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Die Gartenlaube (1889)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

No. 22   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)
9.

Daß Tage so lang, so endlos lang sein können, hatte Gerda nie gewußt. Bis zu dieser Zeit war ihr Leben so ausgefüllt gewesen von hundertfältigen Dingen, daß sie die Stunden, welche ihrem Knaben gehört hatten, immer hatte vertheidigen müssen gegen zahllose Anforderungen, die sich als wichtig gebärdeten.

Ein großer Kreis von Freunden hatte sich schon, als ihr Gatte noch lebte, daran gewöhnt gehabt, in ihr den allezeit rath- und thatbereiten Schutzgeist zu sehen. Ihre litterarischen Freunde erwarteten ein förderndes und ehrliches Urtheil über neu von ihnen herausgegebene Bücher. Dafür mußte sie so viel lesen. Ihre musikalischen Freunde wollten ihr zuerst Neuschöpfungen vortragen. Dafür mußte sie Zeit opfern, um zu hören. Dann war dieser und jener verreist und wollte in der Ferne gerade nur von ihrer Feder die Ereignisse von daheim geschildert lesen. Oder es gab Patienten, und sie mußte pflegen helfen. Besuche kamen jeden Tag. Die Zeit flog wie ein Wirbelwind vorüber, und oft klagte Gerda: „Vor lauter kleinen Pflichten komme ich kaum noch zur Erfüllung meiner großen Pflicht.“ Aber in der That begleitete sie bei allen Dingen immer der fürsorgende Gedanke für ihren Knaben, und ihr Leben voll weltlicher Interessen hatte seine junge Seele doch um nichts gebracht. Seine Ernährung, seine Beschäftigung, die Eindrücke, die von draußen zu ihm kamen, waren Gegenstand ihrer fast angstvollen Aufmerksamkeit, Sie hatte auch sechs Jahre lang die Hoffnung hegen dürfen, daß sein überzarter


Schloß und Dorf Ebernburg.

[358] Körper doch die Gewalt seines überthätigen Geistes ertragen werde. Aber wie seltsam! Hier in der Einsamkeit, wo seine Mutter die ihm gewidmeten Stunden nicht mehr ihren gesellschaftlichen Anforderungen abzuringen brauchte, sondern ganz ihm lebte, hier wurden seine Wangen immer schmäler, seine großen Augen immer leuchtender. Oft klagte er, daß er nichts anzufangen wisse, obgleich seine Mutter sich in der Erfindung von spielender oder belehrender Beschäftigung erschöpfte. Auch ihm wurden die Tage endlos lang. Und oft geschah es, daß beide langsam verstummten, daß beiden das Spielzeug aus den Fingern entsank und daß beide dann still träumend aneinander geschmiegt dasaßen.

Eine geheimnißvolle Gleichheit der muthlosesten Trauerempfindung umspann Mutter und Kind. Aber nach solchen stummen bangen Minuten raffte Gerda sich gewaltsam wieder auf. Sie war nicht das Weib, im stummen Jammer wehrlos zu vergehen.

Das kränkliche alte Fräulein befand sich bei dem neuen Leben am besten. Jedermann hatte jetzt Zeit für sie und ihre zahllosen Pflegebedürfnisse. Mit nie ermüdender Geduld erfüllte Gerda ihr alle Wünsche. Das Kind störte nicht mehr durch Lärm.

Daß Gerda und der Knabe beide blaß und gramvoll aussahen, bemerkte sie nicht. Jeden Tag lobte sie die Ruhe, die eingekehrt sei, und pries das Geschick, daß zwei so unverträgliche Menschen sich noch rechtzeitig getrennt hätten. Daß sie es „schon immer gesagt hatte“, war eine Thatsache, auf die sie sich befriedigt berief. Obenein war ihr noch ein Mittel schlecht bekommen, das Alfred ihr empfohlen hatte, zu versuchen, und dies erstickte jedes Wohlwollen für ihn. –

Auf schweigsamen Spaziergängen, welche Gerda mit dem Knaben unternahm, lebte sie in Gedanken jede Stunde noch einmal durch, die sie zusammen mit Alfred gesehen. Nun war es schon über ein Jahr, seit sie sich zuerst begegnet waren, und diese erste Begegnung war ihnen gleich eine bedeutungsvolle geworden. Der erste Händedruck, den sie gewechselt, hatte ihnen schon gesagt, daß sie sich niemals gleichgültig gegenüber stehen könnten. Und seitdem, in der ganzen Reihe unglücklich-glücklicher Tage, hatte ihr Leben nur noch einen Inhalt gehabt: ihn!

Das Verwaistsein ist entsetzlich. Oft hatte Gerda Stunden, wo sich die dumpfe gedankenlose Schwere, die wie ein tödtender Druck auf ihr lag, lichtete und einer peinvoll genauen Erinnerung Platz machte. Dann begriff sie, warum ihr Leben niemals wieder ein zufriedenes werden konnte, wie es gewesen war, ehe sie ihn gekannt. Er hatte sie den Sonnenschein kennen gelehrt. All die kleinen lieben Beweise einer tiefsten Zärtlichkeit fielen ihr ein. Wie sehr er sich an dem Ton ihres Lachens erfreut und diesen nachzuahmen versucht hatte! Wie eine gewisse Art von ihr, „Nein“, zu sagen, ihm reizend und drollig erschienen war! Wie er täglich mehrmals über eine widerspenstige Haarsträhne, die sich dem Knoten im Nacken nicht einfügte, gescholten hatte und sie doch selbst gern mit raschem Finger herauszog, wenn sie ja einmal glatt lag. Ach, all die winzigen Einzelzüge der Gesammterscheinung, die nur ein Liebender sieht und bewundert!

Das war erstorben, und nun gab es niemand mehr, der Gerda neckte, umschmeichelte, wie ein Kind behandelte. – Wie eine Neugeburt der Seele war ihr, der ernsten, gereiften, von aller Welt als Respektsperson behandelten Frau, es gewesen, in heiteren Augenblicken von ihm wie ein verzogenes Kind behandelt zu werden. –

Der Knabe unterbrach die Grübeleien seiner Mutter nie durch eine Frage. Seltsam unkindlich, wie er in manchen Dingen war, sprach er auch niemals von dem geliebten Freund, warum er gegangen sei, oder wann er wiederkomme. Aber Gerda fühlte mit immer steigender Bangigkeit, daß er an Heimweh vergehe. Freudlos und müde lernte und spielte er. Widerwillig aß er. Seine sonst so erfinderische Phantasie sann nichts mehr aus.

Seit mehr als einem Jahre war er gewöhnt gewesen, dem geliebten Freund alles anzuvertrauen, was er mit seinen Spieldingen zusammen erlebte. Und Alfred war liebevoll mit ihm gegangen, überall hin, er hatte ihn immer verstanden und nie ausgelacht, wie die Tante oft that. Ja, Alfred war mit zum dichtenden Kinde geworden und hatte so schön zu erzählen gewußt. Wenn Sascha fragte, wo der Wind herkäme und was er sänge, wußte Alfred vom eisigen Norden, oder von der heißen Wüste, von fernen Meeren und Schneebergen zu erzählen, und wenn Sascha es nicht glauben wollte, berief er sich auf die Schwalbe als Zeugin.

Die Blumen, der Wind und die Schwalbe waren stumm geworden, und in der todten Natur langweilte sich das Kind.

Nur an einem zeigte es noch Antheil: an den Schreibkünsten, deren Anfangsgründe Alfred ihn gelehrt. Von dem Griffel und der Schiefertafel rückte er zum Bleistift und Papier vor. Und einmal fand Gerda ihn vor ihrem Schreibtisch bei der Tinte.

Seine Fingerchen, der Daumen, Zeige- und Mittelfinger der Rechten waren bis zum Gelenk schwarz, so tief hatte er die Feder eingetaucht, und der Bogen war mit runden Tropfenflecken übersäet. Saschas Gesicht war weinerlich verzogen.

„Was machst Du da?“ fragte seine Mutter.

„Ich will mit Tinte schreiben lernen, gerade so, wie es gemacht wird, wenn man Briefe schreibt,“ sagte er, „und immer wenn ich einen Buchstaben machen will, wird es bloß ein Klecks.“

Gerdas Herz klopfte. Vor ihren Augen ward es dunkel.

„Du hast die Feder zu voll von Tinte,“ bedeutete sie mit unsicherer Stimme und im zärtlichsten Ton. „Komm, ich will Dir einen reinen Federhalter geben. So – mein Liebling, siehst Du, nur die Spitze. Willst Du an Tantchen schreiben? Soll ich Dir zeigen, wie es gemacht wird?“

Gerda wußte ganz genau, was ihr Kind wollte und dachte. Jeder Pulsschlag sagte es ihr. Mit zitternden Fingern legte sie ihm einen Bogen hin. „Da oben schreibst Du: ‚Liebes Tantchen‘, dann kommt ein Ausrufungszeichen, und dann da, weiter unten, schreibst Du was anderes. Zum Beispiel: ‚Ich hoffe, daß Du morgen ganz wohl bist, und grüße Dich als Dein Sascha‘,“ sagte sie; „Tantchen wird aber eine Freude haben.“

Sascha begann „Liebes Tantchen“ hinzumalen. Seine Wangen glühten. Das war sehr gut mit dem Brief an Tantchen, da sah er, wie es gemacht wurde.

Gerda überwachte, mit Anweisungen aushelfend, die Fertigstellung dieses Briefleins.

„Trag Du es ihr hin,“ bat Sascha, vor Eifer glühend und mit einem – ach, lange nicht gesehenen Lächeln, „ich will’s noch ein bißchen mit Tinte versuchen.“

Gehorsam ging Gerda. Und als sie nach einer Stunde wieder kam, saß Sascha still am Fenster. Sie aber fragte nicht, was aus seinen weiteren Schreibversuchen geworden sei.

Die hatten freilich Mühe genug gekostet, aber endlich war doch ein Brief zustande gekommen. Die ganze erste Seite war von der Anrede ausgefüllt.

„Liber süser Papa liber guhter Papa,“ stand da in steilen Buchstaben auf den Bleistiftlinien, die eng und weit, schräg und gerade das Papier überquerten.

„Bitte komm doch Wiehder Du hast einmahl gesagt Du Willst mein Papa sein Ich und Mama Sind sehr Traurich und so grüse Ich Dich als Dein Sascha.“

Das kleine deutsche w war Saschas Todfeind, er zog das große lateinische vor, das ihm leichter gelang. Von Interpunktionen hatte er natürlich noch keine Ahnung.

Eine weitere und noch größere Schwierigkeit hatte ihm die Aufschrift des Couvertes gemacht. Den Familiennamen Alfreds hatte er vielleicht einmal gehört, aber er wußte ihn nicht. Er wußte aber genau, daß ein solcher, wie auch die Angabe einer Straße und einer Stadt auf dem Brief nothwendig ist. Eine vollkommene Entmuthigung preßte ihm Thränen aus. Aber dann kam ihm ein Trostgedanke. Neugestärkt, schrieb er schief und kaum leserlich auf das Couvert: „An Papa Alfred.“

Er schloß das Couvert sehr sorgfältig; als er es in die Tasche stecken wollte, war es zu groß. Da schob er es unter seinen Kittel auf die Brust.

Gerda bemerkte, daß der Knabe sich den ganzen Tag in der Nähe der Verwalterwohnung aufhielt. Auch sah sie, daß der Kleine seinen Zweck, den er offenbar hatte, erreichte, denn gegen abend kam der Verwalter heim und Sascha redete ihn an. Sie ahnte, mit welcher Frage!

Von nun an zeigte Sascha sich heiterer und bat jeden Tag, ob er nicht mit der Jungfer nach Baden hinunterspazieren dürfe. Gerda schlug es ihm immer wieder ab. Sie hatte das Couvert bemerkt, welches das Kind allabendlich unter das Kopfkissen steckte und allmorgendlich wieder auf der Brust verbarg. Ja – wenn sie nichts, nichts bemerkt gehabt hätte, und wenn das geliebte Kind wie ein Geist der Versöhnung „ihn“ wieder hergeführt – aber so – sie mußte doch gestehen, wenn er des Kindes Ruf Folge [359] leistete, daß sie darum gewußt, wenn auch nicht so ganz genau. Vor sich selbst wäre sie ja jesuitisch gewesen, hätte sie nichts sehen, nichts ahnen wollen.

Aber als Tag um Tag Saschas eben wieder erblühte Heiterkeit schnell entschwand, da begannen Sorge und Schwäche einen erfolgreichen Kampf gegen ihren Stolz zu führen. Wenn dieser rührende Einfall des Knaben ein Fingerzeig wäre, der auf den rechten Weg wiese? Wenn er nur eines, eines guten Wortes harrte, um zurückzukehren, einsichtsvoll und geläutert? Wenn diese bittere Zeit in seinem Blute den schnellwallenden Trotz geebnet hätte? Wenn vielleicht jetzt nach dieser äußersten Auflehnung gegeneinander sie verständen, sich ineinander zu fügen?

Und an einem Septembertag, der sich aus den im Thal brauenden Nebeln leuchtend erhob, sagte Gerda dem entzückt aufblickenden Knaben, daß sie einige Besorgungen in Baden habe, er könne mitfahren und mit der Jungfer spazieren, indeß sie in den Magazinen sei. Der Verwalter, welcher ohnedies unten zu thun hatte, führte sie in seinem klapprigen Wägelchen zu Thal. Auf der Promenade an der Oos verließen sie das Gefährt.

Gerda wandelte ein Weile mit dem Kinde und dem Mädchen zwecklos unter den Bäumen. Ihre Füße waren bleischwer, ihr Antlitz ganz entfärbt. Ihr war es, als stände sie vor einer letzten fürchterlichen Entscheidung.

„Mama, Du wolltest ja für Tantchen was einkaufen,“ drängte Sascha ungeduldig. Sie seufzte schwer.

„Also – ja! Sie lassen Sascha nicht von der Hand. Hier haben Sie Geld, wenn er Durst oder Hunger bekommen sollte, gehen Sie mit ihm zu Rumpelmayer; Sie wissen die Konditorei? Ja? Schön! In anderthalb Stunden treffen wir uns oben auf dem Marktplatz vor der katholischen Kirche.“

„Sehr wohl, Frau Baronin.“

Gerda sah sich noch fortwährend nach dem Knaben um. Sie bemerkte, daß seine Begleiterin eine Frau anredete. Sascha ließ sich nach der Wohnung Alfreds erkundigen, die er vom Verwalter erfragt. Dann gingen sie über eine der Brücken in das Innere der Stadt und entschwanden ihrem Blick.

Sie ging nun plötzlich, von fieberhafter Eile ergriffen, die einzige Besorgung zu machen, die den Vorwand zu dieser Fahrt gegeben hatte. Der Zettel brauchte nur in dem Delikatessengeschäft abgegeben zu werden, Tantchen hatte ihn geschrieben; die Waren mit der Rechnung schickte man hinauf. Nach einer Viertelstunde schon war Gerda oben an der Kirche.

Sie hatte diesen Platz zum Wiedertreffen gewählt, weil es ihr widerstrebte, an irgend einen Ort zu gehen, wo sie Menschen, Bekannte treffen konnte, wie vor vierzehn Tagen die Ravenswann und Schneider im Buchladen. Daß jene sie damals ungezogenerweise und absichtlich nicht gegrüßt, war ihr gar nicht aufgefallen, aber der bloße Anblick von Leuten aus der Welt war ihr lästig. So dachte sie, in der Kirche zu warten.

In dem hohen, kühlen Raum, in den das Licht farbig verschattet durch bunte Fenster fiel, war es ganz still. Hier und da knieete in den Bänken eine Beterin, oder ein Neugieriger ging auf leisen Sohlen durch den Mittelgang. Die bunten Sonnenflecke, die roth und grün und blau auf den Säulenbündeln, dem steinernen Estrich, dem braunen Gestühl lagen, belebten freundlich das ernste Bild der graugetönten Kirchenhalle.

Wie wohl dieser Friede dem bangschlagenden Frauenherzen that!

Leises Orgelspiel begann, und zugleich kamen zu allen Thüren Leute herein. Die Kirche füllte sich rasch, eine Messe oder eine Predigt schien gehalten werden zu sollen. Es war Gerda wie eine Mühe, aufzustehen und den Platz zu verlassen, der ihr nun keine Stille mehr bot.

Draußen lag greller heißer Sonnenschein. Mit Sorge dachte Gerda daran, daß sie das Kind hierherbestellt hatte, und daß es in der Mittagsgluth die steilen Straßen hinanklimmen mußte. Ihr selbst war es unmöglich, selbst unter dem Schutze ihres großen Sonnenschirmes, auf dem Platze auszuharren.

Sie trat in den Thorbogen des Rathhauses und ging in dem um diese Zeit völlig verlassenen Flur auf und ab. Aus dem kahlen Raum führten rechts und links Thüren mit je zwei Vorstufen in das Innere des Gebäudes. Dazwischen hingen an den schmucklosen Wänden in drahtvergitterten Rahmen amtliche Ankündigungen.

Wie die Minuten bleiern schlichen! Gerda sah nach der Uhr – noch eine Viertelstunde bis zur bestimmten Zeit. Aber vielleicht hatte Sascha schnell gefunden, was er gesucht, für weitere Gänge dann keine Lust gehabt und kam schon. Sie trat unter das Portal und sah rechts die abwärtsführende Straße entlang. Niemand! Sie ging wieder im Flur auf und ab. Ihr Herz schlug immer wilder. Wenn Sascha ihn selbst getroffen – wenn er mitkäme – gleich jetzt – hierher – aber nein, Sascha hatte gewiß nur seinen Brief abgeben wollen und hatte ihn selbst gar nicht gesehen. Ein Zufall jedoch konnte die Begegnung dennoch herbeigeführt haben. Zum Beispiel, wenn er gerade ausging im Augenblick, wo das Kind eintrat. Oder auf der Straße. Oder er konnte, nachdem er den Brief erhalten, dem Kinde eilig nachgestürzt sein. –

Dies Erwägen von all den Möglichkeiten war aufreibend.

Und nun noch zehn Minuten.

Gerda zählte die Tiefe des Flurs in Schritten aus. Dann sah sie zum Plafond empor und zählte das sich wiederholende Muster der weißgetünchten Stuccatur. Dann trat sie an die vergitterten Rahmen heran. Sie las. Eine hohe obrigkeitliche Verordnung in Wegebauangelegenheiten. Sie las, jedes Wort mit den Lippen genau aussprechend.

Und immer das Kind noch nicht zu sehen! Sie ging an das Portal und kehrte zum zweiten Aushängekasten zurück. Es waren die standesamtlichen Aufgebote.

„Michael Aloys Friedrich Gimbel, Sohn des Friedrich August Gimbel und dessen Ehefrau Sophie Marie geborene Hänischer, Blechnergehilfe dahier, mit Luise Katharina Lechleitner, Tochter des Ludwig Leopold Lechleitner und der Luise Katharine geborene Krieth, Dienstmagd zu Badscheuren.“

„Charles Alfred von Haumond, Sohn des verstorbenen Alfred Germain von Haumond –“

Da äffte ihr umflortes Auge sie. Das war ja Unsinn! Noch einmal! Sie legte mit ausgestrecktem Arm die flache Hand gegen die Wand; die Kniee bebten ihr so; es war ihr, als sollte sie fallen. Das war ja Unsinn. Das stand natürlich nicht da. Also noch einmal!

Und die geschriebenen schwarzen Lettern hinter dem Drahtgitter schossen farbig zu riesengroßer Höhe empor. Es war, als seien sie aus Meereswogen geschrieben, so, in sich wälzender Schlangenlinie, wankten sie auf und ab.

„Charles Alfred von Haumond …“ das Weib tastete mit der Linken an dem Drahtgitter, als wollte sie buchstabierend den Finger auf das Papier bringen, wo die Namen tanzten.

„Josephe Germaine Thomas.“

Die Befestigung des vergitterten Kastens war dem Eisendruck so klammernder Hände nicht gewachsen. Er löste sich von dem Nagel, an welchem er hing, und stürzte polternd herab.

Wie Donnerton klang das in Gerdas Ohr, so laut, so unerträglich, so besinnungraubend. Mit irren Blicken sah sie um sich, sah auf das herabgestürzte Ding zu ihren Füßen, fühlte einen Schwindel und lehnte sich an die Wand, die Stirn fest gegen das kalte Mauerwerk gepreßt. –

Mit wichtig freudiger Miene ging Sascha neben seiner stillen und gutmüthigen Begleiterin her.

„Frage nach dem Weg zum Leopoldsplatz!“ bat er an jeder Straßenecke von neuem.

Nun waren sie dort. Sascha zog das schon recht kraus gewordene Couvert hervor, auf welchem unter der Adresse. „An Papa Alfred“ noch stand „N. 3.“

Er verglich an allen Häusern die Nummer mit der 3 auf seinem Brief. Endlich hatte er das Haus gefunden.

Die Jungfer, welche natürlich beim Anblick der Briefadresse errathen hatte, was er wollte, fragte nach Herrn von Haumond.

„Eine Treppe hoch.“

Richtig, da stand auch der Name, eine Visitenkarte diente als Schild.

Sascha klingelte. Einmal, zweimal, noch einmal, niemand kam.

Aus einer andern Thür des Korridores guckte endlich ein Frauenkopf durch den schmal sich öffnenden Spalt.

„Da ist niemand daheim. Kann ich’s bestellen?“

„Nein! Wir kommen wieder,“ sagte der Knabe.

Er war sehr traurig.

„Wir wollen auf und ab gehen, hier auf dem Platz.“

„Aber die Sonne scheint zu stark, es könnte Dir schaden, mein Herzchen,“ sprach die Jungfer.

„Nein, ich will es!“ rief er weinerlich.

[360] So gingen sie langsam in der grellen Sonne auf und ab, mehr als eine halbe Stunde. Sascha wurde immer blässer, die Ermüdung, die ihm das Warten und die Hitze bereiteten, wurde immer ersichtlicher auf seinen Zügen.

Die Jungfer schlug vor, sie wollten zu Rumpelmayer gehen, dort etwas Kühlendes trinken und wieder kommen. Nein, Sascha war besorgt, daß „er“ unterdeß heimkommen und gleich wieder gehen könnte.

Das schwächliche Kind fühlte aber dabei schon eine Anwandlung, als sollte es ohnmächtig werden. Muthig und von festem Willen, wie Sascha war, bezwang er sich noch weiter. Die Jungfer, welche selbst das Unbehagen des Wartens im glühenden Sonnenschein empfand, sah oft nach der Uhr.

„Nun warten wir schon fünfviertel Stunden. Ich darf es nicht länger erlauben. Komm, ich trage jetzt den Brief hinauf, die Frau giebt ihn ab.“

„Nein, nein!“ flehte der Knabe, in Thränen ausbrechend, „wenn ich nur etwas trinken könnte, hielte ich es ganz gut aus.“

„Mama wird mich schelten. Wir müssen ohnedies nachher eine Droschke nehmen, denn nun noch gehen, das ist ja menschenunmöglich,“ sagte das Mädchen und sah besorgt von Haus zu Haus, ob man nicht irgendwo Erfrischung und Unterstand im Schatten haben könnte. „Sieh, da ist ein kleiner Konditorladen, wir wollen hineingehen.“

„Nein, nein! Aber bitte, geh Du, Line, und hol mir ein Glas Zuckerwasser heraus. Du kannst ja selbst schnell etwas Eis essen, wenn Du willst, aber laß mich hier. Ich will auch ganz gewiß nicht von hier Weggehen, bloß wenn Papa kommt oder sein Fritz. Und dann weißt Du ja, wo ich bin.“

„Na,“ sagte das verschmachtende Mädchen, „dann will ich Dir eben ein Glas Zuckerwasser holen. Aber bleibe still am Gitter stehen.“

Sascha hielt sich mit seinen heißen kleinen Händen am Eisengitter fest, welches das Leopoldsdenkmal umrundet, und starrte unverwandt auf den einen Hauseingang.

Mit einemmal schrak er auf. Da ging Fritz. Er kam aus der Lichtenthalerstraße und ging schräg über den Platz. Mit stolpernden Füßchen eilte Sascha ihm entgegen.

„Ach Fritz, wo ist Papa?“ rief er, an dem Burschen emporsehend.

„Ich denke, das hat sich auspapat,“ sagte Fritz, der übrigens seine Livree nicht trug.

Sascha verstand das nicht.

„Wo ist Papa?“

„Nicht hier,“ antwortete Fritz.

„Kann ich auf ihn warten? Kommt er bald?“

„Nee,“ sagte der Bursche, „aber Jungeken, was haben sie denn derweile mit Dir gemacht? Du siehst ja aus wie der Kalk an der Wand!“

„Bitte,“ flehte Sascha, „dann gieb diesen Brief an Papa, sobald er kommt.“

Der noch immer „logische“ Fritz antwortete: „Ja, dafür werde ich nicht bezahlt, andere Leute als den Herrn zu bedienen.“

Das arme Kind verstand ihn natürlich nicht, noch hatte es eine Ahnung davon, daß es gut gewesen wäre, Fritzen Geld zu geben.

„Bitte, nimm doch den Brief,“ drängte er unter Thränen.

„Na, heule man nicht! Nehmen kann ich ihn ja. Es wird wohl nichts Wichtiges drin stehen. Aber was lassen sie Dich denn so gottverlassen allein hier in der Stadt herumlaufen?“ fragte Fritz.

„Die Mama und die Line sind mit,“ sagte Sascha.

Die „Gnädige“ war eine von den wenigen Personen, welchen gegenüber Fritz Unbehagen empfand. Sofort vermuthete er sie und die Jungfer in einem Laden in der Nähe und sagte eilig:

„Adieu! Grüß die Line von mir und sag Deiner Mutter, sie solle dafür sorgen, daß Du nicht so miesig aussichst. Adieu!“

„Da rennt ja der Fritz förmlich davon,“ rief das Mädchen zurückkehrend, „bist Du Deinen Brief los? So, nun trink! Das thut gut. Und dann wollen wir einen Wagen nehmen.“

Das Mädchen wischte ihm das nasse Mündchen ab, kühlte seine Stirn und trug ihn in den Laden, wo er sitzen sollte, bis sie mit einem Wagen da sei.

Er war vollkommen erschöpft. Er ließ alles mit sich geschehen und legte sich im Wagen stumm gegen das Mädchen.

Sie hob ihn auf dem Platz vor der Kirche heraus.

„Von der Mama keine Spur,“ sagte sie, „so haben wir nochmals das Vergnügen, zu warten. Komm, wir wollen in den Rathhausflur gehen, da ist Schatten.“

Sie traten über die Schwelle. Da stand drinnen eine Frauengestalt, mit dem Angesicht gegen die Wand, die Stirn an der kalten Mauer.

„Mama!“

Sie schrie auf. Das Kind warf sich ihr entgegen. Und sie umschlangen sich und weinten beide heiße, brennendheiße Thränen.

(Fortsetzung folgt.)




Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Volks- und Familienleben der Kirgisen.

Die weite Steppe im Südwesten des asiatischen Rußlands bis herein an die Mündungen der Wolga ist die Heimath eines schweifenden Reiter- und Hirtenvolkes, der Kirgisen. Ihr Name bedeutet nichts anderes als „Räuber“, und es gab auch eine Zeit, in welcher die Kirgisen insgemein ihren Namen rechtfertigten; aber diese Zeit ist, wenigstens für viele Zweige der verschiedenen Horden, vorüber. Ein Nachhall der Gesinnungen, Heldenfahrten und Räuberthaten der Väter mag in jedes Kirgisen Brust erklingen; im großen Ganzen aber hat sich jetzt das Reitervolk der Steppe den Gesetzen seiner Beherrscher gefügt und lebt gegenwärtig ebenso unter sich wie mit den Nachbarn in Frieden, achtet das Recht des Eigenthums und raubt und stiehlt nicht öfter und mehr als andere Völker, eher seltener und weniger. Unter der russischen Herrschaft lebt der Kirgise von heute unter so befriedigenden Verhältnissen, daß seine Stammesgenossen jenseit der Grenze neidvoll auf die russischen Unterthanen blicken. Unter dem Schutze ihrer Regierung genießen diese Ruhe und Frieden, Sicherheit des Eigenthums und Glaubensfreiheit, sind vom Kriegsdienste fast gänzlich befreit und werden in einer Weise besteuert, welche man in jeder Beziehung billig nennen muß. Sie haben das Recht, sich eigene Gemeindevorsteher zu wählen, und erfreuen sich anderer Freiheiten mehr, welche nicht einmal die Russen selbst bisher erlangen konnten. Leider denken letztere meist nicht so vernünftig wie die Regierung und beengen, bedrücken, übervortheilen die Kirgisen, wann und wie immer sie vermögen. Doch sind sie nicht imstande gewesen, die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten des Volkes irgendwie zu beeinflussen.

Die Kirgisen sind ein echtes Reitervolk und ohne Pferde kaum denkbar: sie wachsen mit dem Füllen auf und leben mit dem Rosse bis zu ihrem Tode. Auf seinem Sattel sitzend, verrichtet der Kirgise alle Geschäfte, und das Pferd gilt als das eines Mannes einzig würdige Reitthier. Männer und Frauen reiten in derselben Weise, nicht wenige Frauen auch mit demselben Geschick wie die Männer. Die Haltung des Reiters ist eine lässige, möglichst bequeme, für das Auge des Beobachters nicht gerade ansprechende. Gar nicht selten stürzt er aus dem Sattel; denn er achtet wenig auf Weg und Steg und überläßt es dem Pferde, solchen sich zu suchen; ist er jedoch achtsam, so reitet er jeden Weg, welchen ein Einhufer überhaupt betreten kann, ohne alles Bedenken, ebenso, wie er sich nicht besinnt, das wildeste, unbändigste Pferd zu besteigen. Schwierige Wege kennt er nicht. So lange er im Sattel sitzt, muthet er seinem Reitthiere das Unglaublichste zu, sprengt im Galopp bergauf oder bergab, über festen Boden wie durch Sumpf, Morast und Wasser, klettert schwindellos und ohne alle Furcht an Wänden empor, welche jeder andere Reiter als durchaus unzugänglich erachten würde, und blickt vom Sattel aus kühl in Abgründe zur Seite des Ziegenpfades, auf welchem den gebirgskundigen Fußgänger ein Frösteln überkommen will. Sobald er aber abgestiegen ist, hält er alle durch lange Erfahrung gewonnenen Regeln behufs Schonung eines angestrengten Pferdes fest und behandelt jetzt sein Roß ebenso sorgsam wie beim Reiten rücksichtslos. Bei festlichen Gelegenheiten führt er zum Vergnügen der Zuschauer allerlei Kunststücke im Sattel aus, stellt sich in den über letzteren gekreuzten Steigbügeln

[361]

Auf blühender Au’.
Nach einer Zeichnung von J. R. Wehle.

[362] auf und sprengt stehend davon, hält sich mit den Händen am Sattel oder in den Steigbügeln fest und reckt die Beine senkrecht in die Luft oder nimmt im Reiten Gegenstände vom Boden auf. Das Wettrennen erachtet er als die höchste aller Vergnügungen und verherrlicht durch ein solches jede Festlichkeit.

Zum Wettrennen, „Baika“ genannt, werden in der Regel nur die edelsten Pferde und unter ihnen wiederum nur Paßgänger zugelassen. Die zu durchreitenden Strecken sind sehr bedeutend, nie unter zwanzig, nicht selten bis vierzig Kilometer lang; man reitet nach einem bestimmten Punkte der Steppe, einem bekannten Hügel, einem Grabmale z. B., und kehrt auf demselben Wege zurück, den man gekommen. Knaben von sieben, acht, höchstens zehn Jahren sitzen im Sattel und lenken die Rosse mit bemerkenswerthem Geschick. Den zurückkehrenden Pferden reitet man langsam entgegen; dem Paßgänger, welcher die meiste Aussicht hat, zu gewinnen, leistet man eine Hilfe, „Guturma“ genannt, indem man sich an seine Seite drängt, ihm das reitende Kind abnimmt, sodann Zügel, Steigbügel, Mähne und Schweif zu fassen sucht und ihn mehr zum Ziele schleift als leitet. Die Preise, welche ausgesetzt werden, bestehen in sehr verschiedenen Dingen, werden aber sämmtlich nach Pferdeswerth berechnet. Zwei- bis dreitausend Rubel Silber als erster Preis sind nichts Seltenes; reiche Familien setzen bis einhundert Pferde aus. Auch junge Mädchen kommen als Siegespreis vor in der Weise, daß der Gewinnende sie heirathen kann, ohne das übliche Brautgeld entrichten zu müssen.

Unter die ritterlichen Uebungen der Kirgisen muß auch die Jagd gezählt werden. Dem aufgespürten Wolfe folgt der kirgisische Jäger mit solchem Eifer und solcher Ausdauer, daß er es wenig achtet, wenn ihn die bei scharfem Reiten doppelt fühlbar werdende Kälte ernstlich gefährdet, d. h. er sich Gesicht und Hände erfriert; und wenn sein Pferd unter ihm nicht versagt, schmettert er zuletzt sicherlich die gewichtige Keule auf das Haupt des Räubers hinab. Noch mehr als solche Hetze liebt er die Jagd mit Adler und Windhund auf den Wolf oder den Fuchs. Wie seine Vorfahren versteht er, den Steinadler zu zähmen, zieht, ihn auf der stark beschuhten Hand tragend und diese auf ein am Sattel befestigtes Holzgestell stützend, zu günstig gelegenen, weite Umschau ermöglichenden Höhen empor und läßt durch seine Genossen die vor seinem Auge liegende Steppe absuchen. Einer besonderen Abrichtung des Raubvogels bedarf es nicht; alles, was gelehrt und gelernt werden muß, besteht darin, daß der Adler, welcher in frühester Jugend dem Neste entnommen und von dem Jäger selbst geatzt wurde, auf den Ruf zu seinem Herrn zurückkehrt, ererbte Anlage thut das übrige. Sobald die Jagdgenossen einen Fuchs aufgetrieben haben, nimmt der Jäger dem Stoßvogel Haube und Fesseln ab und wirft ihn in die Luft. Der Adler breitet seine Fittiche, beginnt zu kreisen, steigt in Schraubenlinien höher und höher, erblickt den gehetzten Fuchs, fliegt ihm nach, stürzt sich mit halb eingezogenen Flügeln und weit vorgestreckten Fängen schief auf ihn hernieder und schlägt ihm die Fänge in den Leib. Der Fuchs seinerseits dreht wüthend den Kopf, um den Feind mit seinem scharfen Gebisse zu packen, und der Adler ist verloren, wenn es gelingt. Aber in demselben Augenblicke, in welchem der Fuchs sich wendet, löst der Adler die Fänge, und einen Augenblick später umklammern sie das Gesicht des Opfers. Jauchzender Zuruf des heransprengenden Herrn ermuntert den Vogel zur Standhaftigkeit, und wenige Minuten später liegt der Fuchs, gefällt von dem zur Hilfe gekommenen Jäger, verendend am Boden. Mancher Adler freilich büßt beim ersten Versuche seine Kühnheit mit dem Leben; gelingt ihm aber der erste Angriff, so eignet er sich bald solche Fertigkeit an, daß er auch auf den Wolf geworfen werden kann. Diesem gegenüber benimmt er sich vom Anfange an, wenn auch genau nach denselben Regeln, so doch merklich vorsichtiger; schon die Größe des Wildes läßt ihn erkennen, daß er es mit einem noch ungleich gefährlicheren Gesellen zu thun hat. Doch auch ihn lernt er bewältigen, und ebenso hoch wie der seines Herrn steigt sein eigener Ruhm unter allem Volk, und mit dem Ruhme sein Preis. Ein Adler, welcher den Fuchs schlägt, wird mit dreißig bis vierzig Rubeln, einer, welcher den Wolf zu besiegen weiß, mit dem Doppelten und Dreifachen bezahlt, falls er seinem Herrn überhaupt feil ist.

Gilt es schon bei der Jagd mit dem Adler, alle Reitkunst zu bethätigen, so ist dies doch noch mehr der Fall, wenn der Kirgise mit seinen Windhunden auf Antilopen auszieht. Wie Pfeile stürmen die ziemlich langhaarigen Hunde dahin, wenn sie der behenden Wiederkäuer ansichtig geworden sind, und über Stock und Stein jagen die Reiter ihnen nach, bis sie mit ihnen das flüchtige Wild eingeholt haben.

Auch bei Treibjagden im Gebirge verlassen die Kirgisen ihre Pferde nicht. Es sah prächtig aus, als die Treiber, welche uns die Wildschafe zu Schuß bringen wollten, ihren halsbrecherischen Ritt begannen. Hier und da, auf den höchsten Spitzen wie in den Einsenkungen, Thälern und Schluchten zwischen ihnen erschien und verschwand einer der Reiter nach dem andern, bald scharf und klar gegen das Gewölk sich abzeichnend, bald wiederum zwischen den Blöcken sich verlierend, in dem Gestein der Halden gleichsam ausgehend. Keiner stieg vom Pferde, keiner besann sich auch nur einen Augenblick, irgend welchen Weg einzuschlagen; es war ihnen leichter, im Gebirge zu reiten als zu gehen.

Mit der Kühnheit paart sich die Ausdauer des Jägers. Nicht allein auf dem Rücken des Pferdes, sondern auch im Anschleichen und Belauern des Wildes entwickelt er eine außerordentliche Beharrlichkeit. Daß er tagelang einer Fährte folgt, will bei seiner Lust zu reiten wenig besagen; aber er kriecht auch mit der Luntenbüchse, welche er noch ebenso häufig führt wie das Steinschloßgewehr, wie eine schleichende Katze halbe Werste weit auf dem Boden dahin, lauert stundenlang in Sturm und Wetter auf ein Wild, bis er zum Schusse gekommen ist. Niemals schießt er weit und niemals, ohne die Büchse auf die an ihr befestigte Gabel zu legen; aber er zielt sicher und weiß seine Kugel auf die rechte Stelle zu senden.

So ausdauernd und unermüdlich als Reiter, Jäger und Hirt der Kirgise ist, so ungern übernimmt er anderweitige Beschäftigungen. Auch das Feld bebaut er, aber in höchst liederlicher Weise, und niemals mehr als unbedingt erforderlich. Die Arbeit auf der Scholle dünkt ihm unrühmlich wie jede andere Thätigkeit, welche nicht mit der Viehzucht und der Ausnutzung der Herdenthiere zusammenhängt. Er bethätigt ein außerordentliches Geschick, das Wasser zur Ueberrieselung des Hundes zu verwenden, besitzt ein höchst geübtes Auge für die Oertlichkeit und weiß auch ohne Meßtisch und Wasserwage, wie er die Wassergräben zu ziehen hat. Allein nur, so lange er noch Knabe ist, läßt er sich zu solchen Arbeiten willig finden, und hat er es erst einmal zu Besitz gebracht, rührt er gewiß weder Hacke noch Schaufel mehr an. Noch weniger liebt er es, irgend ein Handwerk zu treiben. Er versteht Leder zu bereiten und allerlei Riemen- und Sattelwerk daraus zu fertigen, dasselbe auch mit Eisen- oder Silberschmuck sehr zierlich auszuputzen, selbst Messer und Waffen zu schmieden und überhaupt alle ihm nöthigen Geräthe herzustellen; aber er übt solche Arbeit niemals mit Freude, sondern stets nur mit Widerstreben aus. Und doch ist er kein fauler und leichtfertiger, sondern ein fleißiger und zuverlässiger Arbeiter, und wer seine geschickte Hand gewonnen, hat selten Ursache, mit ihm unzufrieden zu sein.

Viel höher als leibliche, schätzt er geistige Arbeit. Sein reger und lebhafter Geist verlangt Beschäftigung; er liebt daher nicht bloß leichte, sondern auch ernste Unterhaltung aller Art. Er gefällt sich in Gesprächen mit anderen seines Stammes und kann durch seine Redseligkeit, welche nicht selten zur Schwatzhaftigkeit wird, dem Fremden geradezu lästig werden. Mit dieser Gesprächigkeit hängt rege Wißbegier, welche freilich ebenso oft in Neugier ausartet, aufs innigste zusammen; denn die „rothe Zunge“ will und darf nicht feiern. Wird irgendwo etwas verhandelt, was ein Kirgise verstehen kann, so nimmt er keinen Anstand, bis auf die Jurte sich heranzudrängen und das zum Lauschen gespitzte Ohr an die Wand der Jurte zu drücken, um keine Silbe zu verlieren. Ein Ereigniß, welches über das Alltägliche auch nur um Haaresbreite hinausgeht, eine Mittheilung, eine Erzählung für sich zu behalten, ist für den Kirgisen ein Ding der Unmöglichkeit. Niemals reiten ihrer zwei schweigend nebeneinander her, und ob die Reise tagelang währe; stets, ununterbrochen haben sie miteinander zu schwatzen, sich gegenseitig Mittheilungen zu machen. Gewöhnlich genügt es ihnen noch gar nicht, selbander zu reiten; es müssen ihrer drei, vier sein, welche gemeinschaftlich unter eifrigen Gesprächen des Weges dahinziehen; und diese Art zu reiten ist so tief bei ihnen eingewurzelt, daß ihre Pferde ganz von selbst sich aneinander drängen, daß der Europäer sie zügeln muß, um solches zu verhindern. In einer mit Kirgisen erfüllten Jurte summt es wie in einem Bienenschwarm, weil jeder zu Worte kommen will und alles thut, um die Rede an sich zu reißen.

[363] Eine gute Folge solcher unter Männern unerhörten Redseligleit ist die Fertigkeit der Kirgisen, ihre Sprache zu handhaben. Hierin scheinen sich alle gleich zu sein, die Reichen wie die Armen, die Vornehmen wie die Geringen, die Gebildeten wie die Ungebildeten. Ihre tonreiche und klangvolle, wenn auch harte Sprache, eine Mundart der tatarischen, ist ungemein ausdrucksvoll. Jedes Wort wird vollständig ausgesprochen, jede Silbe richtig betont, so daß man meint, nach dem Klange beurtheilen zu können, um was es sich handelt. Die Redeweise ist sehr lebhaft, der Tonfall des Redesatzes dem Inhalte entsprechend, Rede und Redepause genau abgemessen, so daß ein Gespräch etwas abgebrochen klingt, obschon der Fluß der Rede keinen Augenblick lang stockt. Ein für sich selbst sprechender Gesichtsausdruck und lebhafte Handbewegungen erläutern außerdem die Worte. Fesselt ein Gegenstand in besonderer Weise, so steigert sich die Lebendigkeit der Redenden bis zur Hitze, so daß man meint, auf Worte möchten Tätlichkeiten folgen. Doch endet auch das hitzigste Wortgefecht regelmäßig in Ruhe und Frieden.

Daß unter solchen Leuten der Barde zur Geltung gelangt, ist begreiflich. Ein Sänger, ein Gelegenheitsdichter darf bei keinem Feste fehlen. Seine Gestaltungsgabe braucht nicht eben hervorragend zu sein, seine Rede muß nur ohne Unterbrechung fließen und in ein bestimmtes, jedem geläufiges Versmaß sich fügen, um ihn zum Dichter zu stempeln. Doch verfügt jeder kirgisische Barde immerhin über einen nicht eben kärglichen Schatz von dichterischen Gedanken, welche in Worte zu kleiden ihm nicht schwer fällt. Das Hirten- und Wanderleben, so gleichförmig es im ganzen verfließen mag, hat seine Reize, seine tönenden Saiten, welche nur angeschlagen zu werden brauchen, um die Herzen der Hörer zu erheben. Viele Sagen und Ueberlieferungen, welche in allen lebendig sind, bieten jederzeit geeigneten Stoff zur Ausfüllung von Gedankenlücken. Jeder Barde begleitet seine Rede mit der dreisaitigen kirgisischen Zither und verbindet die einzelnen Sätze durch Zwischenspiele, welche so lange währen, bis der neue Vers in die rechte Form gegossen ist. Je rascher, je gewandter dies geschieht, um so höher steigt der Ruhm des Sängers. Regt sich aber vollends im Herzen einer Frau dichterischer Drang, so ist solche Frau der allgemeinsten Bewunderung sicher, und läßt sie sich herbei, mit einem Manne im Zwiegesange zu wetteifern, so wird sie von der begeisterten Menge über alle anderen ihres Geschlechts erhoben.

Ungleich weniger günstig als für die Dichtung ist die weite Steppe für regelrechten Unterricht. Daraus erklärt sich zur Genüge, daß die Kenntniß der Schrift unter den Kirgisen ebenso selten wie das Schriftthum gering ist. Nur die Söhne der Reichsten und Vornehmsten des Volkes erhalten Unterricht im Lesen und Schreiben. Ist den beiden von der Regierung gegründeten Schulen in Ust-Kamenogorsk und Saisan werden allerdings auch, in ersterer Stadt sogar ausschließlich, kirgisische Knaben unterrichtet, allein die Wirksamkeit beider Anstalten erstreckt sich nicht bis in die innere Steppe. Hier lernt der Knabe lesen und schreiben, wenn der Zufall will, daß er mit einem Mollah zusammenkommt, welcher ebenso Lust zum Lehren wie der Knabe Trieb zum Lernen empfindet. Auch dann beschränkt sich der Unterricht auf die einfachsten Kenntnisse, arabische Schriftzeichen lesen und nachbilden zu können. Der Inhalt des vornehmsten, wenn nicht ausschließlichen Lehrbuches, des Koran, erschließt sich in der Regel nicht einmal dem Mollah selbst; er liest die Suren, ohne deren Inhalt zu verstehen. Ich habe nur einen einzigen Kirgisen, und zwar einen Sultan, kennen gelernt, welcher Arabisch verstand; alle übrigen, welche sich durch ihre Kenntniß der Worte der Schrift über andere ihres Volkes erhoben und als getreue Anhänger des Islam regelmäßig die fünf vorgeschriebenen Gebete sprachen, verstanden im günstigsten Falle den Inhalt der Worte des Rufes zum Gebete und der ersten Sure des Koran; alles übrige sprachen sie zwar mit dem allen Mohammedanern anerzogenen Ernste, aber ohne Verständnis nach.

Das Bewußtsein der Kraft und Gewandtheit, der Geschicklichkeit im Reiten und Jagen, der dichterischen Begabung und Regsamkeit des Geistes überhaupt, das Gefühl der Selbständigkeit und Freiheit, welches die weite Steppe hervorruft, verleiht dem Auftreten des Kirgisen Sicherheit und Würde. Der Eindruck, welchen er auf den unbefangenen Beobachter macht, ist daher ein sehr günstiger, und dieser Eindruck steigert sich um so mehr, je genauer man unseren Steppenbewohner kennen lernt. Geweckten Geistes, klug, lebhaft, verständig, so weit es sich um ihm bekannte Dinge handelt, gutmüthig, dienstfertig und zum Helfen bereit, artig und zuvorkommend, gastlich und barmherzig, stellt er sich als ein in seiner Art vortrefflicher Mensch dar, dessen Schattenseiten man um so leichter übersieht, je unbefangener man ihm gegenübertritt. Er ist höflich, ohne knechtisch zu sein, behandelt den über ihm Stehenden mit Achtung, aber nicht kriechend, den ihm Untergebenen freundlich, aber nicht geringschätzig. Auf ihm gestellte Fragen antwortet er meist erst nach kurzem Besinnen, dann aber ruhig und klar, und seine scharf betonte Sprechweise verleiht seiner Antwort den Ausdruck der Bestimmtheit. Er ist gefällig nach allen Seiten hin, aber mehr aus Ehrgeiz als aus Hoffnung auf Gewinn, mehr in der Absicht, Lob und Beifall, als in der Voraussetzung, Geld und Geldeswerth zu ernten.

Im Einklange mit solchem Ehrgeize steht, daß der Vornehme auf seine Abkunft und Familie stolz ist, sich seiner Ahnen rühmt und unter Umständen seinen Stammbaum bis Chingis-Chan zurückführt, daß er nur ebenbürtig sich vermählt und keinen Makel an seiner Ehre duldet, keine diese Ehre kränkende Beleidigung verzeiht. Hiermit im Einklange steht aber auch eine Eitelkeit, wie man sie bei ihm kaum erwarten sollte. Doch unterscheidet er sich von einzelnen schönen und jungen Herren unseres Volkes wesentlich dadurch, daß er niemals zum Gecken ausartet. Er rühmt sich der ihm vom Geschick wie von der Natur verliehenen Gaben offen und ohne Hehl; solches Rühmen aber steht ihm natürlich und wird nicht durch absichtlich sich hervordrängende Bescheidenheit verzerrt. So weit seine Mittel gestatten, ist seine Kleidung reichverziert, Rock und Beinkleider mit Tressen, die Pelzmütze mit der Uhufeder. Daß die Frauen mehr noch als die Männer ihre Reize ins hellste Licht zu setzen suchen, erscheint selbstverständlich; und es hat mich daher auch durchaus nicht gewundert, zu erfahren, daß sie mit dem Safte einer Wurzel ihren Wangen ein ebenso zartes und duftiges wie haltbares Roth auflegen, zu Deutsch: sich schminken.

Willig fügt sich der Kirgise in die Sitten und Gebräuche seines Volkes. Seine Bildung und Gesittung bethätigt er hauptsächlich dadurch, daß er die aus unbestimmbarer Zeit auf ihn überkommene und durch den Islam wesentlich beeinflußte Gebräuchlichkeit streng befolgt. Dies bedingt natürlich Förmlichkeit und Umständlichkeit im gegenseitigen Verkehre.

Schon die gegenseitige Begrüßung geschieht in einer sehr förmlichen, von allen festgehaltenen, also offenbar genau bestimmten Weise. Wenn zwei Kirgisentrupps zusammenkommen, vergeht stets geraume Zeit, bevor jeder dem andern seinen Gruß gespendet hat. Gegenseitig und gleichzeitig legen sie ihre Rechte auf die Herzgegend, die Linke gegen die rechte Hand des anderen, worauf beide die rechte von der Brust wegziehen und mit der linken vereinigen, so daß jetzt alle vier Hände auf einen Augenblick sich berühren. Gleichzeitig mit der Umarmung sprechen beide das arabische Wort „Amán“ (Friede) aus, wogegen sie vor dem Umfassen sich den Gruß aller Mohammedaner: „Salám alëik“ oder „alëikum“ (Heil sei mit Dir oder Euch!) zu spenden pflegen. In dieser Weise begrüßt einer alle und jeder den andern; beide sich begegnenden Haufen bilden daher zwei Reihen, und einer nach dem andern läuft, um der jetzt noch gebannten „rothen Zunge“ baldmöglichst volle Freiheit zu gewähren, rasch längs solcher Reihe dahin. Das kürzere Verfahren, welches jedoch nur bei sehr zahlreichen Versammlungen angewendet wird, besteht darin, sich nur die Hände entgegenzustrecken und diese zusammenzuschlagen.

Besuchen sich Kirgisen im Aul (Dorf), so findet vor der Begrüßung noch eine andere Förmlichkeit statt. Angesichts der Jurten (Zelte) zügeln die Ankömmlinge ihre Rosse, lassen sie im Schritt gehen und halten endlich still. Auf dieses Zeichen kommt man ihnen vom Aul aus entgegen, begrüßt, sie und geleitet sie nunmehr zu den Jurten, welche die Frauen inzwischen durch Ausbreiten der werthvolleren Teppiche geschmückt haben. Fremde, im Aul noch unbekannte Gäste müssen sich vor der Begrüßung einem Verhöre nach Namen, Stand und Herkunft unterwerfen; ausgenommen und gastlich bewirthet aber werden sie unter allen Umständen, denn Gastfreundschaft übt der Kirgise gegen jedermann, ohne Unterschied des Standes oder Glaubens, obschon er Vornehme stets bevorzugt. Der Gast tritt mit dem üblichen Gruße ins Innere der Jurte und setzt sich, wenn er dem Wirthe an Ansehen gleich steht, auf dem Ehrenplatze nieder, während der Geringere dem Vornehmen gegenüber sich bescheiden zurückhält und in knieender Stellung auf den Teppich niederläßt.

[364] Zu Ehren eines angesehenen Gastes läßt der Wirth ein Schaf schlachten, vorher aber vor oder in die Jurte bringen, damit der Gast es segne. Dann kommen alle Nachbarn herbei, um an dem leckeren Mahle theilzunehmen. Kopf und Bruststück des Hammels werden am Spieße gebraten, die übrigen Fleischstücke in einem Kessel gekocht und dem Gaste in einer Mulde vorgesetzt. Der Gast wäscht sich die Hände, schneidet das Fleisch von den Knochen, taucht es in die stark gesalzene Brühe und sagt zu dem Wirthe, welcher sich bisher nicht neben ihm niederließ: „Nur durch den Wirth erlangt das Fleisch Schmackhaftigkeit; setzet Euch!“ Der Wirth aber erwidert:. „Viel Dank, viel Dank; esset nur!“ und willfahrt dem Gaste zunächst noch nicht. Dieser aber schneidet ein Stück von den falschen Rippen ab, ruft den Wirth herbei und steckt ihm den Bissen in den Mund; hieraus schneidet er ein anderes Stück ab, legt es auf eine Mulde und reicht es der Hausfrau. Nunmehr endlich setzt sich der Wirth an die Seite des Gastes; aber auch jetzt noch vertheilt nicht jener, sondern dieser die Speisen an die Theilnehmer am Mahle. Der Gast schneidet das Fleisch in mundrechte Stücke, mischt sie mit Fett, taucht je drei Bissen in die Brühe und steckt sie einem der Schmausenden nach dem andern in dem Mund. Beleidigung des Gebers würde es sein, wollte der Empfänger die Gabe nicht sogleich hinunterschlucken, möge er auch, falls die Bissen zu groß sind, dabei so schrecklich würgen müssen, daß sein Gesicht blau unterläuft und er der Hilfe der Nachbarn, welche dem also Bedrängten zur Erleichterung des Schlingens mit der Faust auf den Rücken schlagen, dringend bedarf. Dagegen darf der Geber auch niemals mehr als drei Bissen reichen; denn überschreitet er diese Anzahl, stopft er einem gleichzeitig fünf Fleischstücke in den Mund und erstickt der zum schleunigsten Hinabwürgen verurtheilte Mann infolge der allzu großen Gabe, so muß der Spender dies mit hundert Pferden an die Familie des Erstickten büßen, wogegen er frei ausgeht, wenn einer der Schmausenden an drei ihm gereichten Bissen zu Grunde geht. Nachdem das Fleisch verzehrt, reicht der Gast die Schale mit der Brühe umher, und jeder der Tischgenossen trinkt von ihr nach Bedarf oder Verlangen. Zum Schlusse der Mahlzeit, jeddch nicht bevor sich jeder die Hände gewaschen, wird von einem wohlhabenden Wirthe stets gegohrene Stutenmilch, der Kumis, gereicht, und zwar mit ersichtlicher Ehrfurcht vor diesem beliebtesten Getränk des Kirgisen. Wer bisher noch nicht am Mahle theilnahm, kommt jetzt herbei, um an diesem Nektar sich zu laben. Man trinkt bis zur Berauschung; denn der Kirgise leistet im Trinken seines überaus geschätzten Milchweines ebenso viel wie im Essen und ist in dieser Beziehung nichts weniger als mäßig.

Noch weit umständlicher als bei einfachen Besuchen sind die Gebräuche, welche bei allen wichtigen Familienereignissen geübt werden, insbesondere die Hochzeits- und Begräbnißfeierlichkeiten. Brautwerbung und Hochzeit, Begräbniß und Erinnerungsfeier an den Verstorbenen geben zu einer wahren Kette von Festlichkeiten Veranlassung.

Wis bei allen Mohammedanern wirbt der Vater für seinen Sohn, und wie unter allen Bekennern des Islam zahlt er an den zukünftigen Schwäher ein Brautgeld von sehr verschiedener, oft sehr bedeutender Höhe. Ein Brautwerber, welcher sich dadurch als solcher zu erkennen giebt, daß er ein Hosenbein über dem Stiefel, das andere in demselben trägt, erscheint in der Jurte, in welcher eine Tochter der Reife entgegenblüht, und trägt im Namen des Vaters eines heirathslustigen Jünglings sein Anliegen vor. Ist der Brautvater einverstanden, so verlangt er die großen Werber, d. h. den Auftraggeber selbst, die Gemeindeältesten und Vornehmsten aus dessen Aul, um mit ihnen zu verhandeln. Sie erscheinen und halten, wie üblich, vor dem Aul ihre Rosse an. Ein Abgesandter des Brautvaters reitet ihnen entgegen, begrüßt sie feierlich und förmlich und geleitet sie nach der für sie bestimmten Und geschmückten Festjurte, woselbst sie zunächst mit Kumis bewirthet werden. Um zu ihrer Unterhaltung beizutragen, erscheint ein Barde und hebt seinen Gesang an. Reiche Beifallspenden lohnen ihn, großartige Versprechungen feuern ihn zu weiterem Gesange an. Man preist die Tiefe seiner Gedanken, die Vollendung seines Vortrages; man verspricht ihm ein Pferd oder auch eine stattliche Summe eingemünzten Silbers als Sangeslohn. Abwehrend betont der Hausherr das einzig und allein ihm zustehende Recht, den Sänger zu lohnen; aber nur um so bestimmter versprechen die Gäste, denn jeder weiß, daß der Gastgeber die Erfüllung ihrer Versprechen nicht gestatten würde. Nachdem der Sänger geendet, beginnt eine lebhafte Unterhaltung zwischen dem Wirthe, seinen Nachbarn und Gästen; man spricht über die verschiedensten Dinge, nur nicht über die Ursache und den Zweck des Kommens, bricht endlich auf und reitet wieder heim.

Am anderen Morgen erwidert der Brautvater und sein Gefolge den Besuch, wird von dem zukünftigen Schwäher ebenso begrüßt und ebenso bewirthet und verlangt endlich, die Mutter des Jünglings zu sehen. Sofort begiebt man sich gemeinschaftlich in die Jurte der Hausfrau und begrüßt sich hier ebenso feierlich wie artig. Unmittelbar darauf bringt der Vater des Freiers das gebratene Bruststück eines Schafes herbei, schneidet Stücke zur Bewirthung der Gäste ab und begleitet das Zerlegen des am höchsten geschätzten Theiles eines Schafes mit den Worten. "Diese Schafbrust sei mir ein Pfand, daß unser Vorhaben zu gutem Ende gelangen möge“, reicht sodann seinen Gästen die leckeren Bissen und eröffnet damit die Verhandlungen über die Höhe des Kalüm oder Brautgeldes. Als Einheit der Rechnung gilt eine Stute von drei bis fünf Jahren; ein Paßgänger oder ein Kamel wird fünf Stuten gleich gerechnet; sechs oder sieben Schafe oder Ziegen haben den Werth einer Stute.

Der Brautvater verlangt als Brautgeld 77 Stuten, läßt aber mit sich handeln und geht, je nach seinem und des Schwähers Vermögen, zuerst auf 57, sodann 47, 37, 27, sind beide unbemittelt, auch noch weiter herab, bis man sich geeinigt hat. Sobald die Verhandlungen beendigt sind, erklärt der Brautvater das Verlöbniß für geschlossen, erhebt sich, um heimzukehren, und läßt ein Geschenk in oder vor der Jurte zurück. Der Vater des Bräutigams aber sendet, falls er irgend kann, mit dem abziehenden Schwäher die Hälfte des Kalüm zu dessen Jurte und zahlt auch die andere Hälfte so rasch als möglich ab.

Vierzehn Tage nach Entrichtung des Kalüm darf der Bräutigam zum ersten Male die ihm geworbene Braut besuchen. Unter möglichst zahlreicher Begleitung ihm befreundeter Altersgenossen und unter Führung eines mit allen Gebräuchen wohlvertrauten älteren Freundes seiner Familie bricht er auf, reitet bis in die Nähe des Auls seiner Braut, steigt hier vom Pferde, schlägt ein kleines Zelt auf und zieht sich in dasselbe zurück oder verbirgt sich anderweitig. Seine Begleiter aber ziehen weiter, begeben sich, nachdem man sie feierlich bewillkommt hat, in den Aul und vertheilen unter munteren Scherzreden allerlei kleine Geschenke, Ringe, Halsbänder, Leckereien, Band und buntes Zeug, unter die sich herandrängenden Frauen und Kinder. In Gemeinschaft mit ihren Altersgenossen beiderlei Geschlechts betreten sie die Festjurte. Der Wirth bietet Speise und Getränk, zuerst eine Schafsbrust, welche er mit den bereits erwähnten Worten zerschneidet, sodann kleine, in Fett geschmorte Stücke von Herz, Leber und Nieren des Schafes, stellt das Gericht vor den würdigen Alten hin, und dieser verfährt nach Gewohnheit und Recht des Gastes, schmiert aber dem ersten Jünglinge, welchen er mit einigen Bissen bedenkt, während er diese ihm in den Mund stopft, zugleich auch die fettige Brühe ins Gesicht. Damit giebt er das Zeichen zum Beginn jugendlichen Scherzes, in welchem fortan Jünglinge, Jung- und junge Frauen wetteifern. Ein sehr beliebter Scherz der Mädchen besteht darin, die Kleider der Jünglinge mit raschen Stichen an den Teppichen, auf welchen sie sitzen festzunähen.

Nach der Mahlzeit gönnt man den jugendlichen Gästen eine kurze Erholung, aber nur, um ihnen Zeit zu lassen, ihre Gedanken zu sammeln. Dann fordern die Mädchen und Frauen die Jünglinge zum Wettgesang auf, weisen ihnen den Ehrenplatz an, setzen sich ihnen gegenüber und eine von ihnen beginnt mit ihrem Gesange. Ist der von ihr angesungene Jüngling nicht schlagfertig, so geht es ihm übel. Zwickend und kneipend fällt die lustige Schar über ihn her, vertreibt ihn aus der Jurte und überliefert ihn den jungen Männern des Auls, welche vor der Jurte auf Opfer lauern. Ein Wassergefäß wird über den beklagenswerten Stümper ausgegossen, und er dann, gebadet und beschämt, in die Jurte zurückgeführt, um einer weiteren Prüfung unterworfen zu werden. Wenn er auch diese nicht besteht, verfällt er der Strafe, als Weib verkleidet und so an den Pranger gestellt zu werden. Wehe ihm, wenn er sich empfindlich zeigt, er würde einen qualvollen Tag verleben. Heute führt der Scherz die unbedingte Herrschaft und duldet keinen Murrkopf.


(Schluß folgt.)
[365]

Das Hutten-Sickingen-Denkmal auf der Ebernburg.

Im schönen Nahethale, oberhalb Kreuznach, da wo die Alsenz in die Nahe mündet, liegen in dem Winkel, den die beiden Flußthäler mit einander bilden, kaum achtzig Meter über der Thalsohle, die Trümmer der Ebernburg, jener Feste, welcher einst in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts Franz von Sickingen den Ehrennamen einer „Herberge der Gerechtigkeit“ schuf, auf der so mancher Vorkämpfer der kirchlichen Reformation eine Zufluchtsstätte fand, und wo vor allem jener ideale Freundschaftsbund sich schloß, der Franz von Sickingen mit Ulrich von Hutten, den Helden des Schwertes mit dem Helden der Feder, zu gemeinsamem Ringen nach demselben Ziele verband.

Die Staffelgiebel, welche heute von der Höhe des Burgberges herab dem Wanderer entgegen schauen, sind kein Ueberrest der alten Burg; sie gehören dem Gasthause an, das die friedliche Neuzeit auf der Stelle des alten Palas erstehen ließ und das der Besucher lechzende Zunge mit Speise und Trank erquickt, aber auch durch manche Reliquie aus der alten Zeit, die es in seinem Innern oder in seine Wände eingemauert pietätvoll bewahrt, den Geist des Beschauers zurücklenkt auf die große Vergangenheit.

Die Schicksale der Ebernburg seit dem tragischen Ende Franz v. Sickingens am 7. Mai 1523 sind wechselnde, vorwiegend unglückliche gewesen. Die drei verbündeten Fürsten, der Landgraf Philipp von Hessen, der Kurfürst Ludwig V. von der Pfalz und der Erzbischof von Trier, welche Franz von Sickingen auf seiner Burg Landstuhl zu Fall gebracht hatten, rückten auch vor die Ebernburg. Wohl suchte Sickingens tapferer Burghauptmann, Ernst v. Tautenburg, den Söhnen des Gefallenen die Feste zu erhalten, aber eine fünftägige Beschießung aus Kartaunen und anderem groben Geschütz zwang ihn zur Uebergabe. Am 6. Juni zog der Feind in die Burg ein und schleppte eine stattliche Beute an Kriegsmaterial, Vorräthen von Nahrungsmitteln, goldenen Geräthen und kostbaren Gewändern weg, darunter Stickereien im Werthe von 10 000 Gulden. Das Blei von den Dächern, 600 Gulden werth, ward einem Trierischen Edeln um 40 Gulden überlassen, Holz- und Balkenwerk durften die Bewohner des im Kampfe zerstörten Dörfchens Ebernburg zum Wiederaufbau ihrer Wohnungen nehmen, und schließlich ließ der Pfälzer Kurfürst Ludwig Feuer in die Burg legen, daß sie bis auf den Grund niederbrannte. Erst 19 Jahre nachher, 1542, erhielten Sickingens Söhne die 3 Burgen ihres Vaters, Landstuhl, Ebernburg und Hohenburg, durch Kaiser Karls V. Vermittlung zurück, und Johann Schweickart v. Sickingen, ein Enkel Franzens, baute auch die Ebernburg wieder auf. Aber im Jahre 1688 fiel sie in die Hände der Franzosen, welche sie stark befestigten und trotz eines energischen Versuchs zu ihrer Wiedereroberung bis 1697 hielten, zur Pein und Qual des umliegenden Landes.

Ulrich von Hutten.

In diesem Jahre 1697 nun rückte der Prinz Ludwig von Baden mit 30 000 Mann vor die Burg; es gelang ihm am 20. September, sich in dem Dorfe Ebernburg festzusetzen; eine scharfe Beschießung der Burg machte endlich die Vertheidiger mürbe und am 28. September räumte die Besatzung, noch 250 Mann stark, die Feste. Im Frieden von Ryswyk, der bald darauf dem Kriege ein Ende machte, war unter anderem ausbedungen, daß an der Ebernburg die von den Franzosen neu hergestellten Werke geschleift werden sollten, die Burg selbst aber an die Sickingen zurückfalle. Allein der kaiserl. Oberingenieur Fontana nahm seinen Auftrag zu weit; es wurden im Sommer 1698 nicht nur die neuen Werke geschleift, sondern auch alle Burggebäude in die Luft gesprengt. Vergebens protestirte der rechtliche Inhaber Franz Friedrich von Sickingen-Ebernburg beim Reichstage zu Regensburg und verlangte Ersatz; die Burg blieb in Trümmern bis heute. Die Linie der Ebernburger Sickingen starb 1768, die der Sickingen zu Sickingen 1836 aus, und nur die der Hohenburger blüht heute noch in Oesterreich weiter.

Auch Ulrich von Hutten hat, nachdem er die Ebernburg verlassen, keine glücklichen Tage mehr gesehen. Vier Monate nach seinem ritterlichen Beschützer Franz von Sickingen, am 1. September 1523, starb er auf der einsamen Insel Ufnau im Zürchersee.

Dort aber auf der Ebernburg, der Stätte, wo das Bewußtsein der in ihrer Verbindung liegenden Macht, der gegenseitige Austausch, die wechselseitige Ergänzung den beiden freiheits- und kampfesmuthigen Geistern den höchsten Schwung, die herrlichste Zuversicht verlieh, dort erhebt sich auch das Denkmal, welches das deutsche Volk den vorbildlichen Streitern für die Freiheit des Glaubens und des Geistes errichtet hat.

Franz von Sickingen.

Ein Kreuznacher Bürger, der Bildhauer Karl Cauer, hat vor Jahren schon, noch ehe der bestimmte Plan zu der Aufstellung des Denkmals ans Licht getreten war, den Entwurf zu demselben gefertigt, und jetzt sind die vier Söhne des 1885 verstorbenen Meisters berufen worden, die Ausführung zu unternehmen. Auf einem drei Meter hohen Postament erhebt sich die überlebensgroße Gruppe. Der kleinere Hutten, von fast hagerer Gestalt und in dem schmalen Gesicht die Spuren schwerer [366] körperlicher Leiden zeigend, steht, in der schlichten Gelehrtentracht, wie in lebhafter Bewegung herzugeeilt, rechts neben Sickingen. Seine rechte Hand umspannt, sie wie in stürmischer Erregung zerknitternd, eine Schriftrolle, wohl eine seiner Streitschriften, die er von der Ebernburg ins Reich sandte, und weist mit ihr hinaus, dem Blicke und den Gedanken des Freundes Richtung gebend. Sein Auge hängt voll Begeisterung an den Zügen des Genossen, und seine Linke legt sich vertraulich und dringlich zugleich auf die gepanzerte Schulter neben ihm. Franz von Sickingen aber steht da, erhobenen Hauptes, eine echte Rittergestalt, die rechte Faust am Griffe des Schwertes, bereit, es zu ziehen und zu schwingen für seine und des Freundes Ideale. Wunderbar ist der energische Ausdruck dieses von dem federngeschmückten, malerischen Hute umrahmten Kopfes, das kühne durchbohrende Auge, der schmale, in festem Entschlusse zusammengepreßte Mund; trotzig und anmuthig zugleich ist die Haltung des Helden, die Wendung seines Hauptes, der Griff nach dem Schwerte. So schauen die beiden ins Land hinaus, ein Abbild ihrer wild bewegten, aber auch von hohem Schwunge der Gedanken getragenen Zeit, das Herz des Beschauers im Innersten ergreifend. S.




Ein deutscher Liebesgott.

Erzählung von Stefanie Keyser.

Es ist nun entschieden: ich nehme meinen Abschied!“ sprach Doktor Ehrlich, Bibliothekar an jener mitteldeutschen Universität, welche jedem flotten Burschen, der dort sein Gaudeamus sang, ins Herz gewachsen bleibt, bis ihn die Erde hat.

Von einer Reise zurückkehrend, zu der er die Osterferien benutzt hatte, trat er mit diesen Worten in seine freundliche Parterrewohnung.

Am Fenster erhob sich ein junges Mädchen von hoher Gestalt, legte die große Serviette, an der sie das schadhaft gewordene alte Tulpenmuster ausbesserte, auf das Nähtischchen und schritt ruhig von dem erhöhten Platz herab. Sie nahm dem blassen Mann, dem das grau gemischte Haar so nervös um das Haupt starrte, den Hut, die Handtasche und den Regenschirm ab. Ihr Antlitz, weiß und rosig angehaucht wie eine Apfelblüthe, zeigte einen Ausdruck von Spannung. „Willst Du wirklich Deinen Büchern Lebewohl sagen?“

Eifrig antwortete er: „Ja, ich verlasse meine lieben alten Schwarten, bevor sie mir das letzte Restchen Augenlicht rauben, die Lunge gänzlich verstäuben. Ich habe nun fünfunddreißig Jahre nach Kräften der Wissenschaft gedient, in den feuchten Gewölben der Archive, wo die Weisheit vergangener Jahrhunderte sich verwandelt, daß niemand mehr ergründen kann, ob er ein Stück Braunkohle in der Hand hält oder eine Urschrift des Heliand oder ein Urthel, welches befiehlt, einem armen Wilddiebe die Haut vom Leibe zu ziehen; habe den Arsenik eingeathmet, der die alten Papiere zwar vor Mäusen und Würmern schützt, aber die Archivare umbringt; bin für die Studenten, die lieben frischen Burschen, bis auf die höchsten Bücherbretter hinaufgeklettert und um verlegter Pergamentblätter willen beinahe verrückt geworden. Ich glaube, ich kann nun ohne Gewissensbisse meine Pension verzehren.“

Nachdem der pflichttreue deutsche Gelehrte diese Rede gehalten hatte, um seine Gewissensbisse endgültig niederzuwerfen, athmete er tief auf.

Das junge Mädchen schien irgend einem Gedanken nachzuhängen. Leise wie für sich sprach sie: „So scheiden wir auch von den Handschriften der Minnesänger.“

„Auch von diesen,“ nickte er ernst. – „Und ich weiß bereits,“ fuhr er fort, „wo ich mich zur Ruhe setze.“

„Nicht hier?“ fragte sie überrascht.

„Nein, wir ziehen nach Tannenroda,“ erwiderte ihr Vater mit leise bebender Stimme. „Wenn das Alter naht, kommt die Sehnsucht nach der Stätte, wo die Kindheit uns verfloß. Es ist die erste Station auf dem Heimweg. Ich bin nicht an den Rhein dem Frühling entgegengereist; ich war an dem Ort, von dem unsere Familie ausgegangen ist. Es war schön droben. Natürlich lag noch viel Schnee im Gebirge. Die Schlucht des Purzel-Männchens war gänzlich davon erfüllt.“

Er wartete auf Antwort. Aber sein Töchterlein schwieg und sah träumerisch zum Fenster hinaus. Er folgte ihrem Blick. Sollten die Studenten sie fesseln, die da, mit Verbindungsbändern und Cereviskäppchen geschmückt, vorüber schlenderten und durch ihre Kneifer hereinspähten? Ach nein! Des Mädchens Blick ging über sie hinweg ins Blaue des Himmels hinein.

„Sif!“ rief er sie an. „Ich habe das Haus meiner Vorväter gekauft für ein Spottgeld; denke Dir, für achttausend Mark, sammt dem großen Hofraum und dem Gärtchen, darin auch noch die alte Mooshütte steht.“

„Wir bekommen ein eigenes altes Haus?“ fragte das junge Mädchen wie erwachend.

„Ja, liebe Sif,“ antwortete der Vater. „Die Fenster bestehen noch aus Butzenscheiben, die altersgrauen Balkenknäufe tragen Schnitzereien, und auf dem Giebel kreischt eine Wetterfahne mit der Jahreszahl 1580. Es giebt freilich mancherlei daran zu restaurieren; aber der Schwumprich wird uns beistehen.“

„Der Schwumprich?“ fragte die Tochter verwundert.

„Kommt von Schwämmen her, mit denen die Familie seit unvordenklichen Zeiten gehandelt hat,“ belehrte sie der Vater. „Das Volk hat seine eigene Art, neue Worte zu bilden, kann einem Grimm, einem Hildebrand etwas aufzuknacken geben. Ich habe auch ein Mädchen gemiethet, natürlich ‚für alles‘. Sie heißt Hulda und geht barfuß. Aurora und Rosamunde trugen Strümpfe. Aber der Name Hulda ist altdeutsch und paßt zu der altnordischen Sif.“ Und er strich liebkosend über die langen blonden Zöpfe seiner Tochter, die fast bis auf den Saum ihres Kleides herabhingen. Wenn diese starken Flechten gelöst waren, dann mochte das junge Mädchen wohl der goldhaarigen Göttin der alten Germanen gleichen.

„Nun sage unserem Hausdrachen, der Köchin, den Dienst auf,“ ordnete er an. „Melde auch der Frau Professor, daß ich genöthigt bin, die Wohnung zu kündigen. Ich will mein Gesuch um Pensionirung aufsetzen.“

Er kam nicht dazu. Zuerst tönte Sifs ruhige Stimme aus der Küche und darauf Geklirr von herumgeworfenem Geschirr: die Antwort der Köchin. Dann hörte er droben rasche Schritte hin- und hergehen: die Frau Professor eilte zu ihrem Gatten, ihm die Neuigkeit zu verkündigen. Nun, vor dem war er sicher; der saß über seinem neuesten Geschichtswerk.

Er tauchte die Feder ein.

Aber jetzt rauschte ein stattliches Gewand die Treppe hernieder. Die Frau Professor, die Besitzerin des Hauses, in welchem der Bibliothekar Ehrlich seit vielen Jahren zur Miethe wohnte, die der mutterlosen Sif stets eine gütige Beratherin gewesen war, trat ein. Sie schlug die Hände zusammen. „Nach Tannenroda? In das kleine Nest auf den Wald? Haben Sie das wohl bedacht?“

Er steckte ergebungsvoll die Feder hinter das Ohr und geleitete sie nach dem Sofa. „Ja wohl! Es giebt dort balsamische Luft, klares Bergwasser, eine herrliche Natur.“

„Ach, was hilft das einem jungen Mädchen!“ redete sie auf ihn ein. „Sie könnten ja dort eine Sommerfrische machen und wiederkommen. Was soll die arme Sif im Winter in Tannenroda? Da giebt es keine Traubenbälle, und sie kann doch nicht in der Schenke tanzen.“

„Sie hat sich nie viel aus dem Tanzen gemacht,“ sagte Doktor Ehrlich ruhig.

„Aber sie könnte eine Partie hier finden,“ sprach die Frau Professor mit schwerer Betonung.

Er lächelte. „Sif besitzt kein nennenswerthes Vermögen; da heirathen die Mädchen heutzutage nicht. Oder soll ich mit ihr ausziehen, einen jungen Gelbschnabel fangen, dessen Eltern dem armen verlebten Mädchen alle Schmach anthun, um sie abzuschütteln? Der es dann selbst bereut und, wenn sie sich ein halbes Jahrzehnt als Studentenbraut hingegrämt hat, die Verbindung auflöst? Gehorsamster Diener, meine Herren!“ unterbrach er sich und grüßte durch das Fenster die abermals gassenbreit vorüberziehenden Studenten, von denen vorzüglich einer mit einem blonden Bärtchen unternehmend hereinguckte. „Nein, liebe Frau Professor, da mag sie sich lieber bald zu einer vernünftigen alten Jungfer ausbilden.“

Die Dame saß ganz starr da. „Sie reden wie ein Rabenvater!“

Er wurde eifrig. „Ich meine es besser als die Mütter, die ihre Töchter zu Hausfrauen erziehen ohne Aussicht, ihnen diesen Wirkungskreis eröffnen zu können. Wozu den armen Mädchen [367] diese Enttäuschung bereiten, sie der Verbitterung preisgeben? Sie werden glücklicher sein, wenn sie sich bald damit bescheiden, ihr Leben einsam zu führen.“

„Aber sie ist so jung,“ bat die Frau Professor vor.

„Und ich werde alt,“ sprach er gewichtig. „Ich konnte erst spät daran denken, mich zu verloben, nach zehnjähriger Brautschaft erst verheirathen. Es wird Zeit, daß ich mein einziges Kind versorge. Schätze zu sammeln vermag ein deutscher Bücherwurm nicht. Aber in Tannenroda können wir einfach leben; ich vermag die Zinsen unseres kleinen Kapitals zurückzulegen, ein Dach über den Kopf dafür zu schaffen, eine Kuh in den Stall, ein Stück Wiese, ein Stück Kartoffelland. Das ist mehr werth als ein Dutzend Cotillonsträußchen auf den Traubenbällen.“

„Kartoffeln bauen, Kühe melken? Entsetzlich!“ klagte die Dame. „Warum haben Sie sie nicht ausbilden lassen zu einer Lehrerin oder irgend etwas Aehnlichem?“

Er zuckte die Achseln. „Zu einer Lehrerin? Lebende Sprachen sind da die Hauptsache, und über dem Französischen ist sie eingeschlafen. Ja! Mittelhochdeutsch lernte sie von selbst, wie auch bei unseren kleinen Reisen alle Dialekte. Sie hat ein sehr feines Gefühl für die Unterschiede zwischen denselben. Am liebsten betete sie als Kind das gothische Vaterunser: ‚Atta unsar, thu in himinam‘. Für weibliche Handarbeiten? Sie war niemals dazu zu bringen, eine Tasche aus Sammet und Seide zur Aufbewahrung eines Wischlappens zu verfertigen; aber gesponnen hat sie von ihrem fünften Jahre an. Auch zur Stütze der Hausfrau, wie man die Haushälterin jetzt nennt, paßt sie nicht. Sie kocht zwar, aber es macht ihr Spaß, den Topf auf dem alten Dreifuß in das Herdfeuer zu setzen. Sie ist eben vierhundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen,“ schloß er ganz ergebungsvoll.

Die Frau Professor schüttelte den Kopf. „Sie müssen in dem entlegenen Waldort auf alle Annehmlichkeiten verzichten, welche das moderne Leben mit sich bringt,“ warnte sie.

Er lachte gutmüthig. „Zum Beispiel auf die neuesten Kohlenöfen? Ich kehre mit Freuden zu meinen guten alten Kachelöfen mit ihren harzigen Scheiten zurück. Oder auf die wie ein Pulverfaß explodirenden Petroleumlampen? Ich sage Ihnen, die Erfinder unserer Zeit sind vom lieben Gott mit keiner Nase versehen worden; um ihre Werke herum riecht es immer, als statte Beelzebub eine Visite ab.“

Er drückte der würdigen Frau Professor dankbar die Hand für alle gutgemeinten Einwürfe. Dann ging sie, das Herz voll tiefen Mitleides für die arme Sif. –

Diese hatte sich einstweilen auf ihren Lieblingsplatz zurückgezogen. Das war ein Stück alte Stadtmauer, die den Hof abschloß. Auf zerbröckelten Stufen stieg man zu dem bemoosten Bollwerk empor. Als Kind hatte sie das Stachelbeerbüschchen geplündert, das aus einer Spalte herausgrünte und eben jetzt wieder verheißungsvoll mit Blüthenglöckchen behangen war. Dann in späteren Jahren, als ihres Vaters Liebhaberei für die deutsche Vergangenheit ihr jeden alten Thurm mit seinem blasenden Wächter bevölkerte; stellte sie Betrachtungen an, welch ein wehrhafter Mann wohl dereinst hinter dem tiefen Einschnitt der Zinnen gestanden haben möchte in Krebs und Sturmhaube, mit Armbrust oder langem Feuerrohr gewaffnet.

An ihrem sechzehnten Geburtstage wurde ihr die Offenbarung bescheert, wie sie sich denselben zu denken habe. Sie war eben in ihr neues blaßblaues Kleid, das Geschenk ihres Vaters, geschlüpft und hinaus in den geräumigen Hof spaziert, damit auch die übrigen Hausbewohner den Putz bewundern konnten, da tönte über die Mauer von fernher kriegerische Musik, die sich gleichsam auf rollendem Hufschlag wiegte. Sie schallte näher und näher.

„Sie kommen!“ rief das Stubenmädchen der Frau Professor der Köchin im Parterre zu, die eben den Geburtstagsbraten spickte.

„Wer denn?“ fragte die.

Das Stubenmädchen tippte an die Stirn, als könnte solche Frage nur eine gänzlich mit Dummheit Geschlagene thun. „Na, wer wird denn kommen?“

Der Köchin ging ein Licht auf. „Ach so! Soldaten! Sie ziehen durch ins Manöver.“

Und nun liefen beide Mädchen, daß sie die Pantöffelchen verloren, und stürmten zum alten Ausfallpförtchen hinaus an die vorüberführende Chaussee.

Sif aber flog das Steintreppchen empor auf ihren Luginsland.

Die Kesselpauken dröhnten, die Trompeten schmetterten beim Zuge durch die Stadt. Immer mächtiger würde das Getön und das Gerassel. Die Mauer begann zu beben bei dem Anrücken der gepanzerten Reiter. Sahen sie nicht in den blitzenden Harnischen und Helmen aus, als sprengten sie gerade aus dem Mittelalter hervor?

Geblendet, entzückt schaute Sif auf das prächtige Schauspiel, weit hatte sie sich vorgebogen, daß die schweren Zöpfe über den Zinnenrand hinweg sich schlängelten.

Da sah der eine Kürassier herüber. Welch schönes dunkles Gesicht schaute unter dem Helm hervor! Wie mannhaft kleidete ihn der braune Vollbart! Wie prächtig stimmte der weiße Rock, der gelbe Kragen dazu! Blondinen haben immer eine kleine Schwäche für brünette Männer, und Sif mochte die gezwirbelten Bärtchen der Studenten nicht leiden.

Einen Augenblick sahen beide sich an. Dann lachte er und rief mit lauter Stimme herüber:

„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“

Sie wunderte sich nicht über die mittelhochdeutsche Anrede; sie zog sich nicht scheu zurück; sie bemerkte kaum das Lachen in den sonngebräunten Gesichtern der andern Reiter. Sie war für einen Augenblick der Gegenwart entrückt.

Da ertönte ein schneidiges Kommandowort. Der Reiter nahm sein starkes Pferd zusammen und setzte es in Trab. Das holde Bild aus der romantischen Vergangenheit zerrann; die Wirklichkeit der nüchternsten aller Zeitepochen trat wieder in ihr Recht. Sif stand nicht auf dem Söller ihrer väterlichen Burg, sondern in der Lücke einer zerfallenen Stadtmauer; keine blühende Linde spendete süßen Duft, ein Beerbüschchen griff mit spitzen Stacheln in ihr Kleid. Und wo war der Ritter, der jahrelang sonder anderen Dank als einen holden Blick der Dame diente? Dort zog er hin, der Dienstpflicht zu genügen, die das Vaterland von ihm heischte.

Aber er hatte doch mittelhochdeutsch gesprochen! Und warum nicht? Die jungen Professoren und Dozenten steckten ja alle auch im Waffenrock. Wer wußte, welches Licht der Wissenschaft es war, das eben ihren Augen entschwand und sich nicht ein einziges Mal mehr nach ihr umblicken durfte.

Ein Zeitraum von drei Jahren lag zwischen jenem Morgen und heut. Sie hatte immer gehofft, ihn einmal wiederzusehen. Oft kamen junge Gelehrte, um die Bibliothek zu benutzen, welche besonders reich an Handschriften der Minnesänger war. Dann schaute sie auf die abgegebenen Visitenkarten, ob nicht außer denn Doktor- oder Professortitel zu lesen war: Reservelieutenant bei den Kürassieren.

Sif schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie hatte sie nur träumen können, unter den Millionen Soldaten den einen Wehrmann zufällig wieder zu finden?

Sie seufzte lächelnd. Es war nur ein flüchtiges Traumbild, ein zerfließendes Nebelwölkchen gewesen, wie das, welches dort drüben in weiter Ferne die Berge umwebte, die nun ihre Heimath werden sollten.

Ihre Augen blieben daran haften. Jene hohe Kuppe schaute auf Tannenroda herab. In ihrem geheimnißvollen blauen Duftschleier barg sich die kleine deutsche Märchengestalt, die das Glück ihrer frühesten Kindheit gewesen war: das Purzelmännchen. Sie meinte noch die sanfte Stimme zu hören, die ihr davon im Einschlafen gesprochen hatte. Dann schüttelte sie das blonde Haupt noch einmal. Was alles doch sich in dem Kopf zusammenfinden konnte in so kurzer Frist: ein schöner großer Kürassier und ein kleiner Berggeist! Was hatten die mit einander zu schaffen?


Die Zeit bis zum Umzug ging schnell hin unter Verabschiedungen von Büchern und Menschen. Dann kam die Trennung von dem Grabe der früh verstorbenen Gattin des Doktor Ehrlich. Er stand mit Sif davor und empfahl der Fichte, die er dem Kind des Gebirges darauf gepflanzt hatte, treue Hut. Zuletzt brachten die Studenten das Abschiedsständchen. Sif sang ruhig mit ihrer tiefen Stimme das Gaudeamus nach. Sie war nicht traurig. An den Studenten gefiel ihr nur der alterthümliche Wichs: hohe Stiefel, Schärpe und Rapier.

[368] Als der festliche Zug sich auflöste, intonirte der eifrige Pflastertreter mit dem blonden gezwirbelten Bärtchen ärgerlich ein Liedchen von einem ledernen Herrn Papa. Sif achtete nicht darauf, und der lederne Sänger hatte es auch schnell vergessen; denn an der Straßenecke küßte er ein rothwangiges Dienstmädchen nolens volens ab.

Zum Entsetzen der Frau Professor wies der Bibliothekar den angerathenen Packer zurück. Ueber die Möbelwagen lachte er. „Die Gebäude fallen rückwärts herab, wenn es an das Steigen geht. Wir ziehen in altmodischer Weise um.“

Er bestellte bei dem Holzhändler in Tannenroda die Wagen mit den berggewohnten Gespannen. Darauf wurden nach altem Brauch die Möbel in Heu und Stroh gedackt. Selbst der wacklige Küchenschemel mußte mitfahren. „Man jagt auch keinen treuen Hund vor die Thür,“ sagte der Bibliothekar. Unter „Hüh!“ und „Hott!“ zogen die mit Planen überspannten Gefährte zum Stadtthor hinaus.

An einem frischen Maimorgen bestiegen Vater und Tochter eine kleine Chaise, die ebenfalls von dem Holzhändler geschickt wurde. „Was hilft es, mit der Eisenbahn das Gebirge zu umkreisen? Einmal muß doch hinauf gekraxelt werden. Also lieber gleich den geraden Weg eingeschlagen! Wir reisen auch auf altmodische Weise,“ sagte vergnügt der Bibliothekar, drückte die graue Reisemütze über die Stirn, und fort ging’s durch die noch stillen, schlafenden Straßen hinaus, dem Gebirg zu.

Ja, es war das altmodische Reisen, wo eine Pappel stundenlang das Ziel der Augen blieb; wo es schien, als käme man, niemals der Bergkette näher; wo die Mittagsstation nach dem Bedürfniß der Pferde gewählt wurde, die Reisenden an Schinken und Wurst, die für die Ewigkeit geräuchert waren, sich genügen lassen mußten; wo aber auch die pflügenden Bauern auf den Feldern für eine kurze Spanne Zeit nahe traten mit ihren schwieligen Händen, wo Veilchenduft plötzlich durch den Wagen strich, der Lerchenjubel aus den Lüften herein schallte.

Endlich ging es in die Waldthäler hinein. Der Boden hob sich. Statt der weiß blühenden Schlehenbüsche kauerte Wachholder am Rand des Weges. Gleich Säulenreihen standen die Fichten zu beiden Seiten; wie Speerspitzen ragten ihre Gipfel in den blauen Himmel. Zuweilen traten sie auseinander und gaben den Blick frei auf einen Eisenhammer mit glühendem Feuerherzen oder eine Sägemühle, die emsig an einem schäumenden Bach die langen Fichtenstämme zerschnitt in weiß leuchtende Bretter zu Wiegen und Särgen.

Einmal kam es durch den Wald herangebraust wie die wilde Jagd. Ein Hirsch brach durch die Fichten und jagte über den Weg waldein. Sif war erschrocken, aber ihr Vater rief begeistert: „Welch glückverheißender Angang! Und sieh! Dort geht auch ein Jägersmann, wie sich’s in dem Wald gehört. Er ist der junge Forstgehilfe aus Tannenroda. Ich glaube gar, er pflückt Vergißmeinnicht am Bach. Da ist’s kein Wunder, wenn die Hirsche auf der Landstraße spazieren gehen.“

Die Sonne neigte sich schon, als das Wägelchen um eine Waldecke bog und Tannenroda vor ihnen lag.

In dieser Höhe erschien das Thal flach; es war nur eine Einsenkung zwischen den Gebirgskuppen. Aber die scheinbar niedrigen Hügel, welche den Wiesenplan mit ihren Nadelbäumen umgrenzten, führten drunten stolze Bergesnamen. Nur ein Haupt erhob sich höher. Majestätisch fluthete sein schwarzgrüner Tannenmantel bis herab in die Wiese. Eingebettet in das junge, von Maßliebchen durchflochtene Gras lag ein stiller Wasserspiegel. Eine tiefe Schlucht zog sich vom Gipfel des Berges herab. Bläulicher Nebel webte schon darinnen; aber der Gipfel war umstrahlt von dem feurigen Abendroth.

„Das ist die Brandkuppe,“ sagte der Bibliothekar, „eine uralte Opferstätte. Noch heute zündet das Volk, wenn es ein Fest feiern will, dort ein Feuer an, wie sonst zu seiner Götter Ehren. Und das ist der Heidenteich, wo unsere Vorfahren getauft worden sind, wo ihnen ihr Irrglaube abgewaschen wurde. Nur ein kleiner Götze hat sich nicht so schnell bezwingen lassen; weißt Du? unser tapferes Purzelmännchen! Das trieb noch in meiner Jugend sein spukhaftes Wesen in der Schlucht dort. Es wohnte in einem alten Baumstumpf an dem abschüssigen Weg und erhob von jedem, der sich im Wald etwas geholt hatte, seine Abgabe; eine handvoll Beeren, Harz, Tannenzapfen mußten ihm in den hohlen Stamm geworfen werden. Wer es vergaß, der purzelte in der steilen Schlucht hin, und sein eingeheimstes Gut verlief sich in Heide und Moos. Darum heißt der Waldort der ‚Purzel‘. Meine Mutter hat noch pünktlich den Brauch geübt, wenn sie Erdbeeren suchte, um Ihren Schatz, den jungen Jägerburschen, zu treffen.“

Der Wagen rumpelte in den Marktflecken hinein. Ein schäumender Bach rauschte ihnen entgegen an der bemoosten Mühle vorüber. In seinen klaren Wellen standen barfüßige Kinder und hoben vorsichtig die Kiesel auf, um nach schnellenden Steinbeißern zu haschen, unbekümmert darum, daß ihre rosigen Gliederchen überall aus den groben Röcklein schauten. Das Kleinste trug nur einen Aermel als Zeichen, daß es nicht unter die wilden Völkerschaften zu rechnen sei. Sie schauten zu den Reisenden auf, indem sie die Hände schützend über die blinzelnden Augen, das zusammengezogene Näschen hielten.

„Grüß Gott!“ riefen sie insgesammt.

Graue schindelgedeckte Häuser, aus denen nur hier und da ein höheres altersdunkles Ziegeldach aufragte, reihten sich aneinander. Aber überall guckten lustige dunkeläugige Gesichter aus den Fenstern, welche rings umhangen waren mit kleinen Vogelbauern, aus Fichtenholz geschnitzt, in denen grüne und rothe Kreuzschnäbel ihre Kletterkunststücke machten.

Nun kam der breite, aber niedrige Kirchthurm, welcher sich klüglich, der Winterstürme gewärtig, duckte. In seinen Schutz geschmiegt, stand die Pfarre. Unter den sprossenden Hollunderbäumen, welche die Thür überwölbten, komplimentirte sich eben ein ältlicher breitschulteriger Herr heraus. Die Frau Pfarrerin, deren ganzes Gesicht freudig glänzte, ein junges Mädchen mit verdrießlich hängender kirschrother Unterlippe und einer unternehmend emporstrebenden grünen Schleife am hochgethürmten schwarzen Haarschöpfchen, sahen ihm nach.

„Der Herr Apotheker,“ sagte der Bibliothekar und nahm die Mütze ab, als der Wagen an dem Herrn vorüber fuhr.

„G’horschamer Diener,“ erwiderte dieser den Gruß, während er die heiße Stirn mit großem buntseidenen Tuch kühlte.

„Sieh!“ rief der Bibliothekar, „das dort ist unser Haus, wo meine Mutter als Mädchen und dann als Witwe lebte. Das Hirschgeweih über der Thür hat mein Vater erbeutet und – potztausend! – eine Guirlande hängt daran. Da steht auch die Hulda!“

Der Wagen hielt vor einem Haus, grau, wie altes Fichtenholz sich färbt. Der hohe Giebel ragte in den klaren Abendhimmel hinein. Von den ausgetretenen Steinstufen, die zu der rundbogigen Hauspforte führten, sprang flink ein zierliches nußbraunes Mädchen herab, das zwar keine Strümpfe, aber dafür ein buntes Kopftuch mit mächtiger Schleife über der Stirn trug.

„Grüß Gott!“ rief sie, und ihre Stimme klang so weich und singend, als habe sie den Ton einem Waldvöglein abgelauscht.

Vor dem Nachbarhaus, das ein Ladenfenster hatte, stand ein junger kräftiger Mann. An der Art, wie sein schwarzer Schnauzbart empor gedreht war, gleich denen der Offiziere in der Universitätsstadt, und an der Haltung, in welcher er grüßte, den Daumen an der Hosennaht, war zu erkennen, daß er den blauen Rock erst vor kurzer Zeit ausgezogen hatte.

„Das ist der Schwumprich,“ erklärte der Bibliothekar seiner Tochter.

Der Schwumprich wäre wohl den neuen Nachbarn gern zu Hilfe geeilt; aber Hulda warf ihm über die Schulter ein kurzes: „Das ist meine Sache!“ zu, vor dem er zurückwich.

Sie stellte auch trotz ihrer zierlichen Gestalt den alten Herrn kräftig auf seine eingeschlafenen Beine, führte ihn in das Haus und eilte dann zu Sif zurück, die sich unter Kistchen, Schachteln und Taschen hervor arbeitete. Die Kleine bepackte sich bis unter die stumpfe, aber hübsche Nase; die nackten schmalen Füße flogen die Stufen auf und ab; dabei hafteten ihre Augen zutraulich und schüchtern zugleich an Sif wie die einer jungen Drossel.

Als Sif beim Eintritt in das Haus ihr freundlich die Hand bot, glühten ihre Wangen gleich blühenden Fichtenzäpfchen. Sorgfältig geleitete sie ihr Fräulein die weißgescheuerte Wendeltreppe hinauf in die Stube.

Dort sah es schon wohnlich aus. Hulda hatte von den vorher angelangten Gepäckwagen, die im weiten Hofraum ausgespannt standen, den nothwendigsten Hausrath abladen lassen und untergebracht. Der Bibliothekar saß seelenvergnügt in seinem gewohnten Großvaterstuhl.

[369]

Auerochsen.
Nach einer Zeichnung von Rich. Friese.

[370] Hulda war schon wieder unten am Wagen. „Eil’ dich, Hannickel! Sonst hält die Chaise morgen früh noch an unserer Thür,“ sprach sie zum Kutscher, der durch seinen Mantel, ein Erbstück von Anno Eins her mit fünf Kragen, noch unbehilflicher geworden war.

„Das sind unsere Koffer,“ wandte sie sich hochfahrend an den Schwumprich, der es nicht lassen konnte, die Stricke loszuschnüren; „aber ich erlaube Dir, sie abzuladen. Dem Herrn wird’s nicht auf ein paar Pfennige ankommen, wenn Du sie doch gern verdienen willst. Wir sind nicht so.“

Der Schwumprich war feuerroth geworden; aber er faßte doch einen Koffer an. Sie griff nach der andern Handhabe und hielt ruhig fest, als ihm die seine in der Erregung entglitt.

„Die Männer sind einmal ungeschickt,“ sagte sie geringschätzig.

Als alles Gepäck herein geschafft war, händigte sie dem Kutscher einen Thaler aus, den ihr der Herr zu diesem Behufe anvertraut hatte. „Wir können es,“ sagte sie selbstbewußt.

Der Schwumprich wollte auch stolz sein und sein Trinkgeld nicht nehmen; aber sie trieb ihm den Hochmuth aus. „Du darfst Dir durch solches Gethu unsere Kundschaft nicht verschlagen.“

Da warf er einen Blick auf seine Cichorienpäckchen und Essigflaschen im Ladenfenster und steckte sein Fünfzigpfennigstück ein. Aber er blieb roth bis unter seine dicken schwarzen im Militärschnitt gehaltenen Haare.

Während der Bibliothekar sein Abendpfeifchen rauchte, wandelte Sif durch das ganze Haus, schaute durch die Dachluke nach der Wetterfahne und besichtigte die eiserne Kellerthür, wie man solche in früheren Zeiten anzubringen pflegte, um bei Feuersbrünsten die Schätze des Hauses da unten bergen zu können.

Als sie durch den Hausflur ging, sah sie Hulda in der geöffneten Pforte stehen. Wie war das Gesichtchen, welches ihr das Profil zuwandte, verändert! Wie kummervoll bewölkt erschien die gebräunte Stirn! Wie schmerzlich zuckte der Mund! Die nußbraunen Augen folgten irgend einem Vorgang so gespannt, daß sie Sif nicht gewahrten. Diese trat in die Unterstube an das Fenster.

Da ging der Schwumprich draußen vorüber neben einer stattlichen Frauensperson, die nicht mehr jung, aber recht gut gekleidet war und vorzüglich moderne Hackenschuhe und blau geringelte Strümpfe trug. Sie schwatzten zusammen, wie Pärchen thun, „die mit einander gehen“; so wird unter dem einfachen Völkchen der Zustand zwischen Liebelei und Verlobung genannt.

Jetzt flog mit lautem Krach die Hausthür zu.

Bei Sif tagte es. Sie ging hinaus zu Hulda. „Wer ist das Mädchen, mit dem der Schwumprich spazieren geht?“

„Die lange Lale,“ preßte Hulda heraus. „Eigentlich heißt sie Eulalia und ist die Wirthschafterin des Apothekers. Ich kann sie nicht ausstehen, gerade die nicht. Wie sie die Beine wirft!“ und sie sah auf ihre kleinen nackten Füße scheu herab.

Sif lächelte. „Komm, ich will Dir etwas schenken.“ Sie öffnete einen ihrer Koffer. „Da, wähle Dir von den Strümpfen aus, welche Du magst. Du brauchst Dich nicht davor zu fürchten. Zieh die rothen an! So! Und nun schlüpfe hier in meine alten Schnallenschuhe.“

Hulda stand athemlos. „Ach, wenn es doch noch etwas zu holen gäbe! Etwas in der Apotheke! Für einen Pfennig Räucherkerzchen.“

Sif nickte lachend. „Nun, so hole wenigstens für zehn Pfennig.“

Sie sah ihr nach, wie sie keck an dem Paar vorüber schritt, daß ihr weiter, mit bunten Kattunstreifen besetzter Rock sich schwenkte. Sie schien die beiden gar nicht zu bemerken.

Desto aufmerksamer wurden diese. Als sie auf die Apotheke zusteuerte, vor welcher als Schild ein Mohr stand, schlugen sie einen rascheren Schritt an, der immer schneller wurde, je länger Hulda hinter dem Mohrenbilde verweilte.

Jetzt kam sie heraus, die Düte so hochmüthig in der Hand haltend, als habe sie mit ihrem Einkauf die Apotheke vor dem Bankerott gerettet. An dem Paar schwenkte sie vorüber, als sei es Luft.

Ganz verblüfft standen beide, und der Schwumprich sah ihr nach, die Augen starr auf die rothen Strümpfe und die Schnallenschuhe gerichtet, während er den Bart nach der verkehrten Seite drehte.

Trotz ihres Triumphes aber wischte Hulda sich mit der blauen Schürze verstohlen eine Thräne aus den Augen, während sie „gute Nacht“ wünschte.

Als sie mit dem kleinen Oellämpchen schon unter der Thür stand, sagte sie, wieder schüchtern lächelnd: „Merken Sie sich, was Sie träumen, Fräulein! Der erste Traum unter einem neuen Balken geht in Erfüllung.“

„Nun, was hast Du hier geträumt, Hulda?“ fragte Sif.

Aber diese sah verschämt zur Seite, schüttelte den Kopf und erwiderte dann: „Daß ich hier im Dienst Glück haben würde. Und das trifft ja auch ein. Ich danke Ihnen vielmals, Fräulein.“

Sif lag mit offenen Augen in ihrer alterthümlichen Bettstatt.

Durch die runden Fensterscheibchen schimmerten die Sterne; denn die Vorhänge waren noch eingepackt.

Das arme Ding, das sich in den Schwumprich verliebt hatte, that ihr leid. Der nahm gewiß die andere mit den großen goldenen Ohrglocken.

Hatte der Vater doch recht, wenn er sagte: „Bildet Euch bald von Anfang an zu alten Jungfern aus!“? Fast schien es so. Aber wo blieb dann das Glück, das eine heimliche Stimme ihr verhieß, seit – ach! sie wollte ja nicht mehr an den geharnischten Reiter und die „sueze Juncfrouwe“ denken.

Allmählich verdämmerten Sterne, Butzenscheiben und arme liebende Mädchen, die in blaue Schürzen weinten.

Dann sah sie durch eine Mauerlücke hinaus ins Weite. Thürme tauchten auf, hohe Zinnen, Häuser mit Erkern; schönes altes Geräth umgab sie und – da stand auch der stattliche Mann mit dem braunen Vollbart. Aber er trug keinen Harnisch, sondern ein schwarzes Sammetwams wie der Doktor Faust, und er redete in mittelhochdeutscher Sprache so schnell, daß in ihrem Ohr nur die weichen Laute haften blieben, die mit ihrem „tiu, tiu“ wie der Sang der Vöglein klangen, der gestern abend noch aus der Schlucht herüber schallte.

Endlich schnitt der helle Ruf einer Amsel den Faden der Rede jäh ab.

Sif rieb sich die Augen, in die das Morgenlicht schien. Die Amsel sang draußen im Hof auf dem Haselbusch weiter.

Schade! dachte Sif. Wenn ich auch nichts verstand, es war doch so schön.

„Langschläferin!“ rief ihr Vater durch das weite Schlüsselloch. „Ich habe schon gefrühstückt: Milch, in welcher der Löffel steht, so rahmig ist sie. Und dazu riecht es wie frisches Brot. Natürlich hat ein jedes Anwesen sein eigenes Backhaus. Hulda zieht eben die dampfenden Laibe aus dem Ofen. Sie sind so groß wie die Mühlsteine und mit Kreuzchen gepiept, daß die Heinzelmänner sie nicht benaschen können. Das ist ein Leben wie im deutschen Märchen.“

Als Sif aus ihrer Schlafkammer kam, fand sie alles in angemessener Thätigkeit. Hulda handelte für den Herrn um eine schöne rothe Kuh und zwackte richtig noch zwanzig Mark ab. Der Schwumprich mühte sich, die auf den schiefen Böden wackelnden Möbel durch verschiedenartige Klötzchen festzustellen, und ihr Vater kühlte seinen Daumen, den er mit der Geschicklichkeit der Gelehrten statt des Nagels auf den Kopf getroffen hatte.

„Nun, der Schwumprich wird schon allein fertig werden,“ tröstete er sich.

Der Schwumprich mußte der Helfer in allen Nöthen sein. Bald sollte er die alten Dielen anstreichen, bald eine Holzverkleidung oder ein Geschirrbrett festschlagen und bepinseln. Von früh bis spät hatte er im Haus des Bibliothekars zu schaffen. Aber die Farbe holte er freilich in der Apotheke, und sein Schnapsfläschchen war dann stets mit goldgelbem Likör gefüllt.

Dafür konnte er den Mund nicht aufthun, ohne von der Hulda etwas auf die Kappe zu bekommen. „Daß der Herr Bibliothekar so viel auf die alte Hauslaterne hält,“ raunte er einmal ihr zu. „Schmiedeeisen! In Blei gefaßte Scheibchen! Es giebt so prächtige Lampen jetzt. Wie Sonnen strahlen sie.“

Sie stemmte den Arm in die Seite und erwiderte wegwerfend: „Alle Tage was Neues! Das mag bei Euch Soldaten so sein. Aber wir studierten Leute sind anders gesinnt. Wir halten an dem fest, was wir einmal haben.“

Er duckte sich und putzte weiter an der Laterne.

„Soll denn wirklich in dem Kessel gekocht werden, den ich an die Kette über dem Herd habe hängen müssen?“ fragte er ein andermal. „Es giebt jetzt so schöne eiserne Kochherde.“

[371] „Dafür kommt alles in diesen Kessel, was die Herrschaft bezahlt, und nicht in eine gewisse Schürzentasche mit einer gelben Schleife,“ zischte sie wie ein Schlänglein, das auf den Schwanz getreten worden ist.

Er hing den Kopf. Die gelbe Schleife auf Eulaliens Schürze war ihm selber fatal gewesen; er konnte es nicht anders sagen.

Endlich stand jedes Ding an seinem rechten Platz: in der Studierstube die Bücherbretter mit den seltenen Werken des Hausherrn; in den Kammern die Betten, dem kalten Bergklima gemäß hoch aufgestapelt.

Der Schwumprich that die letzte Arbeit: er steckte die geschnitzten Kienspäne in den eisernen Halter unter dem breit vorspringenden Küchenschornstein. Dann empfing er seine Bezahlung und ging mit strammem Gruß, von welchem Hulda keine Notiz nahm.

„So schlecht darfst Du ihn doch nicht behandeln,“ mahnte Sif. „Dazu hast Du kein Recht.“

Hulda sah sie starr an. „Kein Recht?“ und in dem flackernden Kienspanlicht, das zum Versuch angezündet war, sah ihr bräunliches Gesichtchen wieder unsäglich traurig aus. „Kein Recht? Er ist ja mein alter Schatz!“ setzte sie mit zitternder Stimme hinzu. Und nun brach der lang verhaltene Jammer los. „Er nannte mich schon sein Schätzchen, als wir beide noch in die Schule gingen. Dann haben wir mit einander Johanni auf der Brandkuppe getanzt, im Winter in der Spinnstube zusammen gesessen; ich habe niemals gedacht, daß es anders sein könnte. Er hatte den Handel mit Schwämmen und Beeren; da half ich ihm, denn seine Großmutter, die ihm die Wirthschaft macht, ist schon lange schwächlich. Hab mir manchmal die Lunge ausgeschwatzt, um die gelben Eierschwämme ein paar Pfennige billiger von den Kindern zu bekommen, habe mir die Füße wund gelaufen, damit die bestellten Morcheln beschafft wurden. Dann kam er unters Militär. Mein Stiefvater wanderte mit meiner Mutter und den Stiefgeschwistern nach Amerika aus. Ich blieb hier und wartete auf ihn. Im Wald, beim Flachsbau und Heumachen giebt’s immer Arbeit. Jeden Pfennig hatte ich von jeher zusammen gehalten, weil ich nicht gar zu lumpig in sein Haus kommen wollte. Jede geschenkte Kaude Flachs spann ich, oft in der Nacht bei Mondenschein auf meinem kalten Bodenkämmerchen. Ich ließ ein Stück Leinwand weben. Wie freute ich mich, als ich am Heidenteich die Bleichpflöcke einschlug und auch wie die anderen Mädchen meine Leinwand bleichte! Schneeweiß, Fräulein, ist sie geworden. Ich schaffte mir ein Bett, bin, wie es einem ordentlichen Mädchen ziemt, um eine Feder über sieben Zäune gesprungen. Ein schönes gemachtes Bett, Fräulein. Ich habe das Meinige. Und seiner alten Großmutter habe ich auch redlich beigestanden. Endlich kam er wieder.“ Sie schluchzte auf. Dann sprach sie stockend weiter: „Drunten in der Festung als Offiziersbursche war ihm in den Kopf gesetzt worden, ein junger Mann müsse eine reiche Frau heirathen. Da ging er nach der Lale, und ich vermiethete mich an den Herrn.“

Damit sie die Qual vor Augen hat, dachte Sif kopfschüttelnd. „Aber die Lale ist doch wohl älter als er?“ fragte sie theilnehmend.

„Freilich,“ antwortete Hulda; „sie wollte eigentlich auch nicht den Schwumprich, sie dachte an den Apotheker. Und der wollte sie auch zuerst. Die hätten ganz gut zusammen gepaßt. Aber da kam die Tochter vom Herrn Pfarrer aus der Benehme in der Stadt zurück, und nun will der Apotheker das junge Blut, und die Frau Pfarrerin sähe es auch gern, weil er reich ist. Zwanzig tausend Mark soll er haben.“

„So heirathet der Apotheker des Pfarrers Töchterlein?’’ fragte Sif.

„Nein!“ erwiderte Hulda. „Das Mariechen will nicht. Die mag den jungen Forstgehilfen gut leiden, der jetzt beim Herrn Förster ist. Aber den will die Frau Pfarrerin nicht, weil er an eine Heirath noch lange nicht denken kann.“ Sie seufzte, trocknete einmal wieder die Augen an der blauen Schürze und ging auf den Hof, um der Kuh einen Arm voll blumigen Grases zu bringen.

Sif saß und starrte in die wabernde Flamme hinein.

In dem kleinen Ort, aus dem jeden Morgen die Hirten tutend ihre Kuhherden führten, wo Gänse und Enten auf dem durch die Straßen fließenden Bach schwammen und die Leute am liebsten in der offenen Hausthür Toilette machten, führte ein halbes Dutzend Menschen ein Stück auf wie – sie mußte lachen – ein Mosersches Lustspiel. Ob’s freilich so herzlich fröhlich endigte? Ja, ja, die Ausbildung zur alten Jungfer hatte ihre Berechtigung; aber ob hier der passende Platz zu einer ungestörten Vorbereitung war? Sie schüttelte das schöne Haupt.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Der Auerochse. (Mit Abbildung S. 369.) Streiten wir heute nicht darüber, ob der Künstler den uns im Bilde vorgeführten Wildochsen mit Recht den Namen „Auerochsen“ giebt! Richtiger wäre es wohl, er nennte sie Wisent (bonassus) zum Unterschiede von dem eigentlichen, langhörnigen, glatthaarigen Auerochsen (urus). Schon Plinius unterscheidet zwei verschiedene, in Deutschland vorkommende Wildochsenarten, welche nach Rom gebracht und dort dem Volke in den Thierkämpfen vorgeführt wurden. In gleicher Weise, sprechen die alten deutschen Schriftsteller von dem „Wysent“ und dem „Urochs“. Erst in neuerer Zeit führte die Verwechselung beider Wildgattungen, von denen die eine, der Auerochs, längst ausgestorben ist, dazu, daß man allgemein den Namen des letzteren auch auf den freilich nur selten noch vorkommenden Wisent übertrug.

Andere Zeiten – andere Leute, aber auch andere Thiergattungen! Die Kultur räumt nicht nur unter den Originalen der Menschheit auf, sie vernichtet auch die originellsten Erscheinungen der Thierwelt und läßt vielleicht dem deutschen Nimrod in nicht zu langer Zeit zur Befriedigung seiner Jagdlust nur den „Schablonenhasen“ übrig, wie ihn der Magdeburger Rübenacker so üppig zeitigt.

Der Wisent, oder sagen wir, der – wenn auch schlechten – Gewohnheit nachgebend, um besser verständlich zu bleiben: der Auerochse, ist aus der freien Wildbahn des mittleren Europas verschwunden, und nur noch der Kaukasus und vor allem der in der russischen Provinz Grodno liegende Wald von Bialowicza beherbergt dieses größte und stärkste Säugethier unseres Erdtheils. Schier undurchdringliche Dickungen gewähren dort dem edlen Wilde Schutz, dazu Moore, über die der Fuß des Jägers nur zagend hinwegschreitet, mit Röhricht verwachsen, durch fallende Stämme unwegsam gemacht, eine Wildniß von mehr als 30 Geviertmeilen Flächenraum, auf der man den Bestand von Auerochsen noch auf etwa 1500 Stück schätzt. Neben der Unzugänglichkeit des Bialowiczaer Waldes ist es aber noch das Machtwort des Czaren, welches sich der Ausrottung des Urs entgegenstellt; schwere Strafen stehen auf seiner Erlegung, und so ist es möglich gewesen, diese typische Thiergestalt längst entschwundener Zeiten bis in unsere Tage hinein zu erhalten.

Freilich, geblieben, was und wie er war, ist der Auerochse nicht; man könnte ihn degenerirt, verkümmert nennen. Ein Chronist erzählt uns, daß 1555 in Preußen ein Wisent erlegt wurde, dessen Länge 13 Fuß betrug, während er in der Höhe bis zum Widerrist deren 7 maß; er wog 19 Centner. Heute wird ein Stier selten länger als 8 und höher als 5 Fuß, und 11 bis 12 Centner sind dann für ihn schon ein sehr bedeutendes Gewicht. Auch seine Wildheit und Gefährlichkeit hat beträchtlich abgenommen. Während uns die deutschen Heldenlieder des Mittelalters von ihm als dem grimmigsten Gegner des Jägers zu melden wissen, geht er heute dem Menschen aus dem Wege, wenn er nicht gereizt oder verwundet ist; dann freilich wird er zum wüthenden Angreifer, und der Arm dessen, der die Büchse auf ihn richtet, muß fest und sein Auge sicher sein, sonst ist es um ihn geschehen.

Der Auerochs ist der nahe Verwandte des amerikanischen Bison; sie zählen beide zu einer Sippe und zeichnen sich durch die breite, gewölbte Stirne, die kurzen, runden, nach vorn und aufwärts gekrümmten Hörner und durch die dichte, am Halse und Widerrist mähnenartige Behaarung vor den andern Arten unter der Familie der Stiere aus.

Wie erwähnt, war der Auerochs in Deutschland ausgerottet, der Oberstjägermeister von Preußen aber, Fürst Pleß, hat sich das Verdienst erworben, ihn in seine alte Heimath wieder einzuführen. Im Jahre 1865 setzte man in dem etwa 2500 Morgen umfassenden Thiergarten der Herrschaft Pleß in Schlesien 1 Stier und 3 Kühe aus, die mit der Bahn aus dem Walde von Bialowicza an ihren neuen Bestimmungsort gebracht worden waren; sie haben sich hier gut acclimatisirt und auch Kälber gesetzt. Nach sechs Jahren wurde jedoch der Thiergarten in den Oberforsten aufgelöst, und die Auerochsen kamen nach dem Forstrevier Mezerzitz nahe bei Pleß, wo sie sich noch heute befinden. Um das Blut aufzubessern, wurde in den letzten Jahren ein Tausch von Stieren mit dem Zoologischen Garten in Berlin vorgenommen. Der Bestand beträgt jetzt 11 Stück, darunter 2 im vergangenen Sommer gesetzte Kälber, von welchen das eine außerordentlich gut gedeiht. Erlegt wurden im ganzen 9 Stück. An den Jagden nahmen jeweils auch Kaiser Wilhelm I., Kaiser Friedrich und Kaiser Wilhelm II., sowie Prinz Friedrich Karl theil, und jeder von ihnen hat je ein Stück erlegt. Hier machte man auch die überraschende Beobachtung, daß die Mutter das im Winter geworfene Kalb zwischen ihre Vorderläufe stellte, um es mit den langen Haaren vor Kälte zu schützen, ein Verfahren, welches sie auch einschlägt, wenn sie ihr Junges vor eingebildeten oder wirklichen Gefahren schützen will. Jedenfalls ist dieser Acclimatisirungsversuch als völlig gelungen zu betrachten, dürfte aber voraussichtlich vereinzelt bleiben.

Zum Schluß noch ein Bild aus jenen Gegenden unseres Vaterlandes, in denen der Auerochse der vordringenden Kultur am längsten Stand gehalten hat.

Es war an einem schwülen Augusttage, als wir durch die einsame Heidelandschaft zwischen den ostpreußischen Städtchen Labiau und Mehlauken fuhren. Der Weg führte erst durch eine öde, mit mächtigen Wandersteinen übersäete Fläche, deren Einförmigkeit selten einmal durch das graue Strohdach eines Büdnerhäuschens unterbrochen wurde. Der alte Kutscher erzählte uns, daß die Bewohner ringsum meist Wilddiebe [372] seien, daß als Hauptinventarstück jede Hütte eine, wenn auch noch so verrostete Flinte berge. Dann senkte sich die holperige Straße in die grüne Wand des Forsts. Laubholz fand sich gemischt mit Nadelholz; brüderlich theilten Fichten, Birken, Eschen und Buchen die Nahrung des bruchigen, mit Moosen und Farnkräutern bedeckten Bodens. Ueber den Wipfeln der nächsten Schonung ragte ein riesiges Kreuz empor: es war dort von der Hand eines Wilddiebs ein Förster erschossen worden. Wir kannten die traurige Geschichte, hatte sie sich doch erst vor wenig Jahren ereignet. Man hatte einen Baum am Thatort seiner Zweige und seiner Krone beraubt und auf etwa zwei Drittel seiner Höhe ein mächtiges, unbehauenes Querholz daran genagelt; das war alles, und doch hinreichend, der traurigen Gedanken genug in uns zu erwecken. Wie ein Gefühl der Erlösung überkam es uns, als wir das einfache Wahrzeichen hinter uns hatten und sich eben vor unseren entzückten Blicken eine liebliche, mit bunten Blüthenkelchen übersäete Waldwiese aufthat, welche in ihrer Mitte von einem silberhellen Bach durchflossen wurde.

Und der Rosselenker wandte sich wieder erzählend und erläuternd zu uns. Die Wiese nannte der Volksmund die Auerwiese, das Flüßchen die Auer, und zwar um deswillen, weil Mitte des vorigen Jahrhunderts an dieser Stelle der letzte Auerochse in Preußen von der Hand eines Wilddiebs gefällt worden war.

Eben zog vorsichtig sichernd eine Ricke mit ihrem Kälbchen über die freie Fläche; der Kutscher klatschte mit der Peitsche, und die beiden Thiere flüchteten eiligst in das gegenüberliegende Dickicht. In der Richtung ihrer Flucht knallte plötzlich ein Schuß. Derselbe konnte nur von einem Wilddieb abgefeuert sein, das Rehwild stand ja in der Schonzeit. Ein anderes Wild war es, als damals vor mehr denn hundert Jahren, die Menschen aber waren dieselben geblieben. – Eugen Friese.

Karl Wartenburg †. Wiederum ist ein alter Freund und Mitarbeiter unseres Blattes aus dem Leben geschieden. Am 24. April starb zu Gera in einem Alter von beinahe 63 Jahren Karl Wartenburg, auch einer der vielen, die einst in den Reihen der Kämpfer des Jahres 1848 standen. Als der Sohn reicher Eltern am 13. November 1826 zu Leipzig geboren, war er ursprünglich für die Offizierslaufbahn bestimmt, aber ein Sturz mit dem Pferde und im Zusammenhang damit ein dauerndes körperliches Leiden verschloß ihm dieselbe. So bezog er, 21jährig, die Leipziger Hochschule, um die Rechte zu studieren, ward aber bald in eine Untersuchung verwickelt, wegen Hochverraths angeklagt und zu anderthalb Jahren Gefängniß verurtheilt. Nach einigen Monaten wieder begnadigt, vollendete er zwar seine juristischen Studien; aber auf eine staatliche Anstellung hatte er um seiner politischen Gesinnungen willen keine Aussichten. So verzichtete er denn auf die juristische Laufbahn und entschied sich unter dem Einflusse Ernst Keils, des Schicksalsgenossen aus dem Gefängnisse zu Hubertusburg, seine Zukunft der Schriftstellerei anzuvertrauen. Nach mehrjährigen Studienreisen in Deutschland und im Auslande ließ sich Wartenburg 1858 dauernd in Gera nieder, wo er eine erfolgreiche Thätigkeit sowohl auf dem Gebiete der Publizistik als auf dem des Romans und des Dramas entwickelte.

Seinen Verdiensten als politischer Schriftsteller hatte es Wartenburg zu verdanken, daß ihn das Vertrauen seiner Mitbürger mehrfach zu öffentlicher Wirksamkeit berief; er wurde 1871 in den Landtag seiner engeren Heimath gewählt und gehörte der Körperschaft der Stadtverordneten von Gera, oft als Vorsitzender, über ein Vierteljahrhundert lang an. Von seinen Dramen haben sich insbesondere „Die Schauspieler des Kaisers“ den Weg auf viele deutsche Bühnen gebahnt und fremde Litteraturen haben sich das Stück durch Uebersetzungen angeeignet. Höher aber als diese Triumphe auf dem Gebiete der Litteratur haben wir die sittliche Größe des Mannes zu achten. Als Vorbild reiner standhafter Gesinnung, als ein Mann, der stets das Gute einzig um des Guten selbst willen gethan hat, als ein Mann, der sich selbst, auch in den schwersten Zeiten, die Treue gehalten, als ein Mensch von reinster Herzensgüte wird er noch lange unvergessen bleiben. H. Meißner.

Die „Schneeball-“ oder „Lawinenkollekten“. Gegenwärtig sind in zahlreichen Städten des deutschen Vaterlandes zu den verschiedensten Zwecken sogenannte „Schneeball-“ oder „Lawinenkollekten“ in Uebung, welche in der Weise veranstaltet werden, daß der Urheber der Kollekte A z. B. an 4 gute Freunde B schreibt mit der Aufforderung, sich brieflich wiederum mit 4 Freunden C in Verbindung zu setzen etc., worauf dann, sobald die Briefe bei Z angelangt sind, letztere einen bestimmten Beitrag, sagen wir 30 Pfennig für den Kopf, an den entsprechenden Y abzuliefern haben, die Y an die entsprechenden X und so fort, bis schließlich die 4 B die ganze Summe an A abgeben.

Diese Art der Weiterverbreitung erscheint zwar im ersten Augenblick recht zweckmäßig, indessen stößt ihre folgerichtige Durchführung sehr bald auf unüberwindliche Hindernisse. Einmal nämlich ist auf der ganzen Erde nicht so viel Geld vorhanden, als auf diese Weise flüssig gemacht werden müßte, vor allem aber würde selbst die Zahl sämmtlicher Erdenbürger auch nicht im entferntesten an diejenige Summe heranreichen, welche zur vollständigen Ausführung einer solchen Sammlung erforderlich wäre. Dies ergiebt sich nach einfacher Berechnung:

A schreibt 4 Briefe an 4 B,
4 B schreiben je 4 Briefe an 16 C,
16 C    64 D,
64 D    256 E etc.

Schon zur Deckung der K reicht die Einwohnerschaft von Leipzig nicht aus, denn es soll an 262 144 K geschrieben werden, die Zahl der M ist in Berlin nicht aufzutreiben, und allein für den Bedarf der R (4 294 967 296) müßten die unglücklichen Briefschreiber Q sich nach dem Monde wenden. Das Endergebniß dieser Rechnung liefert ganz ungeheuerliche Zahlen, denn es müßten allein über 281 Billionen Z oder – um mich einer seit 1871 geläufigen Bezeichnung zu bedienen – 281 474 Milliarden Z 30 Pfennig zahlen. Hätte der Erfinder der Kollekte A allen Betheiligten das Briefschreiben ersparen und alle Anforderungen gedruckt absenden wollen, so würde er sich selbst von der Undurchführbarkeit seiner Idee haben überzeugen können. Denn rechnet man als Gewicht eines gedruckten Briefes nur ein Gramm, so würden über 7505 Millionen Centner Papier verbraucht werden müssen, und wenn unter einer Million Empfänger immer nur ein einziger die Post zur Weiterversendung in Anspruch nehmen sollte, so würden allein für Dreipfennigmarken über 11¼ Millionen Mark zu verausgaben sein, gewiß eine Summe, die selbst in unserem Reichshaushalt sehr bemerkbar wäre.

Würde man den Erlös der Kollekte in Gestalt unserer werthvollsten Münze, in Zwanzigmarkstücken, vor sich sehen und ließe sich daraus in der Weise eine lange Kette herstellen, daß man ganz genau den Rand eines Goldstücks an den des nächsten anfügte, so würde diese Kette, da jede Doppelkrone 22 Millimeter im Durchmesser mißt, eine so gewaltige Ausdehnung erhalten, daß man sie 3096 Mal um den Erdball von Pol zu Pol schlingen könnte, und die dadurch entstehenden Goldringe würden wiederum eine Straße von 68 Metern Breite bedecken. So könnten wir noch weitere Zahlen liefern, indessen mögen die angeführten unseren Lesern genügen. F. Berg.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Paul W. in Nürnberg. Wir danken Ihnen bestens und beeilen uns, Ihrer Anregung Folge zu geben, um so mehr, als auch in Berlin kürzlich von behördlicher Seite mit einer ähnlichen Warnung vorgegangen worden ist. Es war auch dort wiederholt vorgekommen, daß Marmordenkmäler, welche der städtischen Aufsicht und Wartung unterstanden, durch den an der Luft rostenden Draht von in bester Absicht dargebrachten Kränzen beschädigt wurden. Trat nämlich Regen oder Schneefall ein, so löste sich der Rost auf und brachte dem Marmor Flecken bei, die gar nicht oder nur schwer zu vertilgen waren, da der Hauptbestandtheil des Rostes, Eisenoxydul, mit dem Kalk des Marmors chemische Verbindungen eingegangen war. Die städtische Verwaltung von Berlin hat daher angeordnet, daß unmittelbar auf dem Marmor keine Kränze mehr angebracht werden dürfen. Wir wünschten, daß diese Verordnung in den weitesten Kreisen Beachtung fände.

P. J. Th. in Bergneustadt. Freiligraths Gedicht „Die Auswanderer“ ist gedichtet im Sommer 1832 und zuerst in „Gunloda, Westfälisches Taschenbuch für 1833“ erschienen. Freiligrath stand damals als Kommis in den Diensten des Wechselgeschäfts und Großhandlungshauses von Jakob Sigrist in Amsterdam und hatte wohl an diesem bedeutenden Seeplatze vielfach Gelegenheit, ähnliche Scenen wie die im genannten Gedichte geschilderten zu beobachten. Ein ganz bestimmter einzelner Vorfall, der dem Dichter Anregung zu seinen schönen Versen gegeben hätte, läßt sich nicht mehr nachweisen.

E. Z. in Königsberg. Wir können nur wiederholen, was wir schon oft betont haben, daß wir keinerlei brieflichen Rath in medizinischen Fragen ertheilen. Wenden Sie sich an einen praktischen Arzt.

G. K. in Breslau. Ein bestimmtes Minimalvermögen als Bedingung der Beförderung zum Reserveoffizier ist nicht vorgeschrieben. Die Heerordnung schreibt nur eine „gesicherte bürgerliche Existenz“ vor, die gar nicht nothwendig in eigenem Vermögen zu bestehen braucht, sondern ebenso wohl auf einem auskömmlichen festen Gehalt beruhen kann.

F. F., Poststempel Firenze. Verehrtester, es scheint uns, daß Sie mit Ihrem Latein am Ende sind! Der Ausdruck „eine Anzahl von terminis technicis“ ist vollkommen richtig. Oder wollten Sie vielleicht „eine Anzahl terminorum technicorum“ vorschlagen?

H. B. in H. Nicht übel! Noch etwas mehr Glätte der Form und etwas mehr Klarheit in den Bildern, und Sie werden es noch zu ganz hübschen Leistungen bringen. Wir sind leider mit Frühlingsgedichten so überhäuft, daß wir in absehbarer Zeit keine Verwendung für weitere haben.

N. N. in K. Ob das fragliche Kindermehl für Ihr Kind gut ist, kann allein Ihr Hausarzt entscheiden.

H. M. in Donaueschingen. Ein Roman unter dem Titel „Wetterwolken“ ist in der „Gartenlaube“ nicht erschienen.

Charlotte G. in Bremen. Besten Dank für Ihren freundlichen Brief! Der kleine Artikel „Heimathstätte für Heimathlose“ in Nr. 6 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ hat vielseitiges Interesse gefunden, und diejenigen, deren Theilnahme der schlichte Denkstein Carmen Sylvas mit der Inschrift des Hofpredigers Dr. Kögel geweckt hat, möchten auch die Strophe freundlich aufnehmen, welche Sie in Ihrem Briefe der Inschrift hinzufügen. Sie lautet:

„Die meerumbraust zum letzten Schlaf
Hier Liebe hat geborgen,
Wie schwer sie auch das Schicksal traf:
Auch ihrer harrt ein Morgen!
Hiernieden paart sich Freud mit Leid,
Ohn’ Dorn ist keine Rose:
Hier spendet Ruh in Ewigkeit
Heimath für Heimathlose.“



Für unsere Knaben und Mädchen empfohlen:
Deutsche Jugend.
Herausgegeben von Julius Lohmeyer.
Inhalt des eben erschienenen 8. Heftes (Preis 40 Pf.):

Die Johannisnacht. Erzähl. von Julie Ludwig. Mit Zeichn. von Alexander Zick. – Die Zunge. Von O. Sutermeister. – Andreas Hofer und sein Land Tirol. Ein Lebens- und Volks-Charakterbild von Bernhardine Schulze-Smidt. Mit Illustr. von Defregger, R. Püttner und A. v. Rößler. – Des Königs Vorbild. Eine morgenländ. Parabel von Otto Sutermeister. – Verschiedene Beförderungsmittel. Von Marinepfarrer Heims. Mit Illustr. von C. W. Allers. – Das Nestchen mit bronzierten Eiern. – Knackmandeln, Räthsel etc.


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 357. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. Volks- und Familienleben der Kirgisen. S. 360. – Auf blühender Au’. Illustration. S. 361. – Das Hutten-Sickingen-Denkmal auf der Ebernburg. S. 365. Mit Abbildungen S. 357 und 365. – Ein deutscher Liebesgott. Erzählung von Stefanie Keyser. S. 366. – Blätter und Blüthen: Der Auerochse. Von Eugen Friese. S. 371. Mit Abbildung S. 369. – Karl Wartenburg †. Von H. Meißner. S. 372. – Die „Schneeball-“ oder „Lawinenkollekten“. Von F. Berg. S. 372. – Kleiner Briefkasten. S. 372.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.