Die Gartenlaube (1889)/Heft 23
[373]
No. 23 | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Nicht im Geleise.
„Baden-Baden, den 29. September 1885.
Mein lieber Alfred! Jetzt sind zwei Wochen vergangen, seit Du Baden verließest, und in wenig Tagen kehrst Du zurück. Dann sollen wir vor dem Gesetz miteinander verbunden werden. Von Tag zu Tag, ich will es Dir frei gestehen, wächst mir Deinetwegen ein Sorgengefühl im Herzen. Deine Briefe haben es mir vollends klar gemacht, daß nicht Mitleid mit meiner Lage, daß Dich die äußerste Verzweiflung angetrieben hat, um mich zu werben. Ich weiß es nun ganz, wie Dein Herz, leidvoll, verwundet und erregt, wie es ist, die trostlose Vereinsamung nicht ertragen kann, zu welcher es sich verdammt sah. Aber ob Du an meiner Seite den wahrhaften Frieden finden wirst, nach dem Du so heiß verlangst, das ist die Frage, welche ich immer wieder aufwerfe, durchdenke und bald verneine, bald zagend bejahe. Wenn Du nun eines Tages zu der Erkenntniß kämest, daß Du doch niemals ein anderes Weib lieben könnest, als diese eine, welche Dich so gährend noch beschäftigt, obschon Ihr Euch vor vielen Wochen für immer getrennt habt? Du schreibst mir, wie hundertfach es vorkomme, daß die wahre, stillleuchtende, immer dauernde Liebe zwischen zwei Menschen nach und nach erwache, die sich aus bloßer Konvenienz geheirathet, und daß auch wir vielleicht eines Tages diese Liebe in uns lebendig fühlen könnten. Wenn sich diese Hoffnung aber nicht erfüllt? Wenn wir immerdar nichts empfinden werden als die innigste Freundschaft oder wenn ich so sagen soll: geschwisterliche Neigung? Wird Dir Wärme genügen, wo Deine Seele Flammen suchen möchte? Wirst Du Dich an einem freundlichen, aber nüchternen häuslichen Herd zufrieden fühlen können, wo Dein Herz zurückdenken muß an die wilde Poesie Deiner unglücklichen Leidenschaft?
Noch bist Du frei. Ich bleibe Dir immer dieselbe, auch wenn Du gestehst: ,Es war doch eine Voreiligkeit, daß wir uns banden.‘
Wenn Du aber auf Deinem Willen bestehst, weißt Du, daß meine Dankbarkeit und meine herzliche Neigung, mein inniges verstehendes Mitleid mich lehren werden, Dir so viel Glück als möglich zu geben.
Du willst hören, wie ich meine Tage verbringe? Nun, ich habe eine Fülle von Arbeit. Mit dem Rest meines Geldes und dem Erlös von allerlei Sachen, die ich verkaufen ließ, beschaffe ich mir eine kleine Aussteuer von den Dingen, die mir persönlich nothwendig sind. Da heißt es, die Nadel rühren, die Nähmaschine und die Schere in Bewegung setzen; zum Glück habe ich gelernt,
[374] Wäsche und Kleider selbst anfertigen zu können. Aus Mamas Nachlaß habe ich nur einige liebe Andenken behalten, unter anderem ein Medaillon, in welchem ich zu meinem Erstaunen das Bild Deines Vaters fand, das Mama mir nie gezeigt hatte. Es ähnelt Dir sehr.
Andern Schmuck, der ihr, wie ich weiß, gleichgültig war, ihren Krankenstuhl, ihr Bett, das besonders konstruirt war und immer mit uns reiste, ihre Kleider und andere Sachen habe ich an einen Auktionator gegeben und ein verhältnißmäßig nettes Sümmchen dafür bekommen.
Frau Ravenswann besucht mich oft, es scheint ihr sehr zu gefallen, daß ich alles selbst mache, und sie sagt, das habe sie zum größten Theil auch gethan. Sie spricht merkwürdig viel von Dir und dem guten Einfluß, den sie von mir auf Dich für gewiß erwarte. Sie scheint Dich demnach als bête noire zu betrachten. Sie bietet in allen Dingen ihren Rath an, dessen ich nicht bedarf, da ich seit Jahren gewohnt bin, für mich, die Mutter und unsere Alte zu denken. Auch würde die Befolgung der Rathschläge meist umständlich, kostspielig und veraltet sein. Aber ich höre achtungsvoll und dankbar zu, denn Frau Ravenswann erweist mir eine Güte, die ich noch durch nichts verdient habe, und die ich auch nicht aus einer gegenseitigen Sympathie herleiten kann. Wir sind doch sehr verschieden, haben gar keine gemeinsamen Interessen, und oft kommt es mir vor, als ob ich, das arme Mädchen, welches trotz der vielen Reisen fast ein Einsiedlerleben geführt hat, beinahe eine femme du monde sei gegenüber der reichen Hansestädterin, die schon seit Jahren in Berlin lebt und doch – kleinstädtisch ist.
Zuweilen fordern Ravenswanns mich auch zur Theilnahme an Touren auf. Das ist mir dann stets eine Last, da unterwegs fast nur über Personen und Verhältnisse gesprochen wird, die ich nicht kenne. Allgemeine Fragen erörtern sie nie untereinander, sie gehören zu den Leuten, die nur von Leuten sprechen. Oft wird auch die Skatpartie vom Abend vorher noch einmal durchgenommen, und neulich hätten Assessor Ravenswann und Schneider sich beinahe erzürnt, weil sie über ein falsches Anspiel, dessen Frau Schneider sich schuldig gemacht haben sollte, verschiedener Ansicht waren.
So, lieber Alfred, verlaufen meine Tage. Wenn deren noch
acht vergangen sein werden, bin ich Deine Frau. Wie immer auch die
kommenden Zeiten mir gütig oder hart sein mögen, immer bin ich
Deine treueste Freundin Germaine.“
„Frankfurt a. M., den 2. Okt. 1885.
Liebe Germaine! Nur wenige Zeilen, um Dir zu sagen, daß ich morgen in Baden eintreffe, freilich so tief in der Nacht, daß wir uns nicht mehr sehen können. Uebermorgen um elf Uhr vormittags hole ich Dich zum Standesamt ab. Nachher werden wir mit Ravenswanns und Schneiders, sowie mit meinem uns als Zeuge dienenden Notar im Viktoriahotel ein Dejeuner nehmen, welches der letztere in meinem Auftrag bestellt hat.
Hiernach wird uns Zeit bleiben, Dein und mein Gepäck zu vereinen, die Verbindlichkeiten bei Deiner und meiner Wirthin zu begleichen und dann können wir gegen abend nach Berlin abreisen. Wenn es Dir so genehm ist, werde ich Fritz entlassen. Zwei Dienstboten können wir zunächst nicht halten, und Du wirst einen weiblichen Domestiken brauchen.
Ich denke, wir bleiben vorerst in Berlin, in meiner bisherigen Wohnung, die sich um ein Zimmer vergrößern läßt; ich hatte bisher außer Fritzens Kammer zwei hübsche Räume. Zum Frühling will ich mein Kapital flüssig machen, ein Landgütchen kaufen und versuchen, ein tüchtiger Landwirth zu werden. Wenn ich mir nicht vorstelle, daß ich so viel zu thun haben werde, um keinen Augenblick Zeit zum Nachdenken zu haben, meine ich, die Welt sei schaurig leer.
Deine Betrachtungen, liebe Germaine, wie unsere Ehe sich gestalten könnte, haben mir keinerlei neue Bedenklichkeiten mehr erregt. Mein Entschluß steht so felsenfest wie meine Ueberzeugung, neben Dir Ruhe zu finden. Sieh, schon indem ich Dir die obigen praktischen Dinge schrieb, fühlte ich mich als Mensch, der Pflichten, einen Lebenszweck hat. Das war mir wohlthuend. Deshalb bitte ich Dich, nicht mit einer einzigen Silbe mehr darauf zurückzukommen.
Ja, ewig wird mein Herz erbeben, wenn man mich an sie mahnt! An sie! Deshalb schweige ich auf immer von ihr. Wenn sie gelitten hätte wie ich, wenn sie empfunden hätte wie ich – dann würde wohl ihr Herz einen Weg gefunden haben zurück zu mir. Oder wenn sie nicht wollte, wenn ihr trotziger Sinn es ihr verbot, dann hätte sie den geliebtesten, holdesten Boten gehabt. Ihr Kind – den Knaben, den ich liebte, wie man vielleicht kaum ein eigenes Kind liebt – den Knaben, dessen Sonnenschein meine Liebe war – ihn, dessen Erziehung ich alle meine Tage widmen wollte. Schon um seinetwillen hätte sie ihn schicken müssen, mit der Bitte auf seinen süßen Lippen: komm zurück! –
Sie hat es nicht gethan. Ich habe sie ganz verloren. Guter
Engel, stelle Du Dich schützend zwischen mich und das Gedächtniß an sie.
Dein Alfred.“
Der vierte Oktober brachte Unwetter und Regen. Während
Alfred sich ankleidete, kämpfte er mit einer seltsamen Lahmheit
aller seiner Gedanken, selbst seines Körpers. Ihm war, als sei
er müde und wie zerschlagen nach großen Anstrengungen. Der
Regen, der gegen die Fensterscheiben schlug und schräge nasse
Linien draußen an das Glas zeichnete, machte ihn obenein frösteln.
Eine heiße Sehnsucht nach Sonnenschein befiel ihn.
Als Fritz ihm das Frühstück hereinbrachte, widerte ihn zum erstenmal das so lang ertragene freche Gesicht des Burschen an. Er besann sich, daß er ihn wegschicken wolle und daß er heute überhaupt noch viel langweilige Dinge zu ordnen hatte.
„Sie werden alle Sachen packen. Wir kehren mit dem Nachtzug nach Berlin zurück. Bei unserer Ankunft morgen mittag dort sind Sie entlassen,“ sagte er.
„Der Herr irren sich,“ erwiderte Fritz mit der größten Ruhe, „ich stehe auf monatliche Kündigung und somit kann der Herr mir am ersten November zum ersten Dezember kündigen.“
Nun ärgerte Alfred sich.
„Auf monatliche Kündigung, ganz recht. Also heute, am vierten Oktober, kündige ich Ihnen zum vierten November. Da ich Sie aber nicht mehr um mich haben will, bezahle ich Ihnen bis dahin Lohn und Entschädigung für die Wohnung und Beköstigung.“
Er wußte selbst nicht, wie es kam, es brachte ihn außer sich, mit diesem Menschen sprechen zu müssen. Ihm schien’s, als sei in Fritzens Lächeln noch ein neuer Zug von Schadenfreude gekommen, als sei dieser ganz untergeordnete Mensch da sein Feind.
Fritz besann sich.
„Gut,“ sagte er dann, „ich erkläre mich einverstanden. Aber ich möchte dann ersuchen, mich schon am Bahnhof Baden-Baden zu entlassen, vorausgesetzt, daß ich das Reisegeld nach Berlin doch erhalte.“
„Zum Donnerwetter, ja! Und nun scheren Sie sich hinaus!“
Alfred hätte gewünscht, ihm eine Ohrfeige geben zu dürfen. Als er sich nun allein sah, ging er mit hastigen Schritten auf und ab im Zimmer. Er begriff, daß er in dieser Stimmung nicht bleiben dürfe.
Wenn Germaine auch keinen zärtlichen Bräutigam erwartete, einen liebevoll und gütig gestimmten Mann mußte sie finden.
Nach wenig Sekunden hatte er vergessen, daß der Wortwechsel mit dem Diener ihn geärgert, aber seine Stimmung war deshalb nicht sonniger geworden.
Es lag auf ihm wie ein unerträglicher Druck. Aber er dachte weder vorwärts noch zurück. Die eiserne Entschlossenheit, mit welcher er dieser Heirath zugestrebt, glich dem finsteren Fanatismus, mit dem ein Mensch in das Kloster tritt, um von dem trügerischen Glück dieser Welt nicht mehr in Versuchung geführt zu werden. Die Reue, die nachher kommen konnte, wollte er nicht vorausahnen. Der Kämpfe, welche früher gewesen, wollte er sich nicht erinnern. Gar keine Stimmen sollten mahnend bis an sein Herz dringen.
Es schlug zehn Uhr. Er erinnerte sich, daß Germaine ihn um elf erwarte, und daß er noch allerlei brauche, ein Bouquet, einen Wagen. Den letzteren ließ er von Fritz holen und fuhr selbst zum Gärtner. Unterwegs fiel ihm ein, daß es wohl angebracht sei, Frau Mietze eine Aufmerksamkeit zu erweisen, da diese sich Germaines so angenommen. Er bestellte also im Blumenladen, daß man sofort den schönen Strauß, welchen er aussuchte, an Frau Assessor Ravenswann in das Viktoriahotel senden solle. Auf die Karte, die er dazu gab, schrieb er: „Der gütigen Freundin ihr dankbarer Alfred von Haumond.“ Dabei dachte er, daß er nie geglaubt hätte, in Lagen zu kommen, wo er dieser Frau Dank schulde. Auf die Zusammenstellung eines für Germaine [375] passenden Straußes mußte er warten, und so kam es, daß sein Wagen erst fünf Minuten nach elf Uhr vor dem Hause des jungen Mädchens hielt.
Er stürzte förmlich die Treppen hinauf und riß die Thür des Wohnzimmers auf.
Da saß das schöne Mädchen still wartend, und vor ihr stand die alte Frau, Thränen in ihren Schürzenzipfel vergießend.
Alfred bat tausendmal um Entschuldigung, küßte Germaines Hand und überreichte seinen Strauß. Sie waren beide sehr blaß und vermieden es, sich anzusehen. Alfred geleitete sie hinunter, die Alte trippelte hinterdrein und erflehte schluchzend Glück und Segen für das junge Paar und nahm zum zehnten Male Abschied, denn sie wollte unterdessen in ihre hessische Heimath abreisen.
Und nun fuhren sie miteinander dahin, wo sie sich unauflöslich verbinden wollten. Sie saßen stumm zusammen, sie suchten sich nicht einmal durch einen Händedruck etwas zu sagen. Ein lähmendes Entsetzen war plötzlich über sie beide gekommen, als sie sich wiedergesehen hatten.
Dieses Mädchen, verwaist, hilflos, mutterseelenallein wie es dasaß, nur von der Theilnahme einer armen alten Dienerin begleitet, sollte in der Fülle seiner Jugend und Schönheit sich einem ungeliebten Manne vermählen? War das nicht eine Sünde? Hieß das nicht, sie um jede Glücksmöglichkeit betrügen? Ein ungeheures Mitleid ergriff Alfreds Herz und zugleich ein Unbehagen, welches an Furcht grenzte. Wie, wenn sie doch heimlich hoffte, seine Liebe könnte für sie erwachen? Er vergaß ganz, daß er diese Hoffnung ausgesprochen und sie dieselbe als unmöglich bezeichnet hatte. Wie, wenn sie erwartete, daß er sie zärtlich in die Arme schließen würde – der kalte Schweiß perlte auf seiner Stirn. Mit Entsetzen begriff er, daß es ihm ewig unmöglich sein werde, ein anderes Weib als die Eine zu küssen.
Und dabei rollte der Wagen mit fürchterlicher Schnelligkeit dem Ziel zu.
Germaine sah in die Blumenfülle ihres Straußes hinein. Aber ihre Blicke, die sich festbohrten, sahen doch nichts, vor ihren Augen hing es wie ein schwarzer Schleier. Ein Schwindel hatte sie ergriffen, eine Todesangst. Wie konnte es nur geschehen, daß die vorreife, weise erwägende Vernunft, welche sie immer nöthig gehabt in Jahren, wo andere sich gedankenlos ihrer Jugend freuen, sie auch in dieser riesengroßen Frage berathen hatte? Nun erst, in diesen schweigsamen Minuten begriff sie, was sie gethan, was geschehen würde und was noch geschehen konnte. Wie, wenn er doch glaubte, eine zärtlichliebende, eine hingebende Gattin zu finden, wenn er sich mit der Freundin nicht begnügen wollte? Wie hatte es nur kommen können, daß zwei Menschen mit klaren Sinnen übereinkamen, etwas zu thun, was sich in diesen schrecklichen Minuten wie Wahnsinn darstellte? Sich ohne Liebe aneinander ketten für ein Leben – das war ja Sünde! Für das Unglück, das nachher kommen konnte, kommen mußte, gab es dann nicht einmal die Entschuldigung, daß sie in blinder Selbsttäuschung hineingerannt seien.
Und da hielt der Wagen an dem verhängnißvollen Ziel. Und Ravenswann stand schon mit einem dicken blonden Herrn erwartend im Flur.
Geschah nun nicht etwas Unerhörtes? Flohen die beiden, die gekommen waren, sich hier zu binden, nicht mit Entsetzen wieder davon? Nein, es geschah nichts als das Programmmäßige. Es giebt Stunden, wo der Mensch sich seines Willens beraubt fühlt, wo er maschinenmäßig thut, was er nicht zu thun wünscht. Es ist, als ob die Seele sich aus dem Körper entfernt hätte und nun, über ihm schwebend, verwundert zusieht, was er alles beginnt. Der körperliche Mensch ist dann wie ein wildfremdes Wesen, und es ist der Seele wie ein Traum, daß sie dieses merkwürdige, automatenhafte Wesen einmal beherrscht hat.
So sah Alfred verwundert zu, wie Alfred neben einem jungen Weibe, begleitet von zwei Männern, in einen kahlen Saal trat, wo hinter einem grünen Tisch irgend ein Mensch stand und irgend etwas sagte, und wie Alfred dann etwas unterschrieb. Ja, er sah sogar, daß er einen ganz weitläuftigen verschnörkelten Zug unter seine Namensschrift machte, einen Zug, der ihm nicht Gewohnheit war.
Germaine aber zitterte am ganzen Leibe. Sie hatte gar keine Gedanken mehr außer dem einen, daß sie ihr Wort gegeben habe, daß er um sie geworben, weil er ihrer bedürfe, daß sie undankbar und unbarmherzig handle, wenn sie jetzt noch „Nein“ sage – jetzt, hier, vor diesen fremden lauernden Zeugen, die sie so unbescheiden betrachteten, als sei eine Braut ein Naturwunder.
Als die Feder in ihrer Hand lag, wollte es sich tonlos auf ihre Lippen drängen: ich kann es doch nicht! Da sah sie den festen, besonders großen Namenszug, den er hingesetzt. Mit bebenden Fingern schrieb sie ihren Namen darunter.
Sie waren vermählt!
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Unterdeß kosteten Frau Marie Ravenswann und Frau Doktor Schneider alle Vorfreuden dieses hochwichtigen Ereignisses aus. Vor einigen Tagen freilich hätten sie sich um dieses selbe Ereigniß beinahe ganz erzürnt, denn Jettchen Schneider nahm es sehr übel, daß Mietze Ravenswann ihr nicht früher etwas davon anvertraut hatte. Aber der Friede war durch die Ehemänner wieder hergestellt worden, und nun ergingen sie sich in einer Art triumphirender Schadenfreude. Der in so vielen Berliner Kreisen so viel besprochene Alfred von Haumond verheirathete sich so zu sagen hinterrücks, und sie hatten es zuerst gewußt, sie waren dabei gewesen, sie konnten genau erzählen, wie es hergegangen, sie waren mit der jungen Frau von Haumond „befreundet“ und hatten das nächste Anrecht, mit ihr zu verkehren.
Während sie die Tafel besichtigten, beriethen sie schon, mit wem Germaine verkehren, mit wem sie nicht verkehren sollte, denn das wollten sie schon verhindern, daß die arme junge Frau mit der abscheulichen Frau von Z und der koketten Räthin X oder gar der leichtfertige Frau Bankier Y Umgang hielte. Ueberhaupt erwarteten sie, daß Haumond ganz seinen früheren Kreisen entsagen und sich ganz an sie anschließen werde; Frau Mietze sprach etwas geheimnißvoll von dem großen Einfluß, den sie auf ihn habe, und roch dabei an dem schönen Strauß, den sie erhalten hatte.
Die beiden Damen hatten sich auch sehr festlich gekleidet. Frau Mietze hatte ihr „Braunseidenes“, Frau Jettchen ihr „Blauseidenes“ mit; sie trugen die Kleider zu Hause in größeren winterlichen Abendgesellschaften, im Badeort glaubten sie mit diesen Anzügen von höchster Eleganz bei der Nachmittagsmusik Eindruck zu machen. Das „Braunseidene“ war beunruhigend viel mit Goldschmelzperlen besetzt, davon sich ein ganzes Franzengehänge sogar noch um den Halskragen zog. Ueber dieses hatte Frau Mietze ein großes goldenes Medaillon an dicker Kette gelegt, auch trug sie eine reiche goldene Broche, während ihr spiegelglattes Haar mit einigen eng zusammengebundenen frischen Blumen geschmückt war. Das „Blauseidene“ hingegen war etwas zu reichlich mit weißen Spitzen besetzt; auf die bauschige Tüllweste der Taille hingen die dicken Korallenschnüre herab, die Frau Schneider so gern trug. Ebensolche Armbänder umschlossen ihre bis zum Ellbogen entblößten Arme. In ihre blonden Locken, die wieder untadelig als eine Fülle von Röhren übereinanderlagen hatte sie hinter das Ohr eine blasse rosa Rose gesteckt, die stets im Herabfallen begriffen schien.
Sie waren sehr mit sich zufrieden und beriethen nur, ob sie beim Empfang der jungen Frau Handschuhe anziehen sollten oder nicht. Frau Mietze hielt sich dazu für verpflichtet, da sie geladene Gäste seien. Frau Schneider meinte aber, das wäre zu steif, da sie ja nicht nach der jungen Frau einträten, sondern das Paar hier empfingen, sozusagen an Familien Statt.
Ehe noch die Frage entschieden war, riß ein Kellner die Thür auf und das junge Paar erschien.
Die beiden Frauen liefen in freudigster Ekstase auf Alfred und Germaine zu und erdrückten sie mit theilnehmenden Glückwünschen. Frau Mietze hatte einige Thränen echtester Mitempfindung, denn sie erinnerte sich der eigenen Vermählung.
„Ach ja,“ sagte sie, „es ist doch ein furchtbar ernster Tag. Und so lieb ich meinen Männe auch hab’, es war doch gräßlich, so der Abschied von den Eltern und allen Freundinnen und der Vaters-tadt.“
Da erinnerte sie sich, daß Germaine alles dieses nicht besitze und nicht zu verlassen brauche.
„Darin haben Sie es leichter,“ sprach sie, ihre Thränen trocknend.
Für die ungeheure Einsamkeit und Weltverlassenheit, die doch gerade heute dem jungen Mädchen zum traurigsten Bewußtsein gekommen sein mußte, hatte sie gar kein Verständniß. Sie fühlte nur mit, was sie selbst schon gefühlt hatte, begriff nur Lagen, in denen auch sie schon gewesen war, und indem sie mitleidig zu
[376][377] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [378] sein glaubte, beweinte sie – wie die meisten Menschen es ebenso thun – nur das Spiegelbild ihrer eigenen Erlebnisse.
In diesem Augenblick hörte man draußen zwei heftige Männerstimmen. Es waren der Notar und Ravenswann, die, während sie ihre Oberröcke ablegten, den scharfen Streit fortsetzten, in den sie im Wagen gerathen waren. Der Notar, als Leiter eines freisinnigen Wahlvereines, hatte mit der Naivetät des feurigen Bierpolitikers, der ohne weiteres in jedem Mann einen Gesinnungsgenossen voraussetzt, sogleich gegen Ravenswann die bevorstehenden Arbeiten der nächsten Reichstagsperiode einer sehr abfälligen Kritik unterzogen, insbesondere die wahrscheinliche Höhe des Budgets bemängelt und die Behauptung ausgesprochen, daß man es nie bewilligen werde. Ravenswann hatte dagegen behauptet, daß diese wahrscheinliche Budgethöhe wahrscheinlich noch höher sein werde, daß ein Parlament, welches die nothwendigsten Bedürfnisse des Staates bemängle, nur einer Horde von – von – von – er konnte vor Zorn kein ganz bezeichnendes Wort finden – zu vergleichen sei.
Frau Mietze eilte zur Thür.
„Aber um Gottes willen, Männe,“ flüsterte sie, „heute doch bloß keinen S–treit! Aergere Dich nicht, es schadet Dir immer so.“
In unaussprechlicher Verachtung gegen einander – jeder hielt den andern für einen Dummkopf – vermieden diese beiden Herren fortan, zusammen zu sprechen. Ravenswann konnte nachher vor Aerger fast keinen Bissen genießen, während der dicke Notar sein rothes Gesicht über den stets frisch gefüllten und immer wieder geleerten Teller neigte. Vorerst konnte man freilich noch nicht zur Tafel gehen, denn Doktor Schneider war noch nicht da.
„Er ist aber auch nie zur rechten Zeit fertig,“ schalt Frau Doktor Schneider. Das Ehepaar warf sich diesen Fehler täglich gegenseitig vor. Man schickte einen Kellner hinauf, und als Herr Doktor Schneider erschien, zeigte es sich schon nach dem ersten Fleischgericht, was der Grund seines Säumens gewesen sein mochte.
Er erhob sich und brachte in sehr wohl vorbereiteter, schönsprachiger Rede die Gesundheit der eben Verbundenen aus.
Das fand Frau Mietze aber denn doch stark. Auch ihr Ludolf hatte sich vorbereitet gehabt, und es wäre doch ihm als dem nächsten Freunde des Bräutigams zugekommen, diesen Toast zu halten. Wollte Schneider durchaus sprechen, hätte er sie, Mietze, als schwesterliche Freundin und Beschützerin des Paares leben lassen können.
Wenn das Essen nicht so gut gewesen wäre, hätte man somit allerseits übler Laune sein können; aber das Essen war wirklich vorzüglich. Schneider schlug es im Stillen auf zehn Mark das Couvert an, während Mietze dachte, daß Alfred gewiß mindestens acht Mark werde zahlen müssen.
Und Alfred? Und Germaine? Sie saßen fremd nebeneinander, und der eine sprach nach links und die andere nach rechts. Und sie fürchteten sich beide vor dem Augenblick, wo sie diesen Kreis verlassen mußten und wirklich begreifen sollten, daß sie nicht träumten, daß sie wahrhaft vor zwei Stunden etwas unterschrieben hatten, daß sie infolge dieser Unterschrift vor der Welt Mann und Weib hießen.
Aber dieser Augenblick kam doch. Frau Mietze, die ihr Benehmen „sehr nett“ fand, im Vergleich zu andern Brautpaaren, die immer zärtlich thaten, zog ihre Uhr und meinte, wenn sie noch ihre Sachen ordnen wollten und sich für die Reise umzukleiden dächten, würde es Zeit. Sie, die Freunde, würden alle am Bahnhofe sein.
Trotzdem nahm sie schon jetzt einen Abschied von Germaine, als sollten sie sich nie mehr sehen.
Wieder saßen sie schweigend im Wagen nebeneinander. Mit einemmal rief Germaine in einem Ton voll Leidenschaft, wie Alfred ihn ihrem ruhigen Wesen gar nicht zugetraut hätte:
„Was haben wir gethan!“
Und sie faltete die Hände wie in höchster Muthlosigkeit.
Vor diesem Ausruf verschwand plötzlich die abwechselnd traumhafte und fieberische Stimmung in Alfreds Seele. Ganz unvermittelt fand er eine Ruhe, die schmerzhafte Ruhe freilich eines Menschen, der nichts mehr zu hoffen hat.
„Was wir gethan haben,“ sagte er mit klangloser Stimme, aber in vollkommener Fassung, „wir hatten es uns überlegt. Wenn es uns in diesem ernsten Augenblick vielleicht dünkt, daß unsere Ueberlegungen lauter Trugschlüsse waren, daß wir uns mit scheinbarer Verständigkeit in etwas hineingeredet haben, was uns jetzt unfaßlich vorkommt, so wollen wir doch hoffen, daß sich unser Beisammensein segensvoller gestaltet, als es uns in unserer heutigen Stimmung möglich scheint. Wir wollen daran denken, daß wir uns nicht vermählt haben, um uns zu besitzen, sondern um als engbefreundete Genossen die Mühseligkeiten des Lebens gemeinsam zu ertragen, sie uns zu erleichtern. Und darauf, liebe Germaine, reich mir Deine Hand! Es ist ein trauriger Bund; aber daß er kein trostloser sein wird, dafür bürgt uns das innige Vertrauen, welches wir zu einander haben.“
Sie gab ihm die Hand. Mit thränenvollen Augen sahen sie sich ernst und freundlich an.
„Ich danke Dir,“ sagte Germaine.
Sie waren vor der Wohnung des jungen Mädchens angelangt. „Ich lasse Dich allein,“ sprach er, ihr beim Aussteigen helfend, „kleide Dich um, ich kehre in einer Stunde spätestens zurück, um Dich zu holen.“
Er fuhr nach seiner Wohnung auf den Leopoldsplatz und ließ den Wagen gleich warten.
Oben fand er kahle Zimmer und fertig gepackte Koffer; Fritz im bürgerlichen Kleid hantierte noch an dem Plaidriemen.
„Es ist alles fertig,“ meldete er, „meine Livreen habe ich mit in die Bücherkiste gelegt. Die Morgenjacke und die Schürzen waren das Packen nicht mehr werth; wenn Sie einen andern Diener nehmen, kann der sie doch nicht mehr –“
„Schon gut, schon gut,“ unterbrach ihn Alfred. „Wo ist die Rechnung von der Wirthin?“
„Da auf dem Tisch. Der Zettel daneben enthält die Auslagen, die ich gemacht.“
Alfred beglich alles, hieß Fritz das Gepäck an den Bahnhof bringen, und mit einem unendlichen Seufzer der Erleichterung bestieg er den Wagen wieder.
Abermals überkam ihn, wie vor Wochen, das Gefühl, daß bei Germaine der Friede sei. Und so war sein Angesicht wohl noch etwas blaß, aber doch von dem Schein neuen Muthes belebt, als er bei ihr eintrat. Sie hatte das einfache, weiße Kleid und die schwarze Schärpe, welche sie vorhin getragen, abgelegt und ihr gewöhnliches Trauergewand angezogen.
Vom Nordpol bis zum Aequator.
(Schluß.)
Während dieser Scherzspiele sitzt die Braut im hinteren Theile der Jurte, durch einen Vorhang verborgen, ohne sich zu zeigen.
Diese Vereinsamung benützen die jungen Leute des Auls, um sie, während der Wettgesang die Freunde des Bräutigams in Athem hält, zu stehlen, d. h. durch eine zwischen den aufgedeckten Filzen der Jurte geschaffene Lücke ins Freie zu ziehen, auf ein Roß zu heben, mit der nicht Widerstrebenden der Jurte eines Verwandten zuzueilen und hier sie den bereits harrenden älteren Frauen zu übergeben. Ist der Raub gelungen, so fordert der Räuber die Jünglinge auf, die Braut zu suchen und sie aus den Händen der Frauen zu lösen. Eilends bricht die ganze Gesellschaft auf und bittet die Hüterinnen der Geraubten, diese zurückzugeben. So schön gesetzt ihre Worte aber auch sind, die Bitte wird abgeschlagen. In der eines Theiles ihrer Filzdecken entkleideten Jurte sitzt die Braut vor aller Augen; ein gewaltsames Vorgehen aber ist unmöglich, und die Jünglinge beginnen daher in Güte zu unterhandeln.
[379] Die Frauen verlangen neun verschiedene, von den Jünglingen selbst zubereitete Speisen, lassen sich endlich jedoch herbei, anstatt der Gerichte neun Geschenke anzunehmen, und liefern nunmehr endlich die Braut unter der Bedingung aus, daß sie nach ihres Vaters Jurte zurückgebracht werde.
Inzwischen sitzt der Bräutigam wartend in seinem Zelte. Ganz allein war er freilich nicht; denn einige junge Frauen hatten sich schon beim Erscheinen seiner Genossen aufgemacht, um ihn zu suchen, hatten ihn natürlich auch gefunden und waren von ihm mit ehrfurchtsvollem Gruße, „Taschim“ genannt, empfangen worden. Der Jüngling hatte vor ihnen so tief sich verneigt, daß er mit seinen Fingerspitzen den Boden berührte, sich sodann langsam erhoben und die Hände am Schienbeine emporgleiten lassen, bis er zu voller Höhe sich aufgerichtet; die Frauen hatten solche Huldigung angenommen, ihm Gesellschaft geleistet, Speise und Trank gereicht und durch Scherzreden die Zeit verkürzt, nicht aber gestattet, daß er das Zelt verlasse. Erst auf vieles Bitten und nicht vor Sonnenuntergang wurde ihm die Erlaubniß, im Aul und vor der Jurte der Braut ein kleines Lied singen zu dürfen.
Er besteigt sein Roß, reitet in den Aul, begrüßt mit Gesang dessen Bewohner, wendet sich zur Jurte der von ihm Erwählten und klagt ihr in selbsterdachtem oder erborgtem Liede sein Sehnen, sein Leid:
„O Mädchen, Du brachtest mir Leiden und Kummer,
Dreimal schon kam ich vergeblich zu Dir,
Du wolltest nicht wach sein, zu tief war Dein Schlummer,
Wolltest nicht hören, nicht aufsehn zu mir.
Doch spät in der Nacht, wenn zur Ruh die Kamele
Eng an die härene Fessel man reiht,
Dann wird sich erlaben die lechzende Seele,
Dann wird sich wenden mein Sehnen, mein Leid.
Seh’ Dir ich ins Auge, wird wieder mir kommen,
Was ich verloren, der Muth und die Lust,
Die Kraft der Seele, die Du mir genommen,
Mit Wunsch und Sehnen erfüllend die Brust.
Ich werde Dich bitten, mir Kumis zu reichen,
Als wäre ich durstig und trocken mein Mund,
Du läßt Dich erbitten, Du läßt Dich erweichen
Und machst mir das dürstende Herz gesund.
Und sollte mein Werben Dir nicht gefallen,
Mein Singen Dir willkommen nicht sein,
So kehr’ ich zurück mit den Freunden allen,
Sie sollen mir helfen, um dich zu frei’n.“
Ohne in die Jurte einzutreten, kehrt er wieder nach seinem Zelte zurück. Da erscheint in diesem eine alte Frau und verspricht, ihn zur Braut zu geleiten, falls er sie beschenke. Willfährig öffnet er seine Hand, und beide machen sich auf den Weg. Aber nicht ohne Hemmnisse erreichen sie das ersehnte Ziel. Eine andere Frau legt ihm eine Gabel, mit welcher der Firstring der Jurte erhoben wird, quer über den Weg; solchen Schlagbaum zu überschreiten, würde ein übles Vorzeichen sein, denn wer die Gabel gelegt hat, muß sie auch wieder wegnehmen. Ein Geschenk entfernt das Hinderniß; aber wenige Schritte weiter sperrt ein zweites den Pfad. Eine anscheinend todte Frau liegt auf dem Weg; doch eine zweite Gabe ruft die Todte ins Leben zurück und macht den Weg frei bis in die Nähe der Jurte.
Dort steht eine Gestalt und knurrt wie ein Hund. Sollte es heißen, daß die Hunde den Bräutigam, angeknurrt? Nimmermehr! Ein drittes Geschenk schließt den knurrenden Mund, und der Vielgeprüfte gelangt nunmehr unangefochten bis zur Jurte. Hier halten zwei Frauen die Thür zu, aber auch sie widerstehen einem Geschenke nicht; im Innern der Jurte halten zwei Frauen den Vorhang fest, auf dem bräutlichen Lager ruht eine jüngere Schwester der Braut; er löst sich von allen; die Jurte entleert sich; die Alte legt die Hände des Bräutigams in die der Braut und endlich sind beide vereinigt!
Unter Aufsicht der hilfreichen Alten, „Djenke“ genannt, besucht der Bräutigam zu wiederholten Malen die Braut, ohne sich dabei auch den Eltern des Mädchens vorzustellen, bis endlich der Rest des Kalüm bezahlt ist.
Jetzt läßt er durch den Werber bei dem Brautvater anfragen, ob er die Braut nunmehr in seine Jurte führen dürfe. Die Frage wird bejaht, und er erscheint wiederum mit großem Gefolge und vielen Geschenken vor dem Aul, schlägt in angemessener Entfernung wiederum sein Zelt auf, empfängt in ihm wiederum Frauenbesuch, verbringt die Nacht allein im Zelte und sendet von ihm aus am andern Morgen alle zu einer Jurte erforderlichen, von ihm zu liefernden Holztheile in den Aul. Daraufhin versammeln sich alle Bewohnerinnen der Jurten, um die von der Braut zu beschaffenden Filze flugs zusammenzunähen, soweit dies noch nöthig, und nunmehr beginnt man mit dem Aufstellen der neuen Jurte. Der beliebtesten Frau des Auls wird die Ehre zu theil, den Firstring emporzuheben und bis zur Einfügung der Sparren zu halten; die übrigen Frauen beschäftigen sich gemeinschaftlich mit der Aufstellung und Bekleidung des Gerüstes.
Während der Aufstellung der Jurte findet der Bräutigam sich ein; man bringt nunmehr auch die Braut herbei und fordert beide auf, von verschiedenen Seiten her der neuen Wohnung zuzuschreiten, um die große, für die Zukunft bedeutungsvolle Frage zu lösen, wer die Herrschaft in der Jurte führen soll. Die Herrschaft wird demjenigen Theile werden, welcher die Jurte zuerst erreicht.
Eines der vom Bräutigam mitgebrachten Schafe wird geschlachtet, eine Mahlzeit bereitet, um in der neuen Jurte verzehrt zu werden.
Während des Mahles umwickelt der neue Jurtenherr einen Beinknochen mit weißem Zeug und wirft ihn, ohne aufzublicken, durch die obere Oeffnung ins Freie. Gelingt der Wurf, so ist dies ein Zeichen, daß der Rauch aus dieser Jurte gerade aufsteigen werde zum Himmel, was Glück und Segen bedeutet für die Jurte und ihre Bewohner.
Nach dem zum Willkomm gereichten Imbisse begeben sich die Gäste in die Jurte des Brautvaters, woselbst ein zweites Mahl ihrer wartet. Für die in der neuen Jurte zurückbleibenden jungen Leute aber trägt die Brautmutter Speise auf; und reichlich und freigebig muß sie spenden, will sie nicht erleben, daß das junge Volk die Jurte über den Häuptern der Schmausenden abbricht und, zur Strafe der Kargheit, die verschiedenen Theile des leichten Gebäudes in alle Richtungen der Windrose entführt und in der weiten Steppe hinwirft. Nicht einmal die reichlich gefüllte Schüssel ist vor dem Uebermuthe der ausgelassenen Hochzeitsgäste sicher; einer entreißt sie der Wirthin und reitet mit ihr davon; andere versuchen, die Beute ihm abzujagen, und so währt das neckische Spiel fort, bis man zu fürchten beginnt, daß das Gericht erkalten möge.
Am nächsten Morgen verlangt der Brautvater zum erstenmal, den Bräutigam zu sehen, ladet ihn in seine Jurte ein, begrüßt ihn warm, rühmt sein Aussehen und seine Begabungen, wünscht ihm Glück zum Ehestande und überreicht ihm schließlich allerlei Geschenke, gleichsam eine Mitgift der Braut. Dies geschieht vor allen Hochzeitsgenossen, welche schon vor dem Eintreten des Bräutigams in der Jurte versammelt wurden. Zuletzt betritt diese auch die reichgeschmückte Braut. Befindet sich ein Mollah im Aul oder kann ein solcher herbeigeschafft werden, so spricht er den Segen über das junge Paar.
Und nunmehr singt man der Braut das Scheidelied, „Dschar dschar“ genannt, und sie erwidert mit thränenden Augen jeden Vers, jede Strophe dieses Abschiedsliedes mit der Klage der Scheidenden.
Der Wechselgesang verstummt; Kamele werden herbeigeführt, um die Jurte und alle Brautgeschenke, reich geschmückte Rosse, um Braut und Brautmutter nach dem Aul des Bräutigams zu tragen. Der junge Ehemann reitet dem hochzeitlichen Zuge voran und treibt mit dem ihm helfenden Genossen die Kamele zum schnellsten Laufe an, um Zeit zu gewinnen, die Jurte unter denselben Förmlichkeiten, welche beim ersten Aufrichten beobachtet wurden, in seinem Aul aufzustellen. Die Braut aber reitet, nachdem sie unter Thränen Abschied genommen vom Vater, den Verwandten und Gespielinnen, der Jurte und den Herdenthieren, dicht verschleiert in einem sie vollkommen verhüllenden, von den sie begleitenden Reitern getragenen Vorhange dahin, bis sie die Jurte, in welcher sie fernerhin als Herrin walten soll, erreicht hat. Der Schwiegervater, welcher inzwischen die Mitgift beschaut, gerühmt oder getadelt hat, ruft sie bald nach ihrer Ankunft in seine Jurte, und sie betritt diese mit drei so tiefen Verbeugungen, daß sie sich mit den Händen auf den Knieen stützen muß, um anzudeuten, daß sie dem Schwiegervater und der Schwiegermutter ebenso gehorsam sein werde wie ihrem Herrn und Gebieter. Ihr Gesicht bleibt während dieses Grußes verhüllt, wie fortan vor dem Vater und dem Bruder ihres Gatten und ein Jahr lang vor jedem Fremden. Später [380] verschleiert sie sich nur noch vor dem älteren Bruder ihres Gatten, vor niemand weiter, vor jenem auch nur deshalb, weil sie von ihm geehelicht werden müßte, wenn ihr Gatte sterben sollte.
Die Kinder werden von den Eltern stets mit der größten Zärtlichkeit behandelt und nie geschlagen, Das jeweilige Alter des Kindes bezeichnet man mit dem Namen eines Thieres; das Kind kann also „eine Maus, ein Murmelthier, ein Schaf, ein Pferd alt“ sein. Hat der Knabe das Alter von vier Jahren erreicht, so setzt man ihn zum ersten Male auf den Rücken eines ungefähr gleich alten Pferdes, welches reich geschirrt und mit einem in den Familien fortvererbten Kindersattel belegt wurde. Die beglückten Eltern versprechen dem zum erstenmal den schützenden Armen der Mutter entrinnenden, selbständig auftretenden kleinen Reiter allerlei schöne Dinge, rufen hierauf einen Diener oder willigen Freund herbei, übergeben ihm Roß und Reiterlein und beauftragen ihn, von einer befreundeten Jurte zur andern zu ziehen, um das frohe Ereigniß zur Kunde der Sippe und Freunde zu bringen. Wo das Knäblein erscheint, wird es freundlich begrüßt, mit Lob überhäuft und mit Leckereien beschenkt. Ein Fest in der Väterlichen Jurte verherrlicht den großen, wichtigen Tag.
Mit dem siebenten Jahre ungefähr beginnt der Unterricht des Kindes in allem, was ihm zu wissen noth thut. Der Knabe, welcher inzwischen ein tüchtiger Reiter geworden ist, lernt mit den weidenden Herdenthieren umgehen, das Mädchen sie melken und alle übrigen Geschäfte der Hausfrau verrichten; der Sohn reicher Eltern wird von einem Mollah oder doch einem des Lesens und Schreibens kundigen Manne in die Schule genommen und später in den Gesetzen des Glaubens unterwiesen. Noch vor Ablauf des zwölften Jahres ist sein Unterricht zu Ende und er selbst reif für das Leben.
Mehr noch als die Lebenden ehrt der Kirgise die Todten und deren Gedenken. Jede Familie ist zu den größten Opfern bereit, um für ein durch den Tod ihr entrissenes Familienglied eine großartige Leichen- und Erinnerungsfeier auszurichten; jeder, auch der ärmste, sucht das Grab eines von ihm geschiedenen Lieben zu schmücken, so gut er es vermag.
Wenn ein Kirgise die Sterbestunde herannahen fühlt, läßt er seine Freunde um sich versammeln, damit diese dafür sorgen, daß seine Seele ins Paradies gelange. Fromme Kirgisen, welche den Tod erwarten, lassen sich schon vor jener Stunde aus dem Koran vorlesen, ob auch der Sinn der ihnen ins Ohr klingenden Worte für sie unverständlich sein möge. Nach Gebrauch der Gläubigen versammeln sich die Freunde um das Sterbelager eines der Ihrigen und rufen ihm den ersten Satz des Glaubensbekenntnisses aller Anhänger des Propheten: „Nur einen Gott giebt es,“ so lange zu, bis er mit dem zweiten antwortet: „und Mohammed ist sein Prophet.“ Sobald diese Worte den Lippen eines Sterbenden entfließen, öffnet Munkir, der prüfende Engel, die Pforten des Paradieses, und deshalb rufen alle, welche sie vernahmen, die Worte aus: „El hamdi lillahi,“ – dem Herrn sei Dank!
Sobald ein Jurtenbesitzer für immer seine Augen geschlossen hat, sendet man zunächst nach allen Seiten Boten aus, um allen Verwandten und Freunden Kunde zu gehen, und diese Boten reiten, je nach Ansehen und Rang des Todten, zwanzig bis hundert Werst weit in die Steppe hinaus, von Aul zu Aul. Während die Trauerboten reiten, wird die Leiche gewaschen und in das Lailach gehüllt, welches letztere jeder Kirgise schon bei Lebzeiten sich erworben und unter seinen Werthgegenständen bewahrt hat. Nachdem man diese Pflicht erfüllt hat, trägt man den Leichnam aus der Jurte hinaus und legt ihn einstweilen auf einem halb gespreizten Jurtengitter nieder. Der herbeigerufene Mollah erscheint und spricht den Segen über den Todten; sodann erhebt man die Leiche mit dem Gitter, befestigt letzteres auf dem Sattel eines Kameles und setzt sich unter Begleitung der inzwischen bereits herangeströmten nächstwohnenden Verwandten in Bewegung, um den oft weit entfernten Friedhof rechtzeitig zu erreichen.
Unmittelbar nach Eintritt des Todes beginnen die Frauen die Todtenklage. Die nächste Verwandte hebt den Trauergesang an und läßt ihres Herzens Kummer in mehr oder minder tief empfundenen Worten ausströmen; die übrigen fallen am Ende jedes Satzes oder Verses gleichzeitig ein, und eine nach der anderen kleidet ihre Gedanken in Worte, so gut sie es vermag. Mehr und mehr steigert, sich die Klage bis zu dem Augenblicke, in welchem das Kamel mit seiner Last sich erhebt, und wie die Worte und Laute drückt auch das Gebühren der Frauen immer mehr sich steigernden Schmerz aus, bis sie schließlich sich das Haar zerraufen und das Gesicht blutig kratzen. Erst wenn der Leichenzug, an welchem die Frauen nicht teilnehmen, dem Auge entschwindet, verstummen allgemach Worte und Thränen.
Dem Leichenzuge voraus sind auf raschen Pferden einige Männer geritten, um das Grab zu bereiten. Dieses ist eine höchstens bis zur Brusthöhe eines Mannes reichende Vertiefung, welche auf einer Seite, in der Richtung nach Mekka hin, in ein Gewölbe übergeht, dazu bestimmt das Haupt und den Oberleib des Todten aufzunehmen. Nach geschehener Beerdigung wird das Grab mit Blöcken, Brettern, Rohrbündeln oder Steinen bedeckt, jedoch nicht mit Erde ausgefüllt, sondern solche höchstens als Hügel über die Decke geschichtet, dieser mit Fahnen und dergleichen verziert, falls man nicht einen kuppelartigen Bau aus Holz oder Lehmsteinen über dem Grabe errichtet. Auf das Grab eines Kindes legt man seine Wiege. Vor dem Grabe segnet der Mollah die Leiche zum letztenmal ein; an der Aufschichtung des Hügels nehmen alle Antheil.
Aber noch ist die Leichenfeier nicht beendet. In dem Augenblicke, in welchem ein Jurtenherr seinen letzten Seufzer verhaucht hat, stellt man neben der Jurte eine weiße Fahne auf und beläßt sie ein ganzes Jahr lang an derselben Stelle. An jedem Tage des Jahres versammeln sich hier die Frauen, um die Klage zu erneuern. Gleichzeitig mit dem Aufrichten der Fahne bringt man auch das Lieblingspferd des Verstorbenen herbei und schneidet ihm seinen langen Haarschweif zur Hälfte ab. Von diesem Augenblicke an wird das Roß von niemand mehr geritten; es heißt „verwitwet“. Sieben Tage nach dem Tode finden alle Verwandten und Freunde, auch die, welche ferne weiden und wohnen, in der Jurte sich ein, halten gemeinschaftlich ein Leichenmahl, vertheilen einige Kleider des Todten an die Armen und berathen über das fernere Geschick der Nachgelassenen wie über Verwaltung des Nachlasses. Dann überläßt man die Hinterbliebenen wiederum sich selbst und ihrem Leide.
Stirbt eine Frau, so werden fast dieselben Gebräuche beobachtet wie bei dem Tode des Mannes, nur daß selbstverständlich Frauen die Leiche waschen und bekleiden. Aber auch in diesem Falle bleiben sie während der Beerdigung im Aul, um hier die Todtenklage zu erheben. Das Reitpferd der Geschiedenen wird ebenfalls seiner Schweifzier beraubt, eine Trauerfahne aber nicht aufgepflanzt.
Wenn der Aul verlegt wird, bringt ein zu solchem Ehrendienste erwählter Jüngling das verwitwete Pferd herbei, legt ihm den Sattel seines gewesenen Gebieters in verkehrter Richtung auf den Rücken, belastet es mit den Kleidern des Verstorbenen und führt es am Zügel dem Ziele zu, in der Rechten die Lanze mit der Trauerfahne tragend. Sobald die Jurte wieder errichtet ist, entsattelt er das Pferd und bringt die Lanze an ihre alte Stelle.
Am Jahrestage des Todes aber erscheinen wiederum alle geladenen Verwandten und Freunde in der verwaisten Jurte Nachdem man die noch immer in Trauerkleider gehüllten Frauen begrüßt und nochmals zu trösten versucht hat, bringt man das verwitwete Pferd herbei, sattelt und belastet es wie beim Umzuge des Auls und führt es sodann dem Mollah vor, damit er es segne. Dies geschieht; zwei Männer nähern sich ihm, fassen es am Zügel, entsatteln es, werfen es zu Boden und stoßen ihm den Stahl in das Herz. Sein Fleisch dient den armen Festgenossen zum Mahle, seine Haut wird dem Mollah zum Lohne. Unmittelbar nach dem Tode des Pferdes übergiebt man die Lanze dem würdigsten Verwandten; er nimmt sie, spricht einige Worte, bricht ihren Schaft in Stücke und wirft diese in das Feuer.
Jetzt brausen die Pferde heran, um im Wettlaufe ihre Schnelligkeit zu beweisen; die jungen Reiter, welche sie leiten und zügeln, stürmen auf das gegebene Zeichen mit ihnen davon und verschwinden in der Steppe. An die Stelle des Mollah tritt der Sänger, um noch einmal des Todten zu gedenken, aber auch die Lebenden zu feiern und ihr Herz zu erfreuen. Vom Haupte der Frauen verschwindet der eigenthümliche Kopfputz, welcher als Zeichen der Trauer diente, und sie schmücken sich mit festlichen Gewändern. Nach dem reichen Mahle kreist die Schale mit dem berauschenden Milchwein, mit den Klängen der Zither vereint sich das Jauchzen der Freude. Die Trauer ist zu Ende, das Leben tritt wieder ein in seine Rechte.
[381]Die Wettinerstadt Meißen.
Meißen, die alte Markgrafenstadt, ebenso reich an geschichtlichen Erinnerungen wie an Reizen der sie umgebenden Natur, ist in ihrer fast tausendjährigen Entwickelung mit der Geschichte der Wettiner, deren altes Stammschloß sich heute noch, freilich in gänzlich umgewandelter Gestalt, einige Wegstunden unterhalb Halle über das freundliche Ufer der Saale erhebt, eng verknüpft. Sind doch die drei Stätten, die der Meißner mit berechtigtem Stolze als die Perlen seiner so reich begnadeten Heimath rühmt – die Albrechtsburg, das altehrwürdige Denkmal gothischer Baukunst, die Fürsten- und Landesschule St. Afra, die altbewährte Heimstätte klassischer Bildung, und die Porzellanmanufaktur, die Pflegstätte gewerblicher Kunst, die Meißens Ruhm in alle Lande hinausgetragen hat – Schöpfungen Wettiner Fürstenhuld!
Die Pflicht der Dankbarkeit gebietet daher, am achthundertjährigen Jubelfeste des Wettiner Herrscherhauses den Beziehungen der Wettiner zu dem geschichtlichen Entwickelungsgange der Stadt Meißen ein Blatt freundlichen Gedenkens zu widmen.
Von hoher Bedeutung war das alte „Misni“ mit seinen Festungswerken schon vor der Zeit der Wettiner. Die alte Feste bewährte sich im Sinne ihres hochherzigen Erbauers, des Königs Heinrich I., als ein starkes Bollwerk gegen das heidnische Slaventhum, und christliche Religion und deutsche Gesittung fanden von hier aus sicheren Schutz und kräftige Ausbreitung.
Während der Minderjährigkeit des Markgrafen Ekbert II. von Braunschweig, der mit der Mark Meißen belehnt worden war, führte ein Graf Dedo von Wettin, Markgraf der Niederlausitz, die Regierung. Nun wurde Ekbert II., gleich Dedo wiederholt in Fehde mit dem Kaiser Heinrich IV., 1089 seiner Markgrafenwürde entsetzt, dagegen Dedos Sohn, Heinrich von Eilenburg, mit der Markgrafschaft betraut. Heinrich wurde damit der erste Markgraf von Meißen aus dem Hause Wettin und von diesem Zeitpunkt an sind die Jahre des Wettiner Fürstenhauses gerechnet. Konrad von Wettin († 1157), der erste Wettiner, von welchem aus die Markgrafenwürde in dem Hause erblich weiter geführt wurde, verlegte dann sein Hoflager nach Meißen, in „das wohl verwahret fest Schloß“, das König Heinrich hatte erbauen lassen.
Die zielbewußte, kraftvolle Regierung Konrads, unter dessen Scepter sich die Landesgrenzen bedeutend erweiterten, die fürsorgliche Landesverwaltung Ottos des Reichen († 1190), dem durch die Entdeckung der ergiebigen Silberlager des Erzgebirges große Mittel zuströmten, und die umsichtige, besonnene Regierungsweise Heinrichs des Erlauchten († 1288), der die Landgrafschaft Thüringen als Erbtheil erkämpfte und sich dadurch zu einem der einflußreichsten Fürsten Deutschlands aufschwang, erhöhten nicht nur die politische Bedeutung der Mark, sondern auch den Wohlstand der Bevölkerung, was sich besonders auch in Meißen, dem Mittelpunkte der landesherrlichen Regierung, bekunden mußte.
Wohl blieb Meißen nicht die ausschließliche Residenz des Landes, denn die früheren Wettiner Fürsten liebten es, ihre Residenzen des öfteren zu wechseln; das Interesse der sächsischen Fürsten ist aber dem alten Stammsitz nie ganz verloren gegangen.
Die Bedeutung Meißens in früherer Zeit lag aber nicht allein in seiner Eigenschaft als Residenz der weltlichen Fürsten, sondern Meißen war durch Kaiser Otto I., den Nachfolger Heinrichs I., im Jahre 967 auch zum Sitz eines Bischofs erwählt worden. Unter dem Schutze desselben entstanden in Meißen drei Klöster: das Afrakloster, das Franziskanerkloster und das Nonnenkloster zum heiligen Kreuz. Drei Kirchen, ehemals mit diesen Klöstern verbunden, sind heute noch die Zeugen jener längst entschwundenen Klosterherrlichkeit: die Afrakirche, die arg verfallene Franziskanerkirche und die kleine idyllische Jakobskapelle an der alten Wasserburg, in welch letzterer anfänglich das Kloster zum heiligen Kreuz eingerichtet war. Später wurde das Nonnenkloster weiter stromabwärts verlegt, und malerische Ruinen erinnern noch an den stolzen Bau, der ihm einst diente.
Den Glanzpunkt des Meißner Bisthums bildete aber die prächtige Domkirche, die in ihrer eigenartigen Architektur ein rühmenswerthes Zeugniß gothischen Kunstfleißes bildet.
Drei Thürme, von denen nur der merkwürdige höckerige Thurm auf der Ostseite erhalten ist, schmückten ehemals den Dom, der in seiner heutigen Form 1312 unter Bischof Witigo II. vollendet wurde. Unter diesem Bischof wurde auch der Grund zu dem die Westgiebelfront abschließenden breiten Thurm gelegt. Im nächsten Jahrhundert aber erst wurde dieser Unterbau mit zwei gothischen Thürmen, zwischen denen sich die thurmartige Glockenhalle erhob, geziert. Bald nach ihrer Vollendung wurden diese zwei Thürme durch einen heftigen Sturmwind zerstört. Von neuem wieder aufgeführt, wurden sie am 24. April 1547, am Tage der Schlacht von Mühlberg, an welchem im Dom zu Ehren des Sieges das Tedeum erklang, durch einen Blitzstrahl abermals vernichtet. Die Thurmruine wurde 1600 nothdürftig überbaut, und da die erforderlichen Mittel zu einem dem Original entsprechenden Neubau fehlten, wurde 1698 auf der gemeinsamen Basis der alten Thürme ein breiter Aufbau, im Volksmunde „der Schafstall“ genannt, aufgeführt, der dem herrlichen Dome nichts weniger als zur Zierde gereichte. 1842 wurde dieser unschöne Aufbau abgetragen, und an seine Stelle trat eine Plattform mit Steingalerien, welche aber die fehlenden Thürme immer noch schmerzlich vermissen läßt.
Die durch den breiten Thurm gebildete Westfassade des Domes enthielt früher den Haupteingang, ein mächtiges Portal, mit vorzüglich ausgeführten Reliefs und Statuen geschmückt. Aber durch die fürstliche Begräbnißkapelle, 1425 bis 1428 von Friedrich dem Streitbaren, welcher das fürstliche Erbbegräbniß von dem Kloster Alt-Zella nach Meißen verlegte, erbaut, wurde dieses imposante Hauptportal verdeckt. An die fürstliche Begräbnißkapelle, in welcher die Kurfürsten Friedrich der Streitbare, Friedrich II. und Ernst und der Herzog Albrecht ruhen, schließt sich die kleine Begräbnißkapelle Georgs des Bärtigen, die Ruhestätte ihres Erbauers.
Dom und Schloß standen in früherer Zeit in unmittelbarer Verbindung, und gar oft entfaltete sich in den herrlichen Säulengängen der Domkirche, die mit überladener Pracht ausgeschmückt war, fürstlicher Glanz. Tiefernste Beisetzungen weltlicher oder geistlicher Würdenträger wechselten mit Festgottesdiensten, an denen feierliche Orgelklänge und jubelnde Lobgesänge ertönten, die hier, an den mächtigen Wölbungen sich brechend, zu ganz besonders [382] schöner Wirkung kommen. Am Hauptaltar des Domes legte der große Wettiner Konrad kurz vor seinem Tode 1156 vor einer zahlreichen glänzenden Versammlung von Fürsten und Rittern Scepter und Krone nieder, um lebensmüde den fürstlichen Hermelin mit der Mönchskutte zu vertauschen. So waren die weihevollen Räume des Domes in Lust und Leid die Zeugen der wechselnden Geschicke der Wettiner Fürsten.
Das Schloß, der würdige und freundliche Nachbar des Domes, war in seiner ursprünglichen Form schon von Heinrich I. als Residenz der Markgrafen angelegt worden. Gar oft sah wohl dies alte Markgrafenschloß in seinen Hallen Fürsten und Ritter mit glänzendem Gefolge zu prunkvollen Festen und Turnieren versammelt; nicht selten aber galt es auch, im heißen Kampfe den anstürmenden Feinden Stand zu halten.
Mehr als fünf Jahrhunderte hatte so das alte Schloß allen Kriegs- und Wetterstürmen getrotzt, und „da es endlich sehr eingegangen und bawfellig worden, vnd das Bergkwerg auff dem Schneeberg Anno 1471 mit gewalt angegangen vnd große Ausbeut gefallen, hat Hertzog Albrecht, Ernesti Bruder, das Newe Schloß, wie es jetzund noch steht, von grundt aus herrlich mit fünff gewelben vber einander, als zwey vnter vnd drey vber der Erden, erbawet.“[WS 1]
Im Jahre 1471, als die beiden fürstlichen Brüder Ernst und Albrecht die sächsischen Länder noch gemeinsam regierten, wurde der Bau unter Leitung des genialen Baumeisters Arnold v. Westphalen begonnen, und 1483 war derselben, hauptsächlich gefördert durch das thatkräftige Eingreifen Albrechts, in der Hauptsache vollendet.
Mit Recht bezeichnet man Albrecht als den eigentlichen Erbauer des Schlosses. Darum erhielt dasselbe auch infolge eines Dekrets des Kurfürsten Johann Georg II. vom Jahre 1676 den officiellen Namen „Albrechtsburg“, und seit dem Jahre 1876 schmückt ein herrliches Standbild des Erbauers den Burghof des Schlosses. Der stolze Bau, dessen Architektur die ganze Pracht und reiche Mannigfaltigkeit des gothischen Stiles zum Ausdruck bringt, zerfällt seiner wagerechten Ausdehnung nach in zwei Haupttheile, von welchen der kleinere, das Frauenhaus oder die Kemenate genannt, mit dem unmittelbar an den Dom sich anschließenden eigentlichen Schlosse einen rechten Winkel bildet. Nach der senkrechten Ausdehnung gliedert sich die Burg in sechs Stockwerke. Die fünf unteren, von denen zwei unterirdisch liegen, steigen in großartigen Wölbungen übereinander, das obere Stockwerk bildet ein Giebelerkergeschoß mit flachen Holzdecken.
Als architektonischen Glanzpunkt und als „eine bauliche Sehenswürdigkeit ersten Ranges und seltenster Eigenart“ bezeichnet man vor allem den großen Treppenthurm, in dem eine kunstvolle Wendeltreppe, der „große Wendelstein“ genannt, um eine hohle gewundene Spindel in 113 Stufen sanft bis zum Dachgeschoß hinaufführt. In jedem Stockwerk erweitert sich der Thurm zu Balustraden mit prächtig verzierten Altanen.
Die ganze Anlage des Schlosses bestätigt die Annahme, daß dasselbe ursprünglich zur gemeinsamen Residenz der fürstlichen Brüder Ernst und Albrecht, die schon im alten Schlosse „eines Tisches und einer Schüssel gebrauchten“, bestimmt war. Indeß kam dieser Plan nicht zur Ausführung, da noch während des Baues Dresden zur Haupt- und Residenzstadt des Landes bestimmt wurde. Und zwei Jahre nach der Vollendung, 1485, trat jene Trennung des Wettinischen Hauses in die Albertinische und Ernestinische Linie ein.
Damit aber ging das Interesse der Fürsten an dem herrlichen Bau verloren, und nach den zuverlässigen Angaben des Hofrathes Dr. Wilhelm Roßmann ist „das Schloß zu keiner Zeit in einer der reichen Architektur würdigen und derselben entsprechenden Weise ausgestattet gewesen. Die erste Ausstattung der Burg muß den aus jener Zeit erhaltenen Inventarien nach eine durchaus mangelhafte gewesen sein, und auch die nach dem Dreißigjährigen Kriege erfolgte Erneuerung, die als die verhältnißmäßig reichste bezeichnet wird, war eines Fürstenschlosses nicht würdig und zudem auch nicht dem Stile der Burg entsprechend, sondern dem Geschmack des ausgehenden 17. Jahrhunderts angepaßt.“
Nur noch vorübergehend „zu gelegentlichen Residenzen, zur Erledigung von Regierungsgeschäften oder zum Stilllager, zur Abhaltung von Trauergastmählern gelegentlich der Beisetzungen im Dom“ wurde das Meißner Schloß in der Zeit nach Albrecht von den sächsischen Fürsten benutzt.
Mit der Regierung Albrechts hatte daher auch die Stadt Meißen den Höhepunkt ihrer ersten Blüthezeit erreicht. Als Zeugen jener Zeit eines wohlhabenden Bürgerthums sind die groß angelegten städtischen Bauten Rathhaus und Stadtkirche erhalten, die, Ende des 15. Jahrhunderts errichtet, in ihren Größenverhältnissen den heutigen Anforderungen fast noch voll entsprechen.
Wenn Meißen im 16. Jahrhundert seinen Charakter als belebte, blühende Residenz mehr und mehr verlor, so entfaltete sich hier das kirchliche Leben – allerdings nur in äußeren prunkvollen Ceremonien – um so mehr.
Als in Kursachsen das Reformationswerk sich unter dem sicheren Schutze der Kurfürsten in immer festeren Formen ausgestaltete, war Meißen noch eine Hochburg des Katholicismus, denn Georg der Bärtige, der Sohn Albrechts, hielt die „neue Lehre“ mit allen Gewaltmitteln von den Grenzen seines Landes fern, und gewissermaßen als ein Protest gegen die Reformation wurde auf seinen Antrieb hin der Bischof Benno vom Papste kanonisirt. Vergeblich erhob Luther seine Stimme „wider den neuen Abgott und alten Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden“; am 5. Juni 1524 wurden die gesammelten Gebeine Bennos in einem kostbaren Marmorgrab, das sich in der Mitte der Domkirche erhob, beigesetzt, und zwar, wie der Chronist meldet: „in herrlicher Solennitet, in Beysein vieler Fürsten vnd Herren, vnter welchen Hertzog George zu Sachsen vnd seine 2 Söhne vnd Hertzog Heinrich mit seinen jungen Herrlein auch gegenwärtig gewesen vnd sonsten ein grosser zulauff von vielem Volk fern vnd nahe.“
War das Grabmal Bennos schon vorher der Zielpunkt zahlreicher Wallfahrten gewesen, so mußte dieser Akt das Ansehen des Heiligen noch mehr erhöhen. In der Domkirche wurden in jener Zeit Seelenmessen an 56 Altären gelesen, und da diese Zahl noch nicht ausreichte, dem Strom der Wallfahrer zu genügen, so wurden überdies noch Tragaltäre aufgestellt.
Aber durch den plötzlichen Tod Georgs, dessen Söhne ihm alle im Tod vorangegangen waren, trat ein ungeahnter Umschwung ein, und Meißen gehörte mit zu den ersten Städten des Herzogthums Sachsen, in denen durch Heinrich, den Bruder und Nachfolger Georgs (1539 bis 1541), die Reformation eingeführt wurde.
Nach einer vorangegangenen Kirchenvisitation, der Justus Jonas und Georg Spalatin als Theologen beiwohnten, wurde am 15. Juli 1539 in der Domkirche, aus welcher das Grabmal des heiligen Benno entfernt worden war, im Beisein Herzog Heinrichs des Frommen und seiner Söhne Moritz und August sowie des Kurfürsten Johann Friedrich des Großmüthigen der erste evangelische Gottesdienst in Meißen abgehalten und damit die Reformation feierlich eingeleitet.
Die Einführung der Reformation war von weitgehender Bedeutung für die Neugestaltung des gesammten Schulwesens des Landes, insbesondere aber auch für die Einrichtung der Meißner Schulen. Wie anderwärtig, so lag auch hier das Schulwesen sehr im argen. Wohl gab es zwei Schulen, die mit dem Afrakloster und dem Domstift verbunden waren; aber in ihrem ausgesprochenen kirchlichen Charakter und in der engen Beschränkung ihrer Schülerzahl waren sie für die bürgerliche und berufliche Bildung fast ohne jedweden Einfluß.
Lag nun in der Idee der Reformation an und für sich schon die Umgestaltung und Hebung des gesammten Schulwesens begründet, so wurde dasselbe äußerlich noch dadurch wesentlich gefördert, daß die reichen Pfründen der aufgehobenen Klöster zum großen Theil dem Dienst der Schule überwiesen wurden. So erstand 1540 in den Räumen des aufgehobenen Franziskanerklosters eine lateinische Schule, das „Franciscaneum“ oder die „schola senatoria“ genannt, und wenige Jahre darauf, im Jahre 1543, begründete Herzog Moritz (1541 bis 1553) zwei weitere bedeutungsvolle Anstalten, nämlich die Landes- oder Fürstenschulen zu Meißen und Pforta, welchen sich später noch die zu Grimma anschloß, in denen „die Jugend zu Gottes Lobe vnd im Gehorsam erzogen, in denen Sprachen vnd Künsten vnd fürnehmlich in der heiligen Schrifft gelehret vnd unterweiset werde, damit es mit der Zeit an Kirchendienern vnd anderen gelahrten Leuten nicht Mangel gewinne.“ Zum ersten Rektor der Meißner Fürstenschule, welcher man die weiten Räume des aufgehobenen Afraklosters überließ, wurde Hermann Vulpius berufen.
Von den alten Klostergebäuden, die nach ihrer Ueberweisung an die Fürstenschule entsprechend umgebaut wurden, haben sich mehrere [383] alte Gebäude – der sogenannte „Oekonomiehof“ – bis heutigen Tags erhalten. Die übrigen wurden im Laufe der Jahre wesentlich erweitert und wiederholt erneuert. So erwies sich nach dem Dreißigjährigen Kriege, der auch die Fürstenschule hart betroffen hatte, ein umfassender Neubau als nothwendig, der allerdings erst 1727 unter Kurfürst August II., der auch eine neue Schulordnung veranlaßte, zu Ende geführt wurde. Den Anforderungen der neuen Zeit aber entsprachen die niedrigen und dunklen Räume nicht mehr, und so wurde denn in den Jahren 1876 bis 1879 nach einem Entwurf des Bauraths Müller in Leipzig ein großangelegter Neubau ausgeführt, dessen gediegene innere Einrichtung für die nüchterne Form seines Aeußeren zu entschädigen sucht.
Nicht entsprechend der erfreulichen Entfaltung des geistigen Lebens und Strebens, das sich nach der Reformation in Meißen infolge der Neugestaltung seines Schulwesens bekundete, zeigte sich das bürgerliche und berufliche Leben. Und wie konnte es auch anders sein! Meißen war in einem bedauerlichen Rückgange begriffen. Die Räume seiner Fürstenburg waren verödet, ein düsteres Bild des Verfalls. In der Zeit, welche dem verschnörkelten Rokokostil huldigte, vermochte man den edlen Formen der Gothik keinen Geschmack abzugewinnen. Auch der Dom, einst der Mittelpunkt eines prunkvollen Kultus, bot ein verändertes Bild; denn die einfachen Formen des evangelischen Gottesdienstes vertrugen sich nicht mit der früheren Pracht. Vor allem aber waren es die Reformationskriege, der Hussitenkrieg, der Schmalkaldische Krieg und besonders der unheilvolle Dreißigjährige Krieg, welche Meißen in seiner Weiterentwickelung lähmten und Handel und Gewerbe, die bis dahin zu erfreulicher Blüthe gelangt waren, fast vollständig danieder warfen. Der Dreißigjährige Krieg allein kostete Meißen „4 Tonnen Goldes“ und machte es fast zur Ruine.
Und so drohte denn der Stadt, die sich von den herben Schlägen aus eigener Kraft kaum zu erholen vermochte, das herbe Geschick, von der hohen Zinne einer fürstlichen Residenz, in der, begünstigt durch fürstliche Huld, einstmals ein kraftvolles Bürgerthum, Wohlstand und Bildung begründet hatte, zum bedeutungslosen Landstädtchen herabzusinken.
Da trat ein Ereigniß ein, das für die Zukunft Meißens und insbesondere für seine industrielle Entwickelung von den weitestgehenden Folgen sein sollte.
Johann Friedrich Böttger, der geniale, leichtlebige Alchimist, der im Dienste des prachtliebenden Kurfürsten August des Starken den „Stein der Weisen“ finden sollte, hatte 1704, unterstützt durch den auf dem Gebiete der Chemie wohl erfahrenen fürstlichen Rath Walter von Tschirnhaußen, das Porzellan erfunden. Bei den riesigen Preisen, welche die chinesischen Porzellane in Europa erlangt hatten – wurden diese doch dem Golde gleich geachtet – war es naheliegend, daß man dieser Erfindung eine hohe Bedeutung beilegte. Nachdem daher eine besondere Prüfungskommission über die fertiggestellten Porzellanwaren ein beifälliges Urtheil abgegeben hatte, beschloß Kurfürst August die Errichtung einer Porzellanfabrik. Als Sitz derselben wurde auf Bitten des Meißner Rathes, welcher sich auf die oben gekennzeichnete Lage der krankenden Stadt berief, die Meißner Albrechtsburg erwählt und hier die Fabrik am 6. Juni 1710 in feierlicher Weise eröffnet.
Das Schicksal der Fabrik, der anfangs Böttger als Leiter vorstand, war bis zu den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ein sehr wechselvolles. Kriegerische Unruhen, finanzielle und technische Klippen bedrohten wiederholt den Fortbestand derselben; aber die opferwillige Fürsorge der sächsischen Fürsten ließ das Werk nicht untergehen. Trotz aller Schwierigkeiten hat sich die Meißner Porzellanfabrik neben dem Ruhm, die älteste Fabrik Europas zu sein, auch ihren künstlerischen Ruf treu gewahrt, und das verständnißvolle und unermüdete Streben der Fabrikleitung, unterstützt durch gediegene Arbeitskräfte, führte namentlich in den letzten fünf bis sechs Jahrzehnten zu einer stetigen Erweiterung und Vervollkommnung des Fabrikbetriebes.
Je mehr sich aber der Betrieb der Fabrik erweiterte und je mehr sich derselbe durch Anwendung von maschinellen Einrichtungen vervollkommnete, um so mehr kamen die architektonischen Schönheiten der Schloßräume in Gefahr, verunstaltet zu werden, und es entsprach daher einem allgemeinen, immer dringlicher werdenden Wunsche, daß die sächsische Staatsregierung im Verein mit den Landständen die Verlegung der Fabrik in besondere, neu aufzuführende Gebäude beschloß. Für die Stadt Meißen war es eine Lebensfrage, daß ihr die Fabrik erhalten blieb. Daher wandte sich eine Abordnung von Meißner Bürgern in diesem Sinne an den König Johann, der denn auch bestimmte, daß die neue Fabrik im Triebischthal auf einem vorzüglich geeigneten, der Erweiterung Raum lassenden Areal, das die Stadtgemeinde der Staatsregierung überließ, errichtet werde. Die neuen Fabrikräume, nach dem Plane des damaligen Fabrikdirektors, des hochverdienten Geheimen Bergraths Kühn, angelegt, wurden im Herbst 1863 bezogen, und seit jener Zeit sind sie wiederholt ganz wesentlich vergrößert worden.
Gegenwärtig beschäftigt die Meißner Porzellanfabrik nahe an 700 Arbeiter, und bei einem jährlichen Warenumsatz von weit über 11/2 Millionen Mark bewegt sich der etatmäßige Betriebsüberschuß zwischen 300 000 bis 400 000 Mark im Jahr.
Das frische, gedeihliche Aufblühen der Meißner Porzellanfabrik in Verbindung mit den reichen und vorzüglichen Thonlagern in der Umgegend Meißens waren für die Gestaltung der industriellen Verhältnisse der Stadt von bedeutungsvollstem Einfluß, denn in diesen Umständen sind in erster Linie die natürlichen Bedingungen zu suchen, die Meißen zu einem so hochwichtigen Mittelpunkte der keramischen Industrie machten. Die Porzellan- und Oefenfabriken Meißens und seiner Vororte beschäftigen insgesammt nahe an 2000 Arbeiter, und ihr gesammter Jahresumsatz beziffert sich auf fast 21/4 Millionen Mark. Das Hauptabsatzgebiet bildet Deutschland; beträchtliche Warensendungen gehen aber auch nach England, Oesterreich-Ungarn, der Schweiz, Skandinavien, Frankreich, Rußland, ja bis nach Amerika und Australien.
Doch kehren wir zur Wiege dieser Industriethätigkeit, zur Albrechtsburg zurück. Nachdem die Schloßräume ihres Charakters als Fabrikräume entkleidet waren, begann, angeregt und gefördert durch den kunstsinnigen König Johann, das höchst nothwendige und von allen Kunstfreunden mit Freuden begrüßte Restaurationswerk, das sich allerdings zunächst nur darauf erstreckte, das Schloß „architektonisch zu reinigen“. Nachdem sich aber die mächtigen Räume, von allen Einbauten befreit, wieder in ihrer alten Erhabenheit zeigten, stellten Pietät und Kunstsinn gebieterisch die Forderung, dem begonnenen Wiederherstellungswerke durch eine künstlerische Ausstattung der Burg einen würdigen Abschluß zu gegen.
Aus dem auf das Königreich Sachsen entfallenden Antheil an der französischen Kriegsentschädigung wurden die hierzu erforderlichen nicht unbeträchtlichen Mittel flüssig, und der sächsische Landtag bewilligte für die Vollendung des begonnenen Werkes 501 900 Mark. Von dieser Summe wurden zunächst 271 900 Mark auf die Herstellung einiger zum Schloßbereich gehörigen Gebäude verwendet. Unter Leitung des Oberlandbaumeisters Hänel wurde ein neuer Thorthurm aufgeführt, das baufällige Kornhaus ausgebessert, ein neuer Verbindungsgang zwischen Kornhaus und Schloß erbaut und in dem „Burgkeller“ eine in gothischem Stile gehaltene und dem entsprechend eingerichtete „altdeutsche Schänke“ geschaffen, von deren Gartenanlagen aus man einen herrlichen Blick auf die Stadt und das obere Elbthal hat.
Die Restsumme von 230 000 Mark diente ganz der Ausschmückung des eigentlichen Schlosses, welche nach dem Plane des Hofraths Dr. Roßmann „die Geschichte der Burg und die Geschichte des fürstlichen Hauses, soweit dieselbe zu der ersteren in Beziehung tritt, in historischen Gemälden, Landschaften und Architekturbildern, sowie in plastischen und gemalten Einzelfiguren“ in fast durchgehends vollendet schöner Ausführung zur Darstellung bringt. Wir dürfen uns auf diese wenigen Angaben beschränken, indem wir den Leser auf einen früheren Artikel der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1882, S. 15) verweisen.
Mit der Verjüngung der altehrwürdigen Albrechtsburg ist der freundlichen Stadt Meißen, deren wunderliebliche Lage am belebten Elbstrom, umsäumt von anmuthigen Rebenhügeln, jeden Naturfreund anheimelt und deren oft geschmähte Weine – wenn sie nur den „guten Jahrgängen“ entstammen – auch einem verwöhnten Gaumen behagen, ein neuer kräftiger Anziehungspunkt für den Frendenzufluß geworden. Amtlichen Angaben nach wurde die Albrechtsburg in den letzten vier Jahren von durchschnittlich über 26 400 Personen, die zum Theil aus weitester Ferne hierher gekommen waren, besucht.
Ganz besonders fühlt sich aber der Künstler zu diesem „Ehrentempel deutscher Kunst“ hingezogen. Was Wunder darum, daß einst ein ganzes Völklein lebenslustiger Jünger der Künste zu Hauf erschien, um sich allhier durch sinniges Spiel und allerlei [384] Kurzweil zu ergötzen. Es war im September des Jahres 1881, als zu Ehren der in Dresden tagenden Delegirten der deutschen Kunstgenossenschaft ein Künstlerfest, von Dresdener Künstlern veranstaltet, in den Räumen der Burg abgehalten wurde, das einen besonderen Glanzpunkt in der neuesten Geschichte derselben bildet. Von ehrsamen Meißner Rathsherren und holden Jungfräulein begrüßt, wurde der mittelalterliche Festzug nach dem Burghof geleitet, woselbst sich in einem Festspiel und Ritterturnier, in lustigen Zechgelagen und anmuthigen Tanzreigen ein Bild entfaltete, das lebhaft in die längst entschwundene Zeit des Mittelalters zurückversetzte.
Eine ganz besonders ehrenvolle Auszeichnung wurde der Albrechtsburg aber dadurch zu theil, daß König Albert, der an der künstlerischen Ausstattung derselben den lebhaftesten Antheil nahm, der neuverjüngten Stammburg seiner Ahnen eine Huldigung darbrachte, indem er mit der Weihe der neu erstandenen Burg eine hochbedeutsame Feier, nämlich das Fest des fünfzigjährigen Jubiläums der sächsischen Verfassung verband.
Am 5. September 1881 erschienen, begrüßt von dem Jubel der Meißner Bewohnerschaft, König Albert und die Mitglieder des königlichen Hauses in Meißen und vereinigten die Mitglieder des Landtages in dem großen Bankettsaale des Schlosses zu einem Festbankett, das den Charakter eines glänzenden Doppelfestes trug.
Eine Gedenktafel am Aufgange zu der Galerie, welche das Schloß mit dem Kornhause verbindet, weist in folgenden Worten auf die Doppelnatur der Feier hin:
„Am 4. September 1881
als am Jahrestage
der Verfassung Sachsens
unter der gesegneten Regierung
Se. Maj. des Königs Albert
ist die Erneuerung u. Ausschmückung
dieser von dem ruhmreichen Ahnherrn
Albrecht dem Beherzten
im Jahre 1471 erbauten
Stammburg des Königshauses
vollendet worden:
ein Denkmal der Liebe zwischen
Fürst und Volk.“
Ein deutscher Liebesgott.
(Fortsetzung.)
Doktor Ehrlich schwamm wie ein Fisch im Wasser in der alten
Heimath. Laut pries er, daß hier sich alles erhalten habe, was
der praktische Doktor Luther in seiner Erklärung der vierten Bitte
zum täglichen Brot rechnete: Haus und Hof, fromm Gesinde, gute
Freunde, getreue Nachbarn und dergleichen. Er lobte die alte
Weisheit, die das Volk bewahrte. Hatte ihm doch sein frühster
Schulkamerad, der Harzscharrer, pfiffig anvertraut, daß er sein
Erspartes in einem Strumpf versteckt halte, und der Bibliothekar
spann einen fröhlichen Gedankenfaden von diesem alten Strumpf
zu des Deutschen Reiches Juliusthurm in Spandau, der im Grunde
ganz dasselbe war: der Behälter für den Nothpfennig.
Er fand für seine Liebhaberei, die vaterländische Alterthumskunde, ein weites Feld; denn hierher war noch niemand gekommen, der in Feuersteinsplittern Urmesser, in Scherbenbrocken Urnenüberreste entdeckte. Er stiftete einen Verein für diesen Zweig der Wissenschaft, und in der Honoratiorenstube der Schenke – einem alten Sichelhammer – belehrte er die Würdenträger von Tannenroda über die Schönheit eines kleinen verrosteten Gegenstandes, der auf der alten Opferstätte, der Brandkuppe, gefunden worden war, und in welchem er eine Bronzesichel erkannte, mit der die Priester dereinst die Mistelzweige geschnitten hatten.
Selbst als die lustigen Waldleute ihm darauf anonym einen großen alten Schlüssel schickten mit der Bezeichnung, daß er von der Pforte zum Paradiese stamme, verlor er die gute Laune nicht. Er putzte ihn, freute sich über seine Riesengestalt und sinnierte darüber, welch schweres Stücklein es gewesen sein mochte für einen Ehemann, dieses Ungethüm seiner Frau Gesponsin wegzustehlen.
Steckenpferde machen nicht nur kleine Kinder glücklich. – –
Mit der großen stillen Bergnatur fühlte Sif sich schnell vertraut. Stundenlang streifte sie durch das Thal, sah auf der Wiese den Blumen zu, wie sie unter den Sonnenstrahlen die Blätterchen entfalteten, auf dem Heidenteich den Wellen, die unter dem Hauch der Maienlüfte im silberglänzenden Zuge daher kamen und wieder zurücksanken; sie lauschte dem Lied der Lerche, die aus den lichtgrünen Flachs- und Hafersaaten aufstieg, und dem leisen eintönigen Ruf der kleinen Unke im Geröhricht. Oder sie saß still unter den alten Tannen auf der Brandkuppe, deren mächtige Stämme weißes Moos bedeckte, in deren Wipfeln es wunderbar rauschte, bald lauter wie fernes Meeresbrausen, bald ersterbend wie das letzte Säuseln des einschlafenden Windes. Sie schaute hinaus über die Berge in das von blauem Duft verschleierte Land hinein. Wo war das Glück zu finden, dessen Ahnung in ihrer Seele lag? Dort, in der Ferne, wo der Himmel mit der Erde verschwamm?
Und sie träumte, während das Abendroth leise verglomm, der geharnischte Mann zöge vorüber, und sie hörte die Worte:
„So sueze juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“
Aber die Gestalt wurde immer schattenhafter, die Stimme klang immer verwehter. Ein Schemen ist nicht festzuhalten, sagte sie sich; und doch konnte sie der Wehmuth nicht Herr werden, als verliere sie etwas, was sie wirklich besessen habe.
Sie war nie ganz allein im Wald. In der Schlucht des Purzelmännchens regte sich fast immer ein geheimnißvolles Leben. Hatte die alte Frau, die Tannenzapfen sammelte, recht, da sie sagte: „Dort ist’s nicht geheuer“?
Einmal schallte es wie ein Kuß herauf, und zwischen den Baumstämmen schimmerte ein grüner Kragen. Die Vereinigung dieser beiden Entdeckungen überraschte Sif, die feurige Verehrerin des „Freischütz“, nicht; aber daß das rosenrothe Kleid von des Pfarrers Töchterlein gleich darauf davon flog, erregte doch ihr Nachdenken. Ein andermal wurde Gezänk drunten laut. Eulalia fuhr gegen den Apotheker los, der mit jungen Kräuterweibern länger geschwatzt hatte, als die Bestellung von goldgelben Arnikablumen nöthig machte.
Zu Himmelfahrt, da der Abend schon nahte, der mit Tanz gefeiert werden sollte, hörte sie eifrige Spatenstiche in der Schlucht. Grub jemand eine der heilkräftigen Pflanzen, die dort in üppiger Fülle wuchsen? Sollte eine Krankheit verbüßt werden? Nein; das war ja Huldas buntes Kopftuch. Die Kleine hielt eine Zaunrübe in der Hand, schnitt ein Scheibchen ab und steckte es in den Schuh, indem sie laut mit ihrem singenden Stimmchen sprach:
„Körfchenswurzel in meinem Schuh,
Ihr Junggesellen, lauft mir zu.“
Sie bestrebte sich ernstlich, den Schwumprich für heute abend zu behexen. Es war wirklich nicht geheuer dort unten.
Als Sif ihrem Vater davon erzählte, lachte er. „So ist’s immer dort gewesen. Alles Liebesvolk hat sich hingeflüchtet. Der Purzelmann ist ein kleiner deutscher Amor. Schade, daß er verloren ging. Bei den jetzigen berechneten Heirathen könnten wir ihn brauchen; aber nicht einmal sein Baumstumpf ist mehr da, sogar der alte Weg verwachsen und nicht wieder zu finden.“
[385]
[386] „Ich werde einmal danach suchen,“ sagte Sif. „Wir könnten neben der Mooshütte im Garten solch alten Knorren brauchen. Man stellt Blumen darauf und pflanzt Epheu darum an. Die Ecke sieht so kahl aus.“ –
Am andern Tag machte sich Sif auf zu ihrer Entdeckungsreise.
„Gehen Sie nicht allein zur Mittagsstunde in den Wald!“ sagte Hulda. „Es ist nicht ohne, daß davor von erfahrenen Leuten gewarnt wird.“
„Willst Du allein zaubern?“ neckte Sif.
Da wurde Hulda dunkelroth und lief in die Küche.
Draußen waltete Mittagsruhe. Das Glöckchen, das geläutet hatte, schlug zum letztenmal an. Die Arbeiter zogen von den Wiesen und Feldern fort, Hacke und Harke auf den Schultern; sogar die Tannenzapfenfrau verließ den Wald und ging heimwärts.
„Können Sie mir nicht sagen, liebe Frau Nachbarin, in welchem Wurzelstock das Purzelmännchen haust?“ fragte Sif.
Das alte krumme Weiblein, das selbst wie ein vertrocknetes Würzelchen aussah, schüttelte den Kopf. „Das werden Sie nicht finden, Fräulein. Seitdem die Menschen alles so abgesucht haben im Wald und so viele Wege hinein gemacht, hat es sich verkrochen wie ein gescheuchtes Eichkätzchen.“ Sie buckelte mit ihrem Korb dem Ort zu, und nun herrschte tiefe Stille weit und breit.
Die Sonne schien heiß auf die Nadelbäume; die jungen Triebe hingen wie zarte Fingerchen matt an den dunklen Zweigen. Bläuliche Nebel webten in der Tiefe des Waldes. Der Duft der harzenden Fichten erfüllte die Luft.
Tiefe Stille herrschte. Auch der Wind schlief, und die gefiederten Waldsänger hielten ihre Mittagsruhe.
Nur weit, weit her tönte der sanfte Ruf des Pfingstvogels, „wie ein melodisches mittelhochdeutsches Wort“, dachte Sif.
Sie ging nicht den gewohnten Pfad. Mitten in die Waldschlucht hinein brach sie sich durch verwachsenes Fichtengeäst Bahn. Sie kam nur mühsam vorwärts. Netzartig überflochten die Baumwurzeln die steinige Erde; bald strauchelte der Fuß auf glatten dürren Nadeln, bald versank er in tiefem Moos, bald netzte ihn ein Quellchen, das aus dem Geklüft, überschattet von riesigen Farnkräutern, rieselte.
Da – plötzlich – wich der Boden unter ihr. Sie glitt hinab und stürzte in duftenden Waldmeister und blühende Preißelbeeren. Sie war zuerst so erschrocken, daß sie aufzustehen vergaß. Nur langsam sammelte sie ihre Gedanken wieder.
Dann aber sprang sie rasch auf die Füße.
War es möglich? Vor ihr erhob sich ein mächtiger fast vermoderter Baumstumpf, dessen Stamm von Moos bewachsen war, während seine Wurzeln gleich gebleichten Gebeinen über den felsigen Boden liefen. Wo sie stand, vermochte man noch im Gestein die Spuren des früheren Weges als verwachsene Geleise zu schauen, und daß die Klippe vorhanden war, an welcher einst das Purzelmännchen die Leute stürzen ließ, das hatte sie eben selbst erfahren. Gewiß! Sie befand sich bei dem Baum des kleinen Berggeistes.
Sie lachte hell auf, daß er mit seinem uralten Schabernack sich selbst verrathen hatte.
Athemlos kam sie zu Haus an und verkündete ihren Fund. –
Die Erwerbung des Baumstumpfes machte keine Schwierigkeiten. Solche Wurzelstöcke wurden verkauft; und der Bibliothekar ließ eines Tages die einstige Wohnung des Purzelmännchens ausgraben und in sein Heim schaffen.
Dort stellte Sif den morschen Stamm neben der braunen Mooshütte auf und bekleidete die dürren Wurzeln mit Epheu.
„Ob wohl noch etwas von den Opfergaben darin steckt?“ sagte sie, und ihre weißen Hände begannen in der Höhlung zu suchen. Dürre Nadeln, graue Flechten förderte sie zu Tage; auch eine ganze Schwammfamilie.
Aber was war das? Hatte der Baum einen Kern wie eine Nuß? Es ließ sich tief drinnen etwas hin und her schieben.
Sie rief Hulda zu Hilfe, und beide Mädchen enthoben dem hohlen Stamme einen Klumpen, schwer wie Eisen.
Ganz verdutzt standen sie davor.
Da bröckelte modriges Holz und Erde ab, und ein kleines schwarzes Aermchen ragte heraus.
Beide Mädchen schrieen laut auf: „Der Purzelmann!“
Ueber dem Holzzaun des Nachbarhauses erschien der Kopf des Schwumprichs, in der Hausthür der Bibliothekar.
„Schwumprich!“ war wie in allen Nöthen sein erstes Wort, worauf dieser mit raschem Turnerschwung im Hofe stand.
„Unter den Röhrbrunnen mit dem Purzelmann,“ kommandierte der Bibliothekar, athemlos vor Aufregung.
„Sehr woll!“ erwiderte der Schwumprich.
In den Steintrog kugelte der Fund und färbte das klare Wasser schwarz wie ein schmutziger Junge.
Hulda und der Schwumprich arbeiteten unverdrossen. Bis an die Ellbogen staken sie mit den Armen im Wasser und wuschen an dem Purzelmann herum, von dem bereits das Köpfchen aus der Erdkruste guckte. Und je länger sie wuschen, desto eifriger wurden sie.
„Au! das ist meine Hand, nicht das Bein des Purzelmanns!“ rief sie.
„Au! das bin ich, den Du gekratzt hast, nicht der Purzelmann,“ entgegnete er.
Aber sie ließen doch nicht von ihrer Thätigkeit ab.
Der Schwumprich sah ganz unternehmend aus, und er wagte auch wieder, Hulda gegenüber den Mund aufzuthun. „Also ist doch etwas an dem, was von dem Purzelmann erzählt wird. Dort unten sagten sie, derlei Dinge wären Aberglaube.“
„Dort unten,“ erwiderte Hulda nachdrücklich, „halten sie viel für Aberglauben, was wir hier heilig gehalten haben.“
Er duckte sich, faßte aber doch wieder Muth und raunte ihr zu: „Weißt Du noch, wie wir Konfirmanden an unserem Einsegnungstage in die Schlucht spazieren gingen und Veilchen suchten? Du tratest auf das lange Kleid, das sie Dir auf Zuwachs gemacht hatten, und fielst hin, und ich fing Dich auf. Die andern schrieen: ‚Oho! Der Schwumprich hat sich schon ein Schätzchen angeschafft.‘“
Sie las Moos und Nadeln aus dem breiten offenen Koboldmäulchen. „Ich hab’ schon daran denken müssen,“ sagte sie ganz leise.
Und er neigte seinen schwarzen Kopf noch viel tiefer zu ihr herab, und Hulda schlug endlich die braunen krausen Wimpern gar nicht mehr auf.
Sif wagte nicht, sie zu stören; aber ihr Vater stellte die Sache richtig. „Nein, das ist nicht die Hauptsache, daß Ihr im trüben Wasser herumfischt und Euch sogar kratzt. Dem Purzelmann müßt Ihr die Erde abkratzen und ihn tüchtig bürsten.“
Da fuhren tief drunten in dem frischen Bergwasser zwei Paar arbeitsgewohnter Hände auseinander.
Nach langer Mühe entstieg der Findling seinem Bade.
Es war ein schnurriges Bild: eine kleine hockende Koboldgestalt von schwärzlichem Erz mit ausgestreckten Händchen, weit aufgethanem Mund und hohlem Leib.
„Der hat geraucht,“ entschied der Bibliothekar. „Feuer her!“
Aber es war ein schwieriges Experiment, dasselbe in dem kleinen Götzen zum Brennen zu bringen. Endlich rauchte er zu Mund und Nase heraus wie ein alter Knasterbart.
Gleich einem Lauffeuer ging die Kunde von dem aufgefundenen Purzelmann durch Tannenroda. Alles kam in Aufregung. Eine Sitzung des Ortsvorstandes wurde gehalten und, da die Purzelschlucht zur Gemeindewaldung gehörte, dem Finder der Fund zugebilligt. Der Bibliothekar und Sif hatten den ganzen Tag zu thun, um die Neugierigen zu dem Purzelmann zu führen, dem der Schwumprich einen mit Tannengrün verzierten erhöhten Platz errichtet hatte, wie ihn das unten in der Festung für geehrte Häupter gelehrt worden war.
„Sind das durchtriebene Burschen gewesen, diese Heiden,“ bemerkte kopfschüttelnd der Pfarrer; „solchen Dampf den Leuten vorzumachen!“
Der Bibliothekar gerieth in Eifer und nahm die alten heidnischen Gebräuche in Schutz.
„O Himmel, Herr Bibliothekar!“ flötete die Frau Pfarrerin, „wie können Sie die heidnische Abgötterei vertheidigen? Unsere Vorfahren müssen schrecklich im Dunklen getappt haben, ehe das Evangelium der Liebe verkündet ward.“
„Ach, von der Liebe haben sie ganz lichtvolle und gesunde Begriffe gehabt,“ brummte der Bibliothekar. „Der Purzelmann wenigstens führte immer die Leute zusammen, wie sie nach Art, Alter und Leibesbeschaffenheit zu einander paßten.“
Die Frau Pfarrerin hüstelte und lächelte sauersüß, während der junge Forstgehilfe und Mariechen hinter dem Rücken der anderen zusammen flüsterten und lachten. Sie hatten ihre besonderen Erinnerungen an den Purzelmann und seine Schlucht.
[387] „G’horschamer Diener!“ tönte es vom Eingang her. Der Apotheker trat herein, ihm folgte Eulalia, und hinter ihnen drückte Hulda mit fester Hand die Thür ins Schloß.
„Wir kommen in geschäftlicher Angelegenheit,“ sagte der Apotheker, seine Gemeinschaft mit Eulalia erklärend, zur Frau Pfarrerin, was diese mit einem empfindlichen Gesicht erwiderte. Er machte dem jungen Paar seine Verbeugung; Mariechen hing den Kirschenmund heraus und der Forstgehilfe strich seine blonden Locken aufstutzig empor. In seiner Verlegenheit flüchtete der Apotheker zum Purzelmann, der lustig auf die zwiespältige Versammlung zu seinen Füßen herabgrinste. „Aus welchem Erz besteht der Kerl nur? Ob man nicht ein Stückchen einschmelzen und chemisch untersuchen könnte?“
Der Bibliothekar breitete beide Hände schützend über sein Kleinod aus. „Nur kein unberufenes Experiment, mein lieber Herr Apotheker! Unser Purzelmann hat nicht verdient, wie der Bel zu Babel behandelt zu werden. Er war kein so großer Herr, daß er Menschenfresser wurde; er rauchte nur, um die nöthige Ehrfurcht zu erwecken.“
„Ach, Herr Bibliothekar,“ kam Eulalia ihrem Herrn zu Hilfe, „es fällt dem Herrn Apotheker gar nicht ein, solch eine brotlose Kunst auszuüben. Ich habe dem Herrn gerathen, ein Bild vom Purzelmann, der doch eine große Berühmtheit ist, auf die Etikette von unserem Heidelbeerwein machen zu lassen. ‚Purzelmann-Heidelbeerwein‘ zeigt so gut etwas Apartes an wie ‚Hochheimer Domdechant‘. Und auf so etwas fallen die Leute immer herein. Es wird dieses Jahr eine so reiche Ernte; da könnten Sie einen schönen Schnitt machen,“ schloß sie, dem Apotheker sich zuwendend.
Der war froh, daß er auf dem festen Grund und Boden eines Geschäftes ankam, während die rosenrothe Benebelung, die ihn seither umfangen hatte, verflog, als hätte der rauchende Koboldsmund hineingeblasen. Er schmunzelte verlegen. „Sie sind ein verflixt schlaues Frauenzimmer, Eulalia. Ich werde einen Porzellanmaler aus der Fabrik drunten kommen lassen. Der soll ihn abzeichnen.“ Und er klopfte die kluge Haushälterin auf die Schulter.
Dann zog alles paarweise ab.
Der Pfarrer führte seine Gattin, die einzige Unzufriedene. Dann kamen der Apotheker und Eulalia, seit langer Zeit zum erstenmal einträchtig durch die Spekulation mit dem Purzelmannwein. Endlich der grüne Kragen und das rosige Pfarrerstöchterchen.
Als die goldenen Ohrglocken an der Küche vorüber läuteten, versteckte sich der Schwumprich hinter den Herd. Seit er den Purzelmann gebadet hatte, war er jeden Tag mit einer Ware daselbst zu finden.
Hulda warf einen verächtlichen Blick in seinen Schlupfwinkel und sagte: „Wenn ich der Kaiser wäre, ich ließe alles Weibsvolk einexerzieren, denn in der Courage sind wir Euch über.“
Dann verweigerte sie den Kauf der angebotenen Steinpilze. „Sie sind so bröckelig wie Eure Herzen,“ sagte sie.
Gleich einem begossenen Pudel schlich der ehemalige Flügelmann davon.
Sif hatte die Gäste, der ländlichen Sitte gemäß, bis an die Hausthüre geleitet und schaute ihnen nach. Sie hatte alles gesehen und gehört und dachte: Wenn Väterchen sich nur nicht getäuscht und statt eines Altjungfernhäuschens ein altdeutsches Heirathsbureau eingerichtet hat! – – –
Mit dem Ruhestand des Bibliothekars war es seit Auffindung des alten Erzgebildes vorüber. Er grübelte und forschte Tag und Nacht über dasselbe nach. Für seine Annahme, daß es kleine Gaugötzen gegeben hatte, sprachen viele Beispiele. Der Crodo auf der Harzburg! Freilich wurde neuerer Zeit behauptet, daß sein eherner Altar ein Altar der Kaiserin Theophania gewesen sei. Aber was wurde denn jetzt nicht angezweifelt? Zweitens: der Püstrich von der Rothenburg in der güldenen Au! Nur alte Nörgler sagten, es sei der Fuß eines Taufbeckens. Drittens: der Götze Doß im Voigtlande, von dem der treuherzige Dorfbewohner seinem gelehrten König Johann anvertraute, derselbe stamme aus der „kartholischen Heidenzeit“ – eine Mittheilung, auf welche dieser mit einem feinen Lächeln antwortete.
Der Bibliothekar trug alles zusammen, was er von dem Kultus des Purzelmännchens wußte; vornehmlich der Gebrauch aller Liebesleute, gerade dorthin ihre Zuflucht zu nehmen, diente ihm als Wegweiser. Er kombinierte, konjekturierte, stellte gewagte Hypothesen auf. Sein Steckenpferd wuchs ihm allmählich über den Kopf. Er bildete endlich auf wissenschaftlicher Grundlage einen kleinen Amor aus dem Purzelmann heraus.
Die Studierlampe mit dem grünen Schirm wurde ebenfalls dem Ruhestand entrissen. Der alte Bücherwurm schrieb eine Studie über den Fund. Wer einmal mit der Feder hinter dem Ohr auf die Welt gekommen ist, wird sie sein Lebtag nicht los. Der Aufsatz wurde in einer Zeitschrift abgedruckt, aber von den gelehrten Forschern sehr gelassen aufgenommen.
Ihrer Ansicht nach war der Fund eine fratzenhafte Figur aus dem Mittelalter, die Sage Ueberbleibsel von einem herabgekommenen Waldgott. Liebesleute, hieß es, wären immer in verborgenen Winkeln zusammen gekommen, nicht auf weithin sichtbaren Berggipfeln und freien Gemeindeplätzen.
Der alte Herr ärgerte sich und zitterte bei jeder neuen Sendung unter Kreuzband, die ihm eine Widerlegung brachte. Er kämpfte wie ein Löwe für seinen deutschen Amor, aber er vermochte nicht, seine Widersacher zu überzeugen. Da kam ihm wie eine Erlösung der Gedanke, seinen Findling auf die Ausstellung zu senden, welche das große Museum für deutsche Alterthümer im August veranstaltete. Dort sollte der Purzelmann wohl zu Ehren kommen. Und er wollte ihn selbst hinbegleiten, die nöthige Anleitung zum Rauchen geben, persönlich ihn dem Vorstand empfehlen.
Die Zeit drängte. Eine Anfrage beim Direktor des Museums wurde kurz, aber bejahend beantwortet. Nun traf der Bibliothekar alle Vorbereitungen.
Schon sollte der kleine Purzelmann in das mit duftendem Waldheu ausgepolsterte Kistchen gesetzt werden, – da entglitt er den aufgeregt zitternden Händen des Bibliothekars und fiel ihm mit aller Wucht seines Erzkörperchens auf die Füße.
Ein Aufschrei – der Gelehrte humpelte nach seinem Stuhl und brach dort zusammen.
Der alte Dorfarzt wurde gerufen.
„Helfen Sie mir schnell, bester Doktor!“ bat der Patient.
Der verordnete ruhig Pflaster, Umschläge und Stilleliegen.
„Kann ich übermorgen reisen? Ich muß fort!“ rief der Bibliothekar verzweiflungsvoll.
„In vier Wochen,“ war die gelassene Antwort.
„Da ist ja die Ausstellung vorüber,“ stöhnte der Daniedergeschlagene.
Der Arzt zuckte die Achseln und ging.
Es war still in der Stube. Am Fenster saß Sif und zupfte Charpie; auf dem Schmerzenslager sann und grübelte ihr Vater vor sich hin.
„Sif!“ tönte es endlich gepreßt von ihm her.
„Ja, Vater!“ Sie eilte zu ihm.
„Es hilft nichts! Du mußt an meiner Stelle reisen,“ stöhnte er. „Sonst wird der Purzelmann in eine Ecke gesteckt, und zum Rauchen bringt ihn niemand. Das ist zu mühselig. Ich bin ein zerschlagener Mann, und Du bist ein resolutes Mädchen. Also reise!“
Sif ließ ein wenig erschrocken ihre Zöpfe durch die Finger laufen. Als sie aber die Sorge und Unruhe in ihres Vaters Zügen sah, sprach sie entschlossen: „Wie Du willst, armes Väterchen. Wann meinst Du, daß ich reisen soll?“
„Am liebsten morgen früh,“ antwortete ihr Vater. „Du kommst abends dort an; am andern Tag giebst Du den Purzelmann ab und am dritten Tag kannst Du wieder hier sein. Der Direktor des Museums ist benachrichtigt. Mein Name wird Dir schnell Eingang verschaffen, aber der beste Passepartout ist der Purzelmann.“
Sif warf einen zweifelvollen Blick auf den kleinen Götzen.
„Vergiß nicht, ein paar Wachholderzweige mitzunehmen,“ fuhr ihr Vater fort, „daß es beim Rauchen den richtigen Geruch giebt. Was solche kleine Kunstgriffe thun, hat man bei den Meiningern gesehen. Du mußt das Experiment dem Direktor zeigen.“
„Ach, Vater,“ sagte Sif erröthend, „schickt sich das alles einem fremden Herrn gegenüber?“
Er wurde ungeduldig. „Bei uns Gelehrten, liebes Kind, gilt vor allen Dingen das Wort: dem Reinen ist alles rein.“
Da legte Sif ihre Charpie zusammen und packte ein zur Reise.
Hulda und der Schwumprich gelobten, den Herrn zu hüten wie ihren Augapfel, und beim Holzhändler lief der Kutscher mit Theereimer und Kragenmantel, um die junge Herrschaft und den alten Purzelmann nach der Eisenbahn hinabzufahren.
Blätter und Blüthen.
Ein Denkmal für Kaiser Friedrich auf dem Schlachtfelde von Wörth. Der Gedanke, dem verewigten Kaiser Friedrich auf dem Schlachtfelde von Wörth ein Denkmal zu errichten, hat soviel Natürliches, Gewinnendes, man möchte fast sagen, Selbstverständliches, daß es niemand wunder nehmen kann, wenn er, einmal öffentlich von einer Schar patriotischer Männer aus den Reichslanden angeregt, alsbald in allen deutschen Gauen den lebhaftesten Wiederhall gefunden hat, und kaum bedarf es noch der Worte, ihm Eingang in aller Deutschen Herzen zu verschaffen.
Zu große, leuchtende Erinnerungen knüpfen sich ja zwischen jener Wahlstatt und dem Namen des ritterlichen Kaisersohnes und weihen sie recht eigentlich zur Stätte für sein Denkmal. Auf diesem Felde und auf diesen Höhen erkämpften unter seiner Führung die süddeutschen und die norddeutschen Truppen Schulter an Schulter jenen ersten großen Sieg über die französischen Bedränger, zu welchem der zwei Tage zuvor bei Weißenburg erstrittene ein so glückverheißendes Vorspiel gewesen war. Der Sieg von Wörth besiegelte mit dem gemeinsam vergossenen Blut für immer die feste Verbrüderung des deutschen Nordens und Südens, er war es, welcher unserem Volk das freudige Vertrauen auf den endlichen Triumph seiner gerechten Sache gab, den Franzosen den Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit vernichtete, Verwirrung und Rathlosigkeit in die Kreise ihrer Regierung und Heeresleitung trug und damit den Keim der späteren Auflösung legte. Und dort bei Wörth, an jenem heißen 6. August, sahen unsere tapferen Krieger ihren königlichen Führer in seiner schlichten Größe und seiner ganzen ungebrochenen, jugendlich männlichen Kraft, ruhig und still in der Zuversicht des Sieges inmitten der ringsum dräuenden Gefahren, seine Truppen begeisternd durch Erscheinung, Blick und Wort, das schöne Bild echten germanischen Heldenthums, und so hat er seither fortgelebt in ihrer Phantasie und wird er fortleben für alle Zeiten. Wie er damals sich den preußischen, bayerischen und württembergischen Soldaten seiner dritten Armee zeigte, wie er dort, von ihrem Jubel umbraust, vor ihren Reihen dahinritt, so soll sein Bild in monumentalem Stil und Maßstab, aus dauerndem Erz geformt, künftig sich erheben.
Noch ist eine engere Wahl, eine genaue Bestimmung der Stelle, auf welche das Denkmal zu stehen kommen soll, nicht getroffen; sie bleibt dem regierenden deutschen Kaiser vorbehalten. Viele Gründe sprechen für einen Platz auf den Höhen von Fröschweiler, auf welchen die letzten Kämpfe des blutigen Tages entschieden wurden, dort in der Nähe der „Friedenskirche“, durch deren Erbauung ein lebhafter persönlicher Wunsch des damaligen Kronprinzen verwirklicht worden ist. Der dem Vaterlande einst mit List und Gewalt entrissene, lange entfremdete Boden des Elsaß ist wesentlich durch diese Schlacht und die in ihr vergossenen Ströme deutschen Blutes für Deutschland zurückgekauft worden, und wenn dort auf jenen Höhen das Denkmal „unseres Fritz“ aufragt, so wird es zugleich als ein beredtes Zeichen dastehen, daß das so theuer errungene Reichsland jetzt und in alle Zukunft beim Reiche bleiben soll.
Um ein Denkmal, das dieser Bestimmung gerecht wird, in würdiger Form und angemessenem Umfange ausführen zu können, sind bedeutende Mittel nöthig, zu deren Aufbringung es der Opferwilligkeit des ganzen deutschen Volkes bedarf. Beiträge nimmt der Schatzmeister des Berliner Komitees, Geheimer Oberfinanzrath Dr. Rüdorff, Berlin, Unter den Linden 34, entgegen.
Karl Millöcker. (Mit Illustration S. 373.) Unter den Operettenkomponisten der neuesten Zeit nimmt Karl Millöcker eine hervorragende Stelle ein; doch in diese erste Linie zu gelangen, ist ihm nicht gleich mit dem ersten Wurf gelungen; er hat lange im Schatten gefochten, ehe ihm der volle Sonnenschein des Glückes aufging. Millöcker ist am 29. April 1842 in Wien als Sohn eines armen Goldarbeiters geboren; er widmete sich früh der Musik und erhielt im Jahre 1864 die Stelle als erster Kapellmeister am Thaliatheater in Graz; 1866 kam er an das Wiener Harmonietheater in derselben Stellung und, als dieses eingegangen war, an das Deutsche Theater in Pest, wo er bis zum Jahre 1869 thätig war. Als Komponist hatte er sich alsbald der Operette zugewendet; doch vermochte er anfangs nicht, über den Kreis einer lokalen Berühmtheit hinaus zu dringen. Als Kapellmeister an das Theater an der Wien berufen, komponirte er Operetten wie „Abenteuer in Wien“ (1870), „Musik des Teufels“ (1875) „Das verwunschene Schloß“ (1877), „Gräfin Dubarry“ (1879), welche aber nur ein schwaches Echo in weiteren Kreisen fanden; einige andere wie „Apajune der Wassermann“ (1880) und „Die Jungfrau von Belleville“ (1881) wurden erst später von den erfolgreicheren Erzeugnissen seiner Muse ins Schlepptau genommen. Das Theater, dessen musikalische Leitung in seinen Händen lag, machte überdies nach einer andern Seite große Ansprüche an seine schöpferische Thätigkeit; er komponirte die Begleitung zu den zahlreichen Possen, die dort in Scene gingen. Das verlangte einen raschen Wurf, die Zahl der Possen, für welche er die erforderliche Musik komponirt hat, soll sich auf mehr als 70 belaufen. Daß bei einer so raschen und massenhaften Produktion für den Tagesbedarf nichts besonders Werthvolles geschaffen werden konnte, ist einleuchtend. Gleichwohl glückte ihm noch in dieser Stellung der große Wurf, durch den er einen in ganz Deutschland wiederhallenden Ruf gewonnen; im Jahre 1881 schuf er die Operette „Der Bettelstudent“, welche am 6. Dezember 1882 zuerst am Theater an der Wien gegeben wurde und dann die Runde über die deutschen Bühnen machte.
„Der Bettelstudent“ bezeichnet die Wendung, welche die deutsche Operette wieder zur komischen Spieloper nimmt. Schon das von Karl Zell und Richard Genée verfaßte Textbuch enthält eine Handlung, welche durch gesünderen Humor sich vortheilhaft von den blasirten, leichtfertigen Parodien der Offenbachischen Texte unterscheidet, und ebenso zeichnet sich Millöckers Musik gegenüber der prickelnden und trippelnden, pikanten Art des ganz zum Franzosen gewordenen Offenbach durch einen gemüthvollen Grundton und eine natürlichere, gesündere Melodik aus, und einzelne seiner Lieder wie z. B. das vom „Himmelblauen See“ im „Verwunschenen Schloß“ sind zu wirklichen Volksliedern geworden.
Nach dem glänzenden Treffer des „Bettelstudent“ komponirte Millöcker die Operetten „Gasparone“ und „Feldprediger“ (1884 und 1885) und „Der Viceadmiral“ (1886). Während „Gasparone“ und „Viceadmiral“ wieder eine bedauerliche Annäherung an Offenbach verrathen, schlagen der „Feldprediger“ und die 1887 komponirte Volksoper „Die sieben Schwaben“ wieder einen volksthümlichen deutschen Ton an.
Mag Millöcker manches geschaffen haben, was nur vorübergehenden Anklang fand und verdiente, sein „Bettelstudent“ sichert ihm einen hervorragenden Rang unter den Komponisten, welche das leichtere Genre gepflegt haben, und das Verdienst, die Alleinherrschaft des französischen Offenbach-Genres auf dem Gebiete der Operette in Deutschland gebrochen zu haben, ist zum guten Theile Karl Millöcker zuzuschreiben, dessen charakteristisches Porträt wir heute unsern Lesern vorführen. †
Frau Amalie Th. in O. Wie man dem Luxus und der Putzsucht der Dienstboten zu steuern vermag? Am besten wohl durch eigene Einfachheit und Sparsamkeit, indem man ihnen stets das Beispiel der sorgsamen Erhaltung und Ausnutzung der eigenen Garderobe giebt; dann aber, indem man ihnen Zeit gewährt, die ihrige selbst in Stand zu halten. Ehemals, in der „guten alten Zeit“, der Sie, wie es scheint, nachtrauern, hatten die Mädchen in jedem besseren Hause einen Nachmittag in der Woche für ihre Flickereien; dies sollte wieder allgemeiner Brauch werden, auch könnten Frauen und Töchter durch etwas Fürsorge und guten Rath gewiß manche thörichte Ausgabe verhindern und die Freude am Sparen erwecken.
C. G. in Wien. Das „Generalregister zur ‚Gartenlaube‘ von 1853 bis 1880“ können Sie zum Preise von M 4 durch jede Buchhandlung beziehen.
Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 373. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. Volks- und Familienleben der Kirgisen. (Schluß). S. 378. – Die Wettinerstadt Meißen. Ein Erinnerungsblatt zum 800jährigen Jubiläum des Wettiner Fürstenhauses. Von E. Rasche. S. 381. Mit Illustrationen S. 376, 377, 381 und 384. – Ein deutscher Liebesgott. Erzählung von Stefanie Keyser (Fortsetzung). S. 384. – Mädchenrache. Illustration. S. 385. – Blätter und Blüthen: Ein Denkmal für Kaiser Friedrich auf dem Schlachtfelde von Wörth. S. 388. – Karl Millöcker. S. 388. Mit Illustration S. 373. – Kleiner Briefkasten. S. 388.
Allen Freunden einer gemütvollen, im besten Sinne unterhaltenden und fesselnden Lektüre empfehlen wir die Subskription auf die neu erscheinende, billige Lieferungs-Ausgabe von
Die neue Ausgabe erscheint vollständig in 108 Lieferungen in Stärke von durchschnittlich 5–6 Druckbogen, alle 14 Tage eine Lieferung.
Inhalt: Tannengrün. – Am Kamin. – Erzstufen. – Das Schwalberl. – Mein Eden. – Alte und neue Geschichten aus Baiern. – Der bairische Hiesel. – Der Kanzler von Tirol. – Der Habermeister. – Süden und Norden. – Almenrausch und Edelweiß. – Friedel und Oswald. – Im Morgenrot. – Die Gasselbuben. – Das Münchener Kindel. – Der Bergwirt. – Die Zuwider-Wurzen. – Der Loder. – Der Bauernrebell. – Mütze und Krone. – Hund und Katz’. – Konkordia. – Aufg’setzt. – Ledige Kinder. – Die Türken in München.
Herman Schmid’s Schriften, den älteren Gartenlaube-Lesern wohlbekannt, eignen sich in hervorragendem Maße zur Anschaffung für die Familienbibliothek, welche durch die Erscheinungsweise in billigen vierzehntägigen Lieferungen auch den weniger Bemittelten ermöglicht wird.
Die meisten Buchhandlungen nehmen Bestellungen auf die neue Ausgabe entgegen und senden auf Verlangen die soeben erschienene erste Lieferung zur Ansicht.
Leipzig, im Juni 1889. Die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Laurentinus Faustus: Geschicht vnd Zeit-Büchlein / der weitberühmeten Churfürstlichen Stadt Meissen. Dresden 1588, S. 3 MDZ München