmte, auf Elsaß-Lothringen, Bismarck, den alten und den jungen Kaiser Wilhelm. Der Kerl plauderte über alles mit jener Mischung von gesundem Menschenverstand und unbefangenster Unwissenheit über nicht-französische Dinge und Menschen, gegen die man machtlos ist. Dabei durchaus nicht chauvinistisch, bewahre! Für ihn war es ausgemacht, daß die Deutschen bei nächster Gelegenheit ‚ihren Raub‘ herausgeben müßten, und hinterher würde die schönste Freundschaft zwischen beiden Völkern herrschen. Wozu sich angesichts einer solchen doch unvermeidlichen Thatsache groß ereifern? Belgien wird von Frankreich einverleibt, Luxemburg –‘
‚Station Erquelinnes! Alles aussteigen!‘ – So erfuhr ich nicht, wie sich der Raubmörder das Schicksal Luxemburgs dachte.
Er ließ mich höflich zuerst aussteigen. Ich übergab meine Handtasche einem Gepäckträger, händigte ihm meinen Schlüssel ein und eilte vor allem zum Bahntelegraphenamt. Ein einziger verschlafener Telegraphist war darin. ‚Nehmen Sie eine Depesche in deutscher Sprache an?‘ fragte ich ihn.
‚Allerdings, wenn ich sie nur lesen kann; Deutsch verstehe ich nicht, aber das ist auch gar nicht nöthig, mein Herr.‘
‚Sprechen Sie telegraphisch direkt mit Köln?‘ fragte ich noch, während jener schon die Wortzahl ermittelte.
‚Ganz direkt, mein Herr. – Kostet sechs Franken sechzig Centimes. – Hier drei Franken vierzig Centimes zurück. Gute Nacht! – Gewiß, wird sofort weiter gegeben.‘
Ich war noch vor Beendigung der Zollplackerei im Untersuchungssaal, wo ich den Bärtigen gerade seinen Koffer schließen sah. Mein Täschchen war gar nicht geöffnet worden. Wir gingen zusammen in das dunstige schäbige Buffetzimmer und bestellten jeder einen Mazagran.
‚Na, haben Sie Schwierigkeiten mit Ihrer Depesche gehabt?‘ fragte mich der Mörder.
‚Alles ganz glatt gegangen. – Und Sie mit der Douane?‘
‚Nur geöffnet und gleich wieder geschlossen. – Schade nur, daß Ihnen der Spaß entgangen ist mit dem Polizisten, der um die Zollbarriere strich wie ein hungeriger Wolf und allen Leuten auf die Hände sah. Denken Sie, wenn jetzt zufällig einer der Reisenden, ein völlig unschuldiger Mensch, nur vier Finger gehabt hätte! Dem hätte es gut gehen können. – Hoffentlich läßt man uns wieder in dasselbe Coupé?‘
‚Gewiß, ich habe sogar Schirm, Stock und Hut darin liegen lassen. Es ist ja der Durchgangswagen nach Köln.‘
‚Das ist ein wahres Glück,‘ erwiderte jener. Er griff in die Ueberziehertasche nach Feuer für eine Cigarette, die ihm der Kellner gebracht hatte. Plötzlich erbleichte er und suchte in beiden Taschen eifrig, ängstlich.
‚Sie vermissen etwas?‘ fragte ich besorgt.
‚Nein, – das heißt – es wird wohl im Wagen irgendwo liegen. Haben Sie – haben Sie ihn vielleicht bemerkt?‘
‚Aber was denn?‘
‚Ich habe einen Handschuh verloren.‘
‚Sie haben, so viel ich mich erinnere, keine Handschuhe getragen, als Sie in Paris einstiegen.‘
‚Ich weiß, ich weiß; aber ich hatte beide Handschuhe in meiner Ueberrocktasche, und jetzt fehlt mir einer, Teufel!‘
Sogleich wollte er zu unserm Coupé laufen, aber die Thür des Wartezimmers war noch verriegelt. In ungeheurer Aufregung stapfte er vor der Thür hin und her. Ich fühlte ihm seine Angst nach, sah förmlich die Gedanken, die sich unter diesem Schädel jagten: ‚Muß das nun gerade der mit den vier Fingern sein! Warum habe ich ihn nicht verbrannt, zerrissen? Wenn er auf dem Sitz oder am Fußboden des Coupés liegen geblieben ist und ihn einer der Leute findet, die auf solchen Stationen in alle Coupés hineinglotzen, oder ein Arbeiter, der die Heizkästen erneuert, – wenn er die vier Finger entdeckt, – davon spricht, – der Stationsvorsteher hat längst das Signalement erhalten – –‘
Mir ward doch unbehaglich zu Muthe. Jetzt wieder mit ihm ganz allein in das verwünschte Coupé hinein? Aber es mußte sein! Was hatte ich denn auch zu fürchten? Auf mich konnte er keinen Verdacht haben. Und in das Coupé zurückgekehrt, würde er ja alsbald den Handschuh finden, so finden, daß ich dabei ganz außer Spiel blieb. Ihn jetzt noch mir aus den Fingern lassen? – Um keinen Preis!
Kaum war die Ausgangsthür geöffnet, so stürmte er hinaus wie in Paris. Er wollte offenbar möglichst viel Zeitvorsprung vor mir gewinnen, um unbeobachtet nach dem Handschuh zu suchen. Die Freude will ich dir lassen, du dummer Teufel! Es fehlen noch fünf Minuten an der Abfahrtszeit; langsam gehe ich dem Ende des wesentlich verkürzten Zuges zu.
Vor dem Coupé angelangt, sehe ich den Mörder noch immer [483] suchen: im Hängenetz, auf dem Boden, auch unter den Sitzen, nur nicht an der richtigen Stelle. ‚Es brennt!‘ will ich ihm beinah zurufen, wie er den gesuchten Handschuh fast mit dem Finger streift, – aber da hat er ihn schon selbst gefunden, schleunigst zusammengedrückt und in die Rocktasche versenkt. Er grübelt nach, wie der Handschuh wohl aus der Tasche gefallen und unter den Sitz gerathen sein kann; allein bald schaut er sich der richtigen Veranlassung zu erinnern; sein Gesicht glättet sich wieder.
Und nun, Halunke, thu, was dir beliebt! Mit dir bin ich einstweilen fertig; ich habe genug von dir. Ich störe dich nicht mehr. Packe ein oder packe aus, mir ist alles eins; du entgehst mir nicht mehr. Jetzt will ich doch sehen, ob ich denn nicht allen Ernstes schlafen kann. Mir wird erst jetzt meine furchtbare Müdigkeit fühlbar. Mein Körper schmerzt mich, als hätte man mir jeden Knochen einzeln ein paarmal zerbrochen; mein Kopf kann nicht einen einzigen klaren Gedanken mehr erzeugen, geschweige festhalten. Müde, müde, müde – weiter denke und fühle ich nichts – und dann überhaupt nichts mehr.
Stunden mußten vergangen sein. Wie viele? – ich weiß von nichts. Ich war trotz mehrmaligen Haltens, das ich nur im Traum gespürt hatte, nicht einmal voll erwacht. Da wird die Thür wieder aufgerissen, die Heizung erneuert, – ein Mann, ein Beamter springt herein. Ich rühre mich nicht, auch mein Reisegefährte scheint zu schlummern. Der Beamte hat uns beide kurz aber scharf angeblickt, besonders unsere Hände, dann hat er leise die Thür zugedrückt. Durch das Fenster zu meinen Füßen lese ich den Namen der Station: Verviers.
Der Zug fährt weiter. Nur noch wenige Minuten und wir sind auf deutscher Erde. Der Gedanke ermuntert mich, ich springe auf. Auch der andere liegt mit weit offenen Augen da. Diesmal fange ich an, mit ihm zu sprechen:
‚Sie haben gut geschlafen, mein Herr?‘
‚Ausgezeichnet! Bei Ihnen braucht man nicht erst zu fragen.‘
‚Ja, ich schlafe nie besser als im Eisenbahnwagen.‘
‚Das ist ein kostbares Geschenk der Natur für einen Reisenden.‘
‚Doppelt kostbar für einen Mann der Feder. Morgen, oder ich muß wohl schon sagen heute, muß ich wieder am Schreibtisch sitzen.‘
‚Sie werden über die Ausstellung schreiben?‘
‚Damit bin ich einstweilen fertig. Ich werde zunächst über den Raubmord im Comptoir d’Escompte schreiben.‘
‚Ach, wie schade, daß ich kein Deutsch verstehe, um das lesen zu können.‘
Der Zug fährt über mehrere Viadukte und durch lange Tunnel mit verminderter Geschwindigkeit. Mein Gegenüber sieht ganz ruhig, fast spießbürgerlich aus. Wer will ihm noch etwas anhaben? –
‚Herbesthal! Alles aussteigen, – Zollrevision!‘ – Der Mörder hat das Deutsche nicht verstanden, ich übersetze es ihm. Wieder hinaus mit dem Handgepäck, wieder scharf gemustert von spähenden Polizeiaugen, – dann zurück ins Coupé. Ein deutschredender Schaffner, sauber, stramm, eine Freude für den, der aus Frankreich kommt, hat unsere Billete geknipst. Vorwärts! Der letzte Akt in diesem Drama beginnt, für den Mörder nach seiner Meinung der entscheidende: jetzt gilt’s, das geraubte Gut unbemerkt vor Köln wieder in den Koffer zu praktiziren. Gute zwei Stunden bleiben ihm dazu, und – ‚ich schlafe nie besser als im Eisenbahnwagen‘.
An Uebung im Schlafen jeder Sorte, im künstlichen zumal, fehlt es mir ja nicht. Der Vierfingrige soll es gut haben. Ein bißchen zappeln soll er zuvor, aber das kann weder ihm noch mir etwas schaden. Ich beginne ein gleichgültiges Gespräch, doch er hat keine Lust, darauf einzugehen. Er sähe mich am liebsten wieder in meiner dunkeln Ecke liegen und schlafen. Indessen ich lasse ihn bis nach Aachen darauf warten. Auch in Aachen wieder polizeiliche Untersuchung, sehr höflich, aber sehr eingehend. Rathlos sitzt der Halunke da; die Unkenntniß dessen, was der Beamte zu uns spricht, genirt ihn gewaltig. – Und nun, du Satansbraten, pack’ ein, pack’ alles ein und vergiß mir ja nichts, auf daß wir in Köln alles schön beisammen finden!
Ich habe mich so gelegt, daß ich ihm den Rücken zudrehe. Ich habe es satt, mich von dem Scheusal beglotzen zu lassen. Zu sehen brauche ich jetzt ja nichts mehr. Ich höre den Kerl in seinem Kursbuch blättern. Von hier aus kenne ich die Linie Station für Station. Bis nach Stolberg hat er so an zehn Minuten. Ob er es bis dahin wagen wird? – Aha, er weiß jetzt nicht sicher, ob ich schon eingeschlafen bin, und wartet lieber noch. Seinen Koffer hatte er auf den Sitz gelegt, gleich beim Einsteigen in Herbesthal.
Stolberg vorüber, – jetzt gehts auf Düren zu. Die rothe Lohe aus den Riesenschloten der Hochöfen hier herum wirft flackernde Lichter durch die Wagenfenster. – Ist das schon Düren? Das wäre zu schnell gegangen. Nein, Eschweiler. Eine Minute Aufenthalt. Ich schlafe so laut, wie ich unauffälligerweise kann. Der Zug rasselt weiter, – und jetzt muß er meiner ganz sicher geworden sein: wieder höre ich das wohlbekannte Knacken des Schlüsselchens, wieder Ruck um Ruck, wie er die Polster herauszieht. Sein langer Ueberrock streift meinen Ellbogen, ich fühle etwas Hartes durch alles Zeug hindurch: aha, den Kolben seines Revolvers! aber ich rühre mich nicht. Dann höre ich ihn Packet auf Packet hervorheben und in den Koffer legen; ich zähle –: o, er vergißt keines! – Knacks! schließt sich der Koffer wieder.
‚Düren! fünf Minuten!‘ Vom Osten her dämmert ein fahles Licht durchs Fenster; der Morgen graut. Noch eine Stunde bis nach Köln.
Mit jeder Minute wuchs jetzt meine Ungeduld. Ob meine Depesche richtig in Deine Hände gelangt war? Wie, wenn Du nicht zu Hause warst, als sie mitten in der Nacht ankam? Wenn Du dienstlich irgendwo um Köln zu thun hattest? – Nun, den Rest weißt Du, Richard, und kannst jetzt wohl Deinen Bericht allein fertig kriegen.“
„Aber ich nicht,“ sagte Evchen, „ich weiß ja noch gar nichts, weiß nur, daß Richard mitten in der Nacht herausgeklingelt wurde, mir sagte: ‚Dienst, – schlafe Du nur ruhig weiter,‘ sich anzog und fortging. Das ist alles.“
„Nun,“ fuhr Hans fort „Sie hätten ihn sehen sollen, meinen Vierfingrigen, wie vergnügt er ausstieg, als der Zug hier auf dem Bahnhof hielt, und wie er, nach einem schnellen Blick den Perron entlang, auf mich wartete, um mir Adieu zu sagen. Ich hatte Richard, hinter dem Rücken des aussteigenden Mörders, ein abwinkendes Zeichen gegeben, noch ein wenig zu warten. Richard stand mit zwei Riesenkerlen an dem Ausgang nach dem Droschkenplatz. Also alles in Ordnung.
Der Vierfingrige hatte einen sich ihm anbietenden Gepäckträger rauh abgewiesen und trug seinen jedenfalls nicht ganz leichten Koffer selbst mit beiden Händen. Nahe dem Ausgang, bis wohin ich neben ihm hergegangen war, setzte er ihn nieder, um einem Droschkenkutscher zu winken. In diesem Augenblick streckte ich ihm die Hand entgegen und sagte zu ihm, so daß Richard dicht neben uns jedes Wort hören konnte, auf französisch: ‚Glückliche Reise, mein Herr!‘ und dann zu Richard und seinen beiden Schutzleuten auf kerndeutsch: ‚Packt den Mordshalunken!‘ – Wie mit eisernen Klammern legten sich je zwei Hände um jedes Handgelenk des Burschen. Nie habe ich ein solches Bild des rathlosesten Entsetzens gesehen. Aber das währte nur wenige Sekunden, dann riß der große starke Mensch wie mit Riesenkräften an den ihn umspannenden Händen, daß die beiden wackeren Kerle alle Mühe hatten, ihn nicht loszulassen. Richard trat dicht vor ihn hin und sagte ihm ruhig ins Gesicht auf deutsch: ‚Sie sind verhaftet!‘ Sich sträubend und vor hilfloser Wuth schäumend, schrie er Richard an: ‚Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich los!‘
Ich trat neben Richard und griff, ohne ein Wort zu sagen, in des Mörders Rocktasche, holte, während er verdutzt stillstand, seinen Revolver und seine Handschuhe heraus und sagte ihm auf französisch: ‚Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen Bruder vorstelle, den Herrn Polizeihauptmann, an den ich Dank Ihrer Liebenswürdigkeit von Erquelinnes die Depesche gesandt habe. Ich hoffe, daß Sie von den vier Millionen Franken keine einzige im Wagen haben liegen lassen. Und wenn Sie in Zukunft zu einem Raubmord sich wieder einmal eines vierfingrigen Handschuhs bedienen, so lassen Sie ihn nicht im Coupé auf den Boden fallen.‘ – Dabei hielt ich ihm den schwarzen Handschuh mit seinen ausgespreizten vier Fingern vor die Augen. –
Er warf mir einen Blick zu so erfüllt von wüthender, ohnmächtiger Mordlust, daß mich dieselbe Empfindung überkam wie in der Nacht, als ich seine Finger um meinen Hals zu spüren vermeinte. Dann knickte er zusammen: er wußte, hier half nicht Wuth noch List. Widerstandslos ließ er sich in das Polizeiwachtzimmer des Bahnhofs führen, wo sie ihm die Hände banden. –
Jetzt geh und mach’ einen recht schönen Bericht für Euren Präsidenten. – Auf Ihr Wohl, liebe Schwägerin!“ –
Blätter und Blüthen.
Eine Hirschjagd im Dachauer Moos. (Zu dem Bilde S. 472 u. 473.) Es war im Oktober 1648. In Osnabrück und Münster saßen seit drei Jahren die Gesandten und Kommissarien aller deutschen Reichsstände über den schwierigen Friedensunterhandlungen, derweile aber ging der Krieg unaufhaltsam weiter, der nun schon im dreißigsten Jahre Deutschland verheerte. Den verbündeten Schweden und Franzosen unter Wrangel und Turenne vermochten die kaiserlichen und bayerischen Generale Holzapfel, Mercy und Johann von Werth keinen entscheidenden Schlag beizubringen, obwohl der letztere, ein gefürchteter wilder Reiterführer, eine Menge tollkühner und glücklicher Handstreiche ausführte, die seinen Namen noch lange im Volksgedächtniß erhielten. Der alte Kurfürst Maximilian von Bayern, der nun seit drei Jahrzehnten als getreuester Bundesgenosse bei der kaiserlichen Sache ausgehalten hatte, fing an zu verzweifeln über den schrecklichen Zustand seines Landes. Bis in die entlegenen Alpenthäler hinein rauchten die Häuser vom Brand und lagen die Erschlagenen auf den zerstörten Feldern. Schweren Herzens entschloß sich also der Kurfürst zu einem Waffenstillstand mit Frankreich und Schweden, ohne Rücksicht auf den kaiserlichen Bundesgenossen, hierin dem Beispiel anderer Fürsten nachfolgend, die kampfesmüde die bisher gemeinsame Sache verließen, um den ersehnten Frieden für sich zu erreichen.
Der Abfall seines mächtigsten Verbündeten, gerade jetzt, wo ein letzter Sieg mit Rücksicht auf die im Gange befindlichen Friedensunterhandlungen schwer in die Wagschale fallen konnte, erregte den heftigsten Zorn Ferdinands III. Er versuchte, die bayerische Armee ihrem Kurfürsten abspenstig zu machen; dies gelang ihm zwar nicht, aber Maximilian selbst bereute bald sein Abweichen von seiner früheren Haltung und suchte die Aussöhnung mit dem Kaiser.
Selbstverständlich war dies die Losung zu einem neuen fürchterlichen Einbruch der Schweden und Franzosen in das bayerische Land. Bei Zusmarshausen, am 17. Mai 1648, trat die bayerisch-österreichische Streitmacht den Feinden gegenüber und erlitt eine gänzliche Niederlage. Ihr Rückzug gab das offene Land aufs neue der Verwüstung preis; Kurfürst Maximilian mußte nach Salzburg flüchten, von wo aus er im Verein mit dem Kaiser Riesenanstrengungen machte, um nochmals ein Heer zusammen zu bringen. Enkevoort und Johann von Werth erhielten das Oberkommando und rückten vom Inn gegen die Isar vor, wo Wrangel und Turenne mit Schweden und Franzosen standen. Dort blieben die beiden Heere eine Zeit lang ziemlich unthätig sich gegenüber liegen, die Jahreszeit war für einen neuen Feldzug schon zu weit vorgerückt. Aber das schöne Herbstwetter erweckte die Jagdlust; General Wrangel erfuhr, daß in der Nähe von Dachau noch ein geschontes Hirschgehege sei, und lud seinen Verbündeten, den General Turenne, zu einer fröhlichen Hirschjagd ein.
Johann von Werth aber erfuhr auch von dem Vorhaben. Es gelang ihm, die paar Regimenter, welche die Feldherren vorsichtig zum Schutz ihrer Jagd aufgestellt hatten, zu überraschen, er nahm ihnen 800 Pferde und schlug sie in die Flucht.
Dann wandte auch er sich der Jagd zu, die sein eigentlicher Zweck bei dem Handstreich war, der Jagd auf ein edleres Wild, als den Hirsch, der an der Spitze des hinter ihm her brausenden Zuges dahinstürmte. Wrangel und Turenne trieben ihre Pferde aufs äußerste an, während ihre Leute durch Gewehrfeuer die Verfolger zurückzudrängen suchten. Aber während des tollen Ritts wich der Boden unter den Pferdehufen, das „Moos“ mit dem schwammigen Untergrund ging in Wassertümpel über, die Pferde begannen zu sinken, immer kürzer wurde die Entfernung zwischen den Verfolgten und dem ungestüm herandrängenden Johann v. Werth. Da, auf einmal sahen sie den Hirsch, der sich bisher den Pferden voraus durch den Morast gekämpft hatte, mit flüchtigen Sätzen über den Boden schießen. Er hatte eine Furt durch den Sumpf gefunden, die Feldherren eilten ihm nach und waren, wenn auch mit knapper Noth, der Gefangenschaft oder dem Tode im Sumpfe entronnen.
Diesen dramatischen Vorgang hat G. A. Cloß auf seinem Bilde sehr lebendig dargestellt. In der Mitte General Wrangel auf dem sich bäumenden Schimmel, neben ihm der Oberst der Dragoner, die er zum Schutz aufgestellt. Einer von diesen Dragonern macht mit lautem Rufen auf die Flucht des Hirsches aufmerksam, während die andern im Mittelgrund den Feind durch Feuer zu beschäftigen suchen. Turenne, am reichen Federschmuck seines Generalshuts kenntlich, wendet den Kopf zurück und macht die Waffe schußbereit gegen Johann v. Werth, der, schon bedenklich nahe, seine Leute zur letzten Anstrengung anfeuert. Aber sein Pferd sowie das des neben ihm reitenden Trompeters watet bereits bis an die Brust im Wasser. Noch einige Augenblicke und die kostbare Beute wird den Verfolgern entwischt sein, sie müssen sich mit dem Häuflein Gefangener begnügen, welches im Mittelgrund die weiße Fahne aufgezogen hat, weil es lieber dem furchtbaren Kroatenführer in die Hand fallen will, als hier elend im Sumpf ertrinken.
Die friedliche Herbststimmung der Landschaft bildet einen sehr wirksamen Gegensatz zu der bewegten Reitergruppe, deren Hauptpersonen getreu nach guten Bildnissen dargestellt sind. Und der Vorgang spiegelt im kleinen die ganze Trostlosigkeit der damaligen Zeit: fremde Kriegsvölker unter fremden Feldobersten über deutsches Land dahinfahrend, und Beute machend, wo sie sich findet.
Ende Oktober, gerade als die Schweden einen neuen Feldzug nach Böhmen planten, erscholl plötzlich die frohe, fast unglaubliche Kunde, daß der Friede wirklich geschlossen sei! Voll Ingrimm soll Wrangel darauf hin seinen Generalshut zu Boden geworfen und mit Füßen getreten haben. Denn nun war ja allerdings die Zeit der gewaltthätigen Soldateska vorüber. Das vielgequälte deutsche Volk aber athmete auf und sah endlich nach dem westfälischen Friedensschlusse von 1648 einer neuen und besseren Zeit entgegen. Br.
„Fahrende Leute.“ (Zu dem Bilde S. 481.) So hießen im Mittelalter die umherwandernden Gaukler, Spieler, Sänger, Quacksalber, Tänzerinnen und ähnliches Volk. Völlig rechtlos, waren sie doch vom Volke wohl gelitten, von geistlichen und weltlichen Obrigkeiten vielfach geschützt und in Gnaden aufgenommen. Mancher verlorene Sohn floh zu ihnen, und das Erscheinen ihrer heimathlosen Scharen mit ihrer verlumpten Herrlichkeit, ihrem ungebundenen, genialisch angehauchten Leben steht in einem wunderlichen Gegensatz zu der Philisterhaftigkeit des damals so eng begrenzten bürgerlichen Horizonts.
Das hat sich alles geändert. Die fahrenden Künstler stehen nicht mehr außerhalb des Gesetzes, sie zahlen ihre Gewerbesteuer, und ihr Standplatz wird ihnen polizeilich angewiesen, wenn der Jahrmarkt ihr Publikum vom Lande nach dem Marktflecken zieht. Sie rauben keine Kinder mehr, und kaum mehr wird ein junger Mann aus den höheren Ständen sich unter ihr Dach flüchten, obwohl die Schönheit einer Artistin oder der Schimmer der eigenartigen Freiheit hier und da auf abenteuerlustige Menschen noch einen Reiz ausübt.
Der Maler läßt uns einen Blick hinter die Coulissen einer solchen wandernden Künstlertruppe thun. „Hinter die Coulissen“ ist wohl nicht richtig ausgedrückt. Es ist ein kleines Budenzelt, dessen geflickte Wände sich rechter Hand gegenüber einer Baumallee erheben, und die Artisten stehen, sitzen und liegen in einem durch ihr „Wohnhaus“ und ihren Kunstkarren gebildeten, geschützten Winkelchen auf und neben ihren Requisiten in holder Ungeniertheit herum. Koffer und Körbe liegen im Rasen, und auf dem kleinen eisernen Feldofen brodelt die Mittagsmahlzeit, welche die junge Frau dort soeben zugesetzt hat. Bis das Wasser siedet, bemüht sich ihr Kleinster, die Künstlernatur mit der Muttermilch einzusaugen. Ein allerliebstes nacktes älteres Brüderchen ist trotz seiner Kleinheit Goliath genug, um ein paar Kaninchen in die Flucht zu jagen. Vielleicht haben sie auch den Elefanten zu Gesicht bekommen, und der Schrecken, mit dem einst Pyrrhus den Fabricius einzuschüchtern suchte, ist ihnen in die Glieder gefahren. Mit Unrecht, denn dieser Elefant ist ein sehr harmloser alter Herr, der pater familias, der Vater der Frau und ihrer noch unvermählten Schwester, sowie der beiden zwischen Morgenschläfchen und Neugier kämpfenden Jungen. Der Alte ist zu gymnastischen Kunstleistungen ein bißchen zu steifbeinig geworden und er giebt sich gern zu Arbeiten und Verkleidungen her wie die gegenwärtige, in denen er immer noch seinen Mann stellen kann. Der Schwiegersohn näht ihm eben den zweiten Stoßzahn an, und das Unthier macht bereits ein recht bedeutendes Gesicht. Wenn auch der Neger, über dessen Heimath die Meinungen getheilt sind, seinen breiten Mund grinsend verzieht, auf die Kleine aus dem Nachbarzelt macht das unheimliche Gebilde doch Eindruck, und die Kinder des Städtchens werden mit wonnigem Grauen den Sprüngen zusehen, mit denen der „Elefant von Borneo“ hinter dem Mohren hertraben wird. Der hübschen, kartoffelschälenden ersten Drahtseilläuferin scheint der Kunstschütze aus dem benachbarten wohlhabenderen Geschäft vergeblich die Cour zu machen. Ein Clown, aus dem im Hintergrunde sich erhebenden großen Cirkus, ist ihm mit ernstgemeinten Absichten zuvorgekommen; der Ehekontrakt wird drüben zugleich mit einem Engagementsantrag wohl noch vor Ende des Jahrmarktes fertig gemacht werden. Und das ist ganz gut, denn das junge Mädchen aus dem dritten Wagen, welches dort beschäftigt ist, Tricots und Strümpfe zum Trocknen zu hängen, hat entschieden ältere Rechte an den Kunstschützen, und sie wirft einen Blick voll Besorgniß nach dem Don Juan, dessen Gespräch mit der Nachbarin eine ganz bedenkliche Länge angenommen hat. O. Justinus.
„Schwaben“. Wenden Sie sich gefl. direkt an eine der von Ihnen selbst genannten Adressen. Das genannte Preisausschreiben ist längst erledigt.
Frau J. K. in Weilburg a. L. Das ist freilich sehr lästig! Versuchen Sie es einmal mit der Lanolinsalbe, die sich nach längeren Erfahrungen als ein treffliches Mittel zur Erhaltung weicher Hände erwiesen hat. Nachdem die Hand mit Seife abgewaschen und gut abgetrocknet worden ist, reibt man die Haut derselben, namentlich den Handrücken mit Lanolin gut ein. In der „Berl. klin. Wochenschrift“ wird folgendes Rezept zur Herstellung einer wohlriechenden Lanolinsalbe oder wie man sonst sagt des Lanolin-Crèmes empfohlen: Man mengt 100 Gramm reinsten Lanolins mit 25 Gramm flüssigem Paraffin zusammen und setzt 0,1 Gramm Vanille und 1 Tropfen Rosenöl hinzu. Das Einreiben der Haut mit dieser Salbe muß jedoch nach jeder Waschung vorgenommen werden.
R. E. in Leichlingen. Der Ausdruck „magerer Magister“ ist so alt wie die Thatsache, daß die Wissenschaft ihre Jünger selten mit irdischen Reichthümern zu versorgen pflegt. „Magister“ war nämlich ursprünglich der Ehrentitel dessen, der ausstudirt hat, und ist dann im Munde des Volkes vornehmlich zur Bezeichnung des „Schulmeisters“ geworden. Daß aber der Stand der Gelehrten sich im großen Ganzen eher durch Magerkeit als durch Leibesfülle auszeichnet, das haben Sie vielleicht selbst schon beobachtet. Den Philosophen Kant konnte man mit besonderem Rechte einen „mageren Magister“ nennen, denn er war von Person äußerst schmächtig und nur fünf Fuß groß. – Was Ihre zweite Frage: „wie stark ist ein Mensch in Pferdekräften ausgedrückt?“ anbelangt, so fehlt es uns im Augenblick an einer genauen Angabe. Vielleicht finden wir später noch etwas darüber und werden dann nicht versäumen, Ihnen zu antworten.
C. E. in Dresden. Das Einreiben des Schuhwerks mit festen Substanzen ist ein allgemein erprobtes Mittel, um die Haltbarkeit des Leders zu erhöhen. Ihre Bedenken dagegen können wir nicht theilen. Unter Umständen kann allerdings die Transpiration der Füße durch das Einreiben gehindert werden und wer stark schwitzt, wird gut thun, das Schuhwerk oft zu wechseln; gegen nasse Füße aber bildet das Einreiben des Schuhwerks ein bewährtes Schutzmittel. – Die von Ihnen erwähnten „Klimax“ können gegen das Durchlaufen der Sohlen und das Schieftreten der Absätze mit Erfolg angewandt werden. Das mit den Eisenstücken benagelte Schuhwerk sieht aber nicht zum besten aus und von dem Gebrauch derselben in Haus und Zimmer dürften unsere Hausfrauen kaum besonders erbaut sein.
Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 469. – Gottfried Keller. Von Rudolf v. Gottschall. S. 474. Mit Porträt S. 469. – Die Wacht an der See im Frühling 1889. Ein Ueberblick von Gerhard Walter (Schluß). S. 475. Mit Abbildungen S. 476, 477 und 478. – Der Vierfingrige. Eine Erzählung von Eduard Engel (Schluß). S. 478. – Blätter und Blüthen: Eine Hirschjagd im Dachauer Moos. S. 484. Mit Abbildung S. 472 und 473. – Fahrende Leute. Von O. Justinus. S. 484. Mit Illustration S. 481. – Kleiner Briefkasten. S. 484.