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Die Gartenlaube (1889)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[341]

No. 21.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Liebes Kind,“ begann Alfred nach einer Pause herzlich zu Germaine, „wir kommen auf das Thema über Ihre Zukunft zurück. Ich verspreche Ihnen, darüber nachzudenken und Ihnen morgen zu sagen, was wir anfangen könnten, Ihnen die Beschäftigung und den Verdienst zu verschaffen, nach welchen Sie sich so sehnen. Wir werden morgen den ganzen Tag zusammen sein. Langjährige Bekannte von mir, Assessor Ravenswann und Frau, sind angekommen, wir haben eine Tagestour nach Gernsbach verabredet, und ich werde Sie den Herrschaften vorstellen; Frau Ravenswann ist schon davon verständigt. Vielleicht auch, daß diese Dame Ihnen einen Rathschlag geben kann, obschon ich, falls Sie sie um einen solchen bitten, Ihnen sagen muß, daß Sie nur von Ihrem Wunsch nach Beschäftigung, nicht von der Nothwendigkeit zu erwerben sprechen dürfen.“

„Das sieht Ihnen nicht ähnlich,“ sagte Germaine lebhaft, „meinen Mangel an Besitzthümern als eine Sache, die man schamhaft verschweigt, anzusehen.“

„Mir nicht, nein,“ antwortete er, „aber es ist einmal so: man ist einem bemittelten Menschen lieber förderlich als einem bedürftigen.“

„Werde ich Berührungspunkte mit den Herrschaften haben? Werde ich ihnen auch gefallen?“ fragte sie nachdenklich.

„Das ist ziemlich gleichgültig. Es braucht auf diesem einen Tag des Beisammenseins ja kein Verkehr zu erwachsen, wenn beide Theile sich nicht sympathisch sind. Ich sah aber nur auf diese Weise die Möglichkeit, Sie einmal in die herrliche Gegend hinauszuführen.“

„Wie gut Sie sind zu mir! Und das alles nur aus Pietät für den Wunsch eines Verstorbenen! Wenn Ihnen dieser Wunsch so wichtig ist, daß Sie ihn so liebevoll erfüllen, begreife ich nicht, daß Ihnen die hinterlassenen Briefe so unwichtig sind. Sie haben noch immer nicht darin gelesen,“ sagte sie fast vorwurfsvoll.

„Sie doch auch nicht!“

„O – es sind Briefe von Ihrem Vater,“ sagte sie abwehrend.

„Aber an Ihre Mutter gerichtet! Lassen wir sie einstweilen noch ruhen. Es findet sich ein Tag, wo wir sie lesen – aber dazu muß man gestimmt sein, heute bin ich es nicht.“

Er stand auf.

„Sie wollen fort?“

„Ja – heute duldet es mich selbst hier nicht. Ich habe viel zu denken und brauche Einsamkeit,“ sprach er, mit zerstreutem Blick zur Allee hinübersehend. „Also morgen früh um zehn Uhr sind Sie am Viktoriahotel. Wir fahren zwar fast an Ihnen vorbei, aber ich finde es, anstatt eines Besuches, den Sie nicht machen sollen, doch so höflicher, wenn Sie am Hotel sind.“

„Gewiß, und ich werde mich von Lene dahin begleiten lassen.“

Er hörte nicht. Er stand und starrte nach der Allee hinüber.


Eine Fürstin unter den Palmen. (Bismarckia nobilis).
1. „Baum der Reisenden“. 2. Ausgewachsene, 3. junge „Bismarckia nobilis“. 4. Schraubenbaum.

[342] War da nicht ein Wagen gefahren, in welchem eine blasse Frau und ein zarter Knabe saßen?

Die Entfernung war zu weit, genau erkennen konnte man niemand.

Alfred starrte dem Wagen nach, der in der Richtung nach Lichtenthal fuhr.

„Adieu!“ sagte er, „adieu!“

Er ging mit hastigen Schritten davon, und doch blieb er draußen auf der Straße stehen, es war ihm plötzlich bleischwer in die Füße gefallen. Wenn er nun um die Ecke bog, über die Brücke in die Allee ging – und der Wagen, in dem „sie“ saß, kehrte gerade zurück? Fast tappend ging er weiter, nicht das schattige Jenseitufer suchend, sondern auf der sonnigen, staubigen Straße vorwärts strebend.

Wenn ein Wagen hinter ihm rollte und ihn einholte, schrak er zusammen und hatte das Gefühl, sich an der Mauer neben sich halten zu müssen. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.

Allmählich beflügelte sich sein Schritt und ward fast zum Lauf. Nur heim, nur in die Sicherheit seiner vier Wände – nur der Möglichkeit entrinnen, ihr zu begegnen!

Sein Herz schlug in so beschleunigtem Takt, daß noch Stunden vergingen, ehe er sich faßte. Jede Bestrebung, durch Arbeit oder Lesen sich zu betäuben, war umsonst. Immer wieder sah er plötzlich den fernrollenden Wagen vor sich und das Phantom zweier blassen Gesichter, und immer begann der kaum geebnete Herzschlag von neuem rasend zu jagen. Die Enge des Zimmers bedrückte ihn.

Er suchte die Straße, die er vorhin geflohen hatte. Die unreine Luft des Sommertages zwischen Stadtmauern drückte ihn unerträglich. Er nahm einen Wagen und ließ sich zur Schloßruine hinauffahren.

Die lange Abenddämmerung hatte schon begonnen. Er liebte die satte Ruhe, die mit dem langsam hinsterbenden Tageslicht sich über die sommermüde Natur breitet. Er empfand dann mit vorahnender Wehmuth, daß nach all den gluthvollen Empfindungen des Lebenssommers auch für den Menschen eine Stunde kommen mag, wo der Abendfriede in die Seele einzieht.

Unter den Schatten des Waldes wandelte sich die Dämmerung fast schon in Nacht. Nur wenn die in großen Schlangenwindungen sich den Berg hinaufziehende Fahrstraße Stellen durchschnitt, wo der niedere Waldbestand abgeholzt war, sah man vereinzelte Riesentannen sich haarscharf und schwarz von dem lichtgrauen Himmel abheben.

Oben, in der Restauration, die sich an und zwischen die gigantischen Burgtrümmer geklemmt hat, war viel und lustige Gesellschaft. Man erwartete Mondschein, und die vergnügten Menschen brachten ihre Zeit bis dahin mit Essen und Trinken zu.

Auch Alfred versuchte zu Abend zu speisen, aber die laute Nachbarschaft an den Tischen rechts und links verdarb ihm den Appetit. Uebermuth, an dem man selbst nicht theilnimmt, erscheint einem abgeschmackt und kindisch.

Es war nun völlig dunkel geworden. Alfred zahlte seine Zeche und ging in die Schloßruine hinauf. Die dunklen, schmalen Treppen, die da zwischen rothgrauen Mauerkolossen von Stockwerk zu Stockwerk, von Galerie zu Galerie steil emporführen, waren ihm wohlbekannt. Er tastete sich vorwärts und aufwärts. Da und dort sah der besternte Abendhimmel durch die leeren Fensterbogen und gab ein unsicheres Licht.

Endlich war er auf der obersten Galerie. Die Bäume aus dem Burghof und dem einstigen Festsaal ragten mit dunkeln Wipfeln aus der inneren Tiefe kaum bis hierher. Ein wild ausgezackter Mauerrand, der an einigen Stellen noch so hoch war, daß die Fensterbogen in ihm unverfallen ihre edlen Linien zeigten, umschrankte schützend die Höhe.

Alfred lehnte sich an den Rand und sah in die sich erhellende Nacht hinaus. Seitwärts von ihm ragte massig der andere Theil der Ruine, welchen der viereckige Wachtthurm krönte, von dem tags die roth-gelbe Fahne wehte, die Fahne, an welcher der süße geliebte Knabe sich erfreut. O, daß ihn alles, alles daran mahnen mußte!

Tief im Thal, in das man über die sich niedersenkenden Waldesbreiten hinweg sah, blinkten die Lichter von Baden auf. Ein weißlicher Dunst lag da unten und nahm jetzt gespenstischen Silberglanz an. Der Mond war hinter der Wolkenbank am Horizont emporgekommen. Sein blinkendes Halbrund schien blitzschnell am Himmel hinzufliegen, weil unter ihm silberweiß umsäumtes Gewölk vor dem Winde jagte. Schwarz und groß erhoben sich die zerrissenen Mauertrümmer vor dem Glanz, der in ungebrochener Fülle durch die hohlen Fenster kam und schneebleich auf dem Estrich lag. Ein summender klagender Ton schwoll zuweilen an und verklang. Die Aeolsharfen erzitterten im Winde.

Die schöne Größe dieser Nachtstunde überwältigte den einsamen Mann. Er legte sein Gesicht in die Hand. Ihm war, als müsse er weinen und mit den Thränen die Todeskälte erweichen, die ihm im bangen Herzen saß.

Wenn er hier in diesem schönheitsgesegneten Augenblick mit ihr stände! Wie würden sie es zusammen genießen! Ob sie wußte, wie er litt?

Sein Auge suchte die ihm wohlbekannte Stelle, wo sein Haus, jetzt das ihre, sich an den Waldessaum lehnte. Da – gerade gegenüber – da war’s – jenes Licht, das ruhevoll von der jenseitigen Bergeswand blinkte – es brannte auf der Veranda und leuchtete ihr in das bleiche, geliebte, gehaßte Gesicht.

Sein Herz schlug wieder bis zur Unerträglichkeit.

Plötzlich dachte er an Germaine und wie auch sie allein beim Lichtschein saß. Wer wußte, ob nicht gerade in diesem Augenblick beide Frauen seiner dachten? Er wurde ganz ruhig, die Sorgegedanken, was aus dem Mädchen werden sollte, beschäftigten ihn ablenkend. Er wußte, daß es vielleicht unmöglich sei, eine für sie passende Stellung zu finden, da es ihr an einer bestimmten Berufskenntniß fehlte. Und da sie auf einen glücklichen Zufall nicht warten wollte, was sollte werden?

Das Licht drüben zog ihn wieder an. Ja, wenn er nicht für ewig und in unauslöschlichem Zorn von Gerda geschieden wäre – bei ihr hätte Germaine Pflichten und eine Heimath finden können.

Germaine war so recht geschaffen, wie ein Geist des Friedens in einem Hause zu walten. Sanft, freundlich, immer gleichmäßig – ihr ganzes Wesen eine Wohlthat. Am besten wäre es für ihn und sie, wenn sie zusammenbleiben könnten. Aber das ging nicht, außer sie wurden Mann und Weib. –

Das Licht da drüben – dies unerträgliche Licht! – Er wandte sich ab und ging zurück, um in das Waldthal hinter der Burg hinabzusehen.

Und warum nicht heirathen, wenn Germaine mit herzlichem Vertrauen und brüderlicher Gesinnung zufrieden war? Die Frage stand ihm frei. Wie alles zwischen ihnen lag, konnte ihr „Nein“ ihre Freundschaft nicht stören und sie somit nichts verlieren.

Eins fühlte er ganz klar – es mußte ein Ende gemacht werden.

Wieder zog es ihn gewaltsam, nach jener Stelle zu gehen, wo er das Licht sehen konnte. Lange starrte er hinüber.

„Einen Abgrund muß ich schaffen zwischen Dir und mir,“ dachte er, „über den keine Sehnsucht und keine Reue den Weg mehr findet.“

Stimmen und Gelächter schollen jetzt störend in seine mondscheinumflossene Einsamkeit. Er verließ schnell die Galerie und stieg abwärts, den Heimweg antretend.

Wie zwischen schwarzen Mauern ging der Fußweg durch den Wald bergab. Durch die ragenden Wipfel fanden silberne Strahlenbündel oft unterbrochene Wege, den Pfad und das Buschwerk mit Lichtflecken ungleich zu besäen.

Die nächtige Waldesruhe wirkte wundervoll auf den stillen Wanderer. Ihm schien es jetzt, als sei der Entschluß, Germaine zu seinem Weibe zu machen, nicht auch dem aufquellenden Zorn und Trotz, als sei er einzig dem tiefen Friedebedürfniß seines Herzens entsprungen. In diesem Entschluß fühlte er sich gesunden, fühlte er sich männlicher. Ihm war Ziel und Zweck in das Leben gekommen. Und seit damals – seit er von ihr geschieden, war seine Seele heimathlos in der Irre gegangen.




8.

Die sechssitzige Break, in welcher man die Tour nach Gernsbach machen wollte, stand schon über zwanzig Minuten wartend vor dem Hotel. Alfred war in das Haus gegangen und Germaine wanderte langsamen Schrittes auf dem Bürgersteig vor dem Hotel hin und her, ihre alte Dienerin neben sich, die mit ihrem weißen Haar und sauberen Anzug einen würdigen Eindruck machte. Die Alte trug den Mantel ihres Fräuleins, sie war so vergnügt, als sollte sie selber eine Lustfahrt machen.

[343] Endlich erschien Alfred wieder, von dem Ehepaar Ravenswann begleitet. Er stellte die Damen einander vor und freute sich über die sichere Haltung Germaines.

„Verzeihen Sie nur, daß wir so s-pät herunterkommen, aber Jettchen – ich meine unsere Freundin Frau Doktor Schneider – ist nie zur rechten Zeit fertig,“ sagte Marie, abwechselnd die alte, bescheiden abseits stehende Frau und das junge Mädchen ansehend. Beide schienen ihr zu gefallen, denn ihre Miene und ihr Ton waren weniger steif als sonst Fremden gegenüber.

Ravenswann begrüßte das Fräulein mit schweigsamer Höflichkeit. Ihm waren Fremde, und besonders fremde Damen, ganz egal, er fing erst an, die Leute zu beachten, wenn sie in den Kreis seiner Interessen traten; zu den ihrigen bemühte er seine Gedanken nie.

Als Frau Doktor Schneider dann erschien, strahlte sie aber auch im Glanz eines himmelblauen Sommerkleides, dessen gehäkelte Spitzenverzierung sie selbst gefertigt hatte. Und ihren blonden Locken, die unter einem kleinen weißen Strohhut hervorquollen, sah man es an, daß jede einzeln soeben um ein Lockenholz gewickelt worden war, denn sie lagen wie Röhren übereinander. Das vorstrebende Gesicht der „jungen“ Frau wandte sich mit verbindlichem und neugierigem Lächeln Germainen zu. Auf Herrn Doktor Schneiders Stirn lag noch die Wolke eheherrlichen Zornes über die sich zu lange putzende Frau.

Man stritt hin und her, ob die Damen alle drei auf der einen, die Herren auf der andern Seite sitzen sollten. Frau Marie setzte es durch, daß sie und Germaine mit Alfred zwischen sich die eine Seite einnahmen. Germaine nickte ihrer Alten noch freundlich zu, und dann ging es fort.

Dieser Zwang, seitwärts fahrend mit fünf anderen Menschen in demselben Gefährt zu sitzen, war für Alfred entsetzlich. Obenein sprachen alle durcheinander, wobei sich jedes bemühte, das Räderrollen zu übertönen. Schneider hatte den Kaffee im Hotel sehr gut, Ravenswann ihn sehr schlecht gefunden, denn er fand grundsätzlich außerhalb seines eigenen Hauses alles sehr schlecht. Dann sprach man über die vermuthlichen Preise der Zimmer, erinnerte sich verschiedener Rechnungen anderer Gasthöfe bei anderen Reisen, erzählte Alfred, wo und was man gestern abend gegessen, und fragte, wo er abends zu speisen pflege.

„Aber sehen Sie doch die ‚Fischkultur‘,“ sagte Alfred, auf das reizende, tief im Waldthal traulich eingebettete Haus zeigend, das man eben rechts liegen ließ.

„Wirklich entzückend! Dort werden Forellen gezüchtet? Ich habe gestern abend welche gegessen, aber ich muß sagen, ein Seefisch ist mir lieber, und dann 2 Mark 50 die Portion – wenn ich eine S-peise so theuer bezahlen soll, von der ich nicht einmal satt werde, das macht keinen S-paß mehr.“

Der Weg wand sich durch den Hochwald empor. Saftige Wiesenthäler blinkten zwischen Waldlücken auf. Ein heiterer Himmel blaute und die Straße zeigte in seinem Glanz ihre erhabenen, frommstimmenden Schönheiten.

Das Gespräch im Wagen verstummte doch allmählich. Selbst die verschlossensten Herzen mußten sich dem Zauber der Gegend erschließen.

Nur Marie Ravenswann, die sonst von den vier Reisegenossen noch am meisten Sinn für Natur hatte, beachtete weder Wald noch Thal. In ihrem Kopf brütete sie allerlei Pläne aus. Sie gehörte zu den Frauen, die keinen jungen Mann und kein junges Mädchen nebeneinander sehen können, ohne sogleich die Möglichkeit einer Heirath zwischen beiden zu erwägen. Germaine, die noch keine zehnmal und nur ganz konventionelle Dinge gesprochen hatte, gefiel ihr ungemein. Wahrscheinlich gerade, weil sie weder Geist noch Lebhaftigkeit gezeigt und somit weder Frau Mariens Urtheil noch Widerspruchsgeist herausgefordert hatte; auch bekam Frau Marie nicht das Unbehagen, welches schwerfällig Denkende immer den Leichtbeweglichen gegenüber befällt. Aber natürlich war ihr dies alles nicht bewußt.

Ferner hatte sie wohl bemerkt, daß der Verkehr zwischen Alfred und dem schönen Mädchen freundlich, aber ganz unbefangen ruhig war. Sie hatte scharf aufgepaßt, und es wäre ihr wohl das leiseste verdächtige Wimpernzucken nicht entgangen. Hätte sie Liebe zwischen beiden gewittert, würde es sie feindselig gestimmt haben. Bei ihrer großen Theilnahme für Alfreds Gefährlichkeit und Erziehungsbedürftigkeit fand sie eine Heirath für ihn segenverheißend. Eine ruhige vernünftige Heirath, unter dem rathenden Beistand einer erfahrenen Frau.

Dies stille, bescheidene Mädchen schien ihr wie für ihn geschaffen. Daß es eine Waise war, däuchte ihr nur vortheilhaft. Sie – Marie – würde gern den jungen Hausstand einrichten helfen und Germaine, die gewiß nichts von der Küche verstand, auch zulehren.

Als der Wagen rasselnd durch die langgestreckte Ortschaft fuhr, schreckte Marie aus ihrem Sinnen auf, mit dem fertigen Entschluß, diese Heirath zustande zu bringen, wenn es irgend anginge.

Das Ziel der Fahrt, das Pfeiffersche Badhotel, lag am Ende des Ortes, am Fuß des niedersteigenden Waldes, zwischen diesen und die rauschende Murg eingeklemmt.

Ravenswann und Schneider, die sich im Stillen gefürchtet hatten, ein Dorfwirthshaus zu finden, waren angenehm enttäuscht, zu hören, daß sie in dem großen und vorzüglich geführten Hotel um ein Uhr an einer Table d’hote speisen konnten.

Aber bis dahin war noch eine Stunde. Alfred führte die Herrschaften in den tieferliegenden Garten. Dort, am Ufer, gab es unter ragenden Bäumen genug kühlschattige Stellen.

„Ein idealer Platz,“ sagte Schneider, auf eine herrliche Tanne deutend, unter deren dachartig ausgebreitetem Gezweig ein Tisch und vier Stühle standen, „ideal für eine Skatpartie.“

„Ach ja,“ rief seine Frau, „laßt uns bis Mittag spielen!“

Ravenswann war kein so eifriger Spieler, denn er hörte sich zuweilen gern sprechen, aber er erklärte sich bereit, wenn man hier Karten fände. Schneider hatte die für die Reise mitgenommenen in der Brusttasche seines Rockes. Zwischen den Frauen entspann sich ein Streit der Selbstlosigkeit. Jede wollte der anderen das Vergnügen gönnen. Doch blieb Marie Siegerin; nachdem sie ihrer Freundin zugeflüstert, daß sie doch ab und zu ein Auge auf Germaine und Alfred haben müsse, nahm Frau Schneider gern das Opfer an.

„Ich gucke zu, wenn Ihr s-pielt,“ sagte Marie, „das ist auch sehr unterhaltend.“

Alfred wandelte mit Germaine am Rasensaume des Ufers entlang. Drüben hügelte sich das Land bis zu blauen Waldfernen empor. Die breite Murg kam mit einer plötzlichen Wendung um den bewaldeten Berg, dessen Gipfel das Ebersteinschloß krönte, und sprudelte krystallklar, schaumige Wellchen vorwärts wirbelnd, dahin. Das eintönige, unendliche Geräusch des brausenden Wassers, das gerade hier noch über ein das flache Flußbett schräg durchschneidendes Wehr fiel, tönte durch die Luft wie ein heiteres Lied.

Die Sonne zauberte braungoldige Lichtreflexe auf die bewegliche Fluth. Die schwanken Erlen am Ufer neigten ihr Gezweig hinein, das schnelle Wasser streifte die zarten grünbelaubten Reiser alle in der Richtung stromabwärts, wie der Wind das Laub nach einer Seite streicht.

Germaine seufzte tief auf. Er verstand, was das Seufzen sagen wollte.

„Ja,“ sprach er, „hier ist die Welt himmlisch friedlich und himmlisch heiter. Kein Laut des treibenden Lebens dringt hierher. Es erscheint wie ein Märchen, daß dies Asyl so dicht neben der lärmvollen großen Straße liegt. Eine Stunde von hier – und wir sind wieder auf dem breiten Weg, auf dem die Menschen von Norden nach Süden aneinander vorbeijagen. Sagen Sie es mir hier noch einmal, ob Sie wirklich den Muth haben wollen, aus der Stille Ihres Frauendaseins, das schön und lieblich sein sollte wie diese Landschaft, hinauszutreten in die Welt des Erwerbes, die schmutzig, ruhelos, unbehaglich, fremd ist wie die große Reisestraße, die unfern an diesen Thälern vorbeizieht.“

„Da ich den Muth haben muß,“ sagte sie ruhig, „werde ich ihn finden, wenn ich ihn brauche.“

„Haben Sie an keine, gar keine andere Lösung der Frage gedacht, die uns beschäftigt?“ fragte er und sah sie ernst an.

Auf ihrem Angesicht zeigte sich ein feines Roth. Sie zögerte einige Sekunden. Dann sah sie ihn gerade an, freimüthig und ehrlich.

„Meine Mutter,“ sagte sie, „legte ein zu großes Gewicht auf die Begegnung zwischen uns beiden, sie zeigte eine zu fieberhafte Spannung auf den Augenblick, wo wir uns sehen sollten, als daß ich mir nicht hätte Gedanken darüber machen müssen. Ja, müssen! Es giebt nur eine Erklärung, scheint mir, die, daß unsere Eltern eine Verbindung zwischen uns wünschten. Aber von der Stunde an, wo wir zum erstenmal miteinander sprachen, habe ich begriffen,

[344]

Tullia fährt über die Leiche ihres Vaters hinweg.
Nach einem Gemälde von E. Hildebrand.
Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.

[345] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [346] daß der Wunsch der Todten die Herzen der Lebenden nicht lenken konnte.“

Sollte das heißen, daß sie gefühlt, er habe damals nicht mit freiem Herzen vor ihr gestanden? Daß sie ahne, er liebe sie auch heute noch nicht? Oder, daß sie selbst keine Liebe für ihn zu empfinden vermöge?

Auf den Grund ihres allezeit beherrschten Wesens zu sehen, war so schwer.

Er dachte nach und fand nicht klar heraus, was sie gemeint haben konnte.

„Auch ich,“ begann er, „habe geglaubt, aus den Zeilen Ihrer Mutter an mich diesen Wunsch zu lesen. Sollte es denn ganz unmöglich sein, ihn zu erfüllen? Glauben Sie, daß die liebevolle Achtung, die wir voreinander haben, das innige Vertrauen, nicht bessere Fundamente für eine Ehe bilden als eine heiße Leidenschaft? Germaine, ich habe gestern abend in langen und ernsten Erwägungen den Entschluß gefaßt, Sie um Ihre Hand zu bitten und die Versicherung hinzuzufügen, daß, wie auch Ihre Antwort sei, ich Ihr Freund bleibe.“

„Das heißt – Sie sind auf das ‚Nein‘, das ich sprechen muß, vorbereitet gewesen,“ antwortete sie mit wehmüthigem Lächeln. „Ich würde ein großes Unrecht an Ihnen, vielleicht auch an mir selbst begehen, wenn ich mich aus Mitleid mit meiner Lage und nur aus Pietät gegen zwei Abgeschiedene heirathen ließe. In Ihren Jahren bindet man sich nicht ohne Illusion. Zu einer Vernunftehe ist noch Zeit, wenn Ihr Herz sich mehr nach Ruhe als nach Glück sehnt.“

„Und wenn diese Zeit schon für mich da wäre? O Germaine, welche seltsame Werbung!“ rief er und ergriff ihre Hand. „Ich will Ihnen etwas gestehen; aber zuvor sagen Sie mir: giebt es in Ihrem Herzen einen Grund, der Ihnen dies ‚Nein‘ diktiert?“

Sie sah, wie blaß und erregt er war. Sie fühlte auch, daß vollkommene, schmucklose Offenheit ihre Pflicht sei.

„In meinem Herzen? Nein! Ich liebe niemand und niemand hat sich mir bis jetzt genähert mit der bemerkbaren Absicht, mein Herz und meine Hand zu erobern. Ich hatte keine Zeit, Männer kennen zu lernen oder von ihnen kennen gelernt zu werden. Die Krankheit meiner Mutter und unsere Armut waren stets eine Schranke zwischen der Welt und mir. Dies ist mein erster Heirathsantrag. Und nicht die Liebe, sondern die Vernunft richtet ihn an mich. Ich könnte ‚ja‘ sagen – gewiß, ich könnte es, obgleich ich glaube, daß die herzlichen Gefühle, welche ich für Sie hege, schwesterliche Neigung, aber keine Liebe sind. Ich fühle, daß ich Ihnen etwas sein könnte. eine Gefährtin, welche Sie versteht und Ihnen das Leben so einrichten kann, wie es Ihrem unruhigen Seelenleben am wohlthuendsten wäre. Wundern Sie sich nicht, daß ich so überlegt von diesen Dingen spreche – meine Mutter hat die Frage von glücklicher und unglücklicher Ehe leider zu viel mit mir besprochen. – Auch meine wahrhaft hilflose Lage, die vielleicht bald eine verzweifelte werden kann, wenn ich keinen Verdienst finde, sollte mich bestimmen, ‚ja‘ zu sagen, denn Sie sprechen keine Liebeslügen und wollen keine hören. So verkaufe ich mich auch nicht, wenn ich mich Ihrer Fürsorge anvertraue. Und dennoch sage ich ‚nein‘, weil mein Dank, den ich Ihnen schulde, nicht der sein soll, Sie für immer an ein ungeliebtes Weib zu fesseln, dessen Sie sich aus Mitleid erbarmten.“

Ohne alle Leidenschaft hatte sie gesprochen, aber ihm däuchte es doch, als bebte ein schmerzlicher Ton durch ihre Worte. Vielleicht war ihr hartes und hoffnungsloses Schicksal ihr erst so recht klar geworden, während sie zu einem andern davon sprach. Vielleicht drängte sich ihr auch die Frage auf: wird mir je der Mann begegnen, dessen Werbung ich mit heißer Liebe annähme?

„Nun denn, Germaine,“ sagte Alfred und blieb stehen, weil sein Herz wieder so zu schlagen begann wie gestern, als er „sie“ zu sehen geglaubt, „nun denn, so hören Sie die Wahrheit! Nicht aus Mitleid bat ich: ‚Werden Sie meine Gattin;‘ nein, aus Selbstsucht – falls man es noch Selbstsucht nennen kann, wenn ein Ertrinkender sich an jemand klammert, der des Schwimmens kundig ist und mit dem er das sichere Ufer zu erringen hofft. Mein ganzes Inneres ist von einer Leidenschaft für eine Frau erfüllt – ich weiß nicht, ist es Liebe oder Haß. Wie eine Flamme lodert das in mir und verbrennt alle Kraft, alle Lebensfreude; mit ihrem glühenden Schein durchleuchtet sie jeden meiner Gedanken, nur noch in ihrem Lichte sehe ich alle Erscheinungen der wirklichen Welt. Und diese Frau, ich weiß es, sie ist von demselben Feuer verzehrt. Es gab eine Zeit, da glaubten wir uns bezwingen, meistern, umbilden zu können. Wir versuchten zusammenzugehen. Ueber ein Jahr lang haben wir so in Leidenschaft mit und von einander die Möglichkeit eines Zusammenlebens zu erkämpfen gesucht. Es war alles umsonst. Es war, als ständen wir an einem kleinen, kaum sichtbaren Felsenspalt – sie hüben, ich drüben. Wir neigten uns innig zu einander, aber dann quoll aus dem Abgrund ein vulkanisches Feuer auf und trennte uns mit Entsetzen. Und nun ist es aus für immer, und es ist und soll hoffnungslos sein, auch für immer. Aber ich könnte ohne sie nicht leben, wenn ein Engel voll Güte und Geduld, wenn Sie, Germaine, sich nicht meiner erbarmte. In Ihrer Nähe allein ist der Frieden.“

Sein Auge war feucht geworden. Er küßte die Hand des Mädchens.

Das Unglück hatte so wahr und so deutlich aus seinen Worten und seinen Zügen gesprochen, daß Germaine sich sehr ergriffen fühlte. Sie verstand, daß sie ihm wirklich nöthig war.

„So scheint es denn,“ sagte sie bewegt, „als wenn die Noth des Lebens uns zusammen führen wolle und uns aufeinander anweise. Ich brauche den Mann, der mich vor dem Kampf mit dem Dasein schützt, Sie brauchen das Weib, das Sie vor Verzweiflung rettet. Wahrlich, ein sonderbarer Bund! Aber hier ist meine Hand. Wir wollen hoffen, daß uns doch aus der Verbindung mehr erwächst als bloß ein zufriedenes Leben nebeneinander. Eins erleichtert mir meinen Entschlunß, die Wahrhaftigkeit, das Vertrauen und die herzliche Neigung, welche zwischen uns herrscht.“

Er ergriff in aufwallender Dankbarkeit ihre beiden Hände.

„Ich schwöre es Ihnen: soweit es in meiner Macht steht, sollen Sie diese Stunde nicht bereuen! Sie wissen, Germaine, ich kann Ihnen nur ein bescheidenes Loos bieten. Mein Einkommen, für einen Mann mehr als auskömmlich, wird einem Ehepaar nur ein mannigfach beschränktes Leben gestatten. Aber ich fühle, es ist meine Pflicht, für das Behagen unseres Herdes zu arbeiten. Mein neuer Lebensplan auch dazu ist fertig.“

„Was habt Ihr beide denn so furchtbar wichtig zu verhandeln?“ fragte Marie Ravenswann, die vom Kartentisch aus erst den Handkuß, dann den innigen Händedruck gesehen hatte und nun vor Neugier sich nicht einmal durch den grand ouvert halten ließ, den Schneider gerade spielte.

„Wir,“ sagte Alfred mit schnellem Entschluß, „wir sind eben übereingekommen, uns zu heirathen. Wir vertrauen dies Ihnen und zunächst nur Ihnen an.“

„O!“ rief Frau Marie erfreut, „ich habe unterwegs immerzu gedacht, daß Fräulein Thomas wie für Sie bestimmt wäre. Nein, wie mich das freut!“ Und sie umarmte Germaine.

„Es liegen außerordentliche Verhältnisse vor, die außerordentliche Lösung verlangen,“ fuhr Alfred fort, „Germaine ist vollkommen vereinsamt, ein Brautstand würde Unbequemlichkeiten für sie und mich schaffen, die mehr als lästig wären. Die schnellste Heirath ist das Richtigste.“

„Natürlich, natürlich,“ sagte Frau Marie eifrig, „das finde ich auch.“

„Es ist mein lebhafter Wunsch, Baden zu verlassen. Ich kann Germaine nur mitnehmen, wenn sie meine Frau ist. Deshalb, liebe Germaine, wie denken Sie über den Vorschlag? Ich bestelle morgen das Aufgebot, in drei Wochen lassen wir uns standesamtlich verbinden und reisen dann nach Berlin, wo die kirchliche Einsegnung stattfinden soll.“

„Gewiß,“ sagte Germaine freundlich, „so soll es sein.“

Frau Marie, welche diesen Verlauf der Sache abenteuerlich, überspannt, ja verdächtig gefunden haben würde, wenn sie ihn hinterher als Unbetheiligte erfahren hätte, fand ihn nun, als Vertraute, natürlich interessant und sehr rührend. Sie sagte, von ihrem Standpunkt aus in naiver Versicherung:

„Und wenn die Leute nachher darüber schlecht s–prechen wollen, Kinder, ich halte Euch die S–tange. Bloß das eine begreife ich nicht, weshalb hier nicht auch die kirchliche Trauung s–tattfinden soll. Ich hätte gern dem Fräulein den Brautkranz aufgesetzt, denn ich denke, wir sind in drei Wochen noch hier.“

Germaine küßte ihr dankbar die Hand und gewann sich durch diese Form, ihr ergebenes Gefühl zu zeigen, vollends das Herz Mariens.

[347] Alfred suchte nach irgend einem Grund zur Ablehnung. Er wußte keinen. Wie ein Traumgesicht ging fern vor seinem geistigen Auge ein bräutlich gekleidetes Weib durch Kirchenhallen. Aber das Weib war nicht blond und nicht so hochgewachsen wie Germaine – – ah, vorüber, vorüber!

„Ich habe einen theuren Freund,“ sagte er endlich, zu Germaine gewandt, „der wenigstens an dem weihevollen Nachspiel unserer rechtmäßigen Verbindung als Zeuge theilnehmen soll. Auf dem Standesamt werden Ravenswann und mein Notar mir gewiß diesen Dienst erweisen. Nicht wahr, meine gnädige Frau, Sie werden Ihren Gatten darum ersuchen, wenn die Zeit da ist? Sobald die Formalitäten erledigt sind, denke ich eine Reise anzutreten und erst am Tage unserer Verbindung zurückzukehren.“

„Das finde ich sehr passend.“ lobte Frau Mietze, „wir nehmen uns dann der kleinen Braut an. Der Freund, von dem Sie s–prechen, ist wohl S–teinweber? S–teinweber ist auch wirklich ein netter Mensch, er hat so was furchtbar Solides.“

„Ja, Marbod Steinweber ist mir der Bruder geworden, den die Natur mir versagt hat,“ sprach Alfred, innig von dem Wunsche bewegt, daß Marbod billigen möge, was er gethan.

„Marbod Steinweber?“ fragte Germaine. „Mir ist, als habe ich den Namen schon gehört.“

„Es ist der Schriftsteller. Sie werden von ihm gelesen haben,“ meinte Alfred.

„Doch nicht. Wäre es möglich, daß ich dem Herrn einmal in Schwalbach begegnet sein könnte? So viel ich mich erinnere, eine ernste Persönlichkeit mit dunklem Haar, energischen Zügen und denkendem Blick?“ fragte Germaine, in ihrem Gedächtniß suchend.

„Die Beschreibung s–timmt.“

„Aber er ist jahrelang im Ausland gewesen, was er in Schwalbach zu thun gehabt hätte, weiß ich nicht.“

In diesem Augenblicke erschallte die Tischglocke. Die Spieler beriethen eifrig über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Partie so zu beenden, und beschlossen, nach Tische noch einige Runden zu machen.

An der Tafel lernte Germaine den Mann, dem sie sich anverlobt hatte, von einer neuen Seite kennen. Zum erstenmal seit Wochen fand Alfred die Stimmung zu seinen Scherzen, Anekdoten, Neckereien. Wenn auch seine Zuhörer zu den Leuten zählten, die eine Pointe immer erst auf dem Wege des Nachdenkens einige Minuten hinterher verstanden oder sich untereinander gar erklärten, so wurde das Lachen an ihrer Tischecke doch recht lebhaft. Auch Germaine lachte mit. Alfred hatte sogar, wieder einige kleine Bosheiten, für Frau Mietze auf seiner scharfgeschliffenen Zunge, aber sie nahm heute nichts mehr übel und dachte sogar bei Bemerkungen, die sie nicht verstand – und die waren es, welche sie sonst am meisten übelnahm – „was sich liebt, das neckt sich.“

Aber bei dem allem war es Alfred, als hörte er noch ein anderes, wohlklingendes Lachen, das seinen übermüthigen Einfällen stets augenblicklich zu folgen pflegte. Und ihm war es, als hänge ein dunkles Auge, leuchtend in Fröhlichkeit, an seinen Lippen.

Und sein Uebermuth stieg und sein Lachen wurde lauter. Germaine aber fühlte, wie er sich an seiner eigenen Unterhaltungsgabe berauschte, und das Lachen auf seinen Lippen verbarg ihr nicht, woran sein Herz immer dachte.

(Fortsetzung folgt.)




Schillers Antrittsrede als Professor in Jena.

Der 26. Mai ist ein hoher Ehrentag für Jena und seine Universität; es ist der Tag, an dem vor hundert Jahren Friedrich Schiller in den Kreis ihrer Lehrer trat, der glänzendste Name unter all den Berühmtheiten, deren sich die glorreiche Hochschule vor andern erfreut. Aber auch für Schiller selbst und sein äußeres wie inneres Leben ist der Tag von Bedeutung.

Der Dichter der „Räuber“, dessen Poesie noch vor kurzem im „Don Carlos“ auf neuen Bahnen neue Bewunderung errungen hatte, war unter die Professoren gegangen! Viele seiner Verehrer wollten es nicht begreifen, sein bester Freund, der wackere Körner in Dresden, hatte Mühe, sich darein zu finden, und Schiller selbst konnte nur mit Wehmuth daran denken, daß er nun auf Jahre hinaus an Dinge gebunden sei, die von dem Lichtpunkt seiner Neigungen und Fähigkeiten so himmelweit entlegen seien. Aber er hatte seine guten Gründe zu dieser „heroischen Entsagung“. Einmal brauchte er auch für seine Dichtung gründlicheres Wissen, eine universellere Bildung: „ich gebe mehr aus, als ich empfange.“ Da schien sich die Geschichte zu empfehlen. Die Vorstudien zum „Don Carlos“ hatten ihn mit der niederländischen Rebellion bekannt gemacht, und er empfand es nun wie eine ebenso anziehende als fruchtbringende Erholung, diese Ereignisse in einem Werke darzustellen, von welchem Beifall und ein erklecklicher Gewinn zu erwarten stand. Denn das war nun der zweite, nicht minder bedeutsame Gesichtspunkt. Er war den Dreißigen nahe und hatte es mit all seinen dichterischen Triumphen noch nicht zu einer gesicherten Stellung im Leben gebracht; im Gegentheil, er mußte sich noch mit Schulden schleppen, die ihm alle Lebensfreude verkümmerten. Es ist ergreifend, diesen herrlichen Geist in seinem rastlosen Ringen um jene Zeit zu beobachten, wie er fast auf allen Umgang verzichtet, zwölf Stunden im Tag am Schreibtisch sitzt, wie er rechnet, seine Zeit auf die verschiedenen Arbeiten vertheilt, alle Kräfte dran setzt, zugleich seine Geldverhältnisse zu regeln und seine Bildung auf neue Grundlagen zu stellen. Nur zwei, drei Jahre noch, meint er, in der harten Lohnarbeit, fern von der geliebten Muse, dann winke die lichte Aussicht, zu ihr zurückkehren und dazu ein anderes Ideal erreichen zu dürfen, das neben all den kühnen Bestrebungen seines Marquis Posa in seinem Innern lebt, das Ideal einer still beglückten Häuslichkeit.

Wie reizend war ihm der Sommer 1788 verlaufen, eine sonnenhelle Idylle inmitten seines sturmbewegten Lebens! Nie hatte er sich so innig wohl gefühlt wie in dem kleinen Volkstedt bei Rudolstadt, wo ihm freundliche Sorge eine anmuthige Sommerwohnung ermittelt hatte. Alle Abende nach der harten Arbeit des Tages war er den ländlichen Fußpfad an der Saale hingewandert, dem hochgelegenen Fürstenschloß entgegen, das sich sonnbeschienen von den dunkleren Waldbergen abhob, und oft genug hatte ihn an dem Brückchen halbwegs unter den hohen, alten Bäumen das traute Lengenfeldsche Schwesternpaar erwartet, das sich in die Verehrung für den edelbewegten Dichter zu theilen schien, die geistvoll muntere Karoline, die dem Schwung seiner Phantasie überall hin zu folgen verstand, und die sinnige Lotte, der die zarte Anmuth eines fein empfindenden Gemüths aus den blauen Augen leuchtete. „Wenn wir ihn so,“ hat später Karoline erzählt, „im Schimmer der Abendröthe auf uns zukommen sahen, dann erschloß sich ein heiteres, ideales Leben unserem innern Sinn. Wie wir uns beglückte Geister denken, die sich in einem reineren Element eines vollkommeneren Einverständnisses erfreuen, so war uns zu Muthe.“

Die Erinnerung an diese schönen Stunden war Schiller nach Weimar zurück gefolgt, und das Bild der jüngeren Schwester hatte seine ernste Arbeit umschwebt. Da trifft ihn, kurz nach dem Erscheinen der „Niederländischen Rebellion“, der Antrag einer Professur in Jena. Goethe, Karl August selbst, waren in der Sache gründlich thätig; vermuthlich hatten auch die beiden Schwestern, welche viel bei Frau von Stein vermochten, ihre zarten Hände darin. Und Schiller nimmt an. An eine Besoldung freilich ist nicht zu denken – wir sehen da die ganze Jämmerlichkeit der kleinlichen Verhältnisse von damals –; wären auch von Weimar aus 200 Thaler, das Höchste, was erreichbar schien, beantragt worden, bei den vier andern „hochfürstlichen Nutritoren“ der Universität, Gotha, Koburg, Hildburghausen und Meiningen, wäre zum mindesten eine Bettelei nöthig gewesen, die Schiller seiner nicht würdig fand. Die Hauptsache ist ihm, „in eine gewisse Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung einzutreten“, die ihm eine Stellung gewährte und doch seine innere Unabhängigkeit und die Freiheit zu arbeiten nicht beschränkte. In kurzem muß ja doch eine bessere Berufung nachfolgen. Aber freilich, wie sich vorbereiten auf das neue Amt bei den vielen, vielen Aufträgen, die er übernommen hat und die des Geldes wegen höchst nöthig sind? Goethe sagt wohl: docendo discitur. Aber die Herren wissen alle nicht, wie kurz es mit seiner Gelehrsamkeit bestellt ist, und wie viel er „durch Lehren zu lernen hat“. Mancher Student weiß vielleicht mehr Geschichte als der neue Herr Professor. Aber, tröstet [348] er sich dann wieder, es müßte doch wunderlich zugehen, wenn er in jeder Woche nicht so viel zusammenlesen und zusammendenken könnte, um es ein paar Stunden auf eine gefällige Art auskramen zu können. Im ersten Halbjahr will er nur ein Kolleg von zwei Stunden lesen, und zwar, dem philosophischen Trieb seiner Natur entsprechend, über Universalgeschichte.

So siedelt er denn voll guten Muthes im Mai nach Jena über. Es ist rührend zu lesen, mit welcher Befriedigung der bescheidene Mann dem Freund von den neuen Verhältnissen berichtet: seine Wohnung, bei zwei alten Jungfern, die sehr dienstfertig, aber auch sehr redselig sind, findet er über Erwarten gut, drei Stübchen, die zusammenhängen, helle Tapeten, zwei Sofas, Spieltisch, drei Kommoden und anderthalb Dutzend Sessel, mit rothem Plüsch ausgeschlagen! Dazu das Wichtigste für ihn, der Schreibtisch, den er sich selbst hat machen lassen! Er hat nur zwei Carolin gekostet, und das Mittagessen bekommt er von seinen Wirthinnen auf seinem Zimmer um zwei Groschen, und Wäsche, Frisur, Bedienung – alles ist so billig, mehr als 450 Thaler im Jahr wird er schwerlich brauchen.

Und nun, am 21. Mai, stand von Schillers Hand die lateinische Ankündigung am schwarzen Brett, daß er seine öffentlichen Vorlesungen über „Einleitung in die Universalgeschichte“ nächsten Dienstag eröffnen und je am Dienstag und Mittwoch von sechs bis sieben Uhr abends fortsetzen werde. Er hatte absichtlich zwei aufeinander folgende Tage gewählt, um den Rest der Woche für seine Studien frei zu behalten. Die Spannung in den studentischen Kreisen war groß. Nirgends hatten ja die „Räuber“ so gezündet wie bei der Universitätsjugend, und gerade die Jenenser Studenten hatten es noch lange hernach und bis in die neueste Zeit herein im Brauch, zu jeder „Räuber“-Aufführung in Masse nach Weimar zu kommen und gewisse überlieferte Vorrechte dabei nachdrücklich geltend zu machen.

Der denkwürdige Tag, Dienstag der 26. Mai, war herangekommen. Zwei Tage darauf berichtet Schiller dem Dresdener Freund ausführlich über das „rühmlich und tapfer bestandene Abenteuer auf dem Katheder“, und immer wird man mit herzlicher Theilnahme den Brief lesen, in dem sich die innere Genugtuung nicht ohne einen Anflug von Humor in allerliebster Weise kundgiebt. Aus Bescheidenheit hatte er den mäßig großen Hörsaal in Professor Reinholds Wohnung vor dem Johannisthor bestimmt; ein allgemeines Kollegiengebäude gab es damals nicht. Vom Fenster des befreundeten Kollegen – er war Wielands Schwiegersohn – sieht Schiller immer neue Studenten, Trupp auf Trupp, die Straße heraufkommen, es will gar kein Ende nehmen. Bereits sind Vorsaal, Flur und Treppe voll gedrängt, und ganze Haufen ziehen wieder ab. Man schlägt Schiller vor, sofort ein größeres Auditorium zu wählen, das größte in der Stadt; es gehörte dem alten, würdigen Kirchenrath Griesbach. Schiller stimmt zu, und „zu Griesbach!“ schallt es nun von allen Seiten. Das lustigste Schauspiel beginnt: jeder will der erste sein, sich einen Platz zu sichern, in hellen Haufen stürzen die Studenten die lange Johannisgasse hinunter, die Straße kommt in Alarm, an den Fenstern ist alles voll, die Wache am Schloß geräth in Bewegung, man meint, es sei Feuerlärm. „Was ist’s denn? was giebt’s denn?“ heißt es von allen Seiten; „Schiller wird lesen!“ erwidern die Vorübereilenden. Als er nach einer kleinen Weile mit Reinhold nachkam, fand er bis zur Hausthür alles besetzt, selbst auf den Subsellien standen die Leute, und durch eine Allee von Zuschauern und Zuhörern mußte der Gefeierte zum Katheder ziehen, der kaum zu finden war. Bisher war es üblich gewesen, neue Professoren bei dem erstmaligen Betreten des Katheders mit Scharren und Stampfen zu empfangen. Bei Schiller zuerst verbot die natürliche Hochachtung den alten Brauch. All das erhob ihn, er las mit einer Stärke und Sicherheit der Stimme, die ihn selbst überraschte. Der Vortrag machte Eindruck, den ganzen Abend war von ihm die Rede, und der Tag schloß mit einer Nachtmusik und dreimaligem Vivat, was noch keinem neuen Docenten widerfahren war.

Schiller hat die beiden ersten Vorlesungen in der Abhandlung vereinigt, welche in seinen Werken den Titel trägt: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, ein Titel, der, sprachlich nicht untadelhaft, fast den Eindruck macht, als wollte sich der Herr Professor auch in seiner Ausdrucksweise den akademischen Überlieferungen anbequemen. Der Redner beginnt mit der berühmten Unterscheidung des Brotgelehrten, dem es beim Studium nur um die zu seinem Fortkommen erforderlichen Kenntnisse, und dem philosophischen Kopf, dem es um innerlich zusammenhängendes Wissen zu thun ist, und indem er diesen Gegensatz unmerklich erweitert und vertieft zu dem Gegensatz der beschränkten Fachgelehrsamkeit und der universellen, auf Einheit und Totalität dringenden Forschung, stellt er eben damit an der Schwelle jener großen und glücklichen Zeit, welche Jena nun in den zwei Jahrzehnten bis 1807 zu einer unvergleichlichen Blüthe emporhob, gleichsam das Programm, das geistige Zeichen auf, unter dem die Universität zu siegen sich anschickte, den Geist der wahrhaft freien und philosophischen Behandlung der Wissenschaft. Nur für den philosophischen Kopf, erklärt Schiller, hat das Studium der Universalgeschichte Bedeutung; denn diese ist im wesentlichen die Geschichte der Geistesentwickelung der Menschheit. Ihre Aufgabe ist, ein zusammenhängendes Bild der gesellschaftlichen Organismen, der verschiedenen Kulturzustände zu geben, die einzelnen Begebenheiten als Ergebnisse aller vorausgegangenen, als Momente im gesammten Weltverlauf zu verstehen; dabei wird sie aus der Summe der Ereignisse diejenigen herausheben, welche auf die heutige Gestalt der Welt einen wesentlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß geübt haben, an dem überall erkennbaren Zusammenhang aber die großen Naturgesetze darlegen, welche den Gang der Geschichte beherrschen.

„Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Bühne; seine Meinungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten … Wie regellos auch die Freiheit des Menschen mit dem Weltlauf zu schalten scheine, ruhig sieht sie dem verworrenen Spiele zu; denn ihr weitreichender Blick entdeckt schon von ferne, wo diese regellos schweifende Freiheit am Bande der Nothwendigkeit geleitet wird. Was sie dem strafenden Gewissen eines Gregors oder Cromwells geheim hält, eilt sie, der Menschheit zu offenbaren: daß der selbstsüchtige Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortreffliche befördert.“ Indem der Redner so die geschichtliche Auffassung nach der sittlichen wie nach der geistigen Seite hin der Philosophie unterordnet, gelangt er zu dem schönen Schlußwort: „Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich, ohne es zu wissen oder zu erzielen, alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt . . . Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtniß von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen . . . Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgethan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die That lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr Zurückbleiben sollte.“

Wir haben hier im Schwung der Sprache, in der Hoheit der Gedanken den ganzen Schiller, denselben, der schon als Studierender der Medizin eine „Philosophie der Physiologie“ schrieb, den es von Kind auf drängte, in allem, was er betrieb, die großen Zusammenhänge aufzuspüren, den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht zu suchen, der alles ergründend spalten und wiederum alles verknüpfend zur Einheit einer umfassenden Totalität emporführen mußte. Und hier zumal wirkte zum ersten Mal der mächtige Geist auf ihn ein, der hernach für ihn so bedeutungsvoll wurde, Immanuel Kant mit seiner Abhandlung von 1784: „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.“

Es ist heutzutage üblich geworden, von Schillers geschichtlichen Arbeiten ziemlich gering zu denken. Und doch ist es nicht billig, sie von dem Standpunkt der heutigen Wissenschaft aus zu beurtheilen, der erst mehrere Jahre nach Schillers Tod durch Niebuhr begründet wurde Es ist ja kein Zweifel, daß Schiller in dem, was man, zumal nach unsern jetzigen Begriffen, von dem Geschichtsforscher verlangt, manche Blößen bietet, daß er überhaupt seine geschichtlichen Arbeiten, die ihm eben nur eine Durchgangsstufe sein sollten, mitunter zu leicht genommen hat. Vergleicht man ihn aber in seinen Leistungen mit den Historikern seiner Zeit, so überrascht nicht nur der sichere, oft geniale Blick, mit dem er, der geborene Dramatiker der Völkergeschichte, die Persönlichkeiten und Verhältnisse durchschaut, man lernt dann auch ganz besonders die formelle Meisterschaft seiner geschichtlichen Darstellung schätzen, welche [349] im Gegensatz zu den hochgelehrten, trockenen Kompendien von damals durch die leuchtende Kraft des Kolorits und die Fülle der ausgestreuten Gedanken die Beschäftigung mit Geschichtswerken rasch den Gebildeten lieb und werth machte. Und wenn allerdings die neuere Geschichtswissenschaft von dem Versuch, den Gang der Weltgeschichte nach philosophischen Begriffen aufzubauen, übel denkt, jene anderen Seiten, welche dem Geschichtschreiber mit dem Philosophen, dem Dichter gemeinsam sind, der große Ueberblick, die Wahl der treffenden Gesichtspunkte, der innere Sinn für den lebendigen Zusammenhang des Geschehenden, die Kunst des Aufbaus, der Gliederung, der anschaulichen, fesselnden Darstellung, all das wird immer unsere Bewunderung des Schillerschen Geistes auch in seinen geschichtlichen Werken rege erhalten.

Leider konnte Schiller die mit so gutem Erfolg eröffneten Vorlesungen, denen er gelegentlich auch eine von ästhetischem Inhalt einfügte, nur drei Semester ohne Unterbrechung fortführen. Im Januar 1791 überfiel ihn jenes schwere Leiden, das von da an nicht aufhörte, an seinem Leben zu zehren. Inzwischen aber hatte er seine geliebte Lotte heimgeführt, und an ihrer Seite, in freundlich belebter Häuslichkeit war ihm dieses kleine Jena in seinem lieblichen Thal mit dem rauschenden Fluß und den schöngeformten Berghöhen so werth geworden, daß er ihm auch dann noch treu blieb, als aus der geliebten Heimath ein lockender Ruf an die Universität Tübingen kam. „Kein Ort in Deutschland,“ schrieb er damals, „würde mir das sein, was Jena und seine Nachbarschaft mir ist; denn ich bin überzeugt, daß man nirgends eine so wahre und vernünftige Freiheit genießt und in einem so kleinen Umfang so viel vorzügliche Menschen findet!“ Und seit nun vollends seinem Geiste im Bunde mit Wilhelm v. Humboldt und dann mit Goethe selbst ein unendliches Labsal bereitet ist, seit in der idyllischen Abgeschiedenheit seines Gartenhauses sein poetischer Genius, durch die geschichtlichen und ästhetischen Arbeiten lange zurückgehalten, aufs neue mächtig und siegreich sich aufschwingt, da fühlt er sich in großartiger Erhebung über Krankheit und körperliche Schwäche innerlich tief und voll beglückt, mit den Besten seiner Zeit verbunden, mit dem Geiste seines Volkes in innerer Fühlung, der geistige Führer der Nation auf der neu eröffneten Bahn der hohen Tragödie; und gerade sein Wallenstein, der noch ganz in Jena vollendet wurde, zeigt am schönsten, wie fruchtbar und bedeutend die Vertiefung in geschichtliche Studien, die zu der Jenaer Professur geführt hatte, auch für seine Dichtung und eben damit für die Mit- und Nachwelt geworden war.




Die Goldgräber der Rauris.

Von J. Freytag. Mit Abbildungen von H. Nestel.

Edle Metalle haben äußerst selten ihre Lagerstatt tief im Erdinnern aufgeschlagen. Sie drängten sich bei einstigen Eruptionen durch ihre größere Leichtigkeit an die Oberfläche, so lehren Erfahrung und Wissenschaft. Die neue Phase der Technik, welche unser Jahrhundert geschaffen, kann alles umgestalten; ob es ihr aber jemals gelingen wird, direkt aus dem Boden der mütterlichen Erde noch heut außergewöhnliche Goldwerthe zu erschließen, ist jedenfalls für Europa zu bezweifeln.

Das Goldbergwerk in der Rauris.

Was wir ernten können, das sind nur die mühsam zu gewinnenden Reste edler Metalle, welche an den Stätten einstiger offener Lager zwischen härteren Erzen festgehalten wurden. Es ist ein lehrreicher Rückblick, den wir auf die Geschichte des europäischen Bergbaues werfen können, indem wir das Einst und das Jetzt vergleichen. – In ganz besonderer Weise tritt uns der Unterschied zwischen der früheren und heutigen Ausbeutung der Edelmetalllager entgegen, wenn wir den Bergwerken im Salzburger Land unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Hier fanden römische Scharen, als sie ihren Weg über die norischen Alpen nach dem Norden suchten, offene Goldlager, und mühelos fielen ihnen die werthvollen Schätze zur Beute.

Die sogenannten Bergwerke, welche von ihnen an den Fundorten errichtet wurden, waren offenbar nur ein leichtes Ausschachten der zu Tage getretenen Adern des edlen Metalles. Ein systematischer Bergbau wurde erst von dem unternehmenden Hause der Fugger im Mittelalter ins Leben gerufen. Es waren damals fürstliche Schätze, welche das Salzburger Land den Begründern in den Schoß warf und sie demgemäß zu einem fürstlichen Hause emportrugen. Wäre aber von dem reichen Gewinn jener Zeit nur ein kleiner Theil andauernd zu besserem Weiterbetriebe veranlagt worden, so hätten ganz andere Ergebnisse erzielt werden können, während bei der Unterlassung einer soliden Fundirung die Werke für immer verloren gehen mußten.

Die Ueberlieferungen erweisen, daß gerade die wichtigsten Fundorte vergletschert sind, dagegen konnten sich die Menschen im Hochgebirge wenig schützen. Aber es traten noch andere Umstände hinzu, welche der hohen Blüthe einer für jene Zeit seltenen Kultur ein beklagenswerthes Ende bereiteten. Die vom Hause Fugger hingesandten Bergarbeiter aus Goslar brachten im 16. Jahrhundert die neue Lehre des Protestantismus ins einsame Thal und fanden dort gar bald Gesinnungsgenossen. Grund genug für die finsteren Mächte jener Zeit, darob einen Bruderkrieg zu beginnen, der das blühende Kulturleben im Lande Salzburg vollständig vernichten mußte. Was der Verfolgung nicht erlag, wurde vertrieben, so daß während der traurigen Zeit des Dreißigjährigen Krieges der Bergbau ganz eingestellt wurde. Wohl versuchte später die österreichische Regierung, auf Staatskosten wenigstens einige der Bergwerke wieder in Betrieb zu setzen, aber sie hat wenig Vortheile davon gehabt. Bei den Goldbergwerken in Böckstein und auf der Rauris hat sie andauernd nicht unbeträchtliche Zuschüsse zahlen müssen, um sich schließlich dennoch genöthigt zu sehen, beide Betriebe einzustellen. Seltsam eigenartige Umstände haben dann in beiden Orten ein neues Leben wachgerufen. Während das erstgenannte Goldbergwerk in unmittelbarer Nähe von Gastein allen Besuchern des heilkräftigen Bades bekannt ist, muß man schon ein tüchtiger Bergkletterer sein, um das 2371 Meter über dem Meere gelegene Rauriser Goldbergwerk erreichen zu können. Früher war das freilich anders, da führte ein jetzt vergletscherter Aufstieg unmittelbar auch aus dem Gasteiner Thale hinauf. Der direkte Weg durch das Rauriser Thal bis Kolm-Saigurn, der Bergbauansiedlung, ist von der Eisenbahnstation Lend 9 Stunden, von Taxenbach 8 Stunden lang. Zwischen Taxenbach und Kolm-Saigurn liegt nur der Markt Rauris und weiter hinauf das Dorf Bucheben, mit 166 Einwohnern und einer 1783 erbauten Kirche.

[350] Von dort erhebt sich die grandiose Gletscherwelt der Rauriser-Tauernkette zunächst im Herzog Ernst, dessen Vorläufer, Goldberg und die Schareck, jene seltenen Schätze bergen. Dennoch waren diese so mühsam zu heben, daß die österreichische Regierung 10 000 Gulden jährlichen Zuschuß zahlen mußte. Als aber das Urtheil ihrer Sachverständigen dahin lautete, daß, um den Bergbau lohnender zu gestalten, es unerläßlich sei, eine Eisenbahn zu bauen, welche sie auf 15 000 Gulden für die kurze Strecke veranschlagten, da fand man es vortheilhafter, den Betrieb einzustellen. Dazu kam es jedoch glücklicherweise nicht, denn unter den zu Entlassenden war einer, welcher sich zutraute, den nothwendigen Bau billiger auszuführen, um sich und seinen Gefährten die Existenz erhalten zu können. Es war der derzeitige k. k. Hutman Ignaz Rojacher, welcher keinen Kreuzer Geld besaß, als das, welches er sich von seinem Lohn mühsam erspart hatte. Kühn trat er nach Vereinbarung mit seinem Freunde, dem k. k. Hutman Toni Pelzler, an die Regierungsbeamten mit dem Gesuch, ihm den Betrieb in Pacht zu geben. Was konnte man Besseres thun? Ignaz Rojacher war ein kreuzbraver Bursch, der schon als Geißbub seine armen Eltern zu unterstützen gewußt hatte. Als Bergknappe begriff er dann im Zusammenleben mit einer an Kenntnissen ihm überlegenen Mehrheit den Vortheil einer besseren Schulbildung. So war es sein erstes Ziel, seine Freistunden dazu zu benützen, um schreiben und lesen zu lernen. Sicher war es der richtige Weg zu seinem Fortkommen, denn schon nach wenigen Jahren wurde er von seinen Vorgesetzten zum Hutman befördert. Als solcher wußte er sich offenbar eine ganze Summe von Kenntnissen zu erschließen, wozu ihm im Betriebe selbst die mannigfachste Gelegenheit geboten wurde. Dazu kam, daß sein Freund Toni nicht ohne Kenntnisse in der Chemie war, und so konnte der kühne Schritt gewagt werden, ohne die bisherigen Vorgesetzten und Fachgelehrten einen so umfassenden Betrieb zu übernehmen.

Das Poch- und Waschwerk Kolm-Saigurn am Fuße des Rauriser Goldberges.

Das war im Jahre 1875. Als Pächter der umfangreichen Werke baute sich Ignaz Rojacher jene nothwendige Bahn, welche gleichzeitig durch die thalwärts gehenden Erzwagen die leeren wieder hinaufwindet. Er baute sie ebenso, wie sie nach den Regierungsplänen veranschlagt war, aber ihn kostete sie nur 6000 Gulden. Während ihm nun der Ertrag der Arbeiten gestattete, alle nothwendigen Verbesserungen durchzuführen, konnte er natürlich einen hohen Reingewinn noch nicht erübrigen. Es war aber eine sichere Anlage des Gewinnes, ihn dem Betrieb selbst anzuvertrauen, und als sechs Pachtjahre verflossen waren, hatte Rojacher immerhin 3000 Gulden baren Ueberschuß.

Da trat er sofort an die Regierung mit dem Gesuche, ihm das gesammte Bergwerk verkaufen zu wollen, um ganz unabhängig arbeiten zu können. Da man begriff, daß der mühsame Betrieb nur für denjenigen zu einer wirklichen Goldader werden könne, welcher, abgeschlossen von der Welt, mitten in dieser Umgebung der Bergriesen sein Leben ganz und gar der Arbeit widmete, so willigte man ein. Für den Kaufpreis von 4500 Gulden gingen die gesammten Eigenthumsrechte an den wackern Pächter über, der damit, nach der Ausdehnung des erworbenen Gebietes, einer der ersten Großgrundbesitzer werden mußte.

Kolm-Saigurn hat eine schöne Kapelle mit altdeutschem Altar, welche dem Poch- und Waschwerk seinen Abschluß als Gemeindeverband verleiht. Auch einige Gäste finden gute Unterkunft, denn an Nahrung mangelt es nicht. Lustig spazieren in dieser Höhe von 1597 Metern Hühner und Geißen (im Sommer 40) und ständig zwei Kühe. Im Bodenhaus auf der Alm stehen weitere 4 Kühe, 5 junge Rinder nebst 20 Geißen, während ganz oben am Bergwerk nur noch Gemsen ihre Nahrung finden.

Eine Telegraphenleitung führt jetzt bereits vom Pochwerke längs des Aufzugs zum Maschinenhaus, welches 2177 m hoch sich befindet. Von dort geht dieselbe längs der 210 m langen Bremsbahn zu dem 2330 m hoch gelegenen Bremshaus, von diesem zu dem 2341 m hoch gelegenen Knappenhause. An die Bremsbahn schließt sich ein 600 m langer, auf Drahtseilen eingerichteter Aufzug. Von den vielen in diesen wenigen Jahren durchgeführten großen Neuerungen ist wohl ein überraschender Beweis auch die Thatsache, daß die Poch- und Waschwerke wie die Wohnräume bereits seit 1883 mit elektrischem Licht versehen sind. Interessant ist gleichfalls der Umstand, daß für die dortigen Verhältnisse es nothwendig war, die Leitung des Telephons anders zu gestalten, welche Ignaz Rojacher nach seinen eigenen Ideen hat umarbeiten lassen. Mitten in dieser einsamen Gletscherwelt lebt unser „Naz“, wie er in der urwüchsigen Ausdrucksweise noch heute genannt wird, umgeben von fast 100 seiner Arbeiter, mit denen er alle Lebensbedingungen in gleichen Gewohnheiten festhält. Da sind 50 eigentliche Bergknappen, 25 Hilfsarbeiter, die alle neben dem Bergbau noch eine Handwerksgeschicklichkeit besitzen müssen, um in dieser abgeschiedenen Welt allen Bedürfnissen gerecht werden zu können. Weil außer Salat in dieser Höhe nichts mehr von Pflanzen für die Küche gedeihen will, so bezieht unser guter Haushalter alle die Viktualien im Großen nach festem Abkommen aus dem Thal, bis aus Salzburg, um seinen Leuten, von denen er sich nach wie vor dutzen läßt, Besseres bieten zu können. In den Wintermonaten, wo die Beförderung größere Schwierigkeiten bereitet, läßt er nur den Bergbau betreiben und lebt wochenlang mit seinen Leuten in der Knappenstube, während sein getreuer Toni in seinem abgesonderten Revier den letzten weihevollen Akt im Goldschmelztiegel handhabt.

Es ist wohl ein in Europa allein dastehendes Beispiel, daß die Kraft eines einzelnen solche Erfolge auf einem Gebiete zu verzeichnen hat, welches erheischte, daß der wackere Mann sein eigener Hutman, Ingenieur, Architekt, Chemiker, Verwalter, Oekonom und Wirth sein mußte.

Und der Ertrag aller dieser Mühe? Bis jetzt ist noch keine Glücksader aufgeschlagen, immerhin ergab der Ertrag im ersten Jahre 6 Kilogramm feines Gold (= 16 740 M) und 900 Centner Schliche, das heißt gepochtes und gewaschenes Erz minder kostbarer Art. Im Jahre 1884 wurden infolge der angewandten besseren Arbeitsmittel hingegen schon 9 Kilogramm des allerfeinsten Goldes (= 25 110 M) und 1500 Centner Schliche gewonnen.

Dieser Ertrag wird vielen als ein zu geringer Ersatz für all die aufgewandte Mühe erscheinen, da die begehrliche Phantasie des Menschen annimmt, daß, wenn man einmal Gold gräbt, man doch auch gewaltige Schätze hervorzaubern muß. Aber auf solche Wundergabe einer verschwenderischen Fülle dürfen wir in Europa nicht mehr rechnen, wenn auch der treuen unermüdlichen Thätigkeit des wackern Ignaz Rojacher in Zukunft noch ein reicherer Lohn zu theil werden dürfte.




[351]

Seine Mutter.

Von A. Merck.
(Schluß.)


Am andern Tage ging Frau Laurin in großer innerlicher Aufregung zu Jungs hinüber. Es war die Badestunde der Herren Jung; sie wußte, daß sie die Feindin ihres armen Kindes allein treffen würde. „Guten Tag, liebe Frau Laurin,“ sagte diese, sich erhebend, als Frau Laurin mit sehr geröthetem Gesicht in das kleine Zimmer trat.

„Guten Tag, aber störe ich Sie auch wirklich nicht? Gewiß nicht, liebe Freundin?“ entgegnete Frau Laurin mit Betonung. „Sie müssen mir das ganz aufrichtig sagen, ich störe so ungern.“

Frau Jung sah sie mit ruhigem Erstaunen an: „Wie sollten Sie mich stören? Meine Herren sind fort, ich bin ganz allein.“

„Ach so, dann freilich ist es etwas anderes,“ entgegnete Frau Laurin mit etwas gezwungenem Lächeln. „Wenn der Herr Sohn nicht zu Hause ist, sind Sie für alte Freunde wieder einmal zu haben!“

„Wie meinen Sie das?“ sagte Frau Jung in etwas kühlem Ton.

„Nun, alle Welt weiß doch, liebe Freundin wie eifersüchtig Sie den afrikanischen Helden bewachen. Ich begreife das ja ganz gut, aber die alten Freunde haben doch auch gewisse Rechte, und Paul ist ein junger Mensch – Jugend will auch einmal wieder mit Jugend verkehren – Sie nehmen mir das nicht übel, liebe Freundin –“

„Ganz und gar nicht,“ sagte Frau Jung kühlhöflich, „aber Sie irren sehr, wenn Sie meinen, wir hielten Paul zurück. Sie wissen ja, er war nie ein Gesellschaftsmensch.“

„O, wer spricht denn von zurückhalten? Aber ich glaube, meine beste Frau Jung, Sie würden jetzt nicht nur in Pauls, sondern sogar in Ihrem eigenen Interesse handeln, wenn Sie ihn nöthigten, ihn recht energisch veranlaßten, unter Menschen zu gehen.“

„Das verstehe ich nicht ganz.“

Frau Laurin wurde etwas verlegen. Die unerschütterliche Ruhe der anderen verwirrte sie. Aber der Gedanke an Adas verweinte Augen gab ihr neuen Muth.

„Das wundert mich, liebste Frau! Sie können doch nach Ihren trüben Erfahrungen unmöglich wünschen, daß Ihr einziger Sohn in dieses schreckliche Afrika zurückgehe? Nun meine ich, Sie sollten zu verhindern suchen, daß er jetzt beständig an seiner Reisebeschreibung arbeitet; Sie sollten vielmehr diese Zeit benutzen, um ihn zu zerstreuen, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Reden Sie ihm zu, unter Menschen zu gehen; er ist ein so liebenswürdiger junger Mann, daß wir uns alle herzlich freuen werden, ihn öfter in unseren Kreisen zu sehen, und auch für ihn würde gewiß nach seinem langen Aufenthalt unter wilden unkultivirten Menschen ein heiterer und anregender geselliger Verkehr neuen Reiz haben. Sie, liebe Freundin, würden dann zwar mitunter seine Gesellschaft entbehren müssen, aber dafür würde Ihnen vielleicht das größere Glück zu theil werden, daß er sich hier wieder einlebte und sich entschlösse, dauernd hier zu bleiben.“

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete Frau Jung. „Daß wir nichts Besseres wünschen könnten, als Paul immer bei uns zu haben, ist selbstverständlich, aber ich habe längst eingesehen, daß das Leben in unserem stillen Hause, bei uns alten Lenten, ihn auf die Dauer nicht befriedigen könnte, selbst wenn er mehr in Gesellschaft ginge.“

„Aber, liebe Frau Jung,“ sagte die Freundin, „wer sagt denn, daß er immer in Ihrem Hause bleiben müßte? Er ist doch ein junger Mann, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich eines Tages sein eigenes Haus gründet.“

„Paul sollte heirathen? O nein, nein!“ rief Frau Jung hastig. Dann saß sie längere Zeit schweigend mit sinnendem Blick und gefalteten Händen, während Frau Laurin sie erstaunt betrachtete. Endlich blickte sie auf, und ihre Züge trugen einen weichen Ausdruck, den ihre alte Freundin noch nie gesehen hatte. Sie begann mit ungewohnt leiser Stimme, die sich aber im Lauf ihrer Rede steigerte: „Meine liebe Frau Laurin! Ich bin überzeugt davon, daß Sie es gut meinen, mit Paul und mit uns, und ich danke Ihnen dafür; nur mit einem Menschen haben Sie es nicht gut gemeint.“

„Und das wäre?“

„Diejenige, welche Pauls Frau werden sollte!“ sagte seine Mutter sehr fest. „Sie sprachen von den traurigen Erfahrungen, die wir gemacht haben, und ich sage Ihnen, niemand kann ahnen, wie grausam diese Erfahrungen waren. Ich bin keine weiche mittheilsame Natur, ich habe meinen Schmerz in mich verschlossen und mit ihm gekämpft – aber es war ein Kampf auf Leben und Tod. Sehen Sie mich an – ich bin, wie Sie wissen, nicht zu Klagen geneigt, und wenn ich jetzt rede, so geschieht es nur, um Sie vor einem verhängnißvollen Irrthum zu bewahren – ich bin in den Tagen eine alte Frau geworden.“

Frau Laurin bemerkte in der That mit plötzlichem Erschrecken, daß ihre Freundin ganz verändert aussah, wie jemand, der eine lange Krankheit überstanden hat, und daß ihr vor kurzem noch volles schwarzes Haar ergraut war. Sie wollte mitleidig ihre Hand fassen, doch Frau Jung machte eine abwehrende Bewegung und fuhr fort: „Vier Monate lang haben wir ihn Tag und Nacht sterben sehen – unseren Einzigen, unser ganzes Glück, unsere Gegenwart und unsere Zukunft! – Und nicht bei ihm sein, nichts, gar nichts thun zu können – ohnmächtig dazustehen mit einem Herzen voll Liebe und heißer Sehnsucht, und denken zu müssen – jetzt stirbt er vielleicht, in diesem Augenblick vielleicht, aus Mangel an Pflege, an der nothdürftigsten Nahrung – o! wir sind vom Tische aufgestanden, sein armer Vater und ich, und haben uns an unseren Thränen gesättigt. Tag und Nacht und Tag und Nacht, Woche auf Woche und Monat auf Monat! Zuerst hatten wir noch Hoffnung, aber dann die gräßlichen Tage, als wir uns sagen mußten, daß diese Hoffnung nur noch ein kläglicher Selbstbetrug sei, als jede Stunde uns in unserer schrecklichen Einsamkeit langsam, bleiern verging, als jeder Schlag der unbarmherzigen Uhr uns klang wie eine Hand voll Erde auf seinen Sarg – seinen Sarg? wer konnte uns sagen, auf welchem Feld, in welchem wilden Dickicht die Leiche unseres Lieblings lag – nackt, entstellt! Gott! Gott! möge jeder Mutter erspart sein, solche Stunden zu durchleben …“ Sie drückte beide Hände an die Stirn und schwieg einen Augenblick überwältigt.

Frau Laurin war sehr gerührt: „Liebe, arme Freundin! Aber ich bitte Sie, lassen Sie ihn doch nie wieder fort.“

Pauls Mutter hob den Kopf, ihr Gesicht war wieder ruhig wie immer, aber ihre Augen leuchteten in ungewohntem Glanze. „Ich sollte ihn zurückhalten? Ich sollte meinen einzigen Sohn verhindern, das Leben zu führen, an dem sein ganzes Herz hängt, in dem er zum erstenmale volle Befriedigung gefunden hat; und weshalb? aus feiger Schwäche, aus kläglichem Egoismus? Das sei ferne von mir! Wenn er morgen fortgeht, so werde ich mein Herz mit beiden Händen festhalten und ihn mit keinem Worte daran zu hindern suchen. Aber so lange ich ihn habe, genieße ich jeden Augenblick und sehe sein liebes Gesicht an, als sollte ich es nie wiedersehen. Und ich sollte ihm, da es ihm selbst keine Freude macht, zureden, jeden Tag zu anderen Freunden zu gehen, die sich interessante Geschichten von ihm erzählen lassen wollen und mit angenehmem Grauen hören, wie oft er dem Tode nahe war, ich sollte ihm zureden, ein junges warmes Herz an sich zu fesseln, um es bei einer zweiten Reise all den tausend Qualen und Schmerzen preiszugeben, die seine Eltern gern um ihn dulden? Liebe Freundin, ich möchte jedes Mädchen, das ich liebe, davor bewahren! Es müßte ein sehr starkes, sehr festes Herz sein, das das ertragen könnte, und eine Liebe, die auf einen Fels gegründet ist.“ Sie schwieg, und auch Frau Laurin konnte lange nichts erwidern. Endlich stand sie auf, drückte ihrer alten Freundin warm die Hand und sagte leise: „Ich danke Ihnen, ich habe Ihnen großes Unrecht gethan.“ Dann winkte sie ihr, nicht aufzustehen, und verließ das Zimmer. – – –

* * *

Seitdem waren einige Jahre vergangen, es war Winter, in der schönen Laurinschen Stadtwohnung war eine große fröhliche Gesellschaft versammelt, um Adas Geburtstag zu feiern. Unter ihren zahlreichen Verehrern that sich besonders der stets getreue Vetter hervor, den schon die Stimme der Gesellschaft Adas [352] Verlobten nannte. Wenn er es noch nicht war, so konnte doch der flüchtigste Beobachter merken, daß er es bald werden würde.

Ada, strahlend heiter und reizend, trat eben zu einer Gruppe, welche in lebhafter Diskussion begriffen war.

„Ich versichere Sie, daß er unmöglich noch am Leben sein kann, unmöglich!“ rief ein dicker älterer Herr eifrig. „Mein Vetter, der selbst drüben war und die Verhältnisse genau kennt, sagt mir, daß man schon seit Wochen alle Hoffnung aufgegeben hat.“

„Die armen Jungs,“ sagte eine Dame mitleidig, „er ist ja wohl ihr einziger Sohn? Wie glaubt man denn, daß er umgekommmen ist?“

Der Gefragte zuckte die Achseln. „Vermuthlich im Kampfe um Lebensmittel – die schwarzen Herren verstehen keinen Spaß.“

Ada schauerte es leicht; sie wechselte einen Blick mit ihrer Mutter. Diese trat zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Sagte ich Dir nicht, Du würdest Frau Jung noch einmal dankbar sein?“

Ada nickte. „Der arme Paul! Ja, Mama, von Herzen dankbar,“ und ihre Blicke flogen zu Günther hinüber, und sie ging ihm entgegen und hing sich mit beiden Händen an seinen Arm, als müßte sie sich seiner lebendigen Gegenwart versichern.

Die alten Jungs saßen im dämmernden Zimmer am Kamin; seit Stunden war kein Wort mehr gesprochen worden. Plötzlich sagte Frau Jung halblaut: „Ernst!“

„Was ist es?“

„Ernst – weißt Du wohl, heute ist unser Hochzeitstag.“

Ein lautes Stöhnen klang aus der Ecke, in welcher der alte Mann saß, Frau Jung stand rasch von ihrem Platz auf, ging zu ihm hinüber und legte die Arme um ihn, sein Kopf fiel an ihre Schulter, und ihre Thränen vereinten sich.

Endlich sagte sie leise: „Wir brauchen doch noch nicht alle Hoffnung aufzugeben, denke nur, wie lange wir damals ohne Nachricht waren!“

Er schüttelte nur den Kopf: „Nicht so lange wie diesmal.“

Aber sie fuhr fort: „Es kann doch ein Brief von ihm in dem verunglückten Schiff gewesen sein! Nicht wahr, das mußt Du doch auch einsehen?“

„Ja, das ist möglich,“ sagte er, dann seufzte er tief, „es ist ja die letzte Hoffnung, glaubst Du, ich könnte die fahren lassen?“

Plötzlich fuhr die Frau empor. „Was war das?“

Er lächelte trübe: „Heute kann kein Brief mehr kommen, arme Anna!“

Aber sie stand hochaufgerichtet, beide Hände auf dem wildschlagenden Herzen. „Dieser Schritt, Ernst, höre nur, Gott im Himmel –“

Da ging die Thür auf, und Frau Jung fiel bewußtlos in die Arme ihres Sohnes!

– – – – – – – – – – – –

Der erste Sturm der Erregung war vorüber gegangen, die Gemüther von Eltern und Sohn hatten sich etwas beruhigt, und nun saßen die drei Hand in Hand vor dem sinkenden Kaminfeuer; Paul erzählte und die Eltern lauschten athemlos. Bei dem Bericht von den überstandenen schrecklichen Gefahren faßte der Vater die abgemagerte braune Hand des Sohnes so fest in seine beiden, als wollte er sie nie wieder loslassen; der Mutter Lippen aber zuckten, und endlich bat sie:

„Heute nichts mehr, lieber Paul! Wir haben Dich – Gott sei ewig Dank – wir haben Dich wieder, und ich vermag es nicht anzuhören, wie nahe wir daran waren, Dich zu verlieren.“

Paul lächelte gutmüthig: „Unkraut verdirbt nicht, Mutter! Aber Du hast recht, es wird Zeit, die Sitzung aufzuheben; – sieh nur, da scheint wahrhaftig schon die Morgensonne ins Fenster! Gute Nacht denn, Vater, gute Nacht, liebe Mutter!“

Die Eltern geleiteten ihn in sein Zimmer.

„Es stand immer bereit für Dich,“ sagte der Vater, „selbst in der schlimmsten Zeit, da wir fast nicht mehr hofften, daß Du es je wieder bewohnen würdest.“

Paul trat lächelnd über die Schwelle: „Und ich habe mir oft gewünscht, das alte Zimmer wiederzusehen, wenn meine Aussichten dazu recht schwach schienen! Also so sieht ein Bett aus? Das hatte ich wahrhaftig beinahe vergessen; nun, ich werde ungewiegt schlafen.“

Die Eltern gingen, und der Vater schlief bald fest. Aber die Mutter fand keine Ruhe; sie schritt durch alle Räume des Hauses und öffnete endlich leise Pauls Thür. Er lag angekleidet auf dem Bett, und in dem voll hereinströmenden Morgenlicht erschienen die energischen Züge des ruhig Schlafenden mild verklärt. Die Mutter fuhr mit leichter Hand über Stirn und Haare des Sohnes, dann stand sie regungslos neben ihm in seinen Anblick versunken, bis die hervorstürzenden Thränen sie blendeten. Da ging sie leise hinaus und sagte vor sich hin: „Ob eine Frau, die ihn wahrhaft liebt, wirklich zu beklagen wäre? Das Glück dieser letzten Stunden ist doch viele Thränen werth!“




Ein Herz und Eine Seele.

Als deine Liebe Frühling war,
Da war es auch meine,
Und Seel’ und Seele ganz und gar
Nur Eine, ganz nur Eine,

5
So himmlisch dämmernd alles noch,

Doch alles halb Verhüllung,
Und gegenwärtig alles doch
Und alles doch Erfüllung,

Und alle Welt so göttlich jung,

10
Als ob sie ewig bliebe,

Und ewig diese Dämmerung
Des Frühlings und der Liebe.

J. G. Fischer.




Zur Wahl der Sommerfrischen.

Von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch.

Wer die langen Wintermonate zwischen den beengenden Mauern der Stadt verbracht hat, sei es in hastender Berufsthätigkeit oder in dumpfem Stubenhocken, dem ist es Bedürfniß, wenigstens einige Wochen der schönen Sommerszeit dem Aufenthalte in Gottes freier Natur zu widmen, der drückenden, staubigen, mit Krankheitsstoffen geschwängerten Stadtluft zu entrinnen und sich in frischer Waldes-, Wiesen- und Bergatmosphäre neu zu kräftigen und zu laben. Wer durch Krankheit ans Bett gefesselt, durch Leiden danieder gedrückt ist, der sieht mit hoffnungsglänzendem Auge dem Zeitpunkte entgegen, da er die verordnete Badereise antreten und an den Heilquellen Gesundung seines Körpers schöpfen kann. Wer sich aber nicht krank und siech, sondern nur matt und überarbeitet fühlt, der bedarf keiner Kur, dem genügt ein schöner Fleck Erde in gesunder freier Gegend – die Sommerfrische.

Es ist ein günstiges Zeichen, wie die richtige Erkenntniß des Wesens der Gesundheitspflege in immer weitere Schichten der Bevölkerung dringt, daß die Zahl der Sommerfrischen und die Ziffer ihrer Besucher in den letzten Jahren in ganz auffälliger Weise gestiegen ist. Milder Wohlthätigkeitssinn und hilfbereite Barmherzigkeit haben in jüngster Zeit sogar an verschiedenen Orten Vereine gegründet, die es sich zur Aufgabe setzen, auch die Kinder der unbemittelten Stadtbewohner der Wohlthat des Landaufenthaltes während der Schulferien theilhaft werden zu lassen.

Welche Orte verdienen nun vom gesundheitlichen Standpunkte aus als Sommerfrischen bezeichnet und empfohlen zu werden?

[353]

Junge Liebe.
Nach einer Zeichnung von E. Ernst.

[354] Diese Frage, die alljährlich, wenn die Schwalben zurückgekehrt sind, so häufig gestellt wird, läßt sich im allgemeinen dahin beantworten, daß die Sommerfrische in erster Linie reine Luft, gesunden Boden und günstige Vegetationsverhältnisse bieten muß.

Obgleich die wissenschaftlichen Untersuchungen über die Zusammensetzung einer reinen Luft, über die Mengeverhältnisse des Sauerstoffes in derselben, über die Bedeutung des Ozons (einer Form des Sauerstoffes) noch in ihren Anfängen sind, so läßt sich doch nach dieser Richtung so viel als sicher angeben, daß die Luftreinheit durch die Beimengung gewisser gasförmiger Stoffe sowie staubförmiger und chemischer Zersetzungsprodukte beeinträchtigt wird, welche ihre Entstehungsursache in organischen Vorgängen in dem Grund und Boden haben, oder von Menschen und Thieren ihren Ausgangspunkt nehmen. Kohlensäure, Kohlenwasserstoff, Kohlenoxydgas, schweflige Säure, Schwefelwasserstoff, Salzsäure sind, wenn sie in beträchtlicher Menge der Luft beigemengt sind, solche Luftverderber, und ebenso zählt der Staub bekanntlich zu den gesundheitsschädlichen Bestandtheilen der Luft. Bei der erstaunlich großen Menge Luft, die wir zur Athmung bedürfen, erscheint schon ein kleines Deficit an Sauerstoff, welches durch das Ueberwiegen schädlicher Stoffe in der eingeathmeten Luft gedeckt wird, von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Lebensvorgänge. Während in der Luft geschlossener, von Häusern und Rauch umgebener Plätze 20,6 bis 20,87 Prozent Sauerstoff nachgewiesen wurden, wird als Mittel des Sauerstoffgehaltes einer besonders reinen Luft am Seeufer und auf offenen Heiden 20,999 Prozent angegeben. Der Unterschied ist anscheinend äußerst gering, aber seine Wirkung auf den Organismus ist eine empfindliche. Das Ozon fehlt dort, wo sich viele in Fäulniß begriffene Stoffe befinden, ebenso wie in den Krankensälen der Spitäler gänzlich; in freier Luft, im Walde, auf den Bergen, am Meeresstrande kann man aber reichliche Ozonmengen in der Luft nachweisen.

Der Staub bildet eine in ihrer Menge und Zusammensetzung sehr wechselnde Verunreinigung der Luft. Der Mineralstaub der Luft ist vorzüglich von der Bodenbeschaffenheit abhängig und besteht vorwiegend aus den diesem Boden entrissenen kleinen Mineraltheilchen von Kiesel, Eisen, Kalk etc., welche oft von weiter Ferne herbeigetragen werden. Der pflanzliche Staub ist aus seinen vegetabilischen Theilchen, aus Blütenstaub und Pflanzenhaaren, zusammengesetzt. Beiden Arten von Staub sind oft Keime von Pilzen und jene mikroskopisch kleinsten Lebewesen beigemengt, welche in der letzten Zeit so verschiedenfach als Träger von Ansteckungsstoffen, als Gährungs- und Fäulnißkeime, überhaupt als Krankheitserreger erkannt worden sind. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Staub und Krankheiten, welchen die Forschungen der Gegenwart dargelegt haben, läßt den großen Unterschied ermessen, welcher zwischen der stauberfüllten dicken Stadtluft und der reinen klaren Luft der Gebirgsgegend in gesundheitlicher Beziehung herrscht.

Begreiflich ist es daher, daß das oben aufgestellte Erforderniß der Luftreinheit nicht leicht zu befriedigen ist in der näheren Umgebung von Städten, wo Fabriken ihre schwarzen Rauchwolken in den Dunstkreis senden, wo viele Menschen dicht zusammengedrängt in kleinen Räumen ihr Leben fristen, oder in Orten, welche, an vielbefahrener Landstraße gelegen, oft in dichte Massen des aufwirbelnden Staubes gehüllt werden, oder auch dort auf dem Lande, wo die Begriffe von Reinlichkeit noch sehr dunkel sind und man auf Schritt und Tritt Resten von pflanzlichen und thierischen Stoffen begegnet, welche unter dem Einflusse von Feuchtigkeit und Wärme sich zersetzen und die Atmosphäre mit Fäulnißstoffen erfüllen. Die reinste Luft findet man im allgemeinen in Gebirgsgegenden, wo die Höhenluft den Vorzug bietet, frei von Gährung erzeugenden und Zersetzung fördernden Stoffen zu sein, und am Meeresstrande, wo die Seeluft keine schädlichen Beimengungen mit sich führt. Es genügt jedoch nicht bei der Wahl einer Sommerfrische, darauf zu sehen, daß die Luft daselbst sich durch möglichst große Reinheit auszeichne, sondern es sind noch andere Verhältnisse der Atmosphäre: die Wärme der Luft, die Menge von Feuchtigkeit, welche in derselben enthalten ist, die Häufigkeit des Regens, die Stärke und Dauer der Besonnung des Ortes, die Dichtigkeit der Luft, die Richtung der vorherrschenden Winde wohl zu berücksichtigen. Die Sommerfrische muß, um den Stoffwechsel in günstiger Weise zu beeinflussen, eine gewisse milde Atmosphäre bieten, welche den Luftschnappern daselbst gestattet, recht viele Stunden des Tages in angemessener Kleidung im Freien zu verweilen und so in behaglicher Weise ihren Hunger nach frischer Luft zu stillen.

Die Gestaltung des Bodens, die Erhebung eines Ortes über dem Meere hat nicht nur mannigfachen Einfluß auf die Temperatur der Luft, auf ihre Feuchtigkeit und auf den Luftdruck, sondern in der Bodenbeschaffenheit liegt, wie die wissenschaftliche Forschung nun klar erwiesen hat, auch ein hochwichtiges Moment für die gesundheitsgemäße Entwickelung des Ortes oder für die Entstehung von Krankheiten unter seinen Bewohnern. Wo die physikalische Beschaffenheit der Bodenoberfläche oder der unterhalb derselben befindlichen Gesteinsart ein schnelles Abfließen der in den Boden gedrungenen Feuchtigkeit nach unten verhindert und der Boden zugleich reich an sich zersetzenden thierischen und pflanzlichen Stoffen ist, ergiebt sich leicht Anlaß zur Entwicklung mannigfacher Krankheiten. Namentlich das Wechselfieber, der Unterleibstyphus, die Cholera, die Ruhr sind solche Krankheiten deren Zusammenhang mit dem Boden durch eine Reihe von Thatsachen dargelegt wurde; aber auch bei der Lungenschwindsucht ist der Einfluß der Bodenverhältnisse auf die Entwickelung dieser eben so sehr verbreiteten wie mörderischen Erkrankung sehr wahrscheinlich. In welcher Weise der Boden seine Rolle als Förderer von Krankheiten spielt, wie nach dieser Richtung die Schwankungen des Grundwassers wirken, davon wollen wir hier nicht sprechen, sondern nur eben darauf hinweisen, daß dieser Einfluß des Bodens auch bei Wahl der Sommerfrische in Rechnung zu ziehen ist.

Sumpfboden ist als durchaus schädliches Gebiet sorgfältig zu vermeiden. Bodenarten von Thon, dichtem Mergel sind ungesund, da das Wasser weder abläuft noch durchgeht. Krystallinisch körnige und schieferige Gesteine hingegen, die stark abfallen und das Wasser gut abfließen lassen, sind gesund; Sümpfe sind in ihnen selten; die Luft über ihnen ist verhältnißmäßig trocken. Ein Gleiches gilt vom Thonschiefer, von Kalkstein- und Dolomitfelsen, sowie vom Kies; auch diese zeichnen sich durch starken Abfall gegen die Ebene und den schnellen Wasserablauf aus. Auch der Kreideboden ist, wenn er nicht mit Thon gemischt ist, sehr gesund. Sandboden ist gesund, wenn die durchlässigen Sandsteine eine mächtige Lage bilden, ungesund aber, wenn der Sand mit viel Lehm gemischt ist oder Lehm unter einer flachen Sandsteinschicht liegt.

Einen wesentlichen Einfluß auf das Klima hat endlich die Vegetation des Bodens, und darum sind Sommerfrischen in waldiger Lage am meisten vorzuziehen. Der Wald gewährt nämlich nicht nur Schutz gegen heftige Windströmungen und gegen sengende Sonnenstrahlen, sondern der Gang der Temperatur in einer Waldgegend ist gleichmäßiger als im Freilande; die Extreme der Temperaturgrade sind geringere als an nicht bewaldeten Stellen. Die häufigeren Niederschläge in der Waldgegend haben eine bessere Reinigung der Luft von verschiedenen Beimengungen zur Folge. Im Walde findet ferner durch einen stetigen Luftstrom am Boden des Waldes nach dem Freien und von hier zurück nach den Baumkronen eine beständige Ventilation statt, welche die Luftreinheit fördert. Die Ausdünstungen der Bäume, besonders diejenigen harziger Natur in den Nadelholzwaldungen, die Veränderungen, welche der Athmungsprozeß der Blätter des Laubholzbestandes im Ozon-, Sauerstoff- und Kohlensäuregehalte der Luft mit sich bringt, sind gleichfalls von günstiger Rückwirkung auf die Gesundheit. Der mit Gras, Klee und anderen dicht an einander stehenden Pflanzen bedeckte Boden, das Gras- oder Wiesenland, bietet keine so günstigen Verhältnisse wie die durch Wald oder reichlichen Baumwuchs ausgezeichnete Gegend. Die Abkühlung der Wiesenluft und ihre Feuchtigkeit ist zuweilen eine allzu große. Wo aber die Vegetation nur durch Torf vertreten ist, da lasse man sich nicht nieder, denn da ist die Luft stets feucht und kühl und enthält die mit Recht gefürchteten Pilze des Sumpfbodens.

Am besten eignet sich zur Sommerfrische ein ringsum von hohen Bergen und Waldungen gegen rauhe Winde geschütztes, nach Süden offenes Gebirgsthal, dessen Breite der Sonne genügenden Zutritt zu gewähren vermag, wo zugleich der Boden recht trocken ist, und wo es an schattigen Spazierwegen in Nadelholz- oder Laubholzwaldungen nicht fehlt. Die Nähe von Sümpfen, versumpften Teichen und Pfützen, von Fabriken und gewerblichen Anlagen, welche belästigende oder gesundheitsschädliche Ausdünstungen mit sich führen, ist bei der Wahl der Wohnungen [355] zu meiden. Diese letzteren selbst sollen wenigstens den Haupterfordernissen einer richtigen Hygieine entsprechen, wenn man schon bei ländlichen Gebäuden seine Ansprüche in dieser Beziehung nicht allzu hoch zu stellen gewohnt ist. Am wohnlichsten sind kleine, von den Nachbargebäuden getrennte Häuschen oder Villen mit hübschen großen Vorgärten oder mitten in einem anmuthigen Garten stehend. An Berglehnen dicht angebaute Häuser sind möglichst zu vermeiden, denn solche Gebäude haben durch die Feuchtigkeit zu leiden, welche von der Bergwand herabdringt, und werden darum mancherlei Krankheit fördernde Uebelstände bieten. Zur Trockenhaltung der Wohnung ist es auch nothwendig, daß für die Ableitung der Regenwässer durch Rinnsale oder noch besser durch Kanäle gesorgt sei. Mit der Entfernung der Fäkalien ist es auf dem Lande oft noch sehr schlimm bestellt, und häufig bringen die Senkgruben, welche jene Stoffe aufnehmen, eine wahre Verpestung des ganzen Gebäudes mit sich. Man sehe wenigstens darauf, ob nicht die Senkgrube ihren Inhalt dem fließenden Wasser mittheilt, welches zum Waschen, Kochen oder gar zum Trinken benutzt wird, denn solchermaßen werden die Krankheitskeime am allerleichtesten verbreitet. Der Zustand der Bedürfnißorte muß als ein ganz richtiger Maßstab für die empfehlenswerthe Beschaffenheit eines Wohnhauses betrachtet werden.

An Sommerfrischen in erhöhter, waldiger Lage, welche reine Luft, gesunde und zweckmäßige hygieinische Einrichtungen haben, ist in Deutschland und Oesterreich kein Mangel. Der Harz, der Thüringer Wald, das Fichtelgebirge, das sächsische Erz- und Elbsandsteingebirge, die Sudeten, der Taunus, der Schwarzwald, die bayerischen Alpen, der Böhmerwald und die österreichischen Alpen gestatten eine reiche Auswahl unter solch gesegneten Orten, wo es mit geringen Kosten und wenig Reisestrapazen ermöglicht ist, bei guter Verpflegung und im Kreise der Seinen sich einige Wochen behaglicher, angenehmer Erholung zu gönnen, Körper und Geist neu zu beleben und zu kräftigen.

Personen, deren Stellung eine aufregende gesellschaftliche Thätigkeit mit sich bringt oder deren Beruf sie nöthigt, stets mit vielen Menschen in Verkehr zu treten, werden wohl daran thun, sich zur Sommerfrische irgend einen stillen Gebirgswinkel zu wählen, wo sie die erwünschte Ruhe und Gelegenheit zur geistigen Sammlung finden. Andere Personen wiederum, welche sonst durch stete ernste Arbeit an den häuslichen Herd gebannt oder an den Schreibtisch gefesselt, von jeder Unterhaltung und Zerstreuung abgehalten werden oder in trüber Stimmung sich schädlichem Grübeln hingeben, müssen in belebtere, zahlreich besuchte Sommerfrischen gehen, wo ihnen gesellige Anregung in Fülle geboten wird und ein buntbewegtes Treiben die Gedanken in angenehmer Weise ablenkt. Im allgemeinen sind Plaudereien im Kreise anregender Personen, eine leichte Lektüre, fleißiges Spazierengehen, mäßiges Kegelschieben, Billardspiel, Scheibenschießen etc. die zweckmäßigste Beschäftigung in der Sommerfrische, wogegen Kartenspielen sowie jedes aufregende Spiel als eine ebenso schädliche wie leider noch immer selbst im Freien so sehr beliebte Art des Zeitvertreibes sorgfältig gemieden werden sollte. Alles an die Sorgen des Alltaglebens Gemahnende, das Gemüth Aufregende und die Sinne Reizende soll von der Sommerfrische ferngehalten werden.

Zum Schlusse noch eine Mahnung! Besonders wer mit seiner Familie in die Sommerfrische reist, vergewissere sich vorher, oh daselbst nicht irgendwelche epidemische oder ansteckende Krankheiten herrschen. Man gehe bei diesen Erkundigungen sehr vorsichtig zu Werke, denn noch immer gehört es nicht zu den größten Seltenheiten, daß die Ortsbewohner das Vorkommen von Blattern oder Diphtheritis verheimlichen, um die Fremden nicht zu verscheuchen. Man sehe ferner darauf, namentlich wenn Kinder mitgenommen werden, ob in der Sommerfrische oder mindestens in der Nähe derselben sich ein Arzt befinde, welcher imstande ist, in Erkrankungsfällen rasche Hilfe zu leisten und zu beurtheilen, ob eine Rückkehr in die Heimath angezeigt erscheine. Die sorgsame Hausfrau wird gewiß nicht ermangeln, eine kleine Hausapotheke mit sich zu führen.

Endlich vergesse man nie, auch wenn die Hitze noch so groß ist, für die Sommerfrische recht warme, dicke Kleidungsstücke einzupacken. Die Unterlassung dieser Vorsichtsmaßregel rächt sich gar oft, wenn im Gebirge eine rasche Abkühlung der Luft oder ein Umschlag der Witterung eintritt, durch einen heillosen Schnupfen oder andere Erkältungszustände.

Der Aufenthalt in einer richtig gewählten, guten Sommerfrische möge sich auch unseren Lesern als ein Mittel bewähren, Körper- und Geisteskräfte neu zu beleben und frischen Lebensmuth anzufachen. Dann werden sie die Wahrheit des schönen Spruches von Anastasius Grün empfinden:

„Hier ruht mein treuster Genoß’ im Land,
Herr Hypochonder zubenannt,
Er starb an frischer Bergesluft,
An Lerchenschlag und Rosenduft.“




Blätter und Blüthen.

Eine Fürstin unter den Palmen. (Mit Abbildung S. 341.) Es ist in botanischen Kreisen eine alte gute Sitte, an hervorragende Pflanzen die Namen hervorragender Personen zu knüpfen und so das Eine durch das Andere zu adeln, indem die Pflanze sich von da ab eines tönenden Namens erfreut und der Name des Pathen andererseits für alle Zeiten in die Tafeln der Wissenschaft eingegraben ist.

Nicht immer sind diese so getauften Pflanzen Erscheinungen, welche auch dem Laien imponiren, beispielsweise ist der Name der strahlenden Kaiserin Katharina von Rußland von dem Botaniker Hedwig an eine kleine nordeuropäische Moosgattung verliehen worden, welche der Forscher „Catharinea“ taufte. Als die Höflinge des damaligen Petersburger Regimentes sich mißbilligend darüber äußerten, wie ein Gelehrter es wagen könne, ein solch winziges Pflänzchen nach einer so mächtigen Kaiserin zu taufen, war die Kaiserin selbst es, welche sie zurechtwies und die Widmung der Moosgattung dankend annahm.

Naturgemäß war es, daß die Verehrung, welche dem Fürsten Bismarck als dem Neubegründer des Reiches von allen Seiten entgegen gebracht wurde, ganz besonders aber von denjenigen Deutschen, welche draußen in der Ferne es praktisch kennen lernten, wie seit den Tagen von 1870 der Deutsche hochgeachtet wurde, auch in wissenschaftlichen Kreisen ihren lebhaften Wiederhall fand. Die botanische Wissenschaft hat keine Orden zu verleihen, keine Titel zu vergeben, aber indem sie den Namen des Fürsten Bismarck an eine der herrlichsten Palmen knüpfte, welche der Erdball trägt, sucht sie in ihrer Weise den Kanzler zu ehren. Bismarckia nobilis heißt die wundervolle Palme, welche Hildebrandt 1878 auf Madagaskar auffand und in Samen nach Europa brachte, wo sie im Oktober 1880 von Hildebrandt und dem Gartendirektor Wendland in Herrenhausen, dem ersten Gewährsmann auf dem Gebiete der Palmenkunde, als bisher unbeschrieben festgestellt wurde. Auf die von beiden Forschern dem Reichskanzler unterbreitete Bitte, zu gestatten, daß diese schöne Palmengattung den Namen Bismarckia führen dürfe, erfolgte die Annahme der Widmung durch den Fürsten Reichskanzler, und am 11. Oktober 1880 wurde der Name Bismarckia mit der eingehenden Beschreibung der wissenschaftlichen Charaktere, welche die neue Gattung kennzeichnen, von Wendland in der „Botanischen Zeitung“ veröffentlicht. Bismarckia gehört, wie unsere Abbildung zeigt, in das Geschlecht der Fächerpalmen und wissenschaftlich in die Gruppe der Borassus-Palmen, in welcher zwar fast durchweg gewaltig große Palmenformen der tropischen Gebiete untergebracht sind, des Reichskanzlers Palme aber dennoch die weitaus hervorragendste ist.

Hildebrandt, welcher der Wissenschaft auf seiner zweiten Erforschung Madagaskars leider in so jungen Jahren schon entrissen wurde, schilderte die Bismarckia im mündlichen Verkehr als die eindrucksvollste Pflanzenerscheinung, welche sein an Großartiges so gewohntes Auge sah. Leider wurden seine damaligen Mittheilungen nicht sofort festgehalten, und seither hat keines zweiten Europäers Fuß die Bismarckia-Haine betreten. Hildebrandt ging zum zweiten Male nach Madagaskar mit der besonderen Absicht, Stämme von Bismarckien zu holen, aber mitten im ungastlichen Hochwalde erkrankte er. Die energische Vermittlung des Deutschen Reiches ließ den schwer leidenden Forscher zwar auffinden und ihn so sorgsam wie möglich nach Antananarivo herabbringen, aber dort verschied er trotz bester Pflege.

Die kurzen Worte, welche Hildebrandt über die Bismarckia schon 1880 veröffentlichte (Zeitschrift für Erdkunde XV., Seite 107), berichten über seine Tour durch das von ihm zum erstenmal besuchte West-Madagaskar. Oberhalb Beravi am Flusse Beturéa oder Rano-bé zwischen Ansahasi und Ansunaki sah er die riesige Form zum ersten Male. „Hier mischt sich,“ schreibt er, „unter die Sata-Palmen (Hyphaene coriacea) eine prachtvolle andere Fächerpalme mit kräftigem Säulenstamme. Bis drei Meter spannen ihre derben Blattflächen, die Blattstiele sind weiß gestreift, riesige Trauben pflaumengroßer, dunkelbrauner Früchte hängen herab. Ganze Haine dieses urkräftigen Gewächses passirten wir. Der starke Wind blies in das mächtige Laub, so daß es klappernd und klatschend zusammenschlug.“

Das war Bismarckia nobilis! Nach Hildebrandts mündlichen Mittheilungen an mich überragten die Bismarckien alle anderen Waldpflanzen, und schon auf weite Entfernungen zeichneten sich die mächtigen Kronen in 20 bis 30 Meter Höhe über dem Niederwalde ab. Der kräftige Stamm schießt kerzengerade auf und trägt ein großartiges Blattwerk von blaugrüner Färbung auf mächtigen langen Blattstielen quer ausgebreitet. Charakteristisch sind den Blättern die lang herabhängenden weißen Fasern, welche sich von den einzelnen tief eingespaltenen Abschnitten der bis neun Quadratmeter bedeckenden Blattspreite ablösen. Von den Früchten, welche [356] Hildebrandt sammelte und die später im botanischen Garten in Berlin ausgesät wurden, keimten etwa dreißig Stück. Ein keimendes Exemplar kaufte 1881 der botanische Garten in Breslau, und hier hat es sich inzwischen zu einer stattlichen Pflanze entwickelt, welche zwar noch keine Vorstellung von den riesigen Maßen erwachsener Stämme giebt, aber dafür uns Anhaltspunkte für die sehr charakteristische Blattform geboten hat. Der ganze Farbenton der prächtig gedeihenden Palme ist blaugrün, und die fußlangen und mehr als daumendicken Blattstiele zeigen schon die Anfänge der weißen Streifung, welche Hildebrandts gärtnerischem Sinn sofort auffiel. Zahlreiche weiße Fäden hängen auch schon von den Blättern unseres Pfleglings herab, und wir hoffen, ihn sich kräftig weiter entwickeln zu sehen.

Unser Bild zeigt außer der ragenden Bismarckia nobilis in mächtiger Baumform (Nr. 2) im Vordergrunde das Bild unserer jungen Bismarckia (Nr. 3), rechts (Nr. 4) einen tropischen Schraubenbaum (Pandanus) und links (Nr. 1) den breitblätterigen „Baum der Reisenden“ (Ravenala madagascariensis), welcher in seiner breiten Blattform an eine Banane erinnert. Seinen Namen verdankt er der Eigenthümlichkeit, daß in seinen breiten Blattscheiben sich Wasser ansammelt und erhält, welches den Reisenden zur Erquickung dienen „soll“. In Wahrheit wird es wohl nicht trinkbar sein, und so gehört wieder eine Tugend mehr in das Reich der Legenden. Wenn einst nach langen Zeiträumen die Tradition das Gedächtniß an den Reichskanzler Fürst Bismarck mit den Ranken der Legende umflochten haben wird, wie sie sich heut um die Paladine des Großen Karl winden, dann wird in den ehernen Tafeln der Wissenschaft noch klar leuchten der Name „Bismarckia nobilis“. B. Stein.

Tullia. (Zu dem Bilde S. 344 u. 345.) Vieles, was ehemals „römische Geschichte“ hieß, ist in das Reich der Sage verwiesen worden. Ihr Schleier deckt das feindliche Brüderpaar Romulus und Remus, den weisen, halb göttlichen Numa Pompilius sammt der Nymphe Egeria. Aber mit historischer Deutlichkeit tritt schon aus dem Nebel der Dichtung das Bild des alten Tarquinius, an dessen Namen die ältesten römischen Bauten anknüpfen, sowie seines ebenso tüchtigen Schwiegersohnes und Nachfolgers Servius Tullius. Durch volksthümliche Einrichtungen zog sich dieser letztere den Haß der Geschlechter zu, sie sannen auf seinen Untergang und fanden den Vollstrecker der ruchlosen That in seiner eigenen Familie. Nach dem Bericht der alten Schriftsteller hatten die beiden Töchter des Servius Tullius die beiden Söhne des alten Tarquinius geheirathet. Lucius, der ältere, ein lasterhafter und unbändiger Mensch, hatte die sanfte und fromme ältere Schwester, Aruns, sein redlicher und treuer Bruder, die wilde und ruchlose Tullia zum Weibe. Diese konnte den Tod ihres alten Vaters nicht erwarten, und da sie ihren Mann nicht zur Ermordung des Königs bewegen konnte, wandte sie sich an Lucius Tarquinius und wurde rasch genug mit ihm einig. Sie vergifteten vorerst beide ihre Ehegenossen und zündeten an deren Scheiterhaufen ihre Hochzeitsfackeln an. Hierauf trat Lucius in die Verschwörung der unzufriedenen Edeln zum Sturze des Königs Servius Tullius ein. Er erschien plötzlich im Senat mit den Abzeichen königlicher Gewalt und umgeben von einem bewaffneten Anhang. Auf das Gerücht davon eilte der König in die Versammlung und nannte entrüstet den Tarquinius einen Verräther; dieser aber wandte sich um, ergriff den schwachen Greis und stürzte ihn die Treppe hinab. Blutend und schwerverwundet ward Servius von seinen Getreuen fortgetragen; ehe er aber sein Haus erreichte, ereilten ihn die nachgesandten Mörder und machten ihn vollends nieder. Der blutige Leichnam blieb dann auf der Straße liegen.

Tullia aber litt es nicht länger zu Hause; sie fuhr zum Forum, ihren Mann als König zu begrüßen. Ihm selbst war das Frohlocken des ruchlosen Weibes gräßlich, und er schickte sie heim. Als aber ihr Gespann durch die Mordgasse kam, scheuten die Pferde vor dem dahingestreckten Leichnam, der Knecht hielt die Zügel an. Tullia jedoch richtete sich hoch auf und gebot mit gellendem Ruf, über den Todten wegzufahren. Dies geschah, und das Blut des Vaters spritzte über ihr Gewand. Die Gasse aber, in der ein solcher Greuel geschah, hieß noch in späten Zeiten „die verruchte“.

Diesen schauerlichen Vorgang führt uns Hildebrands Bild in dramatischer Bewegung vor Augen. Hochauf bäumen, zurückgerissen von dem kräftigen Wagenlenker, die prächtigen Pferde vor der liegenden Greisengestalt, in wildem Zuruf streckt das Weib den Arm empor, und rings herum aus der Volksmenge und den Fenstern heben sich gegen sie andere Arme, wehklagend und verdammend. Selbst die Mutter, die ihr Söhnchen vor den daherstürmenden Pferden rettet, hat noch einen Blick des Abscheus für die Frevlerin, welche hier straflos triumphirt. Und nicht ohne tiefe Symbolik wendet sich wie anklagend nach ihr das Haupt der Wölfin, welche die Zwillinge säugt; aus dem Hintergrund der hohen düstern Straße aber glänzt bedeutungsvoll das Capitol, das Wahrzeichen der Herrschaft über Rom, später über die Welt, um dessentwillen noch vieles Blut fließen sollte!

Das mehrfach durch Preise ausgezeichnete reiche und farbenprächtige Gemälde bildete vergangenen Sommer einen der Hauptanziehungspunkte der Münchener Jubiläumskunstausstellung. Br.

Aus Scheffels Nachlaß. Für den volksthümlichen Sänger des „Trompeters von Säkkingen“ herrscht eine so rege Theilnahme, daß auch Bruchstücke, kleine Reste seiner dichterischen Thätigkeit, Sprüche und Gelegenheitsgedichte willkommen sind. Eine solche Sammlung ist jetzt erschienen: „Gedichte aus dem Nachlaß von Joseph Viktor v. Scheffel“ (Stuttgart, Adolf Bonz u. Comp.). Da finden sich humoristische Gedichte mit den bekannten, sich selbst verspottenden hochgelehrten Wendungen; der schottische und serbische Balladenton wird lustig parodirt; „Eine traurige Geschichte“ schildert uns die Liebe eines Herings zu einer Auster. Dann entrollen sich vor uns allerlei landschaftliche Bilder aus der Alpenwelt und den badischen Landen; es folgen stimmungsvolle Lieder, zum Theil schon aus dem von Emanuel Geibel herausgegebenen „Münchener Dichterbuch“ bekannt, so z. B. „Wiedersehen“, dessen erste Verse lauten:

„Ich hab’ die Jahre nicht gezählt,
Seit mich und dich der Sturm verschlug.
Ein Leben, dem das Liebste fehlt,
Zerfliegt wie flücht’ger Athemzug.“

Unter den Gelegenheitsgedichten finden sich Festlieder, Prologe, studentische Gedichte, Lieder an den Grafen von Schack, an Emanuel Geibel. Da steht auch ein recht burschikoses Alpenlied:

„Wenn du an Pult und Tische
Geschafft dich lahm und krumm –
Zum Teufel ging die Frische
Sammt dem Ingenium –
Dein Hirn wie zähes Leder,
Wie Schwarzblech hart dein Kopf –
Zerstampfe dann die Feder,
Reiß aus, du armer Tropf!

Raus aus dem Haus!
Raus aus der Stadt!
Raus aus dem Staat!
Nix als raus!“

Am Schluß stehen in langer Reihe Sprüche verschiedener Art aufmarschirt, Trinksprüche und Blumensprüche und Sentenzen der Lebensweisheit, wie die folgende kleine Auswahl beweisen mag:

„Stoßt an! Ein Hoch dem Deutschen Reich!
An Kühnheit reich, dem Adler gleich,
Mög’s täglich neu sich stärken …
Doch Gott behüt’s vor Klassenhaß
Und Rassenhaß und Massenhaß
Und derlei Teufelswerken!

Ernhaft streben,
Heiter leben,
Vieles schauen,
Wenigen trauen –
Deutsch im Herzen,
Tapfer und still,
Dann mag kommen,
Was da will.

Dein Leib verwest, dein Haus zerfällt,
Staub wird einst alle Erdenwelt;
Doch niemals stirbt, was Menschenkraft
Im Geist und in der Wahrheit schafft.“


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 341. – Schillers Antrittsrede als Professor in Jena. S. 347. – Die Goldgräber der Rauris. Von J. Freytag. S. 349. Mit Abbildungen S. 349 und 350. – Seine Mutter. Von A. Merck (Schluß). S. 351. – Ein Herz und Eine Seele. Gedicht von J. G. Fischer. S. 352. – Zur Wahl der Sommerfrischen. Von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch. S. 352. – Junge Liebe. Illustration. S. 353. – Blätter und Blüthen: Eine Fürstin unter den Palmen. Von B. Stein. 355. Mit Illustration S. 341. – Tullia. S. 356. Mit Illustration S. 344 und 345. – Aus Scheffels Nachlaß. S. 356.


In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

E. Marlitt’s Romane und Novellen.
Illustrierte Gesamt-Ausgabe.
Vierter Band: „Im Schillingshof“.
Die Band-Ausgabe von E. Marlitt’s illustrierten Romanen und Novellen erscheint vollständig in 10 Bänden zum Preise von je
3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.
— Vierteljährlich ein Band. —

Inhalt: Bd. 1. „Das Geheimniß der alten Mamsell“. – Bd. 2. „Das Heideprinzeßchen“. – Bd. 3. „Reichsgräfin Gisela“. – Bd. 4. Im Schillingshof“. – Bd. 5. „Im Hause des Kommerzienrathes“. – Bd. 6. „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – Bd. 7. Die zweite Frau“. – Bd. 8. „Goldelse“. – Bd. 9. „Das Eulenhaus“. – Bd. 10. „Thüringer Erzählungen“ (Inhalt: „Amtmanns Magd“, Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, „Schulmeisters Marie“).

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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.