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Die Gartenlaube (1889)/Heft 27

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[449]

No. 27   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Alfred ließ sich nieder und stützte den Kopf die Hand. Seine Augen hafteten am Boden. So sprach er mehr zu sich als zu Marbod:

„Der Kampf, der zwischen Gerda und mir herrschte, als wir noch vereint waren, oder doch nach Vereinigung strebten – er hat sich fortgesetzt in meiner Seele, – das Gedächtniß – die Phantasie streitet weiter. Wenn ich vergehe vor Verlangen, einmal nur dieses Augenpaar noch zu sehen, einmal nur diese Lippen zu küssen, die mir die höchsten Wonnen verhießen, dann fährt grell und verderblich zündend wie ein Blitz durch mein Erinnern ein Wort, ein Lachen, eine Geste von ihr; das Verlangen wandelt sich in Haß, die Sehnsucht nach dem Kusse in die Begierde, sie schlagen zu dürfen.“

„Mein Gott, sind das menschliche Gefühle?“ fragte Marbod entsetzt.

„Vielleicht die menschlichsten und ursprünglichsten,“ sagte Alfred tonlos; „sieh, ich weiß es, wenn sie jäh vor mir stände, wir wurden uns jauchzend wie Götter in überirdischen Seligkeiten in die Arme sinken und dann – erwachend in neugeborenem Haß uns gegenseitig zu vernichten wünschen. Aber daß ich dies weiß – siehst Du, dies grauenvolle Bewußtsein – das martert mich so entsetzlich … Ich weiß nun besser als ehedem, was dies alles ist. In ihr und mir sind gerade diejenigen Eigenschaften, die wir vielleicht in stiller Erkenntniß an uns selbst tadeln, daran wir vielleicht schwer tragen, vollkommen gleich. Deshalb haßt einer die Fehler des andern, wie man seine eigenen Fehler haßt, wenn man ihnen bei theuren Menschen begegnet – vielleicht, weil man die möglichen unglücklichen Folgen am besten beurtheilen kann aus der Erfahrung eigener Lebensqual heraus. – Dann aber sind in ihr und mir Wesensseiten, die dem


Die kaiserliche Jacht „Hohenzollern“. Nach einer Zeichnung von Hans Hampke.

[450] andern das höchste Glück verheißen, und um dieser himmlischen Verheißung willen ist etwas in uns, das uns zwingt, immer wieder zu versuchen, ob wir uns nicht lieben können.“

Er stand auf.

„Geh zu meiner Schwester,“ sagte er abgewandt.

Marbod sah, wie tief erschüttert der Freund war.

„Es giebt auch noch so etwas wie Selbstüberwindung,“ versuchte er tröstend zu sagen, „zu der ein denkender und erkennender Mensch sich um der Liebe willen zwingen kann. Reise zu ihr und versuche es noch einmal!“

„Umsonst,“ flüsterte Alfred, „sie wird mir auch meine schnelle Heirath nicht vergeben können.“

Und dann, sich gewaltig bezwingend, sprach er heiter:

„Du zeigst keine Eile, Germaine zu verkünden, daß ich Euch meinen brüderlichen Segen gegeben habe.“

Germaine, die vielleicht den Verlauf der Unterredung geahnt hatte und nicht länger imstande war, die Erwartung zu ertragen, erschien auf der Schwelle. Ihr Antlitz glühte, ihre Augen leuchteten.

„Marbod,“ fragte sie laut, „denken Sie noch, daß ich unrecht thue, Sie so anzusehen, wie meine Seele fühlt?“

„Germaine!“ rief er zu ihr eilend, „so haben Sie mich durchschaut?“

„Ganz und gar,“ sagte sie mit glücklichem Lächeln.

„Und so wissen Sie auch, wie grenzenlos ich Sie liebe!“ rief er und zog sie an sein Herz.

Alfred konnte den Anblick ihres Glückes nicht ertragen, er trat an das Fenster, preßte die Stirn gegen die Scheiben und sah auf die vorbeitreibenden Menschen hinab, die da mit gleichgültigen Gesichtern über die Straße gingen und ihre Noth, ihr Glück, ihren Jammer oder ihre Leere unter ihrer Alltagserscheinung verbargen.

Der unglückliche Mann sah ihnen zu und dachte, daß diese Gleichgültigkeit auf den Menschengesichtern nur wie eine Palimpsestschrift sei, die, fortgewischt, darunter die wahren Schriftzüge der Lebensschicksale erkennen lasse.

Und weiter dachte er, mit wie viel Schriften die Zeit und das Leben auch die Seite bedecken möchten, auf der die Tragödie seiner Liebe gestanden hatte, daß hier, immer wieder lesbar, ihm der eine Name hervorleuchten müßte, der ihm Leben und Tod bedeutete. Gerda!




14.

Das ganze Leben in der Weltstadt hatte gedämpfte Töne angenommen. Der Himmel selbst hatte einen Schalldämpfer auf die lautklirrenden Saiten des Rieseninstrumentes gesetzt. Seit Tagen lagen Schneemassen in kaum zu überwältigender Menge in den Straßen. Weihnachten stand vor der Thür, und trotz der bösen Zustände auf den Gassen hatte der Verkehr eine beängstigende Lebendigkeit angenommen.

Vom Fahrdamm waren die Schneemassen möglichst hinweggeräumt und lagen als Wälle an den Grenzen der Bürgersteige. Da und dort hatte man in diese weißgrauen, langgestreckten Haufen Bresche gemacht und die Fußgänger schlüpften durch die sich schnell verbreiternden Lücken herüber und hinüber. An den Pferdebahnzeilen entlang waren emsig Männer mit Spitzschaufeln beschäftigt. Dumpf und zurückgehalten klang das Rollen der Räder und der schnelle Tritt der Rosseshufe. Schriller aber als sonst klang die Warnungspfeife der Pferdebahnkutscher.

Die tausendfältigen Wärmeströme, die in den Straßen einer großen Stadt tagsüber zusammenfließen, bewirkten zwar kein Thauen des Schnees, aber doch ein feucht aufsteigendes Verdunsten. Bläulich und unrein schien die Luft und verdichtete sich in der fernen Perspektive der Straßenzeilen zu grauem Nebel, durch den die Lichter, die man eben entzündete, wie glanzlose rothgelbe und weißbläuliche Punkte blinkten.

Aus den Fenstern des Café Bauer brach schon lange ein heller Lichtstrom, als es draußen noch Tag war. Oben in den warmen und gemächlichen Leseräumen hatte Doktor Moritz Bendel eine Stunde lang gesessen und bezahlte eben seinen Kaffee, als die Gräfin Mollin mit der Mara und dem kleinen Prasch erschien. Die dunkeläugige Sängerin, die jüngst als Carmen große Erfolge errungen hatte, war für Doktor Bendel nicht ganz gleichgültig. Eingeweihte sagten sogar, er wolle sie heirathen, finde jedoch in ihrem Herzen noch allzu lebhaft die Erinnerung an den „Traum Haumond“, wie die Mollin jene flüchtige Beziehung nannte.

Die Gräfin war sehr heiter. Ihr Schützling hatte sein Hölderlin-Buch herausgegeben und von einem berühmten Goetheforscher, dem er es zugesandt, einen lobenden Brief bekommen. Die Begegnung mit Bendel war ihr deshalb sehr gelegen, sie konnten dem erfahrenen Journalisten den Brief gleich zu lesen geben, denn Prasch hatte ihn immer bei sich. Mit der ihr eigenen Lebhaftigkeit trug sie die Sache vor.

Bendel wechselte indeß mit der Sängerin einen Händedruck, hörte achtungsvoll zu und fragte endlich, als die Gräfin Prasch den Brief aus der Hand gerissen und ihm sogleich vorgelesen hatte, mit seiner sanftklingenden Ironie:

„Sie theilen mir den Brief mit, weil Sie auf eine Indiskretion meinerseits hoffen?“

„Das nicht gerade,“ sagte der naive Prasch, „aber ich möchte wohl hören, ob ich diesen Brief drucken lassen kann.“

„Wie Ihr Taktgefühl es Ihnen gebietet,“ meinte Bendel, der nie einen Rath ertheilte.

Die Gräfin holte sich fünf Blätter vom Zeitungsständer und kam mit dem zusammengerollten Lesestoff wieder an den Tisch.

„Sie entschuldigen! Aber ich suche eine Notiz.“

Herr von Prasch bestellte für sie und sich Thee, Fräulein Mara befahl ein Glas Melange, und man setzte sich nun erst. Die ganze Briefgeschichte hatte die Mollin stehend vorgetragen.

„Ich möchte wohl mein Buch Steinweber schicken. Er ist Ihr näherer Bekannter, nicht wahr? Wissen Sie seine Adresse?“ fragte Prasch.

Bendel nannte Marbods Wohnung.

„Man sieht weder ihn noch Haumond irgendwo,“ sprach der kleine Prasch mit seiner hellen, langsamen Stimme weiter; „irgend jemand hat mir eine ungeheuerliche Geschichte erzählt; man sagt, Haumond werde geschieden von der Frau, die er Anfangs Oktober geheirathet hat, und Steinweber stehe dieser Scheidung sehr nahe. Trotzdem wohne das gewesene Ehepaar unter einem Dache weiter und Steinweber sei täglicher Gast. Sie werden uns das Allergenaueste von der Sache mittheilen können.“

Bendel errieth ganz genau, daß die Sängerin unterwegs Prasch gebeten hatte, die Rede auf diese Geschichte zu bringen. Er sah daher nicht Prasch an, sondern begegnete fest dem dunklen Auge der Mara, als er antwortete:

„Das Allergenaueste kann ich Ihnen freilich sagen, nämlich dies: daß Germaine von Haumond eine edle und tadellose Weiblichkeit besitzt. Warum sie sich schon scheiden lassen, ist ja durchaus eine Frage, die nur die Betheiligten interessirt. Meine Privatmeinung geht dahin, daß Haumond sich so eilig verheirathet hat, um die schöne Baronin zu vergessen, daß es ihm aber durchaus nicht gelungen ist, und daß vielleicht seine große Leidenschaft für diese Frau ihm den Wunsch eingegeben hat, seine Freiheit wieder zu erlangen.“

Dabei sagte sein Blick nach der Sängerin: „Für Dich ist er in keinem Fall wiederzugewinnen.“

„Was für merkwürdige Verhältnisse! Liebe Freundin, glauben Sie, daß Gerda ihn wieder annimmt?“

Die Gräfin fuhr aus ihrer Lektüre auf und sah durch ihren Kneifer abwesend auf den Fragenden und dann sogleich wieder hinein in die Zeitung.

„Warum nicht? Liebe verzeiht viel,“ sagte die Mara.

„Ja, das thut sie,“ stimmte Bendel ihr bedeutungsvoll zu. „Aber auch dies ‚viel‘ hat eine Grenze, an welcher ein Charakter innehält.“

Er erhob sich.

„Sie gehen?“ fragte Prasch ängstlich. Er hatte ja noch keine Gewißheit, ob Bendel für oder gegen die Veröffentlichung des Briefes von dem berühmten Manne war.

„Ich muß. Eine Einladung ruft mich schon früh zum Assessor Ravenswann.“

„Dort verkehren Sie?“ fragte Prasch mit seinem knabenhaften Erstaunen.

„Steinweber hat mich auf Ravenswanns Wunsch eingeführt, schon Anfangs November. Aber allen Einladungen konnte ich nicht folgen, ich war immer schon ‚besetzt‘, bis wir nun von langer Hand vorher den heutigen Abend feststellten,“ erzählte Bendel, indem er sich den Pelz umnahm, die Hilfe des Kellners ablehnend. In [451] der That war er bei drei erfolgten Einladungen nur einmal versagt gewesen, hatte es aber für angezeigt gehalten, sich mehrmals bitten zu lassen.

„Sind Sie morgen um zwölf Uhr zu Hause, mein gnädiges Fräulein?“ fragte Bendel.

„Ich will einmal nachdenken – was ist morgen um zwölf? Probe?“ begann die Mara.

Bendel verbeugte sich rasch.

„O, ich danke. Wenn Sie erst nachdenken müssen, versage ich mir das Vergnügen. Meine Herrschaften, ich habe die Ehre!“

Die Mara bekam ein dunkles Gesicht und schaute dem hochmüthig Davonschreitenden erschreckt nach.

„Behandeln Sie ihn nicht so hautaine,“ sagte Prasch ärgerlich, denn die Mara war für ihn die Verbindungsbrücke zu dem einflußreichen Bendel, „er ist ein ganz bedeutender Mensch von unantastbaren Gesinnungen. Wirklich anständig. Eine brillante Partie obendrein. Soll ich morgen zu ihm gehen und ihm sagen, Sie lassen ihn doch bitten, zu kommen?“

Mit solcher Freudenbotschaft konnte er dann in einem Athem bitten, eine Notiz über sein Buch zu verfassen.

„Meinetwegen,“ sagte die Mara, der eine solche knappe Abfertigung ganz neu und einschüchternd war. –

Es schlug gerade acht Uhr, als Bendel in das Zimmer der Frau Marie Ravenswann trat, wo er außer dem Ehepaar noch die unvermeidlichen Schneiders traf die, bis über die Ohren hinter Vorurtheilen gegen den ihnen persönlich unbekannten Bendel verschanzt, steif und stumm dasaßen.

Ravenswanns waren auch etwas verlegen. Sie wußten doch nicht recht, welchen Ton sie gegen den fremden Gast anschlagen sollten, mit dem sie wohl in einer Stadt, aber nicht in einer Kultursphäre lebten.

Aber Bendel war nicht die Persönlichkeit, sich durch irgend welche Menschen oder irgend welche Situation die vollkommene Sicherheit und Ruhe seiner Gedanken und Bewegungen rauben zu lassen. Er war im Frack mit dem chapeau claque erschienen; als Ravenswann eine Bemerkung darüber machte und sagte, daß man hier ganz einfach unter sich sei, entschuldigte Bendel sich; er müsse später noch den Jour fixe der Freifrau Hammerburg besuchen.

„Sie verkehren dort?“ fragte Marie, die das Haus dieser Dame unter den ersten der Residenz hatte nennen hören.

„Viel,“ sagte Bendel einfach. „Die Freifrau liebt, wie Sie wissen werden, Wagner sehr. Ich theile diese Idolatrie. Wir finden uns oft in gemeinsamem Wirken für des Meisters Musik zusammen. Ich möchte Ihnen dringend rathen, sich einmal Zutritt zu unseren Konzerten zu verschaffen; dort erst lernen Sie kennen, was man tout Berlin nennt. Es kann Ihrem Gatten durch seine Verbindungen doch nicht schwer fallen, vielleicht gar Mitglied unseres Vereins zu werden.“

Durch diese Erzählung war Bendel den Anwesenden mit einem Male ganz wichtig geworden. Vorher hatten sie sich gewissermaßen vor einander entschuldigt, daß man sich im Grunde nichts vergebe, wenn man auch einmal mit einem Journalisten verkehre, den man ja nicht bei großen Gesellschaften einzuladen brauche. Nun schien er plötzlich sogar über sie hinaufgerückt. Die Mienen wurden heiterer, der Ton traulicher.

„Ich hoffte, Steinweber und Haumond hier zu treffen“ sagte Bendel, als er nachher neben Frau Mietze zu Tische saß.

Tödliches Schweigen legte sich über die Tafel.

„Wir verkehren nicht mehr,“ sagte Ravenswann endlich, sich räuspernd.

„O, das thut mir leid für Sie,“ sprach Bendel mit der größten Unbefangenheit; „beide Männer sind bedeutend, die junge Frau sehr anziehend.“

„Daß sie Verstand haben, spreche ich ihnen nicht ab, nur hat dieser sie doch nicht davor geschützt, sich sehr unverständig zu benehmen,“ erklärte Ravenswann. „Was die junge Frau betrifft, der ich so wenig wie dem besonnenen Steinweber dergleichen zugetraut hätte, so habe ich meiner Frau verboten, sie noch zu empfangen.“

„Sie sehen mich erstaunt,“ rief Bendel, „was ist vorgefallen? Was haben diese drei Menschen begangen, das sie von der Gesellschaft scheiden sollte? Haben sie sich als Nihilisten entpuppt?“

„Die reine Anarchie herrscht wenigstens bei ihnen,“ brummte Schneider.

„Meine Gnädige, klären Sie mich doch auf!“ bat Bendel. Jettchen Schneider schlug die Augen nieder und schüttelte sanft die blonden Locken.

„Ich verstehe nicht, was da vorgeht. Sie müssen wissen, ich habe so jung geheirathet und mein Mann hat meine Seele so sorgfältig davor behütet, die Abgründe kennen zu lernen, die das moderne Leben birgt, daß ich wirklich nicht verstehe, was da vorgeht.“

„Ich will Ihnen sagen, was wir wissen,“ begann Mietze entschlossen. „Es hat mich furchtbar mitgenommen, ich habe so viel von beiden gehalten und so viel für beide gethan. Wirklich, ich hätte besseren Dank verdient, als daß sie mir solche Geschichten machen.“

„Ihnen? So haben sie sich gegen Sie vergangen?“

„Natürlich treffen solche Skandalgeschichten doch auch den Kreis mit, in welchem die Betreffenden verkehrten. Schon unsertwegen hätten sie das nicht dürfen. Denken Sie nur, Haumond und Germaine lassen sich scheiden; die Scheidung wurde schon nach vierwöchiger Ehe eingeleitet. Daß Sie aber davon nichts hörten, begreife ich nicht.“

„Natürlich habe ich das gehört,“ gab Bendel zu, „ich finde das außergewöhnlich, aber weiter nichts. Man löst ein Band, das, wie ich höre, nur zum Schein bestand und nicht einmal in der Kirche gesegnet war.“

„Das ist doch s-tark genug. Die ganze kurze Ehe nur eine Komödie. Ich kann Ihnen sagen, daß es Ravenswann und mir schrecklich genug ist, uns ahnungslos zum Mits-pielen hergegeben zu haben. Aber nicht genug damit: Germaine, diese blonde Heuchlerin, die vor mir so sittig und s-till that, hat eine Liebschaft mit S-teinweber. Sie wollen sich heirathen. Alfred ist bei alledem ein Herz und eine Seele mit beiden. Aber sie hat schon vor ihrer Heirath ein Verhältniß mit S-teinweber gehabt, das weiß ich ganz genau.“

„Von wem?“

„Alle Leute sagen es.“

„Meine Gnädigste,“ begann Bendel und wußte, ohne seinen Ton zu heben, doch seiner Stimme einen eindringlich scharfen Druck zu verleihen, „meine Gnädigste, ich gebe zu, daß alles, was Haumond und Steinweber – meine Freunde, wie sie mir hoffentlich gestatten, sie zu nennen – daß alles, was sie jetzt thun, sehr ungewöhnlich ist. Sie gehen nicht im Geleise des Alltagslebens. Darf ich Sie fragen, ob das Ungewöhnliche als solches, auch ohne Kenntniß der Gründe, Ihnen schon verdammenswerth erscheint?“

„Was sollen da wohl für Gründe sein? Uebers-pannte Menschen sind sie, ohne Moral,“ sagte Mietze entrüstet.

Bendel pflegte sonst nicht mit Leuten zu streiten, die nicht logisch antworteten. Hier aber bemühte er sich, Marien näher zu kommen, die sich von den Anwesenden offenbar für die Nächstbetheiligte hielt und die Unterredung führte.

„Sehen Sie, meine gnädige Frau, ich denke mir so: ein guter Christ und humaner Mensch, der seinen lieben Nächsten etwas scheinbar Unbegreifliches thun sieht, läßt ihn still seine besonderen Wege gehen in der Annahme, daß sich die Gründe der ungewohnten That wohl eines Tages von selbst enthüllen werden. Wenn ich Beweise habe, daß ein Mensch vornehm empfindet und klar denkt – solche Beweise gaben unsere beiden Freunde – gebe ich ihm gewissermaßen moralischen Kredit. Ich glaube an ihn, auch wo ich ihn nicht verstehe. Ich sage mir, es ist eben nicht jedermann gegönnt, gemächlich auf glattem Wege vorwärts zu wandern. Ich wünsche dem Abirrenden eine gefahrlose Wiederkehr auf den ruhigen Pfad. Aber ich hüte mich, ihn anzuklagen, denn seine Gründe können die reinsten und zwingendsten sein, und ich selbst kann nie wissen, ob ich nicht auch eines Tages, wider Wunsch und Willen, mich in Lagen versetzt sehe, wo ich dann der Unverständliche und Ungewöhnliche bin.“

„S-prechen kann man wunderschön über so was,“ sagte Marie erregt, „für einen Junggesellen wie Sie ist es ja auch was anderes, mit so viel bes-prochenen Menschen zu verkehren. Wir mußten es aufgeben, so leid es mir für Haumond that, der es hätte besser haben können. Ich bitte Sie bloß – was für Gründe können da vorliegen?“

Bendel lächelte etwas und ließ seine Phantasie reden.

„Zum Beispiel könnte eine Testamentsbestimmung Alfred auferlegt haben, Germaine zu heirathen, und die Rücksicht auf den [452] Wunsch Verstorbener war bestimmend. Mir ist sogar, als hörte ich dergleichen. Vielleicht handelt es sich um eine Vermögenszuschiebung, die nur möglich war, wenn Germaine gesetzlich den Namen Haumond trug. Vielleicht hatte Alfred die ritterliche Idee, eine arme Waise in dieser Form vor Noth zu schützen. Oder ein Familiengesetz zwang Alfred, bis zu einer bestimmten Frist vermählt zu sein. Vielleicht auch …“

„Der Novellist spricht aus Ihnen,“ sagte Ravenswann.

„In der That würde ich eine Wette annehmen, in zehn verschiedenen Fassungen eine Novelle über den Fall zu schreiben, wobei die Betheiligten immer unschuldig erschienen. Ich weiß, der gedruckten Novelle würden Sie glauben. Den Romanen, die unsere Nebenmenschen leben, glauben wir nie die Schuldlosigkeit. Das kommt vielleicht aus der Erkenntniß, daß wir alle von Adam und Eva abstammen und uns vor Sündenfälligkeit selbst nicht sicher fühlen.“

„Das kann ich von mir Gott sei Dank nicht sagen,“ meinte Frau Marie mit erregter Stimme, „ich bin in soliden Verhältnissen aufgewachsen und wäre gar nicht ims-tande, etwas Unpassendes oder gar Sündhaftes zu thun.“

„Ich beneide Sie um dies Bewußtsein,“ sagte Doktor Bendel.

Schneider hatte während des Gespräches immerfort gegessen und aß auch ruhig weiter, als seine Frau jetzt mit einem Seufzer bat:

„Sprechen Sie doch von weniger peinlichen Dingen. Mietze ist, wie soll ich sagen, eine robuste Natur; mich macht es schamroth, nur solche Fragen diskutieren zu hören.“

So sprach man denn von anderen Dingen.

Marie Ravenswann aber, die sich sonst eines festen und traumlosen Schlafes erfreute, konnte lange nicht die Augen schließen. Das gewisse Lächeln Bendels empörte sie immer von neuem, als er gesagt „ich beneide Sie um dies Bewußtsein.“ Er hatte gerade so gelächelt, als ob er ihr auch alles mögliche zutraue. Vielleicht deutete er ihre eifrige Theilnahme an Haumond falsch. Das wäre nun gar empörend.

Und Marie bewies ihren eigenen Gedanken mit hundert unwiderleglichen Gründen, daß sie Alfred bloß Theilnahme schenke, weil er ihres Mannes Jugendfreund gewesen war und weil sie gehofft hatte, bessernd auf ihn einzuwirken.

Noch am andern Morgen war sie durch diese Gedanken zerstreut und hörte gar nicht zu, als ihre Köchin ihr von den Bewohnern des zweiten Stockes eine lange Geschichte erzählte.

Wie wurde ihr aber, als das Stubenmädchen ihr bald nach zwölf Uhr eine Karte in das Zimmer brachte!

„Alfred von Haumond.“

(Fortsetzung folgt.)




Dresden in den Tagen des Wettiner Jubiläums.

Von Dr. Franz Koppel-Ellfeld.

Der Festwagen „Sachsen“. Entworfen von Professor F. Rentsch.

So weit die deutsche Zunge klingt, ist keine Stadt, die von Natur und Kunst zum Schauplatz für prunkvolle Feste so ganz und gar geschaffen erscheint wie das schöne Dresden. Prachtliebende Fürsten, in deren Glanzperiode jeder Tag ein Fest war, haben der sächsischen Residenz im vorigen Jahrhundert einen Weltruf als Feststadt gegründet; eine geradezu geniale Vergnügungssucht verschönte neben Kunst und Wissenschaft das Leben am galantesten Hof Europas. Das Grandiose und Barocke verschmolzen zu einem Dresdener Feststil, der seine ganz eigenthümliche lokale Berechtigung hatte. Ausschließlich die Fürsten waren die Festgeber, und in diesem Sinne gilt das Wort: Dresden ward durch seine Fürsten groß.

In der modernen Großstadt Dresden strömte in diesen Tagen der Sommersonnenwende das ganze sächsische Volk zusammen, um seinem geliebten Fürstenhaus ein Fest zu veranstalten, das einzig in der Welt dastehen dürfte. Die Wettin-Feier bildete in der That einen alles überragenden erhöhten Moment im Dasein des Sachsenvolkes, sie ließ als ein Symbol edelster Art die Idee der Zusammengehörigkeit von Fürst und Volk eine aller Welt verständliche sichtbare Gestalt annehmen.

„Wir feiern,“ sagte als Festredner der technischen Hochschule des Landes der bekannte Historiker Arnold Gaedeke, „ein in seiner Art einziges, noch nicht dagewesenes Fest, die achthundertjährige Vergangenheit eines der ältesten und berühmtesten deutschen Fürstengeschlechter, dessen blühender Stamm dem Lande eine weitere, hoffnungsreiche Zukunft verspricht … Was der Feier erhöhte Bedeutung verleiht, ist das Gefühl achthundertjähriger Zusammengehörigkeit mit dem Herrscherhaus in guten wie

[453]

König Albert und Königin Karola von Sachsen.
Nach einer Photographie von Otto Mayer, Hofphotograph, in Dresden.

[454] in schlimmen Tagen. Keinem der regierenden Häuser ist es vergönnt, auf eine gleich lange Epoche geschichtlicher und staatlicher Vergangenheit zurückzublicken . . . Wie der einzelne Mensch in dem Kampf von Gegensätzen reift, in welchen das Leben ihn nun einmal gesteckt hat, so beruht der Fortschritt des Menschengeschlechtes darauf, daß die Gegensätze in der Geschichte des menschlichen Geistes und der Völker in eine höhere Einheit aufgehen.“

Zu den Fortschritten des Menschengeschlechtes haben Fürsten und Volk in Sachsen zu allen Zeiten Schulter an Schulter in ernster Arbeit redlich beigesteuert und zu dem „Aufgehen der Gegensätze und der Völker in eine höhere Einheit“ haben die beiden jüngsten der Wettiner Herrscher, der verstorbene König Johann und der regierende König Albert, in hervorragender und das ganze deutsche Volk zu ewiger Dankbarkeit verpflichtender Weise gewirkt.

Das Bewußtsein davon verlieh der Feststimmung eine unaussprechliche Weihe, es war der Grundton, auf den die begeisterten Akkorde des Volksjubels gestimmt waren.

Werfen wir einen Blick auf die Tag und Nacht von freudig erregter Menge belebte Stadt im Schmuck ihres Festgewandes! Da wird es gleich jedem klar, warum Herder recht hatte, wenn er ganz im Geiste Winckelmanns Dresden für alle Zeit auf den Namen „Elbflorenz“ getauft hat. Dem unbefangenen Beschauer macht sich die spezifisch künstlerische Atmosphäre dieser Stadt sofort fühlbar, der tiefer Eingeweihte erkennt „die vorgeschobene Kolonie des Südens, Italiens und seiner Künste“ in ihr. Die dekorirende Kunst hat das Ihrige gethan, diese eigenartigen Eindrücke zu erhöhen.

Daß dem großartigen Fest der Gedanke zu Grunde liegt, die ruhmreiche Vergangenheit im dankbaren Gedächtniß wieder aufleben zu lassen, haben die ausschmückenden Künstler dadurch aufs sinnigste zu veranschaulichen gewußt, daß sie alle Standbilder in der Stadt mit duftig grünenden und blühenden Blumenbeeten umgeben, ja die Plätze stellenweise in förmliche Palmen- und Lorbeerhaine gehüllt haben. Unter allen leuchtet das Denkmal des deutschen Reformators hervor, der, im Festzug nicht vertreten, sozusagen einen Ehrenplatz inmitten eines bewimpelten Mastenwaldes am Neumarkt einnimmt dicht bei dem Pavillon des Königs, dem Mittelpunkt der ganzen Feier. Der Blumenschmuck ist bei dem Luther-Standbild so reichlich ausgefallen, als ob der Rosenmond alle seine Rosen, Lieblinge bekanntlich des Reformators, ihm zu Füßen gelegt hätte. Blumen sind kein allegorischer Schmuck, sie sind lebendige Huldigung, sie sprechen klar und deutlich zu den Sinnen und Goethe hat gesagt: „Wer nicht klar zu den Sinnen spricht, der redet auch nicht rein zum Gemüthe.“ In dem festgeschmückten Dresden spricht diesmal alles klar zu den Sinnen und rein zum Gemüthe. Die herrliche Natur, die überall hereinragt, half Dresden bräutlich schmücken; von welcher der drei großen Elbbrücken aus man die Blicke schweifen läßt, überall Herrlichkeit und Pracht; in solchem Glanz hat Elbflorenz noch niemals gestrahlt. Gäste, die jüngst Rom und Berlin beim Kaiser- und Königsempfang bewundert haben, sagen, daß sie am Tiber und in der Reichshauptstadt kaum so Großartiges zu schauen bekamen.

Wollte man einen Vergleich ziehen mit der Kunstschwesterstadt an der Isar, wo die Wittelsbacher das 700jährige Jubiläum feierten, so würde es wohl daraus hinauslaufen, daß München malerischer, Dresden plastischer zu dekoriren versteht. Das entspricht der künstlerischen Besonderheit beider Städte. Dresden ist heute eine Bildhauerstadt; der Festgast, der von der Augustusbrücke aus den eigenartigen Platz betritt, der von Brühlscher Terrasse, Schloß, katholischer Kirche, Zwinger, Museum, Theater und Elbufer umrahmt wird, fühlt sich sofort im Bann von Plastik und Architektur. Dem weltberühmten Ensemble entsprechend, hat dort zur Jubelfeier die plastisch-architektonische Dekoration sozusagen den Höhepunkt erstrebt.

Zur Ausführung konnte niemand mehr berufen sein als Johannes Schilling. Der berühmte Bildhauer schuf, von seinem Sohn, einem talentvollen Architekten, unterstützt, einen durch Einfachheit und edle Verhältnisse vornehm stilvoll berührenden monumentalen Festschmuck, Malachit-Obelisken mit Kolossalfiguren der Vergangenheit und Gegenwart.

Würdig reihen sich daran die künstlerischen Tribünenbauten auf dem Alt- und Neumarkt.

Der Dresdener Altmarkt hat fast die saalartige Geschlossenheit des St. Markusplatzes in Venedig, er eignet sich daher ganz besonders zu terrassenartig aufsteigenden Langbauten. Der Architekt Adam, vom „Durchbruch“ her in bestem Andenken, hat, diese Eigenthümlichkeit betonend, wahre Prachtbauten von Tribünen geschaffen, die von farbenprächtigen Pavillons mit Baldachinen und Blumenminareten flankirt werden, riesige Makartbouquets scheinen hier in den Lüften zu schweben, während das Siegesdenkmal, die Germania von Henze, aus Fächerpalmen von ganz ungewöhnlicher Größe inmitten des Platzes hoheitsvoll hervorragt.

Auf dem Neumarkt fühlt man sich in die Prunkzeit Augusts des Starken versetzt. Mit dem Königspavillon hat Baurath Weidner etwas Großartiges geschaffen; edelste Renaissance und dabei in der stofflichen Ausstattung mit Velarien, Baldachinen, Goldgrundgobelins, Ornamenten und Bildschmuck so malerisch packend, als hätte die Hand Paolo Veroneses mitgeholfen. Entsprechend reich gehalten sind die von Professor Giese ausgeführte Fronttribünen mit ihren einladenden Pavillons, dem Schmuck der Mauer- und Stadtkrone, den Kuppeln, den blumengefüllten goldenen Vasen, den Zeltdächern, den zahllosen Flaggenmasten und Guirlanden.

Dresden-Neustadt hat auch einen Markt mit dem goldenen Reiterstandbild Augusts des Starken, auch seinem Andenken hat Dresden einen Blumenschmuck ohnegleichen gewidmet. Die Neustädter-Hauptstraße, ein weltbekannter richtiger Boulevard von der Elbe bis zum Alberttheater, gehört zur via triumphalis. Architekt Schubert hat sie durch eine riesige Ehrenpforte mit künstlerisch ausgeführten Velarien, durch Pyramiden und sonstigen farbenprächtigen Straßenschmuck charakteristisch ausgestattet. Einen geradezu pompösen Abschluß findet diese Feststraße in dem halbkreisförmig mit Tribünen versehenen Albertplatz mit der Siegessäule und der von Bildhauer Schulze modellirten Viktoria. Die bekannten Wasserbassins, die nächstens durch Gruppen von Bildhauer Dietz werden verherrlicht werden, bilden geschmackvolle Seitenprospekte.

Der prächtigste aller Triumphbogen aber ist der erste, welchen der Festzug passiren mußte, an der Kreuzung der Prager- und Sidonienstraße.

Hier ragen einzig schöne gelblich abgetönte Marmorsäulen in die Luft und die Velarien (von dem Hoftheatermaler Riek) sind von überraschender Schönheit. Das Ganze bezaubert durch Stilgröße und edle Harmonie, kein Wunder, denn der Entwurf rührt von Baurath Lipsius her, der eben erst von Griechenland zurückgekommen ist und attische Anregung frisch verwerthet zu haben scheint.

Selbstverständlich hat die dekorirende Kunst nicht versäumt, gleich an den Bahnhöfen die Festgäste in monumentaler Weise willkommen zu heißen, selbstverständlich wimmeln alle Plätze und öffentlichen Gebände von statuarischem und bildlichem Schmuck aller Art, ganz Dresden ist einfach ein Festplatz, man sieht vor Triumphbogen, Ehrenpforten, Obelisken, Rostralsäulen, Flaggmasten, Velarien, Baldachinen und zeltbespannten Balkonen, Guirlanden und Blumenranken die eigentliche Stadt nicht mehr.

Dafür aber sieht man Eines überall, das köstlicher ist als all die farbige Herrlichkeit, und das ist die Liebe eines ganzen Volkes, die Treue eines unverwüstlichen echten deutschen Stammes, der sonst kein Aufsehen mit seinen herzlichen Gefühlen fürs große und fürs engere Vaterland zu machen gewohnt ist, heute aber einmal aus sich herausgetreten ist und nun aber auch mit den heißblütigsten Söhnen des Südens in lauten Zeichen der Verehrung wetteifert.

Der fromme Sinn der Wettiner war stets beflissen, Gott vor allem die Ehre zu geben. Daher die eigentliche Wettin-Feier erst mit dem für alle Kirchen des Landes angeordneten Festgottesdienst am Sonntag den 16. Juni ihren Anfang nahm. Die glänzendste kirchliche Feier vollzog sich natürlich in der katholischen Hofkirche zu Dresden, wo der Hochaltar im berühmten Silberschmuck erstrahlte und Bischof Bernert das Hochamt celebrirte. Dazu erklangen das Hassesche Requiem und die achte Messe von Reissiger, durch die königliche Kapelle und den Hofkirchenchor ausgeführt.

Kein Gotteshaus der Welt hat über ähnliche musikalische Kunstunterstützung zu verfügen; Dresdens Hofkirche steht seit anderthalb Jahrhunderten ganz einzig in ihrer Art da. Es war somit ein eigengearteter Ruhmesglanz des albertinischen Hauses, der über dieser Kirchenfeier lag

Schon mehrere Tage zuvor war der außerordentliche Landtag eröffnet worden. Die getreuen Stände nahten nicht mit leeren [455] Händen dem angestammten Thron, sie verwilligten als Geschenk des Landes die Summe von drei Millionen Mark. Sie wollten damit nach den Worten des Präsidenten der ersten Kammer „dem Jubelruf des Volkes etwas Dauerhaftes hinzufügen.“ Das Residenzschloß zu Dresden sei die ehrwürdige Heimstätte geworden, von wo aus die Regenten des Landes den Segen über dasselbe verbreitet haben. „Die Stände bitten Se. Majestät, als Zeichen ehrfurchtsvoller Dankbarkeit eine Ehrengabe zu Füßen legen zu dürfen, die Se. Majestät nach freiem Belieben zu möglichst wohnlicher Ausgestaltung Höchstihrer Heimstätte, sowie nach Befinden des Jagdschlosses Moritzburg allergnädigst verwenden zu wollen geruhen möge.“

In diesen Worten liegt ein längst gehegter Wunsch der Dresdener Bevölkerung, das den Verkehr an der wichtigsten Verbindungsstelle zwischen Alt- und Neustadt hemmende Georgenthor endlich fallen zu sehen. Eine würdigere Fassade thäte der alten Sachsenburg ohnehin noth, die stimmungsvollen Höfe aber müßten selbstverständlich unversehrt bleiben.

Der König nahm das Geschenk mit freundlichen Worten an, auch die Königin dankte in ihrer bekannten herzlichen Weise, und am Abend, als die Mitglieder der Ständeversammlung zur Hoftafel versammelt waren, toastete der König mit ergreifenden Worten auf die Zusammengehörigkeit von Fürst und Volk, dankte für all die Beweise von Liebe und Treue und noch ganz besonders für das Geschenk, welches das Land ihm durch seine lieben und getreuen Stände übergeben habe.

Am gleichen Abend brachten die Studirenden der technischen, sowie der thierärztlichen Hochschule zu Dresden, der Freiberger Bergakademie und der forstwissenschaftlichen Hochschule zu Tharand den königlichen Majestäten einen solennen Fackelzug, der trotz eines heftigen Regengusses ganz glänzend verlief.

Am Vormittag hatte der Festaktus der technischen Hochschule in der festlich geschmückten Aula des Polytechnikums stattgefunden, bei welchem Professor Gaedeke die Festrede hielt, die mächtigen Eindruck machte.

Bei dem Wettiner-Kommers der vier vereinigten Hochschulen sprach wie immer zündend der beliebteste Schönredner Dresdens, Professor Fritz Schultze.

Von dem Augenblick an, da die Majestäten von ihrem Sommeraufenthalt zu Strehlen ins königliche Residenzschloß übergesiedelt waren, schien die Volksbewegung in den Straßen den Gesetzen für den Kreislauf des Blutes zu folgen; die Residenz des Königs an der Elbe war das Herz, von dem alles ausging und zu dem alles zurückströmte. Die Stauungen in der Hochfluth nahmen oft lebensgefährlichen Charakter an; es glaubte schon keiner mehr zu schieben, jeder war froh, wenn er überhaupt geschoben wurde. In den Wogen des Straßenverkehrs litt manches Kostüm, mancher Staatsfrack oder ehrbare Cylinder Havarie, und so leicht die Gedanken über Volksbildung und anderes Humanitäres bei einander wohnen, hart im Raume, der fast schon keiner mehr ist, stoßen sich die Ellbogen.

Das „Armeefest“ war ein völlig einzig in seiner Art dastehender, höchst gelungener Huldigungsakt des gesammten sächsischen Offiziercorps für seinen ruhmbedeckten König und Kriegsherrn.

Wenn man eine militärische Ruhmesthat der Sachsen aus einer Zeit blendender Kostüme und Uniformen zum Mittelpunkt der Huldigung machen wollte, so lag nichts näher, als die berühmte Entsetzung und Befreiung Wiens von den Türken Anno 1683 herauszugreifen, an welcher, wie nunmehr historisch feststeht, Kurfürft Johann Georg III., der „sächsische Mars“, mindestens ebenso viel Antheil hatte wie der darob gefeierte Polenkönig Sobiesky.

Das „Armeefest“ gruppirt sich um die sächsische Beihilfe zu der denkwürdigen That. Die zu dem „Reiterfest“, wie der volksthümliche Ausdruck lautete, eigens erbaute elektrisch erleuchtete Arena in Albertstadt draußen neben der Gardereiterkaserne ward der Schauplatz des glänzendsten und eigenartigsten Schauspiels der ganzen Wettin-Feier. Es war die ungetrübteste Verkörperung des historischen Grundgedankens, es stellte den lebendigen Zusammenhang dar, der von der Lehensgefolgschaft bis zum Volk in Waffen führt. Und wie der Geist, so der Körper: die schönsten Menschen, das erlesenste Pferde- und Kostümmaterial, das je zu einem öffentlichen Schaugepränge verwendet wurde.

Die Einzelheiten: ein mit allen Cirkuskünsten schneidigst ausgeführtes Tatarenfest, eine Dragoner-Quadrille, der Aufzug des polnischen Heeres in geradezu blendender Kostümpracht, das Kaiserliche Heer, ein Ulanenritt mit Schleifenraub, das kurfürstlich sächsische Heer, ein Schulfahren mit echten alten Geschützen, der Einzug der Panzerreiter des Regiments zu Roß „Plotho“, aus welchen die „Gardereiter“ sich entwickelt haben, Kurfürst Johann Georg III. mit Gefolge, die kurfürstliche Infanterie, die Standarte des Hauses Wettin mit der Ehrenwache, alle diese Einzelheiten sammelten sich unter passender Musik am Schluß zu einem überwältigenden Huldigungsakt für den König.

War das „Armeefest“ der Glanzpunkt der Schauspiele, so bildete die Enthüllung des König Johann-Denkmals den eigentlich offiziellen Mittelpunkt der Dresdener Festtage. Es war ein echt königlicher Akt der Pietät, da König Albert bestimmte, daß die Wettin-Feier mit der Enthüllung der Reiterstatue seines hochseligen Vaters zusammenfallen solle.

König Johann war ein Fürst, der in Wahrheit auf der Menschheit Höhen wandelte. Johannes Schillings Meisterhand hat ihn hoch zu Pferd dargestellt, den Krönungsmantel über der Generalsuniform. Als ein echter Fürst des Friedens trägt er das Scepter im rechten Arm, kein Helm bedeckt das Haupt, die Denkerstirn ragt frei empor, die Aehnlichkeit ist geradezu überraschend. Das Denkmal, dessen feierliche Enthüllung, vom schönsten Wetter begünstigt, auf dem Theaterplatz, wo das königliche Haus mit seinen fürstlichen Gästen in einem prächtigen Pavillon versammelt war, programmgemäß verlief, reiht sich den schönsten Monumenten Deutschlands an.

Der Enthüllungsfeier war am Vormittag des 18. Juni eine große Parade über Truppen aller Waffengattungen auf dem Alaunplatz vorangegangen. Zu derselben war Kaiser Wilhelm II., am Leipziger Bahnhof von König Albert empfangen, von Berlin herübergekommen. Von dem denkbar glänzendsten Gefolge von Fürsten und hohen militärischen Würdenträgern umgeben, wurden beide Regenten auf dem Weg dahin und zurück von undurchdringlichen Volksmassen mit unbeschreiblichem Jubel begrüßt.

Der letzte offizielle Festtag, der 19. Juni, brachte die beiden volkstümlichsten Huldigungsfeste: den vom ganzen Land dargebrachten Festzug und das von der Stadt gegebene Abendfest auf der Brühlschen Terrasse mit italienischem Feuerwerk. Der Festzug hat eine seiner Zeit vielbesprochene Entstehungsgeschichte. Gleich mit der ersten Anregung zur Jubelfeier tauchte auch der Festzugsplan auf. Neben dem großen Landesausschuß und den einzelnen Festausschüssen ward auch ein Festzugsausschuß eingesetzt. In Verbindung mit letzterem plante die Dresdener Kunstgenossenschaft einen historischen Festzug. Man erkannte aber bald, daß diese Form zu wenig Raum bieten würde für die Darstellung der Gegenwart und daß ein Huldigungsakt aller Faktoren derselben, wie er vom ganzen Lande gewünscht wurde, auf diese Weise nicht zustande kommen würde. Den Künstlern wurde für ihre bisherige Mühewaltung der Dank ausgesprochen und ein neuer Festausschuß, welcher einen allgemeinen Huldigungszug auf breitester Grundlage ins Leben rufen sollte, gebildet. Die Sache machte manchen anfangs etwas stutzig, bald aber zeigte der Erfolg, daß man just das Richtige getroffen hatte. Kein Stand, keine Bevölkerungsschicht, kein Zweig der Industrie blieb zurück, und so kam der Jubiläumsfestzug zustande, welcher allen Zuschauern unvergeßlich bleiben wird. Er bot eine wunderbar glückliche Mischung von Geschichte und Vergangenheit. Voraus die Ritter der Erblande mit dem Reichsbanner, dann der sogenannte Turnierzug, die Lehnsmannschaft des Markgrafen Friedrich des Ernsthaften; alle Theilnehmer stammten von Geschlechtern ab, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts turnierfähig waren. Sie ritten in prachtvollen Kostümen auf prächtigen Pferden in zwei Zügen, die meißnische und die thüringische Mannschaft, die Trompeterchöre bliesen die von Karl Grammann komponirten Fanfaren.

Dann kam die Ritterschaft der Oberlausitz in prächtigen, von Professor Scholz entworfenen Kostümen des 17. Jahrhunderts; ihnen folgten die drei Residenzstädte Meißen, Freiberg, Dresden. Eine unserer Abbildungen zeigt den von Profeffor Rentsch entworfenen Schauwagen der Stadt Dresden, die Figur der Dresda unter einem gothischen Baldachin, auf dem Vordertheil des Wagens drei schilfbekränzte weibliche Gestalten: Elbe, Weißeritz, Prießnitz. Der nächste schöne Schauwagen, vielleicht der gelungenste des ganzen Zuges, war [456] der Wagen des Kurfürsten August, der Mittelpunkt des wunderbaren von Architekt Hauschild genial entworfenen Jagdzugs des Jagdschutzvereins.

Große Aufmerksamkeit erregten auch die landwirthschaftlichen Gruppen, die Altenburger, die Wenden und Oberlausitzer mit ihrem originellen Hochzeitswagen; die Gartenbauvereine, der Bergbau und das Hüttenwesen mit ihrem Schachtwagen boten farbige Bilder und Abwechslung; nach den Kohlendistrikten kam den sächsischen Städten voran in hellem Glanz der stolze Prachtwagen der Stadt Leipzig, von Architekt Schuster und Maler Wehle entworfen und in vier lebenden Frauengestalten die Stadt Leipzig, die Wissenschaft, Rechtspflege und Musik allegorisch darstellend (vergl. die Abbildung).

Die Stadt Chemnitz zeichnete sich durch einen kühnen und phantastischen Schauwagen aus. Es folgten eine Masse anderer Städte, die Landgemeinden und Vororte Leipzigs und Dresdens; die Universität Leipzig (an 200 Studenten); die Fürstenschulen, der deutsche Turnkreis, die Feuerwehren.

Der Festwagen „Dresden“. Entworfen von Professor F. Rentsch.

Das Verkehrswesen wurde von den Oberpostdirektionen Dresden und Leipzig vertreten in einer historischen Gruppe und einem postalischen Schmuckwagen mit sechs prächtigen Blauschimmeln. Der Wagen der königl. sächs. Staatseisenbahn mit der Lokomotive „Wettin“ (von Prof. Rentsch) verdient besondere Beachtung. Auch die Wagen der Elbschiffahrt (Prof. Donadini) und der Dresdener Straßenbahngesellschaft erregten Wohlgefallen, ebenso der Schmuckwagen des Radfahrerklubs, ganz besonders aber der Ruhmeswagen „Sachsen“. Anderthalbtausend Mann der Militärvereine geleiteten ihn. Unter einem Thronhimmel, auf das sächsische Wappen sich stützend, von Rittergestalten umgeben sitzt die „Saxonia“ auf einem Wagen, der aus lauter Städtewappen gebildet scheint. Diesem ebenfalls von Prof. Rentsch komponirten Prunkwagen folgten die Gewerbe- und Handwerkervereine, die Innungen und sonstigen Körperschaften, die Industrie, von welcher hauptsächlich der Meißner Porzellan-Schauwagen, der Gutenberg-Wagen des sächsischen Buchgewerbes, ein Aufbau von 2 Stockwerken (Prof. Naumann), in deren oberem eine Buchdruckerpresse in Thätigkeit war, sowie der Schmuckwagen der Siemensschen Glasfabriken die Augen auf sich lenkten.

An sechzig solcher Schauwagen enthielt der Zug, der in musterhafter Ordnung in einem Zeitraum von 2 Stunden unter ununterbrochenen Jubelrufen an der königlichen Tribüne am Neumarkt vorbeizog. Der Gesammteindruck spottet einfach der Beschreibung in Wort und Bild. Solche Feste muß man erleben!

Nach dem Festzug schien eine Steigerung der Eindrücke auf dem Boden gemeiner Wirklichkeit nicht mehr möglich, man mußte zu dem geheimnißvollen Zauber einer Sommernacht mit der Phantastik eines märchenhaften Farbenspieles in den Lüften greifen. Der Magistrat der Stadt Dresden, der diesen letzten Trumpf auszuspielen unternommen hatte, that einen guten Griff, römische Feuerwerker kommen zu lassen.

Was die Italiener in pyrotechnischer Kunstfertigkeit leisten, ist weltbekannt. Es wäre unmöglich, beschreiben zu wollen, was sie alles für Kunststücke zur Feier des Hauses Wettin am dunklen Nachthimmel gegenüber dem Belvedere, von wo aus der Hof zusah, in Makartschem Brillantfeuer aufführten. Es war eine strahlende Ruhmeshalle mit den Porträts sächsischer Regenten, eine ans Firmament geschriebene Apotheose des Regentenhauses.

Das Andenken aber an die Wettin-Feier, die Liebe und Treue zu dem Haus Wettin ist ins Herz des Volkes geschrieben, da leuchtet sie und keine Erdenmacht wird sie je verlöschen. Ein unberechenbarer Gewinn liegt in der geschichtlichen Vertiefung des Volksbewußtseins während dieser Festtage, das ganze Thun und Treiben auch außerhalb des Festprogramms wurde geadelt durch den ethischen Gehalt dieser Tage; in hundert und aber hundert Vereinen und geselligen Vergnügungen ward die Feststimmung Herr, am offenbarsten im Hoftheater, wo man Koppel-Ellfelds vaterländisches Schauspiel „Albrecht der Beherzte“ mit rauschendem Erfolge zur Aufführung brachte; in Konzerten und Vorlesungen, aber auch in den vielen Gelegenheitsschriften ward eine gute Saat patriotischer Gefühle ausgestreut, nicht am wenigsten in der vom Preßausschuß herausgegebenen „Festschrift“, in welcher man die Namen aller derer findet, die sich in zeitraubender Ausschußarbeit monatelang um das Zustandekommen des unvergleichlichen Festes die größten Verdienste erworben haben.

Ein Prachtwerk mit den seltensten Kunstblättern wird demnächst erscheinen, „Die goldene Chronik des Hauses Wettin“, von der Literarischen Gesellschaft in Leipzig herausgegeben; es dürfte ganz besonders geeignet sein, die Erinnerung an diese goldenen Dresdener Festtage am häuslichen Herd für alle Zeit wach zu halten.




[457]

Großmutters Geburtstag.
Nach einem Gemälde von J. Kleinmichel. Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

[458]

Der Vierfingrige.

Eine Erzählung von Eduard Engel.

Jetzt thu mir den Gefallen, kleiner Hans, und sitze mal eine Weile still! Deine nervöse Zappelei ist nicht länger zu ertragen!“ –

Der dies sprach und dabei den also Angeredeten mit einer Art von komischer zärtlicher Wuth in die Sofaecke drückte, war reichlich einen Kopf kleiner als der langaufgeschossene, schmächtige „kleine Hans“, aber um so breiter in den Schultern, höher in der Brust, strammer in Haltung und Bewegung. Unverkennbar war er Militär gewesen; der Ton seiner Stimme klang selbst hier zu Hause, in Gegenwart seiner kleinen zarten Frau, wie gedämpfter Befehl vor der Front. Und der „kleine Hans“ gehorchte, halb erschöpft, halb mit lachender Gegenwehr. Er befand sich offenbar in jenem Zustand zitternder Erregung, die durch ihre Dauer und ihr Uebermaß in Abspannung umzuschlagen droht.

„Gut, Richard, ich halte ganz still, nur möchte ich – – endlich einen vernünftigen Tropfen trinken!“ sagte der „kleine Hans“.

„Daß ich daran nicht gleich gedacht habe!“ rief entschuldigend die Frau Polizeihauptmann, Evchen Farne, und wollte zum Zimmer hinaus.

„Hiergeblieben, Evchen!“ kommandirte der Hauptmann. „Du bist imstande, dem Jungen einen Kaffee zu bringen, und davon kann unter obwaltenden Umständen keine Rede sein.“

„Aber –“

„Kein Aber, Hauptmännin! Im Namen des Gesetzes: Du schickst die Minna sofort hinüber ins Domhotel: der Hauptmann Farne läßt sich empfehlen und bittet um eine Flasche Pommery mitsammt Eiskübel. Hans braucht nach der Geschichte so ein Mittelding zwischen Besänftigendem und Anregendem, und beides steckt in dem Pommery“.

„Um diese frühe Stunde Champagner?“ warf jetzt auch Hans, der jüngere Bruder, ein mit einem Blick auf seine Uhr; „es ist ja erst halb Sieben.“

„Na, ein bißchen später ist es hier in Köln doch schon. Hast wohl noch Pariser Zeit? – Aber das macht keinen Unterschied, es bleibt beim Champagner. Wirst mir’s danken. Uebrigens ist’s für mich schon sehr spät, denn Du hast mich ja um drei aus dem Federnest geweckt, Evchen hat seitdem auch keine drei Augen voll Schlaf mehr gehabt – na und Du?“

Hans wollte famos geschlafen haben im Eisenbahnwagen, aber sein Bruder kannte ihn besser. „Bis der Kübel kommt, kannst Du uns schon ein gut Stück der verrückten Geschichte erzählt haben. Bis heute nachmittag um zwei will der Polizeipräsident meinen Bericht haben – also los!“

Und Hans begann:

„Schon auf dem Wege zum Nordbahnhof in Paris –“

„Halt, Hänschen!“ unterbrach ihn der Bruder, „so wird’s nichts. Dies ist weder Rapportstil, noch Erzählstil. Erst möchte ich wissen, warum Du hierher gekommen bist. Bitte, mich nicht mißzuverstehen. Bist mir natürlich von Herzen willkommen, mir und der kleinen Frau; aber bis zu dieser Stunde habe ich keine Ahnung, was Dich herführt. Oder pfuschst Du mir ins Handwerk und bist etwa dem Millionenhalunken von Paris bis nach Köln nachgefahren?“

Aber da kam lachend Hauptmanns Minna mit dem eisgefüllten Kübel herein, aus dem der weißköpfige Pommery sehr vergnügt hervorguckte. Schnell waren die Gläser gefüllt, geleert, wieder gefüllt, und Hans begann:

„Gestern früh um diese Stunde hatte ich von dem Millionenhalunken und davon, daß ich in vierundzwanzig Stunden bei Euch sein würde, keine Ahnung. Aber so gegen neun Uhr fing der Rummel an. – Doch ich sehe, Du verstehst noch nicht. Schadet auch nichts. Kannst trotzdem zu Deinem Rapport ausholen.“

Der Polizeihauptmann zog sein Taschenbuch, spitzte den Bleistift und lauschte. Evchens neugierige, schon gar nicht mehr verschlafene Augen hingen an des Schwagers Lippen.

„Also da ist nun erstlich mal der Krach im Comptoir d’Escompte. Von dem habt Ihr wohl auch gehört, Kinder?“ fragte Hans.

„Selbstverständlich,“ erwiderte Richard; „habe auch gleich an Dich gedacht; aber Du schriebst ja noch vor acht Tagen, Deiner Stellung könne der Krach nichts anhaben.“

„Ja, das schrieb ich damals; aber die Todten reiten schnell. Seitdem hat es munter weiter gekracht, und aus den fünfzehntausend Franken, die ich mir in den sechs Jahren als deutscher und englischer Korrespondent im Kabinet des Direktors erspart hatte, sind heute rund tausend Franken geworden, und allenfalls langt es noch zu einer zweiten Flasche Pommery. Hier siehst Du meine ganze Habe“, – dabei holte er aus einem Visitenkartentäschchen eine einzige zusammengefaltete Tausendfranknote. „Das wundert Dich? Wenn man heutzutage Kupferaktien versilbern muß, kommt nicht mehr heraus. ‚Alles ist weg, weg, weg!‘ ganz wie mir heute nacht die Eisenbahnräder in die Ohren höhnten. Was ist heute für ein Tag?“

„Sonnabend – heiliger Eberhard,“ sagte Richard geschäftsmäßig.

„Und gestern Freitag, natürlich ein Freitag! Und da sage noch einer, man solle nicht abergläubisch sein. Komme ich da gestern morgen wie gewöhnlich gegen halb zehn Uhr vors Comptoir d’Escompte in der Rue Bergère. Am Abend zuvor war ich mit dem Subdirektor und dem ersten Kassirer im Theater der Porte St. Martin gewesen, hatte spät Abendbrot gegessen, war mit den Herren bei schönem Frühlingswetter noch einmal die Boulevards auf- und niederspaziert und dann erst gegen ein Uhr zu Bett gegangen. Ich hatte dann unruhig geschlafen – der Kurssturz der Kupferaktien hatte mich doch schmählich geärgert – und so war ich verdrossen und verschlafen, wie ich die Treppe zum ersten Stock des Bankgebäudes hinaufstieg. Erst auf der obersten Treppenstufe sah ich einen höheren Polizeibeamten stehen, so eine Art Pariser Kollegen von Dir, und rechts und links je zwei Sergents de ville, die mir den Weg versperrten: ‚Niemand passirt hier, mein Herr!‘

‚Aber ich bin der Sekretär der Direktion! Was ist denn geschehen?‘

‚Das dürfen wir Ihnen nicht sagen, mein Herr. Jedenfalls kommen Sie hier nicht hinein!‘

‚Wollen Sie wenigstens die Freundlichkeit haben, dem Herrn Direktor meine Karte zu übermitteln?‘

Einer der Schutzleute verschwand mit meiner Karte im Arbeitszimmer des Direktors, kam bald zurück, flüsterte seinem Vorgesetzten ein paar Worte zu, der dann höflich zu mir sagte: ‚Treten Sie ein, mein Herr! Aber der Herr Direktor ist im Nebenzimmer.‘

Auf meinem Schreibtisch in dem leeren Kabinet lag ein großer Brief, an mich adressirt, versiegelt. Mir ahnte nichts Gutes. Hastig riß ich den Brief auf: meine Entlassung! Hier hast Du den Wisch. Natürlich: lebhaftes Bedauern – treue Dienste – peinliche Geschäftslage – fernerhin verzichten – mit ausgezeichneter Hochachtung u. s. w.

In dem Augenblick trat der Direktor ein, zusammen mit dem Polizeihauptmann – verstört, fahrig. Ich wollte auf ihn zugehen und mich verabschieden; persönlich waren wir stets vortrefflich miteinander ausgekommen. Aber er ließ mich gar nicht erst anfangen. ‚Ach, mein lieber Herr Jean, welch entsetzliches Unglück! Dieser Diebstahl! Das hat uns gerade noch gefehlt! Millionen sind weg! Gestohlen! Mehr als vier Millionen!‘

Ich begriff kein Wort.

‚Sie wissen noch nichts?! Eingebrochen ist man bei uns, die Thür zum Tresorgewölbe aufgesprengt, in die Luft gesprengt, das ganze Schloß, die drei Schlösser wie Blech zerfetzt – die Polizei meint, mit Melinit oder sonst einem Teufelszeug – die Thür zum Geldschrank, dem breiten Hauptschrank, aus den Angeln gesprengt, gesägt, was weiß ich? – und alles oder fast alles geraubt, was an Barem darin lag. Dies ist beinah noch ärger als das große Unglück, dem auch Sie, mein lieber Jean, zum Opfer fallen.‘

‚Aber wie war das möglich, Herr Direktor?‘ fragte ich, um doch irgend etwas zu sagen. Ich kam mir noch überflüssiger vor, als da ich die Kündigung gelesen hatte.

‚Was weiß ich, wie es möglich war? Beide Schlüsselgarnituren, die zur Nischenthür und die zum Schrank, sind unversehrt hier in meiner Hand. Herr Souchon, der erste Kassirer, hat sie nach vorgenommener Zählung des Barbestandes, nach Prüfung der Siegel an den Fondspacketen mir gestern abend in [459] Ihrem und Herrn Chevallets, des ersten Buchhalters, Beisein übergeben‘ – ich mußte zustimmend nicken – ‚wir vier haben zusammen das Comptoir verlassen und‘ – er lächelte bitter – ‚die verehrliche Polizei hat inzwischen schon festgestellt, wo ich, Sie, Herr Souchon und Herr Chevallet seit gestern abend um sieben Uhr gewesen sind. Sie ist freundlich genug, einem jeden von uns zu bestätigen, daß wir keine Diebe sind. Hier sind die Schlüssel, aber Schlüssel oder Nachschlüssel hat der Dieb gar nicht nöthig gehabt. Mit solchen Kleinigkeiten halten sich die Diebe, wie es scheint, heutzutage nicht mehr auf. Kommen Sie mit und sehen Sie sich den Tresor selber an!‘

Er stürmte voran, durch die Couponkasse, die Wechselkasse, die Buchhalterei in den engen Gang, der zur Tresornische führte, eine Art von Alkoven an der Schmalseite der Hauptkasse.

,Er muß sich irgendwo unter der Treppe am Nachmittag versteckt haben; Vaillant, den Wachhund des Comptoirs, haben sie mit Strychnin vergiftet vor der Nischenthür gefunden; den alten Nachtwächter Lesoudier hat der Spitzbube in den Kopf geschossen, er wird die Stunde nicht überleben und ist nicht zur Besinnung, geschweige denn zu einer Mittheilung zu bringen. Und dann sehen Sie die Raffinirtheit des Halunken: hier liegt ein Ballen russischer Konvertirter, über fünf Millionen Franken werth – Stückzahl und Preis steht drauf – da sehen Sie: nicht ein Siegel erbrochen; war dem Burschen zu gefährlich. Auch kein einziger Wechsel fehlt, nicht ein Blatt französischer Rente – nichts, dessen Veräußerung zur Entdeckung führen könnte. Dafür hat er aber alles weggeräumt, was an Barem da war, so viel er nur schleppen konnte. Noch hat Herr Souchon nicht genau festgestellt, wie viel; aber schon jetzt sind es über vier Millionen Franken allein in französischen Banknoten. Ein Packet mit zweitausend Stück Tausender, drei Packete mit je tausend Stück neuer Fünfhunderter, macht schon dreieinhalb Millionen, den Rest in sieben kleineren Packeten mit Hundertern. Auch einige Rollen Napoleons, zwei oder drei, fehlen ganz, zwei sind aufgebrochen und ein paar Dutzend Stück herausgenommen – vier Stück lagen heute früh an der Erde, eines war bis ins Kassenzimmer gerollt. Da liegen noch die Fetzen der Rollenhülsen. Aber mehr als ein paar tausend Franken in Gold sind das nicht. War ihm offenbar zu unbequem.‘“

„Unsere Herren Spitzbuben, durchbrennenden Kassirer und dergleichen Raubzeug machen’s meist dümmer – Gottlob!“ schaltete der Kölner Polizeihauptmann in seines Bruders Erzählung ein und trank sein Glas aus.

„‚Haben Sie gar keinen Verdacht?‘ fragte ich den Direktor.

‚Einen Verdacht schon, aber keinen Dieb! Wer mit so unerhörter Frechheit und Schlauheit mordet und raubt, der wird selten gepackt. Hier der Herr Kommissar meint zwar, die Polizei würde ihn noch heute kriegen; aber das sagt die Polizei immer. Es nützt nichts, aber es tröstet!‘

‚Und der Verdacht?‘

‚Seit dem letzten Montag will Herr Souchon – und seit Dienstag auch Herr Chevallet – Tag für Tag, manchmal wiederholt am selben Tage, einen großen, breitschultrigen, ganz glattrasirten Menschen bemerkt haben, in tadelloser Kleidung, ein bißchen englisch aussehend, eine Art von ‚Gentleman‘, der englische Fünfpfundnoten zum Umwechseln brachte. Er hielt sich jedesmal so lange wie möglich an der Kasse auf, erkundigte sich nach den Wechselkursen, prüfte jeden Napoleon, wies einmal einen ausgezeichneten Ludwig den Achtzehnten zurück, und als er gestern vormittag wiederkam, wechselte er drei Fünfpfundnoten in kleine und größere deutsche Noten und etwas deutsches Gold um. Dabei soll er kein Auge vom Tresor gelassen haben, so daß er Herrn Souchon unheimlich wurde. Beiläufig, ein Engländer oder Amerikaner war er auf keinen Fall, er sprach gerade so gut französisch wie ich.‘

‚Das ist aber eine herzlich schwache Spur,‘ bemerkte ich.

‚Hören Sie nur: der Raubmörder trug bei all den Wechselgeschäften stets dicke schwarze Lederhandschuhe, die er niemals auszog, auch nicht um kleinere Münzen einzustreichen, und Souchon, dem das beim zweiten Besuch des Schurken auffiel, hat deutlich bemerkt, daß er an der linken Hand nur vier Finger hatte; der kleine Finger fehlte!‘“ –

„Und einen Mörder und Dieb mit solchem Signalement hat die Pariser Polizei nicht in vierundzwanzig Stunden gekriegt?!“ schrie Richard empört dazwischen und wollte aufspringen. Doch besann er sich gleich, lächelte vergnügt und sagte nur: „Ja so!“ Dann aber nach einer kurzen Pause: „Und nicht mal die Nummern der größeren Banknoten wurden in Eurer alten Gaunerbude notirt?“

„Ich bitte Dich,“ entgegnete ihm Hans, „bei einem Kommen und Gehen des Geldes in Millionen täglich? Da hätten ja mehrere Leute den ganzen Tag nichts anderes zu thun gehabt, als die Nummern aufzuschreiben. In der Beziehung konnte der Verbrecher ganz ruhig sein. –

Genug, ich sah ein, daß ich hier überflüssig war. Helfen konnte ich nichts; ich mußte ja froh sein, daß die Polizei mich ruhig laufen ließ. Der Direktor war viel zu aufgeregt, um mir zum Abschied mehr als einen flüchtigen Händedruck zu gönnen.

Vor dem Weggehen fragte ich noch den Polizeikommissar, welche Maßregeln zur Ergreifung des Thäters man denn getroffen hätte. – ‚Alle, die in solchen Fällen überhaupt üblich und möglich sind. Ganz Frankreich, alle Grenzstationen, alle Polizeiverwaltungen des Auslandes sind seit einer Stunde telegraphisch benachrichtigt; das genaue Signalement nach den Angaben der Herren Souchon und Chevallet ist jetzt schon auf allen Eisenbahnstationen bekannt. In Paris wird durch die Revierpolizisten Haus bei Haus Umfrage gehalten, ob ein Mensch mit einer vierfingrigen linken Hand bekannt sei. Ich denke, vor heute abend haben wir ihn.‘

‚Viel Glück!‘ sagte ich und empfahl mich.

Wohin nun? Fort von Paris! An eine Stellung, wie ich sie gehabt, war in den nächsten Wochen nicht zu denken, am wenigsten für einen ehemaligen Angestellten des verkrachten Comptoir d’Escompte, und nun gar unter der Verdachtwolke, die nach diesem ungeheuren Diebstahl auf jedem ruhte, der im Dienste des Comptoirs gestanden. – Ohne Stellung und Einnahme auf dem theuren Pariser Pflaster? – Das ging nicht lange. Auch war mir Paris wie mit einem Schlage zuwider geworden, ich war trostbedürftig, sehnte mich nach der Heimath, den nächsten Angehörigen, was man leider immer erst dann spürt, wenn’s einem miserabel geht. Also auf nach Köln: ‚der Dom, der Karneval un dat köllsche Wasser – da geht ja nix drüber!‘ Zum Glück hatte ich meine fünfzehn Kupferaktien schon einige Tage vorher, als es zu knistern anfing, verkauft, – sonst könnte ich damit heute Deine Gute Stube neu tapezieren.

Ich ging trübselig nach Hause, vierter Stock in der Rue des petits champs. Mein bißchen fahrende Habe war bald gepackt. Der große alte Familienkoffer, als Frachtgut an Dich adressirt, wird wohl erst nächste Woche kommen. Die kleine Schwägerin findet darin für ein Jahr neueste französische Lektüre, – gut umschütteln und mit Auswahl zu sich nehmen. Einen kleineren Koffer gab ich abends als Freigepäck auf und nahm nur das Handtäschchen dort mit in den Wagen.

Mit dem Packen, den Laufereien zum Spediteur, einigen Abschiedsbesuchen und einem Besuch im Louvremagazin für die Frau Schwägerin, dann meiner Henkersmahlzeit im Palais Royal waren die paar Tagesstunden schnell hingebracht. Die brave Madame Perrin, Boulangistin vom Chignon bis zum Pantoffel, bei der ich fünf Jahre gewohnt habe – ‚eine Perle von Miether‘, wie sie beinah weinend beim Abschied mir bescheinigte –, ließ sich’s nicht nehmen, mir selbst eine Droschke zu besorgen, eine richtige Pechnummer: 13 403, ungerade Zahl mit ungerader Quersumme, – allein genügend, um mich so mißgestimmt wie nur möglich zum Nordbahnhof fahren zu lassen.

Von der Rue des petits champs bis zum Bahnhof sind’s vielleicht zwanzig Minuten. Mir dünkten sie wie Stunden. Mein ganzes Pariser Leben zog auf der Abschiedsfahrt an meiner Seele vorüber. Dort gegenüber der Bibliothek, hinter dem kleinen Rasenplatz des Square Louvois, hatte ich zuerst gewohnt, in dem stillen Hotel Lulli, als ich vor sechs Jahren als dummer Junge nach Paris kam; – bei jenem Bankier in der Rue Richelieu hatte ich meinen ersten Hundertmarkschein in Napoleons gewechselt; – bei –“

„Ueberspringe mal ein Dutzend solcher sentimentaler Erinnerungen, Hänschen, und laß den Expreßzug nach Köln abfahren!“ trieb Richard den behaglich erzählenden Bruder an. Evchen protestirte; alles, was Paris anging, war ihr von höchstem Interesse.

Hans fuhr fort: „An der Ecke der Rue Drouot und der Rue Lafayette –“

„Laß doch die Ecke in der Ecke und fahr’ ab!“ hetzte Richard, dem um seinen Bericht für den Polizeipräsidenten bange wurde.

„Nein, die Ecke kann ich Dir nicht schenken; Du wirst gleich sehen warum nicht. – Also an der Ecke, wie mein Kutscher nach rechts hinüber biegen will, – sieh mal, so –, kommt von dort, links, [460] her in rasender Eile eine andere Droschke angefahren. Mein Kutscher will ausweichen, der andere will anhalten; – beides gelingt nur halb, und wir rasseln zusammen, wenn auch mit abgeschwächtem Stoß. Bis auf die kleine Beule in meinem Hut kein Unfall, Pferde und Wagen unbeschädigt. Trotzdem lehnt sich der Insasse der tollgewordenen andern Droschke aus dem Schlagfenster und schreit verängstigt seinem Kutscher zu: ‚Tausend Donner, was ist geschehen? – Vorwärts, Kutscher, sonst ist’s mit dem guten Trinkgeld nichts. Wir versäumen den Zug!‘

Offenbar auch nach dem Nordbahnhof, dachte ich. Welchen Zug konnte er meinen? Der Expreßzug nach Deutschland ging ja erst um sechs Uhr zwanzig Minuten, und es war jetzt knapp dreiviertel auf sechs. – Ach, lächerlich, als ob vom Nordbahnhof um diese Zeit nicht noch andere Züge abgehen könnten!

Aber verdammt eilig hatte es der Mensch. Das las man ihm vom Gesicht: angstverzerrt, die Augen weit aufgerissen, die Nasenflügel gebläht. Ich hatte es nur wenige Sekunden gesehen, aber es hatte sich mir mit merkwürdiger Schärfe eingegraben. Unter Tausenden hätte ich es schnell herausgefunden. Mich hatte er nicht gesehen.

Viel zu früh auf dem Bahnhof, wie immer; aber das Eisenbahnfieber werde ich nicht los.

Da saß ich nun in dem über alle Maßen öden Stall, den man in Paris Wartesaal nennt. An der Eingangsthür ein schmieriger Kontrollbeamter; die Ausgangsthüren zum Perron verschlossen fast bis zur Abfahrtsminute. Zu meinem Leidwesen hatte ich bei der Ankunft die Entdeckung gemacht, daß dieser Expreßzug nur die erste Klasse führte. Fünfzehn Franken theurer als der zweieinhalb Stunden später fahrende Postzug. Wer aber einmal auf einem Bahnhof ist, mag nicht mehr warten.

‚Le Soir!‘ – ‚Le Télégraphe!‘ – ‚La France!‘ schrie der Zeitungsverkäufer. Ich kaufte mir alle Abendblätter, die er hatte, als Reiselektüre für die schlaflose Nacht. Auch war ich neugierig, wie die Presse den Diebstahl beurtheilen mochte.

Ich saß auf der niedrigen Pritsche unmittelbar neben der Glasthür zum Perron. Meine Handtasche lag links neben mir; mit dem rechten Ellbogen stützte ich mich auf meine zusammengerollte Reisedecke und begann im ‚Soir‘ zu lesen. Gleich auf der ersten Seite ein Leitartikel über den ‚Mord, Einbruch und Raub im Comptoir d’Escompte‘. Nichts Neues für mich darin, nur einiges Falsche und die bekannte Formel am Schluß: ‚Die Polizei ist dem Verbrecher auf den Fersen; wir hoffen, unseren Lesern morgen die ganze Wahrheit mittheilen zu können.‘ Keinerlei gehässige Andeutung gegen die Leitung oder die Beamten des Comptoirs. Nur noch die Notiz: ‚Das Institut verringert sein Personal bis auf das Unentbehrlichste.‘

Auf der zweiten und dritten Seite der alte Tratsch: Patriotenliga, Boulanger, König Milan und Frau Artemista, und ähnlicher Kohl. Zur Abwechselung statt des abgestandenen Déroulède der famose Roßarzt Antoine. Ich schlug um, die vierte Seite. Halt, eine Riesenanzeige, fast über die ganze Seite weg:

‚Raubmord und Diebstahl von 4 320 000 Franken!

In der Nacht vom 21. zum 22. März sind aus dem Tresor des Comptoir d’Escompte in der Zeit von siebeneinhalb Uhr abends bis sieben Uhr morgens mittels Einbruchs 4 320 180 Franken in Banknoten von 1000, 500 und 100 Franken sowie 2080 Franken in Napoleons gestohlen worden. Die Banknoten befanden sich in elf mit den Siegeln des Comptoirs verschlossenen Packeten aus gelbbraunem Packpapier. Der Dieb hat den Wachthund mit einem Strychninpräparat vergiftet und den Nachtwächter erschossen mit einer kleinkalibrigen Revolverkugel. Spuren eines Kampfes zwischen dem Verbrecher und dem Wächter sind nicht vorhanden. Der Einbruch ist erfolgt nach Sprengung der Thür zum Tresor und zum stählernen Geldschrank mittels zweier Melinitkapseln. – Dringend verdächtig des Mordes und Einbruchs ist ein Mann in den Vierzigern, mit glattrasirtem Gesicht, über Mittelgröße, breitschultrig, offenbar Franzose, er spricht wenigstens mit fehlerlosem Accent. Er ist mit Leichtigkeit daran zu erkennen, daß ihm an der linken Hand der kleine Finger fehlt. – Wer den verwegenen Verbrecher ergreift oder zu dessen Ergreifung beiträgt, erhält fünf Prozent derjenigen geraubten Summe sofort bar ausbezahlt, welche sich bei dem ergriffenen Verbrecher vorfindet, mindestens aber 50 000 Franken Belohnung.‘“


Der Festwagen „Leipzig“. Entworfen und geba[ut von Male]r J. R. Wehle und Architekt Paul Schuster.

Der Festwagen der vereinigten Buchgewerbe Sa[chsens.] Entworfen und gebaut von Prof. Naumann.

[461] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


„Also im günstigsten Fall – 216 009 Franken,“ sagte Richard ruhig.

„Hast Du das so flink heraus? Um so besser! –

Ich lächelte, wie ich das las. Wie oft schon hatte ich ähnliche Anzeigen gelesen, wenngleich nicht über so gewaltige Summen! Oft sogar mit Konterfeien der Herren Diebe geschmückt, in den ‚Fliegenden Blättern‘ und im ‚Kladderadatsch‘. Immer hatte ich dabei das Gefühl: da könnte ich nun in eine große Gesellschaft solcher Diebe gerathen und fände doch den Richtigen nicht heraus. Mir fehlt eben der Polizeiblick. Das ist wie mit dem Finden verlorener Gegenstände. In meinem ganzen Leben habe ich nur einmal einen alten Westenknopf gefunden. Und das fiel mir just ein, wie ich die Anzeige las. Einen besonderen Eindruck machte sie mir kaum, – ich kannte ja die Einzelheiten, und besser. Immerhin prägte sie mir das dürftige Signalement ein. Ueber Mittelgröße! Was will das besagen? Dergleichen giebt es unter zehn Männern doch mindestens drei bis vier. – Breitschultrig ! Auch ein nettes Indicium! – Glatt rasirtes Gesicht! Läßt sich leicht verbergen.“

„Immerhin besser als ein bärtiges Gesicht,“ warf Richard dazwischen, „denn Bärte lassen sich abschneiden.“

„Accentloses Französisch sprechen auch einige Millionen Franzosen. Nur die vier Finger an der linken Hand! Die lassen sich freilich nicht verbergen. Einen vierfingrigen Spitzbuben würde sogar ich erwischen, wenn er so gefällig wäre, mir gerade in den Schuß zu laufen.

Wie ich das alles hin und her erwog, kam ein Mann aufgeregt in den Wartesaal, mit einem funkelnagelneuen gelben Handkoffer. – Halt! mein Mann! Derselbe Mensch, mit dessen Droschke die meinige vor einer Viertelstunde zusammengefahren war. – So reiste er doch mit dem nämlichen Zuge wie ich? Wenn er es aber so eilig gehabt hatte, warum kam er später als ich hier herein, der ich doch draußen erst meinen Koffer aufgegeben hatte und nun schon gute zehn Minuten hier saß? –

‚Ist der Expreßzug nach Köln schon fort?‘ fragte er in aufgeregtem Ton den wachhaltenden Billetkontrolleur.

‚Noch fünfzehn Minuten, mein Herr.‘

‚Sind Sie ganz sicher?‘

‚Wenn ich es Ihnen sage!‘

‚Mein Kutscher, dieses Thier, hat mich fälschlich zum Ostbahnhof gefahren, obgleich ich ihm deutlich ‚Nordbahnhof‘ gesagt habe. Er behauptete, ich hätte ihm ‚Ostbahnhof‘ gesagt. Hat man jemals so etwas erlebt!‘

‚Ja, das kommt hin und wieder vor,‘ meinte der Beamte phlegmatisch.

Was kommt einem Billetkontrolleur auf einem Pariser Bahnhof nicht alles vor!

‚Erst fährt der Esel unterwegs mit allen möglichen Droschken zusammen, dann bringt er mich zu einem falschen Bahnhof und schließlich verlangt er die doppelte Taxe, weil er mich zwei Touren gefahren haben will.‘ – Dabei drückte er auf die Klinke der Perronthür. Verschlossen! Er gebärdete sich wirklich gar zu ungeduldig. Unwillkürlich – ich wußte nicht warum, ich hatte ja nicht den kleinsten Anlaß zu irgend welchem Verdacht – aber unwillkürlich blickte ich auf des Menschen linke Hand. Ich hatte das übrigens seit dem Morgen mit allen Leuten gethan, die mir begegnet waren. – Völlig gesunde fünf Finger, und ich lachte mich innerlich aus. Nie einen Pfennig gefunden, nie auch nur ein vierblättriges Kleeblatt, und nun hatte ich wohl gar Lust, unter den zweieinhalb Millionen Parisern den vierfingrigen Viermillionendieb zu entdecken!

Ich griff wieder zum ‚Soir‘, las aus Langweile schließlich sogar das Stückchen Romanfeuilleton und war eben mitten in einem schaurigen Giftmord, dem eine Dame aus dem Quartier de l’Europe zum Opfer gefallen war, als die Glasthür zum Perron von draußen geöffnet ward und der schnarrende Ruf erscholl: ‚Die Reisenden nach Tergnier, St. Quentin, Belgien, Deutschland!‘ Ich hatte der Thür zunächst gesessen, aber trotzdem kam mir der Mensch mit dem gelben Koffer zuvor. Mit unhöflichem Ungestüm schoß er an mir vorüber durch die wie überall nur mit einem Flügel geöffnete Thür und war im Abendnebel verschwunden.

Der Zug war ziemlich stark besetzt, und es fiel mir schwer, ein behagliches Coupé zu finden. Ich suchte den Durchgangswagen nach Köln, – an allen Fensterscheiben Köpfe. Doch halt, im letzten Coupé nur ein Kopf! Ich drückte dem Schaffner einen [462] Silberfranken in die Hand und bat ihn, mir dieses Coupé zu öffnen. Er zögerte ein paar Augenblicke, murmelte etwas von ‚reservirt‘, sah dann nach der Uhr der Abfahrtshalle, und da der große Zeiger dicht vor der Vier stand, so öffnete er mir kurz entschlossen, trotz einer Art Widerstandes von innen, die Coupéthür. Ich sprang hinein, der Schaffner schlug die Thür zu, – und – ich befand mich gegenüber dem Kerl mit dem gelben Koffer! Unvermeidlich, dieser Mensch! dachte ich.

Jener hatte offenbar darauf gerechnet, das Coupé für sich allein zu behalten. Wüthend öffnete er das Fenster, steckte den Kopf hinaus, daß die Spitzen der dichten langen Bartkoteletten im Winde flatterten, und herrschte den Schaffner an:

‚Habe ich Ihnen darum fünf Franken gegeben, daß Sie mir mein Coupé ganz voll stopfen? Habe ich Ihnen nicht gesagt, ich wollte allein bleiben?!‘ –

Dies war mir doch zu stark, und ich sagte höflich zu ihm: ‚Auf der Eisenbahn, mein Herr, hat jedermann die gleichen Rechte!‘

Aber er schien mich gar nicht zu hören, da er noch immer den Kopf zum Fenster hinausbog und sich mit dem Beamten zankte, der in dem sicheren Gefühl des baldigen Zugabganges nur spöttisch verschmitzt mit den Schultern zuckte.

Da, im letzten Augenblick, der große Zeiger berührte fast schon den dicken schwarzen Punkt der Vier, prallte der Backenbärtige zurück und wurde ganz still. Unsere Coupéthür wurde plötzlich aufgerissen, – ein Herr in Civil, augenscheinlich ein Beamter der geheimen Polizei, war auf das Trittbrett gestiegen, beugte sich in unser Coupé, fixirte uns wenige Sekunden mit durchbohrendem Blick und fragte dann kurz, gebieterisch:

‚Wohin reisen die Herren?‘

Mein Reisegefährte, der beim Aufreißen der Thür zusammengefahren war, hatte sich inzwischen wieder gefaßt und antwortete barsch: ‚Wie können Sie es wagen, in dieser Weise die Thür aufzureißen und solche unverschämte Frage zu stellen? Wer sind Sie?‘

Der Beamte wollte auffahren und im selben Tone erwidern. Doch, war es die Wirkung der Grobheit meines Reisegefährten, war es die Ueberzeugung, daß er unrecht hatte, – genug, er berührte leicht seinen Hut, sagte: ‚Pardon, es ist gut,‘ und stieg zum Perron hinunter. Ich hörte ihn dann noch das benachbarte Coupé öffnen, in welchem sich eine Herde Engländerinnen befand, und die Thür gleich wieder schließen. – Inzwischen war die Abfahrtsminute vorüber, eine Glocke ertönte, ein kurzer Pfiff von der Maschine, und der Zug fuhr hinaus in die beginnende Nacht.

Mein Mitreisender that einen tiefen Athemzug. ‚Was sagen Sie zu dieser unglaublichen Unverschämtheit?‘ wandte er sich an mich, ganz höflich, beinah zuthulich geworden.

‚Wahrscheinlich ein Polizeikommissar, der nach dem Raubmörder sucht,‘ erwiderte ich ruhig.

‚So, so, ja das ist wohl möglich. Etwas höflicher hätte er trotzdem sein können. – Um was für einen Raubmörder handelt es sich denn?‘

Ich zog die Nummer des ‚Soir‘ aus der Ueberziehertasche und hielt ihm die vierte Seite hinüber. Er dankte und las sie aufmerksam. Dabei studierte ich sein Gesicht. Scheinbar unbewegliche Züge, nicht einmal so viel Interesse darin, wie doch dieser außerordentliche Fall es bei jedem erwecken mußte, der zum ersten Mal davon hörte. Nur in seinen wasserblauen Augen unter den leicht ergrauten buschigen Brauen zuckte es wie Wetterleuchten.

Die Gasflamme an der Decke brannte trübe, flackerig. Der Bärtige hob das Blatt näher ans Auge. Aha, es interessirt ihn also doch! Wahrscheinlich das Signalement. – Wieder blickte ich auf seine beiden großen knochigen Hände und zählte, kindisch genug, die Finger an jeder. Natürlich je fünf.

Er reichte mir, abermals dankend, das Blatt zurück. ‚Ein recht erheblicher Diebstahl. Kein Wunder, daß die Polizei hinterher ist. Ueber 200 000 Franken Belohnung ist kein Pappenstiel. Aber sie hat es ja kinderleicht: sie braucht ja nur jedermanns Finger zu zählen,‘ und er lachte laut, vielleicht ein wenig zu laut und roh.

‚Ich fürchte,‘ entgegnete ich, ‚wir werden unterwegs noch oft von der Polizei belästigt werden.‘

‚Meinen Sie? Es ist doch recht ungemüthlich, in einer Zeit zu reisen, in der jeder Reisende im Verdacht steht, ein Raubmörder zu sein. – Wäre es nicht das Bequemste, man untersuchte den ganzen Zug ein für allemal und heftete dann an jede Coupéthür draußen einen Zettel: ‚Hierin befindet sich der Raubmörder nicht‘ –? Und wieder lachte er seine laute Lache.

Dann fragte er geschmeidig: ‚Darf ich wissen, bis wohin ich das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben werde?‘

‚Ich reise nach Köln.‘

‚Ei, wie sich das trifft! Auch ich habe mein Billet zunächst bis nach Köln genommen. Will die 11 000 Jungfrauen sehen‘ – wieder das ekle Lachen –, ‚dann reise ich nach Berlin. In Köln wird man uns wohl auch polizeilich empfangen und ausforschen?‘

‚Das ist leicht möglich,‘ versetzte ich und wollte hinzufügen: ‚Vielleicht erwartet uns dort gar mein Bruder, der Polizeihauptmann ist,‘ – aber ich besann mich: wozu jenen wissen lassen, daß Du zur Polizei gehörst? Er hätte mich am Ende selbst für einen verkappten Polizisten gehalten, und die lange Reise mit ihm wäre dadurch gewiß nicht angenehmer geworden. Ich mußte nun einmal wohl oder übel die elf Stunden mit ihm zurechtkommen.

Jeder von uns beiden hatte eine der dreisitzigen Coupéseiten für sich belegt und die Armstützen in die Höhe geklappt. So sicher ich war, daß ich nicht schlafen würde, richtete ich mir’s doch zum Schlafen ein. Das Wetter war frühlingsfeucht und milde; dazu verbreiteten die beiden langen, mit heißem Wasser gefüllten Blechheizkästen am Fußboden eine sehr behagliche Wärme. Aus meiner getigerten Reisedecke machte ich mir ein molliges Kopfkissen, streckte mich der Länge nach auf den Sitz, mit dem Gesicht in der Zugrichtung, meinem Reisegefährten zugekehrt, schloß die Augen und versuchte zu schlafen.

Mit rasender Geschwindigkeit glitt der Expreßzug über die Schienen. Leider befand sich unser Coupé, als das letzte des Wagens, gerade über dem einen Räderpaar. So spürte ich jede Erschütterung bis ins Mark. Die eintönige Musik der Räder setzte ein und hörte nicht mehr auf, bald leiser, wenn wir übers offene Land hinsausten; bald stärker, wenn ein Einschnitt, eine Station oder ein Tunnel passiert wurde. Immer im gleichen Takt, unaufhörlich, bis zur verzweifelten Ermüdung des Gehirns, und dennoch kein Schlaf! –

Auch der Bärtige drüben konnte oder mochte nicht schlafen. Er hatte sich gar nicht niedergelegt. Ich hatte, bevor ich mich auf den Sitz gestreckt, die eine Hälfte des blauen Lampenblendschirms vor die Gasglocke gezogen, um meinen schlafbedürftigen Augen wenigstens äußerliche Erholung zu gönnen. Das ermöglichte mir zugleich, den andern unbemerkt von Zeit zu Zeit durch meine halbgeöffneten Augenwimpern zu beobachten. Er dachte wohl, ich schliefe; jedenfalls kümmerte er sich nicht um mich. Ueber ihm im Hängenetz lag sein eleganter gelber Koffer mit Nickelbeschlägen, hell von der Gasflamme beschienen. Ganz neu, wie eben gekauft. Es war ein sogenannter Blasebalgkoffer, doch war er so vollgestopft, daß kaum eine Falte an den Seiten sich zeigte. Ich bemerkte das alles durch die hin und wider sich ein wenig öffnenden Wimpern. Was ich nur damit wollte?! Nie zuvor hatte ich Dinge, die mich nichts angingen, so deutlich beobachtet.

Der Bärtige hatte seinen runden braunen Hut, auch einen ganz neuen, abgenommen und neben den neuen Koffer ins Netz gelegt. Dann hatte er aus seiner Ueberrocktasche eine schwarzseidene Reisemütze gezogen und aufgesetzt, allem Anscheine nach auch noch nie zuvor getragen. Dabei hatte sich ein schwarzer, innen weiß gefütterter Winterhandschuh mit dem Handgelenkende ein wenig aus der Tasche geschoben. Dieser Handschuh war das einzige an dem Menschen, was nicht nagelneu aussah.

Er blätterte eifrig hin und her in einem ganz neuen, knisternden Kursbuch. Von Zeit zu Zeit warf er über die Blätter des Buches hinweg einen verstohlenen, scheuen Blick auf mich. Unwillkürlich schloß ich dann jedesmal die Augen. Ich wußte nicht, warum, – aber mir war, als drückte man sie mir jedesmal zu.

Plötzlich steht er leise, leise auf, legt so behutsam wie etwas Zerbrechliches sein Kursbuch ins Netz, dann dreht er sich wieder mit einem lauernden Blick nach mir um. Ich rühre mich nicht und drücke die Augen zu. Nun beginnt er das rothe Plüschpolster, worauf er gesessen, vorsichtig, kaum hörbar herauszuzerren, nach jedem leisen Ruck innehaltend, lauschend, – fast so weit heraus, wie es überhaupt möglich war, ohne daß er mich dabei berührte. – Wie seltsam! Ich lag doch ganz behaglich da, empfand gar kein Bedürfniß nach einem breiteren Lager. Aber freilich, der andere war viel breiter gebaut als ich. – Hätten ihm da nicht ein paar Zoll weiter heraus genügen können?

Nun war er mit seinem mühseligen Geschäft fertig und wieder [463] blickte er sich nach mir um, mit einem Blick, scharf wie Nadeln. Ich fühlte ihn noch, als ich schon die Wimpern geschlossen hatte. Dann hörte ich, wie er sich abwandte, und sachte, sachte zwinkerte ich ihm nach. Mit noch behutsameren Bewegungen als vorhin, unhörbar, faßte er nach seinem im Netzwerk liegenden Koffer, hob ihn, mit der Linken von unten stützend, um ihn nicht gegen das dünne eiserne Randgestänge des Hängenetzes schleifen zu lassen, ein wenig empor und dann – o so sänftiglich – auf den Sitz hernieder.

Welch peinlicher Mensch! dachte ich. Wie er besorgt ist, daß der neue schöne Koffer nur beileibe keine Schramme bekomme! Oder nimmt er so zarte Rücksicht auf meinen ‚Schlaf‘? Sieht ihm gar nicht ähnlich.

Jetzt greift er in die Hosentasche und zieht ein dünnes Schlüsselchen hervor, so eines, wie man es zu den Chubb-Schlössern hat. Leise, leise, daß es kaum klirrt, schiebt er es ins Schloß – dann ein kurzes Knacken, und der vollgepfropfte Koffer klafft mit einem nicht mehr zu dämpfenden Ruck weit auf. Der Mensch erschrickt, klappt duckend zusammen, als hätte ihn plötzlich eine Riesenfaust im Genick gepackt. Dann richtet er sich wieder hoch auf und fährt zu mir herum. Gewiß glotzt er mich an – aus nächster Nähe – mich überhaucht es wie der heiße Athem aus einem Raubthierrachen. Ich sehe ihn nicht, aber ich athme seine fürchterliche Nähe. Ich fühle ganz deutlich, daß er sich über mich gebeugt hat; es lastet über mir wie ein schattender, dicker Qualm; ich höre seine Brust sich in kurzen Stößen heben und senken – und ich weiß, o so sicher weiß ich es, daß Leben und Tod in diesen Sekunden um mich ringen! Die leiseste Bewegung wie die eines Wachenden, ein Zucken der Augenlider, und es ist um mich geschehen. Es ist sehr warm, und doch überfröstelt es mich wie ein Anhauch aus offenem Grabe.

Er muß seiner Sache sicher sein, er muß an meinen bleiernen Schlaf glauben, denn er beugt sich nicht mehr über mich hin. Ich höre ihn sich auf seinen Sitz niederlassen. Gleich darauf erhebt er sich wieder, macht mit dem rechten Arm eine Bewegung nach oben, als wolle er den Blendschirm zurückklappen, um besser zu sehen, wohl um mich besser zu sehen; doch er läßt nach kurzem Besinnen den Arm wieder sinken. Einmal greift er auch, wie nach einem plötzlichen Entschluß, in die äußere rechte Seitentasche des Ueberrocks, in die andere, aus der kein Handschuhzipfel hervorguckt. Die Hand bleibt wohl eine halbe Minute in der Rocktasche, doch kommt sie leer wieder heraus.

Und dann? – Großer Gott, was ist das! Nimmt er nicht aus dem weit offenen Koffer vorsichtig, erst zögernd, dann fest entschlossen ein großes, mit einem dicken Bindfaden umschnürtes Packet von Zeitungspapier heraus und stopft es blitzgeschwind unter den vorgezogenen Sitz? Dann noch eins und noch eins. – Könnte ich nur deutlicher sehen, nur den Kopf ein wenig drehen!

O, was er auch da dicht vor mir verbergen mag, wer er auch sei, ein Raubmörder oder ein Verrückter – ich weiß jetzt, daß ich Zeuge bin des zweiten Aktes in einem furchtbaren Drama.

Ich kann nichts denken, nichts wünschen als: käme nur eine Haltestation! Aussteigen, gleichviel in welches andere Coupé, oder den Zug verlassen, irgendwo warten auf den nächsten Zug! Nur nicht länger zusammenbleiben mit diesem entsetzlichen Menschen, dem ich einer zu viel bin!

Wie lange es wohl noch dauern mag bis zum nächsten Halt? Der Expreßzug hat erst einmal gehalten, ‚Compiègne!‘ hatte man gerufen. Das ist jetzt bald eine Stunde her.

Doch da pfeift die Maschine zum Bremsen; langsamer fährt der Zug; ein Halt naht.

Der entsetzliche Mensch schiebt eilig seinen Sitz zurück und setzt sich nieder. Er will auch den Koffer schließen, aber dessen Inhalt ist wirr durcheinander gerutscht, zum Theil auf die Polster gefallen. Er kommt nicht mehr damit zurecht. Jetzt hält der Zug. Draußen ruft man: ‚Tergnier!‘. Die Thür wird heftig aufgerissen. Der Bärtige sitzt da mit zusammengebissenen Zähnen, die eine Hand in die Ueberziehertasche versenkt, einen finsteren Entschluß im Gesicht. Den geöffneten Koffer sucht er nach Möglichkeit durch seinen zurückgeschlagenen Ueberrock zu decken. In diesem Augenblick hat er sogar mich vergessen.

Seine Furcht – denn nur Furcht sieht so aus – war überflüssig. Ein Eisenbahnarbeiter ist, ohne ein Wort zu sagen, ins Coupé gesprungen, reicht einem draußen stehenden zweiten Arbeiter die erkalteten Heizbüchsen hinaus, schiebt zwei frischgefüllte herein und schlägt die Thür zu. Ein Schaffner hat hereingerufen: Zwei Minuten Aufenthalt! Aber ich, der ich den ersten Haltepunkt wie eine Erlösung herbeigesehnt, liege ganz still da. Auch ich habe die Zähne zusammengebissen; ich bleibe – komme was da will!

Jedoch mit dem bloßen Schlafheucheln ist es jenem Menschen gegenüber nicht gethan. Nur nicht eine Dummheit begehen aus halber Klugheit! – Ich räkle mich, werfe mich wie ein im Schlaf Gestörter auf meinem Lager umher, schiebe mir das Kopfkissen zurecht, starre wie schlaftrunken um mich, auch auf jenen Menschen, der ganz still dasitzt, und – bin wieder der harmlose Schläfer.

Ob mir die Täuschung gelungen? Ob er nicht doch gemerkt, daß ich nur mit ihm gespielt? Wenn er es gemerkt hätte! – Wenn er hörte, wie mein Herz jetzt klopft! Er muß es ja hören. Höre ich es denn nicht ganz deutlich, in der Stille der Nacht, während der Zug noch hält? Soll ich nicht jetzt noch aufspringen und mich hinausstürzen?

Aber vielleicht war alles nur ein harmloses Ungefähr. Wie konnte jener Mensch der Mörder und Räuber sein, mit den gesunden fünf Fingern an jeder Hand? – Aber war man denn wirklich so ganz sicher, daß der Vierfingrige, der sich so auffällig an der Kasse zu schaffen gemacht hatte, der Verbrecher war? Konnte der, gleichviel ob vierfingrig oder was sonst, nicht einen Spießgesellen gehabt haben, der jetzt die Hälfte der Beute in Sicherheit brachte? – Ich bleibe liegen! sagte ich mir. Aber da war es ohnehin zu spät zur Flucht; der Zug fuhr weiter.

Solange der noch nicht seine volle Geschwindigkeit erlangt hatte, blieb der Bärtige unbeweglich sitzen, die Rechte noch immer in der Seitentasche des Ueberrocks, seine Augen jetzt unverwandt auf mich geheftet. Wie wenig Licht braucht doch ein Menschenauge, um alles um sich herum wahrzunehmen! Nur ein Spältchen breit wie ein Frauenhaar, wie ein Spinnwebfaden lassen meine Wimpern offen, aber alles, alles sehe ich dadurch.

Was der Mensch nur in jener Ueberziehertasche verbirgt, festhält, umklammert? Ja gewiß, umklammert, denn sehe ich nicht die Sehnen seines Handgelenkes bis zum Zerreißen gespannt? Hat er auch da eines der Packete versteckt? Hat er vielleicht –? Eine längliche, fast senkrecht verlaufende, schmale Erhebung in dem dicken, dunkelbraunen Zeug des Rocks, der Taschenklappe. – O, jetzt hab’ ich’s! Ein Dolch, eine Pistole, ein Revolver! – Wie sich gleich einem Wirbelsturm meine Gedanken, meine Erinnerungen jagen! Ich denke an den Tod; aber merkwürdig, ich habe nicht die geringste Angst vor ihm. Er ist mir nicht halb so entsetzlich wie jener Mensch dort mit dem Räthsel seines Wesens. Ich bin ganz klar im Kopf, in allen Sinnen. Ich zähle die schwarzen Hornknöpfe an dem Ueberzieher des Menschen, der die Mordwaffe gegen mich umspannt hat, und – gar zu gern wüßte ich, ob an dem etwas zurückgeschlagenen unteren Schoßende nicht noch ein Knopf sitzt. Das dünkt mir von äußerster Wichtigkeit.

Wenn das noch lange dauerte, würde ich verrückt, das fühlte ich. Oder ich mußte aufspringen und dem Menschen ins Gesicht brüllen: ‚Ich schlafe ja gar nicht, hast Du das denn nicht einmal bemerkt? Du bist der Mörder, der Dieb, und ich weiß es!‘ – Und wie lange konnte es noch dauern? Meine Schläfen brannten und hämmerten; meine Fußsohlen prickelten, als kröchen Tausende von aufgestörten Ameisen drauf hin und her.

Ich war nie zuvor mit diesem Zug gefahren. Auf dem Fahrplan des Bahnhofes hatte ich nur gesehen, daß er an ganz wenigen Stationen hielt. Ob das so weiter gehen würde in diesem meinem rollenden Sarge bis zur belgischen Grenze? Bis nach Erquelinnes? Bis dahin waren nach meiner Schätzung noch reichlich zwei Stunden. Je schneller jetzt wieder der Zug fuhr, desto sicherer war ich, der Mensch würde bald irgend etwas unternehmen. Wenn er ein Verbrechen zu verbergen oder die Früchte eines Verbrechens zu flüchten hatte, – konnte, mußte er sich nicht sagen: Nur die Todten reden nicht? So wenig wie der arme Lesoudier, der Nachtwächter, noch redete? Nur ein Hauch des Zweifels an meiner Harmlosigkeit, und derselbe Revolver machte auch mich stumm. Die kleinkalibrige Kugel! Und wie leicht war es dem starken Mann, mich dann wie ein Bündel durchs Fenster hinauszuschleudern in die mondlose Nacht! Und wenn er noch so sicher war – er wußte ja, ich kannte das Verbrechen der letzten Nacht in der Rue Bergère.

(Schluß folgt.)

[464]

Die Wacht an der See im Frühling 1889.

Ein Ueberblick von Gerhard Walter. Mit Illustrationen von Hans Hampke.

Es giebt nichts Neues unter der Sonne!“ und „alles schon dagewesen!“ sind zwei bekannte Worte, mit denen mancher dasjenige kalt lächelnd zurückweist, was der andere als etwas Besonderes, Unerhörtes preisen möchte. Aber die beiden Worte halten zum Glück nicht immer Stich. Es hat in früheren Tagen keine Sonne auf die Ostsee niedergeschienen, die ihre Strahlen auf einen deutschen Kaiser geworfen hätte, welcher an der Spitze eines reisigen Geschwaders in stolzer Meerfahrt und Heerfahrt auf offener, rauschender See als auf seinem eigenen Gebiet seine goldene Standarte gehißt hätte. Es giebt wohl eine alte Fabel und Sage von „Kaiser Karls Meerfahrt“, an der wir als Kinder unser Herz gestärkt; aber „Kaiser Wilhelms Meerfahrt“ ist Wahrheit und Geschichte aus unseren Tagen, an der wir Männer unsere Herzensfreude haben.

Sie hat früher gekrönte Häupter getragen, die Ostsee: den Dänenkönig, der auf der „Kolberger Heide“ an der holsteinischen Küste seine Schlacht schlug; den Schwedenkönig, der am pommerschen Strande landete, um mit seinen Dalekarlen und Finnen auf des deutschen Reiches Boden zu kämpfen. Aber die Zeiten sind vorbei: über der Ostsee fliegt der Hohenzollernaar und breitet weit seinen Fittig: Suum cuique!

Vor vierzig Jahren noch, was war 1849 die deutsche Marine! Es gab eine dänische, schwedische, russische, französische, englische Marine. Und die dänische blockirte unsere Seehäfen und zerstörte mit zwei Fregatten unsern Handel, ohne daß wir an Gegenwehr denken konnten. Und als wir daran dachten – als „Barbarossa“, „Lübeck“ und „Hamburg“ hinausgingen, um mit den Dänen im Kampf sich zu messen, da fiel auf Helgoland ein Schuß, der sagte: Zurück! Und der englische Premier erklärte im Parlamente, bewaffnete Schiffe unter schwarz-roth-goldener Flagge würden als Piraten angesehen und behandelt werden. Ich entsinne mich noch des Wortes eines Dänen, der zu den Besten seines Volkes gehörte, wie er vor 1864 geringschätzig beim Anblick eines deutschen Buches mit Schiffsabbildungen sagte: „Nicht einmal richtig zeichnen können sie ein Schiff!“ Sie haben seitdem das Zeichnen gelernt und das Bauen und das Fahren, und das Kämpfen werden sie auch verstehen, und das Sterben im Kampf und überm Sieg wird ihnen eine stolze Ehre sein und denen, die nach uns kommen, ein Sporn: Vorwärts und durch!

Die deutsche Marine ist Deutschlands Lieblingskind geworden, das volle Symbol seiner Einheit, der sichtbare Ausdruck seines Einflusses, der hinübergreift bis an die fernen Küsten Ostasiens und hinein in das Gewirr der tausend Inseln des Stillen Oceans, der Macht des neuen Reiches, das seine Flagge hißt am Palmenstrande Afrikas und im Schatten der Urwaldriesen Neu-Guineas und, wo sie weht, es den Nachbarn vernehmlich zuruft: „Hände davon!“ Das Herz des deutschen Mannes draußen freut sich jetzt, wenn von fern die Segel eines Kriegsschiffes am Horizont auftauchen: es mag aus deutschen Planken gezimmert sein und deutsche Geschütze tragen, ihm und seinem Thun und Handeln zum Schutz. Die Zeiten sind vorbei für immer, in denen der deutsche Kaufmann hinter den Rumpf eines englischen Kreuzers sich duckte, um Schutz zu finden; wir können das jetzt alles selbst machen!

Ein so mächtiges Gefüge, wie unsere Marine in wunderbar kurzer Zeit geworden ist, muß notwendigerweise, um ein brauchbares Werkzeug zu sein in der Hand dessen, dem sie dient, zweckentsprechend beweglich und gegliedert sein. Demgemäß bestand von vornherein das Bestreben, die Kräfte des jungen Seewesens richtig zu vertheilen und sie nicht auf einem Flügel unserer Stellung zusammenzudrängen. Wenn Nordsee und Ostsee die deutschen Küsten in einer Länge von 150 Meilen bespülen, dann mußte hier sowohl wie dort unsere Wehrkraft zur See einen Stützpunkt haben. So entstanden die Marinestation der Nordsee zu Wilhelmshaven und die der Ostsee zu Kiel.

Wilhelmshaven ist ein gewaltiges Zeugniß dafür, wie Preußen in weitsichtiger Politik lange, ehe es an die Spitze von Deutschland trat, sich für seine Aufgabe vorbereitete. Das Gebiet am Jahdebusen, welches zum Kriegshafen umgestaltet werden sollte, wurde nicht etwa erst nach dem großen Kriege von 1870, oder nach 1866, oder nach 1864 von Oldenburg erworben, sondern – wohlgemerkt! – schon 1854, als noch männiglich über die Bestrebungen der Preußen, zur See fahren zu wollen, die Achseln zuckte. Wie viele Millionen die Riesenarbeit gekostet hat, dort aus Schlick und Triebsand und Moor ein Nest der Marine zu bauen, wie es jetzt vollendet ist – das entzieht sich der Berechnung. Aber das ungeheure Werk mit seinen Bassins und Riesenschleusen, seinen Molen und seiner Werft ist gelungen.

Leichter ward es uns gemacht an der Ostsee. Lange war die Rede davon gewesen, den Jasmunder Bodden auf Rügen zu einem Kriegshafen auszubauen, der Wilhelmshaven ebenbürtig wäre; denn Danzig erfüllte nicht annähernd die nöthigen Bedingungen, um Panzerschiffen Unterkunft zu gewähren, und Swinemünde war der einzige Hafen, der eine vollausgerüstete hölzerne

Das Torpedoschulschiff „Blücher“.

[465] Kreuzerfregatte aufnehmen konnte. Aber die Kosten eines solchen Baues auf Rügen berechneten sich zu schwindelnder Höhe.

Da löste die Erwerbung von Schleswig-Holstein mit einem Male alle Schwierigkeiten: Kiel mit seinem tief ins Land sich einkeilenden Hafen („Kiel“ plattdeutsch für „Keil“; neben dem großen „der kleine Kiel“; auf den alten Fahnen der Gewerke steht noch „tom Kiel“ zu lesen) fiel an Preußen.

Die Kreuzerfregatte „Irene“.

Selbständig steht jede der beiden Stationen da unter eigenem Chef, je einem Vice-Admiral (im Range gleich dem Generallieutenant); beide zusammen unter dem „Oberkommando der Marine“, das seinen Sitz in Berlin hat. Früher – bis zum 1. April dieses Jahres – standen die Stationskommandos unter dem „Chef der Admiralität“, der sowohl das Kommando wie die jetzt von diesem getrennte Verwaltung in seiner Person vereint. Letztere ist jetzt in die Hände eines Staatssekretärs des Reichsmarineamts – auch eines Seeoffiziers, mit dem Titel Excellenz – übergegangen; ihm liegt auch die Vertretung der Marineangelegenheiten im Reichstag ob.

Jedem Stationskommando ist je eine Marineinspektion, eine Matrosen- und Werftdivision unterstellt. Zur Marinestation der Ostsee gehört auch die Schiffsjungenabtheilung in Friedrichsort.

Andere Behörden mit besonderen selbständigen Aufgaben sind ferner: die Inspektion der Marineartillerie zu Wilhelmshaven, die Inspektion des Torpedowesens zu Kiel; die technischen Institute: die Werften in Danzig, Wilhelmshaven und Kiel; und die wissenschaftlichen Institute unter der Direktion des Bildungswesens der Marine: die Marineakademie und Marineschule, die Deckoffiziersschule zu Kiel und die deutsche Seewarte in Hamburg.

Jene frühere Stellung des Chefs der Admiralität wurde als solche erst geschaffen nach dem Kriege von 1870; der hochverdiente Begründer der Marine, der Prinz Adalbert von Preußen, welcher als Befehlshaber an der Spitze der Marine gestanden hatte, wurde nun Generalinspecteur der Marine, und erster Chef der Admiralität der begabte Organisator General von Stosch, dem Deutschland es zu danken hat, daß es lernte, seine Schiffe selbst zu bauen und auszurüsten vom Marlspieker bis zur kolossalsten Panzerplatte; nach seinem Abgange trat der General von Caprivi an seine Stelle, der auf dem gegebenen Grunde weiterbaute, nachdem er in verblüffend kurzer Zeit sich bis in die letzten Kleinigkeiten des Betriebes hineingearbeitet hatte.

Im vergangenen Jahre folgte ihm der Viceadmiral Graf von Monts, einst der tapfere Kommandant des unglücklichen „Großen Kurfürsten“, das erste seemännische Haupt der Marine seit dem Tode des Prinzen Adalbert 1873. Nach dem frühen Tode des Grafen fand die oben beschriebene Theilung statt.

Aber die stramme Schule unter den Generalen der Landarmee ist an der Marine nicht verloren gewesen. Und wie lange wird’s dauern, dann hißt wieder ein Prinz aus Hohenzollernblut seine Flagge als oberster Befehlsbaber der Marine nach dem Kaiser: Prinz Heinrich, untadelig und treu, und Seemann vom Scheitel bis zur Zeh’!

Und noch eine glänzende Aussicht! Nach Vollendung des Nordostseekanals wird die schleunige, unbemerkte Vereinigung sämmtlicher Schiffe beider Stationen zu entscheidendem Schlage unter einem Kommando keine Schwierigkeiten machen. –

Auf der Kommandobrücke der „Irene“.

In Kriegszeiten hat die Marine selbstredend nur eine Aufgabe: den Feind abzuwehren, aufzusuchen, zu schlagen, daheim und draußen. In Friedenszeiten ist ihr Zweck, einmal sich für den Krieg vorzubereiten, und dann die Interessen des Reiches rings in der Welt zu vertreten, soweit das Meer seine Brandung auf den Strand rollt, entweder im politischen Dienst des Reiches oder zum Schutz der Angehörigen Deutschlands an fernen Küsten, seines Ansehens und seines Handels.

Was den ersteren Zweck angeht, die Vorbereitung und Schulung für den Ernstfall, so stellt das Reich zur Ausbildung der Mannschaften und des Offizier-Ersatzes die Schulschiffe und Uebungsgeschwader alljährlich ist Dienst.

Von Schulschiffen giebt es verschiedene Arten; einmal die stationären: das mächtige Artillerieschulschiff „Mars“ in Wilhelmshaven, auf dem die Geschützführer der ganzen Marine an allem möglichen Kanonenmaterial ausgebildet werden; ferner das Torpedoschulschiff „Blücher“ in Kiel, das die sorglichst und bestgehüteten Geheimnisse der Kriegskunst zur See birgt und auf dem die künftigen Führer und Kommandanten unserer Torpedoboote in aller Weisheit dieses Dienstzweiges unterwiesen werden, der wie kaum ein [466] anderer Ansprüche an die Klugheit, Besonnenheit und Selbstlosigkeit der Offiziere und Mannschaften stellt.

Dann aber kommen die seefahrenden Schulschiffe. (Auch „Mars“ und „Blücher“ gehen zu Zeiten Anker auf, um in See zu manövriren und scharf zu schießen.) Zunächst sind da zu nennen die Schiffsjungenschulschiffe. In diesem Jahre sind als solche für den ersten Jahrgang der Jungen, nachdem dieselben in Friedrichsort die erste nöthige militärische und sonstige Vorbildung erhalten haben – die schmucken kleinen Segelbriggs „Muskito“ und „Rover“ in Dienst gestellt. Für den zweiten Jahrgang werden die Korvetten „Luise“, „Ariadne“ und „Nixe“ benutzt. Mitte Juni ist in diesem Jahr die „Ariadne“ hinausgegangen, um die im Herbst heimkehrende „Nixe“ abzulösen auf der westindischen Station. Der erste Jahrgang übt nur in der Ostsee. Im zweiten Jahre werden die Jungen zum ersten Male auf die große Reise geschickt, die, auf achtzehn Monate berechnet, gewöhnlich nach Südamerika, Westindien und Nordamerika geht. Die alte sturmbewährte kampfgewohnte, bei Jasmund 1864 mit achtzig Schuß gezierte „Nymphe“, das gute, schlanke Seeschiff, ist früher manch liebes Mal mit den braven Jungen hinausgezogen über die Linie und hat draußen die Nase tief, tief ins Salzwasser gesteckt; und wenn die Jungen sonnverbrannt die Lichter des „Eddystone“ wieder aufleuchten sahen, des ragenden Leuchtthurms auf einsamer Klippe am Eingang zum „Kanal“, dann hatten sie gelernt, was sie wissen mußten, um pflichttreue, stramme, behende Matrosen zu werden. Jetzt liegt die „Nymphe“, ihres Schmucks entkleidet und von der Liste gestrichen als Hulk an der Werft zu Kiel, und für sie ist die „Nixe“ eingetreten auf der zur Nachtstunde auf dem weiten Ocean die Wachen einander anrufen mit hallendem Ton und die noch manchmal im wilden Sturm der Winde und Wogen sich neigen wird, stampfend vor der Dünung, schlingernd von Bord zu Bord vor den weißlich überkämmenden Seen und der fauchenden Bö.

Segelfregatte „Niobe“.

Die Ausbildung der Kadetten findet nach wie vor auf der ewig jungen Segelfregatte „Niobe“ statt, die bereits die zweite Generation wiegt. Schon sind jetzt Männer Kommandanten der „Niobe“, die einst zum ersten Mal in ihren Wanten aufenterten, und immer noch gleich stolz drängt sie den eichengewölbten Bug durch die Wellen der Nordsee, wenn sie die hoffnungsvolle Schar der künftigen Offiziere des Reiches hinausträgt zur langen, arbeitsamen Sommerfahrt um England und Irland herum.

In früheren Jahren bis 1883 ging regelmäßig im Oktober eine der großen Kreuzerfregatten, wie „Prinz Adalbert“ oder „Elisabeth“ oder „Leipzig“ oder die längst vergangene „Hertha“, mit den mittlerweile zu Seekadetten Vorgerückten hinaus auf die große zweijährige Reise um die Welt, auf der dieselben als überzählige Unteroffiziere Dienst thaten, um nachher praktisch und theoretisch voll ausgebildet in das Offizierscorps, zunächst als Unterlieutenants, überzugehen. Aber diese Ansammlung von 30 bis 40 jungen Leuten auf einem Schiff hatte auf die Dauer ihre Uebelstände. Es war ihnen schwer gemacht, an ihre eigene Unentbehrlichkeit und wirkliche Verantwortlichkeit zu glauben.

Heckgeschütz.

Neuerdings wurde statt dessen das „Schulgeschwader“ in Dienst gestellt, das im vergangenen Jahr aus den vier Kreuzerfregatten „Stosch“, „Moltke“, „Gneisenau“ und „Charlotte“ bestand, auf denen die Seekadetten – es werden zur Zeit durchschnittlich jährlich 50 Kadetten eingestellt – gleichmäßig vertheilt waren. Gleichzeitig befand sich auf dem Schulgeschwader eine große Zahl der „Vierjährig-Freiwilligen“, Leute, die aus der Landbevölkerung sich freiwillig zum Dienst an Bord statt in der Armee melden und sich für die genannte Zeit verpachten müssen und die, obwohl von Natur richtige Landratten, doch so brave, todesmuthige und gelassene Seeleute werden können, wie’s die Leute der „Undine“ waren – „lauter Schuster und Schneider“ – die in höchster Noth bis zu Ende untadelig jedes Manöver ausführten und noch im Augenblick der Strandung aus der wüthenden Brandung heraus, den Tod vor Augen, das dreifache, brausende Hoch auf den Kaiser riefen: eine schöne deutsche Uebersetzung des alten „Ave Caesar, morituri te salutant“.

Dieses Schulgeschwader ist jetzt außer Dienst gestellt, und an seine Statt ist das „Uebungsgeschwader“ getreten, bestehend aus den Panzern „Kaiser“ als Flaggschiff, „Deutschland“, „Friedrich der Große“, „Preußen“ und dem Aviso „Zieten“, unter dem Kommando des Kontreadmirals Hollmann. Dem gepanzerten Geschwader mit seinen mächtigen Schiffen mag die Ehre werden, den deutschen Kaiser über See zu geleiten, wenn die „Hohenzollern“ die goldene Kaiserstandarte hißt. Nach Beendigung der Sommerfahrten und Sommermanöver wird es dann wieder hinausgehen in Gegenden, wo mildere Lüfte wehen, um auch in der Winterzeit die in der rauhen Heimath nicht mögliche seemännische Ausbildung rastlos zu üben.

Schmied im Vorderschiff an Deck.

Außer diesem wehrhaften Uebungsgeschwader tritt für den Sommer das „Manövergeschwader“ zusammen, in diesem Jahr bestehend aus den Panzerfregatten „Baden“ als Flaggschiff, „Bayern“, „Oldenburg“ und der Kreuzerfregatte „Irene“, letztere unter dem Kommando des Prinzen Heinrich, dazu dem Aviso „Wacht“. Zum Kommandanten des Manövergeschwaders ist der [467] Kontreadmiral v. Kall ernannt. – Beide Geschwader vereinigt, werden später die große „Manöverflotte“ bilden, der dann noch eine größere Abtheilung von Torpedobooten in zwei Divisionen sich angliedern wird.

Ein drittes Geschwader, das „Kreuzergeschwader“, dient draußen an der ostafrikanischen Küste dem Vaterlande unter dem Befehl des Kontreadmirals Deinhard. Zur Zeit besteht es aus der Kreuzerfregatte „Leipzig“ als Flaggschiff und aus der Kreuzerkorvette „Carola“. Dazu kommen die Kreuzer „Möwe“ und „Schwalbe“ und der Aviso „Pfeil“. Es war früher ein fliegendes Geschwader, ohne feste Station, ohne ein für allemal gültige Seegelordre: heute in Sidney, morgen Anker auf nach den Samoainseln; plötzlich vor Hongkong in Sicht, einige Monate später in Sansibar seine Geschütze zeigend; nach erreichtem Zweck durch den Indischen Ocean zurück, vor dem stürmenden Monsun fahrend mit gerefften Marssegeln und in Singapore nach langer, beschwerlicher Reise wie müde zu Anker gehend; manchmal bis zu fünf Monate lang ohne Post, immer beweglich, schlagfertig im Dienst und auf das Wort des Kaisers; fern von der Heimath auf Jahre; bald im Passat in prächtiger Fahrt, und dann einmal vom Teifun umwettert: harter Dienst, schöner Dienst! Nun liegen die obengenannten Schiffe seit Monaten wieder an der ostafrikanischen Küste im furchtbar schweren Blokadedienst gegen die Sklavenhändler und Aufständischen. Ein einsamer Dienst, wie jedes Schiff rastlos die ihm zugewiesene Küstenstrecke abfährt und seine Boote in gleichmäßigen Entfernungen zu Wasser läßt, um durch sie mit der dazu gehörigen Mannschaft und je einem Offizier auf freier See bei Tag und Nacht, bei unwirthlich wildem Wetter und im heißen Sonnenbrand den jedem Boot zugetheilten Küstenstrich abkreuzen und bewachen zu lassen, etwa von 24 zu 24 Stunden ihnen Ablösung bringend.

Es bleibt der eine und der andere draußen auf Nimmerheimkehr, den das Fieber dahingerafft und den sie ins viel tausend Fuß tiefe, kühle Seemannsgrab versenkt oder am fremden Strande unter Palmen begraben haben, wo ihm die Brandung das Schlummerlied singt. Was thut’s! Im Dienst gestorben ist kein Strohtod, sondern immer Vikingstod in Waffenehren; und die Erde ist überall des Herrn. –

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Das sächsische Königspaar. (Zu dem Bilde S. 453.) Das Fürstenpaar, welches heute im Mittelpunkte des Glanzes steht, den das achthundertjährige Jubiläum des Hauses Wettin verbreitet, ist König Albert von Sachsen, geboren am 23. April 1828, und seine um fünf Jahre jüngere Gemahlin Carola aus dem Hause Wasa. Als ältester Sohn des greisen Königs Johann folgte König Albert 1873 seinem Vater auf dem sächsischen Königsthrone, nachdem er bereits zwanzig Jahre vorher sich mit der genannten Prinzessin vermählt hatte. Was der Kronprinz Albert als kommandirender General des XII. (k. sächsischen) Armeecorps, dann als Oberbefehlshaber der IV. oder Maasarmee in dem großen Kriege geleistet hat, das ist noch in aller Erinnerung. Er hat die Sachsen bei dem heldenmüthigen Sturm auf St. Privat befehligt, der den Sieg vom 18. August entschied und der einen unvergänglichen, wenn auch schmerzlich blutigen Lorbeer um die Stirn der sächsischen Truppen wand. Heute bekleidet König Albert in der deutschen Armee den Rang eines Generalfeldmarschalls.

Aber auch als Fürst des Friedens hat sich König Albert erwiesen. Sachsen erfreut sich unter seiner Regierung eines fröhlichen Gedeihens, Handel und Gewerbe, Künste und Wissenschaften blühen, und die Staatskassen weisen reiche Ueberschüsse auf. Unter glücklichen Zeichen rings umher feiert so das sächsische Volk das Fest seines Fürstenhauses mit.

Wider die Mückenplage. Für manche Gegenden unseres Vaterlandes ist die Frage der Mückenvertilgung von großer Bedeutung, um so mehr, da sie in jedem Sommer und überall von neuem auftaucht. Bei der Bekämpfung aller derartigen Plagen muß die Hauptaufgabe immer darin liegen, der Entwickelung des betreffenden Geschöpfes – gleichviel ob thierischen oder pflanzlichen Schmarotzers – Einhalt zu thun. Die Befehdung, beziehungsweise Vertilgung der bereits aufgetretenen Plagegeister ist in den meisten Fällen überhaupt nicht mehr möglich. Als eine unerläßliche Bedingung für den Erfolg ist sodann immer die zu erachten, daß wir auf Grund unserer Kenntniß ihrer naturgeschichtlichen Entwickelung die Vernichtung auszuführen suchen.

Bekanntlich entwickeln sich die Eier und Larven der Stechmücken in stehenden Gewässern, Sümpfen, Mooren, Lachen, Gräben und selbst sehr langsam fließenden Bächen. Haben wir sie auf verhältnißmäßig beschränkten Gebieten der angegebenen Art vor uns, so ist ihre Unterdrückung einfach und unschwer zu erreichen; in weit ausgedehnten Gewässern dagegen erschien dies bisher kaum möglich. Im ersteren Fall braucht man auf die Wasserfläche nur Petroleum auszugießen, welches sich in dünner Schicht weithin von einem Ufer zum andern verbreitet und die Mückenbrut tödtet. Ebenso wirksam ist irgend ein fettes Oel, je billiger, desto bester. Wollte man nun das Petroleum als das allerdings am kräftigsten wirkende Mittel über weite Gräben und Sumpfflächen ausgießen, so würde die dadurch verursachte Plage wohl noch schlimmer sein als die der Mücken, denn das verdunstende Petroleum ist ja der menschlichen Gesundheit sehr schädlich. Empfehlenswerther ist das fette Oel, so besonders roher Leberthran. Ein Löffel voll davon überzieht einen Graben auf eine weite Strecke hin, und im ganzen etwa ein Liter, nicht auf einer Stelle, sondern hier und dort ausgegossen, kann das flache Wasser eines Bruchs wer weiß wie weit hin mit seiner dünnen Schutzdecke förmlich überlaufen.

Gleicherweise brauchbar ist Theer, namentlich Holz-, doch auch der billigere Steinkohlentheer, dessen Geruch ja keineswegs so lästig und der auch nicht für die Gesundheit gefahrdrohend wie das Petroleum ist. Man rührt in einer Tonne Theer mit Wasser an, fährt sie hinaus nach den Sümpfen und Tümpeln und gießt hie und da ein Maß voll auf die Wasserfläche. Zu beachten ist dabei, daß man keines dieser Mittel dort anwenden darf, wo Fische in den Gewässern zu finden sind; aber diese dürfen ja an sich schon als die besten Vertilger der Mücken gelten, und wo man die Wasserlöcher, Gräben u. a. mit Karauschenbrut möglichst reichlich besetzen kann, liegt darin die beste und vorteilhafteste Mückenvertilgung. Die von mir vorgeschlagenen Mittel sollte man etwa von der Mitte des Monats Juli und den August hindurch, unmittelbar vor der Entwickelung der Mückenlarven, mehrmals anwenden.

Alle übrigen künstlichen Hilfsmittel, so die Mückenschleier, selbst besondere Mückenlampen, ferner Heilmittel beim Mückenstich, können natürlich nur als Nothbehelf gelten.

Zur Fernhaltung der Mücken dienen am besten gewisse riechende Stoffe, einige Oele wie Nelkenöl und fettes Lorbeeröl, auch Eukalyptusöl, dessen Geruch jedoch auch von vielen Menschen nicht ertragen wird. Am sichersten wirkt übrigens die Cigarre, deren Rauch die Mücken ebenso wenig wie alle anderen Kerbthiere leiden können. Zur Zerstörung des Giftes unmittelbar nach dem Stiche nimmt man den sogenannten Salmiakgeist, ist die Entzündung aber bereits vorgeschritten und droht sie in Eiterung überzugehen, so macht man Umschläge von Carbolwasser oder mit Bleiwasser. Weicht die Entzündung nicht bald zurück, so ist wohl gar ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dr. Karl Ruß.

Herman Schmids Gesammelte Schriften. Ein alter Freund der Gartenlaubeleser tritt in neuem Gewand einen neuen Gang durch die Welt an, Herman Schmid. Zwanzig Jahre lang, von 1860 an, da die „Huberbäuerin“ „das Eis brach“, bis zu seinem Tode 1880 ist er ein treuer, fleißiger und fruchtbarer Mitarbeiter der „Gartenlaube“ geblieben, jeder Jahrgang fast brachte ein neues Kind seiner Muse, ja mancher ihrer gar zwei. Schmid selbst hat es einmal ausgesprochen, der „Gartenlaube“ verdanke er seinen Namen und seine Popularität, aber diesen Dienst hat er dem Blatte reichlich vergolten durch sein glückliches Talent als Erzähler bayerischer Dorf- und Volksgeschichten. Uebrigens war Herman Schmid nicht bloß Erzähler, sondern auch Dramatiker, ja er selbst legte eigentlich viel mehr Werth auf seine Bühnenwerke als auf seine Erzählungen, eine eigenthümliche Erscheinung, denn mit seinen Erfolgen als Theaterdichter war es spärlich bestellt. Die Verlagshandlung von Ernst Keils Nachfolger in Leipzig hat denn auch in die neu erscheinende Volks- und Familienausgabe von Herman Schmids gesammelten Schriften nur die Romane und Novellen aufgenommen, diejenigen Werke seiner Feder, auf denen sein Ruhm und sein dichterischer Werth beruht. Die Ausgabe ist einfach, aber hübsch und gediegen ausgestattet und erscheint in vierzehntägigen Lieferungen zu einem so billigen Preise, daß die Erwerbung dieses Hausschatzes auch dem weniger Bemittelten keine großen Opfer auferlegt.

Die Herzarbeit. Unaufhörlich, Tag und Nacht pocht das Herz in unserer Brust und unermüdlich arbeitet es; es kennt weder Schlaf noch Ruhe, so lange der Mensch lebt. Wie groß ist nun die Arbeit, die es stündlich, täglich im Laufe der Jahre vollbringt? Können wir sie messen wie die Arbeitskraft einer Maschine, die Arbeitsleistung eines Handarbeiters? Die Physiologen haben es gethan, und wir wollen die Ergebnisse ihrer Untersuchungen hier in aller Kürze mittheilen. Sie gehen doch jeden von uns nahe an, denn jeder hat ja ein Herz im Leibe. Diesem hat es mehr, jenem weniger zu schaffen gemacht, denn es giebt harte und weiche, gute und böse Herzen, aber alle sind unermüdlich fleißig und alle verdienen eine Lobrede.

Man vergleicht so oft das Herz mit einem feinen Uhrwerk – es schlägt ja immerfort wie eine Uhr – und da wird wohl auch die Arbeitskraft bei der Herzthätigkeit die Nebenrolle spielen, der feine Mechanismus die Hauptsache sein? Weit gefehlt! Die Uhr, selbst die größte, selbst eine Thurmuhr ziehen wir mit geringer Kraftanstrengung in kürzester Zeit auf, und sie geht alsdann 24 Stunden oder länger. Wenn sich nun das Uhrwerk des Herzens aufziehen ließe, wie viel Kraft müßten wir anwenden, um es für 24 Stunden aufzuziehen? Wir haben dabei nicht das Herz eines Kindes, sondern das eines Erwachsenen im Auge. Ließe sich diese Probe ausführen, dann müßten wir zu dieser Arbeit einen der stärksten Handarbeiter herbeiholen, und er müßte zwei volle Stunden lang angestrengt arbeiten, um mit diesem Aufziehen des Herzuhrwerks fertig zu werden.

Dieser Vergleich, der etwas hinken mag wie alle Vergleiche, beweist immerhin deutlich, daß das kleine Herz wirklich Großes leistet. Wir wollen es zahlenmäßig beweisen. Vorausschicken möchten wir dabei, daß als Einheit für die Messung dieser Thätigkeit, als die Elle, mit der wir die Arbeitsleistung eines Arbeiters messen, ein Kilogrammmeter (kgm) gilt, d. h. die Kraft, welche nöthig ist, damit ein Kilogramm in einer Sekunde einen [468] Meter hoch gehoben wird. Wie groß ist nun die Herzarbeit bei einem Erwachsenen in Kilogrammmetern ausgedrückt?

Das Herz muß bekanntlich das Blut durch unseren Körper treiben, in zwei Kreisläufen durch die Lungen und den übrigen Körper. Die Gesammtmasse dieses Blutes beträgt beim Erwachsenen etwa 10 Pfund oder 5 kg. Das linke Herz, welches den großen Kreislauf versorgt, muß angestrengter arbeiten. Die Blutmenge, welche durch eine Herzzusammenziehung in die Adern ausgetrieben wird, beträgt etwa 180 g = 0,18 kg, und da das Herz dabei noch den Druck des in den Adern vorhandenen Blutes, der einer Blutsäule von mehr als 3,3 m entspricht, überwinden muß, so ist die Arbeitsgröße für jede Zusammenziehung der linken Herzkammer gleich 0,18 × 3,3 oder rund 0,6 kgm. Auf die Minute kommen im Durchschnitt 75 Herzschläge, und daraus läßt sich leicht berechnen, daß das linke Herz allein in 24 Stunden die Arbeit von rund 65000 Kilogrammmetern verrichtet. Die Arbeit des rechten Herzens ist geringer, da es nur für den kleineren Blutkreislauf zu sorgen hat, sie beträgt etwa ein Drittel der Arbeit des linken Herzens, also rund 22000 kgm, und daraus würde sich die Herzarbeit mit 87000 kgm in 24 Stunden berechnen, oder mit anderen Worten gesagt: wir könnten, wenn wir diese Arbeitssumme auf einen Punkt konzentriren würden, mit dieser 1740 Centner 1 Meter hoch heben!

Vergleichen wir nun damit die größte mechanische Arbeitsleistung eines Arbeiters in 8 Arbeitsstunden, so erfahren wir, daß diese 320000 kgm beträgt. Das Herz leistet also in 24 Stunden mehr als ein Viertel der mechanischen Arbeitssumme, welche ein angestrengter Arbeiter während eines vollen Arbeitstages zu leisten vermag.

Wer sich für derartige Fragen interessirt und tiefer in die Herzensgeheimnisse der Menschen eindringen möchte, den verweisen wir auf das treffliche populäre Werk „Der Mensch“ von Dr. Johannes Ranke (Leipzig, Bibliogr. Institut); er wird darin auch eine Begründung der oben angeführten Zahlen finden. C. Falkenhorst.

Noch einmal Scheffels Nachlaß. Es ist eine in der Geschichte der Litteraturen sich häufig wiederholende Erscheinung, daß an besonders berühmt und volksthümlich gewordene Namen sich manche Erzeugnisse der Dichtkunst knüpfen, welche mit den echten und berechtigten Trägern jenes Namens nicht mehr gemein haben als eine gewisse Verwandtschaft des Stoffkreises, des Tons und der äußern Form. So ist es im grauen Alterthum Homer ergangen, in neuester Zeit aber – Scheffel.

In die Sammlung „Gedichte aus dem Nachlaß von Joseph Viktor v. Scheffel“, welche bei Adolf Bonz u. Komp. in Stuttgart erschienen ist, hat sich auch solch ein fremdes Kind eingeschlichen, ohne daß irgendwie böser Wille oder absichtliche Täuschung ins Spiel käme. Es ist das auch in den Proben, welche die „Gartenlaube“ in der Nummer 21 des laufenden Jahrgangs aus dem Büchlein mitgetheilt hat, abgedruckte „Alpenlied“; sein Verfasser ist, wie wir jetzt erfahren, nicht Joseph Viktor v. Scheffel, sondern der in Offenburg in Baden lebende Oberingenieur Beger.

Dieser schrieb das hübsche Gedichtchen einst auf fröhlicher Wanderschaft 1876 in ein Fremdenbuch am Lüner See. Ein Schweizer Tourist las es, glaubte es als Scheffelsches zu erkennen, und unter Scheffels Namen erschien es nun im Berner „Bund“, ohne daß der wirkliche Verfasser sich veranlaßt gefühlt hätte, dagegen aufzutreten. Er ließ es vielmehr ruhig geschehen, daß sein Geisteskind in dem Schweizer Blatte sich unter der stolzen Flagge versteckte, und so gerieth es denn auch in die Bonzsche Sammlung.

Als nun aber auch die weitverbreitete „Gartenlaube“ das Gedichtchen unter Scheffels Namen aufführte, da glaubte der wahre Verfasser, welcher dasselbe mittlerweile auch öffentlich bei festlichem Anlasse als sein eigenes vorgetragen hatte, schon um dem Vorwurf des Plagiats zu begegnen, nicht länger schweigen zu dürfen.

Er schrieb an die „Gartenlaube“, und sie steht nicht an, ihm sein Recht werden zu lassen. Auch der Verleger der „Gedichte aus dem Nachlaß“ hat sich selbstverständlich sofort bereit erklärt, das Lied aus der Sammlung herauszunehmen, der es doch nur zur Zierde gereicht hatte.

Merkwürdige Kriegsmaschinen als Vorläufer des Velocipeds. In einem Manuskript des Nürnberger Patriciers Berthold Holzschuher vom Jahre 1558 im Germanischen Nationalmuseum findet sich die Zeichnung eines durch Kurbelbewegung getriebenen Wagens, der nach des Verfassers Meinung mit massivem Blockwerke umgeben und mit Artillerie besetzt und so mitten in ein feindliches Heer getrieben werden konnte. Acht Personen sollten den Wagen in Bewegung setzen, etwa ebenso viel mußte er als Besatzung mitnehmen. Holzschuher versprach sich von dieser und anderen Erfindungen ganz außerordentliche Erfolge; er hielt dieselben jedoch streng geheim, und daher mag es kommen, daß die Kriegsgeschichte nichts von den gewaltigen Thaten des „Basilisken“, wie er den Kriegswagen nannte, meldet. Ein nicht durch Menschen oder Thiere gezogener Kriegswagen findet sich aber schon in der um 1470 erschienenen Ausgabe des Vegetius abgebildet, nur sollte der Wind als Triebkraft dienen. Die auf den beiden Seiten befindlichen kleinen Windflügel werden aber kaum ausgereicht haben, den Wagen von der Stelle zu bringen.

Ein Schwarzkunstblatt des Augsburger Kupferstechers Gabriel Bodenehr liefert den Beweis, daß noch zur Zeit des Siebenjährigen Krieges der Gedanke Berthold Holzschuhers die Geister beschäftigte. Das Blatt zeigt einen vierrädrigen Wagen, auf dem eine Lafette mit einem großen Geschützrohr sich befindet und welcher durch die einfache Umdrehung einer Kurbel mit der Hand in Bewegung gesetzt wird. Natürlich hatte ein solches Fahrzeug keinerlei praktischen Werth. Sollte ja eines gebaut worden sein, so werden die Versuche, dasselbe in Bewegung zu setzen, ebenso kläglich ausgefallen sein wie die eines belgischen in Rom im 17. Jahrhundert lebenden Malers, der ein ohne Pferde zu treibendes hölzernes Kastell erfunden haben wollte, das 100 Mann fassen und mit Artillerie besetzt werden konnte. Er wurde ausgelacht, da er den leeren Kasten auf ebenstem Boden nur mit allergrößter Anstrengung einige Schritte vorwärts bringen konnte, was den guten Mann aber nicht hinderte, nach Malta zu reisen und seine Erfindung den Malteser Rittern gegen möglichst viel Geld zur Verwendung gegen die Türken anzubieten.

Man sieht, daß der Gedanke, im Kriege Fuhrwerke zu verwenden, die nicht durch Menschen oder Thiere gezogen, sondern in anderer Weise fortbewegt werden, ein sehr alter ist. Erst die vielen Verbesserungen dieser Art von Fahrzeugen in der Neuzeit, die für den Sport und doch auch für mancherlei praktische Zwecke ein brauchbares Geräth schufen, vermochten es, diese Kriegsmaschinen von der Theorie in die Praxis überzuführen – allerdings in anderer Gestalt, als sich es die Alten vorgestellt hatten, als Velociped.

Schachaufgabe.
Von Franz Schrüfer in Bamberg.

SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

W. K. in Wiesbaden. Da die Glasfalzziegel auf dem Dache Ihrer Scheune von „matt rauhem“ Glase fabrizirt sind, dürfte die in unserem Artikel „Die Sonne als Brandstifterin“ geschilderte Gefahr, daß sie als Brenngläser wirken, ausgeschlossen sein. Sollte Ihre Bezeichnung „matt-rauh“ nicht ganz zutreffend sein, so können Sie sich dadurch schützen, daß Sie die Glasflächen mit weißer Oelfarbe anstreichen.

A. P. in Dresden. Das Gut Schönhausen, welches seit dem Mittelalter im Besitze der Familie Bismarck gewesen war, ging in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts durch Verkauf in andere Hände über. 1885 aber wurde das Gut aus dem Ertrag der „Bismarckspende“ zurückgekauft und dem Reichskanzler an seinem siebzigsten Geburtstage zum Geschenk gemacht.

J. B. in Temeswar. Von den kleinen „Verdeutschungsbüchern des allgemeinen deutschen Sprachvereins“ sind bis jetzt zwei erschienen (Braunschweig, Verlag des allgemeinen deutschen Sprachvereins); das erste hatte die Ausdrücke von Küche und Gasthofwesen zum Gegenstand, das zweite nimmt den Handel vor und zwar in seiner ersten Abtheilung die Buchhaltung, den Briefwechsel, den Bankverkehr und die Börse.

C. Sch. in Düsseldorf. Auf Ihre Anfrage giebt eine Stelle in der Rede des Grafen Bismarck vom 25. Sept. 1866 Auskunft, welche lautet: „Wir haben uns in diesem Frühjahr ungeachtet des vollständigen Versagens des Geldmarktes . . . helfen können, weil die Kassen des Staates nach guter preußischer Wirthschaft reichlich gefüllt waren.“

R. G. in Plonsk. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse behufs brieflicher Antwort.

G. F. in Lothringen. Sie sprechen Ihr Befremden darüber aus, daß die schnellfahrenden Personenzüge von den Eisenbahnverwaltungen verschieden als Schnell-, Eil-, Kurier- oder Expreßzüge benannt werden, ohne daß der Laie einen Grund, ein eigentliches Unterscheidungsmerkmal zu erkennen vermöchte. Diese willkürlichen Bezeichnungen führen allerdings nur zur Beirrung des reisenden Publikums, und es war deshalb sehr zeitgemäß, daß in der letzten internationalen Fahrplankonferenz, welcher Vertreter von Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Rußland, Oberitalien und Belgien beiwohnten, ein Antrag gestellt wurde, diese Züge ohne Unterschied als „Eilzüge“ zu bezeichnen. Die Beschlußfassung ist auf ein halbes Jahr vertagt worden, doch steht zu hoffen, daß der Vorschlag zu gunsten der Einheitlichkeit Billigung finden werde.

H. H. in Frankfurt a. M. Da haben Sie der „Gartenlaube“ eine heikle Mission aufgetragen, verehrtes Fräulein, „Sie mit den Gebräuchen des kommentmäßigen Trinkens bekannt zu machen“, damit Sie im Betretungsfalle „die Antwort nicht schuldig bleiben“. Heikel ist sie schon um deswillen, weil in unserem weiten deutschen Vaterlande die Gebräuche und Redensarten beim Trinken nicht überall dieselben und wir zu unserem Schmerze zufällig mit dem Frankfurt-Sachsenhausener Lokalkomment gänzlich unbekannt sind. Andererseits kommen in dem Komment des deutschen Trinkers Ausdrücke vor, die uns die Höflichkeit entschieden verbietet, Ihnen vorzuschlagen. Wir können uns z. B. nicht mit dem Gedanken befreunden, daß die „Gartenlaube“ daran schuldig sein soll, wenn Sie, verehrtes Fräulein, eines schönen Tages oder Abends Ihren zarten Lippen die entsetzlichen Worte entschlüpfen lassen würden: „Ich löffle mich!“ – Also das geringere Uebel statt des größeren: wir erachten es als eine gelindere Unhöflichkeit, einer langjährigen, begeisterten Leserin eine Bitte abzuschlagen, als ihrem Munde zu Redensarten Anleitung zu geben, die der Genius des Trinkens nicht für Damenlippen erfunden hat.

L. in Z. Die Luft wird in manchen Gegenden in der That so ausgetrocknet, daß der Regen, der aus den Wolken fällt, die Erde nicht erreicht, sondern sich in der Luft in Dampf auflöst. Dies wurde in der ostasiatischen Wüste Gobi beobachtet. Neuerdings theilte Dr. C. G. Büttner der Gesellschaft für Erdkunde mit, daß er in Damaraland (in Otjimbingue) ein ähnliches Phänomen beobachtet habe. Er hörte vor Beginn eines Regenschauers ein Geräusch, als ob es über ihm regnete. Seine Begleiter erklärten ihm dieses Geräusch durch die Behauptung, daß die Regentropfen sich in den oberen trockenen Luftschichten auflösten und nicht eher zu Boden fielen, bis die unterste Luftschicht sich mit Feuchtigkeit gesättigt hätte.


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 449. – Dresden in den Tagen des Wettiner Jubiläums. Von Dr. Franz Koppel-Ellfeld. S. 452. Mit Abbildungen S. 452, 456, 460 u. 461. – Großmutters Geburtstag. Illustration S. 457. – Der Vierfingrige. Eine Erzählung von Eduard Engel. S. 458. – Die Wacht an der See im Frühling 1889. Ein Ueberblick von Gerhard Walter. S. 464. Mit Abbildungen S. 449, 464, 465 u. 466. – Blätter und Blüthen: Das sächsische Königspaar. S. 467. Mit Porträts S. 453. – Wider die Mückenplage. Von Dr. Karl Ruß. S. 467. – Herman Schmids Gesammelte Schriften. S. 467. – Die Herzarbeit. Von C. Falkenhorst. S. 467. – Noch einmal Scheffels Nachlaß. S. 468. – Merkwürdige Kriegsmaschinen als Vorläufer des Velocipeds. S. 468. – Schachaufgabe. S. 468. – Kleiner Briefkasten. S. 468.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.