Die Gartenlaube (1889)/Heft 12
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No. 12. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Lore von Tollen. |
Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten. | |
(Fortsetzung.) | Roman von W. Heimburg. |
Der General kam nach einigen Augenblicken an das bezeichnete
Haus und öffnete die lautklingelnde Thür. Darauf trat aus
der Küche eine kleine Frauengestalt, die, der Kälte wegen, ein schwarzwollenes
Tuch um den Kopf trug und sich an einer großen blauen
Leinenschürze eilig die nassen Hände trocknete. Der alte Herr hatte
Mühe, in dieser ärmlichen Erscheinung seine Schwägerin zu erkennen.
Aber sie war schon auf ihn zugeeilt. Die Freude, den Bruder ihres Mannes wiederzusehen, der in ihrem Leben, ausgenommen in der letzten Angelegenheit mit Rudolf, immer die Rolle eines hilfreichen Engels gespielt hatte, färbte ihr bleiches Gesicht. Er kam sicher auch diesmal, Trost und Rath zu bringen. „Onkel! Du?“ rief sie und ergriff seine Hand.
„Meine arme Marie!“ antwortete er mild und erwiderte warm den Händedruck. „Ich wäre so gern früher gekommen, um hinter Leos Sarge mitzugehen; aber ich saß da drüben in Cairo. Ja, ja, mein alter guter Leo –“
Sie traten in die kleine finstere Eckstube, und während Frau von Tollen schluchzend auf einen Stuhl sank, zog er seinen Pelz aus und blinzelte mit den Augen und räusperte sich, um seine Rührung zu verbergen.
„Na, nun fasse Dich, Marie, wir wollen jetzt mal von Deinen Verhältnissen sprechen, darum bin ich hier. Sag, wie es steht, und ob ich Dir irgendwie helfen kann! Erzähle nur los, alte Seele. Was habt Ihr denn noch zum Leben, und wie ist’s mit dem Schlingel, dem Rudolf, geworden? Wie hast Du Dir die Zukunft gedacht?“
Es war trostlos genug, was er nun in stockenden Worten zu hören bekam, so schlimm hatte er sich die Lage der Witwe nicht vorgestellt. Er saß an dem Tische, trommelte mit den Fingern der einen Hand auf der Platte desselben und zwirbelte mit der andern den weißen Schnurrbart. Ein „Hm! hm!“ entfuhr ihm zuweilen, das war alles.
„Na, nur nicht gleich verzagt!“ sagte er endlich, als Frau von Tollen bereits eine ganze Weile schwieg, „da muß man halt ordentlich überlegen, was geschehen kann. Ich werde mal mit dem Aeltesten sprechen und – apropos, die Lore, unsere reiche
[182] Frau Lore – da heißt’s: ‚Alle Mann auf Deck!‘ – Wie geht’s dem alten lieben Gör, Du hast kein Wort von ihr gesagt? Ich weiß weiter nichts, als daß sie die Frau eines angesehenen reichen Mannes ist – so schrieb Leo noch, mich selbst hat der Racker seit einem Vierteljahr totalement geschnitten.“
Frau von Tollen schwieg und sah mit scheuem Blick an dem alten Herrn vorüber.
„Na? ’s ist doch wohl alles in Ordnung?“ fragte er mißtrauisch.
„O – ich denke – ja – aber willst Du nicht ein wenig frühstücken?“ Und die alte Dame lief an die Thür und rief trotz des Protestes nach Käthe. Ihr ward auf einmal himmelangst. Die Lore war ja der Liebling des Generals – wenn er sie jetzt wiedersähe in dieser Gemüthsverfassung? Wenn sie ihm Eröffnungen machte von dem Gang dieser ganzen Heirathsgeschichte? Der Alte wäre imstande, sie, die Mutter, zu erwürgen.
„Ich will nicht essen!“ schrie der General. „Kuckuck Sapperlot, ich habe bereits –! He, Marie, wo wohnt die Lore? Und was ist denn das eigentlich für ein Mann, den sie hat? Ist’s Passionsheirath auch von ihrer Seite, oder sollte das Mädel –? Ne, das glaube ich aber nicht.“
„Ach, Wilhelm, Du weißt ja, sie ist so eigenthümlich zuweilen –“
„Nun, davon habe ich bis dato nichts bemerkt, eine alte verständige Deern ist sie, soweit ich sie kenne.“
„Ja, ach ja, Wilhelm, aber – na, Du verstehst das nicht. Uebrigens, daß Tollen gerade an ihrem Hochzeitstag starb, das hat eine schreckliche Wirkung auf ihre Nerven gehabt; Du weißt, wie sie an dem Vater hing. Und nun kommt noch dazu, daß ihr Mann jetzt nach Amerika mußte und sie allein ist. Sie fängt ordentlich Grillen.“
„So? Na, da will ich doch aber nachher gleich ’mal hingehen. Ah, und da ist ja auch das jüngste Fräulein Tochter. Alle Wetter, Du Spatz, bist Du aber flügge geworden!“
Käthe war hereingekommen mit einer der wenigen Flaschen Wein, die noch im Keller vorhanden waren, und einem Tablett, auf dem ein Glas stand. Sie setzte beides rasch auf den Tisch und schlang die Arme um den Nacken des Generals.
„Ach, Onkel, wie schön, daß Du da bist! Nun wird alles gut!“
„Gut, Du Hexe? Was Du schmeicheln kannst! Sage ums Himmels willen, wie alt bist Du denn? Du siehst so aus, als könntest Du alle Tage heirathen!“
Er betrachtete wohlgefällig das frische Mädchengesicht mit dem kecken Näschen und den prachtvollen Augen. Die etwas vollen Lippen waren purpurroth und ließen ein Paar Reihen weißester Zähne sehen.
„I – daß Dich!“ staunte der alte Herr. „Na, komm, kannst mich zu Lore bringen.“
„Ach, Onkelchen, bleib doch noch ein wenig hier, wir sind ja so wie so bei Beckers eingeladen von sechs Uhr ab. Lore besucht uns auch noch möglicherweise im Laufe des Tages; ich habe ihr Coupé fahren sehen. Sie ist wahrscheinlich mit ihrer Schwiegermutter nochmals auf Weihnachtskommissionen.“
„So? So? Dann freilich! Den Wagen habe ich auch gesehen. – Aber das sage ich Dir, vor sechs gehe ich hin, bis Ihr alle mitkommt, warte ich nicht. Nun bring mir mal Feuer für die Cigarre und dann ruf die Mutter wieder, sie soll mir erzählen von Leo, auf den Kirchhof gehe ich morgen.“
Frau von Tollen kam, und der General sagte nach einer Weile Hin- und Herredens. „Höre, Schwägerin, was nun die Verbesserung Deiner Existenzmittel anbetrifft, wie wär’s, wenn Du möblirte Zimmer vermiethetest? Du hast ja doch die Möbel, und es ist schließlich bei Deinem Gesundheitszustand das Angenehmste und Leichteste. He? Was macht Ihr denn für Gesichter? - Ja, Du lieber Gott, Kinderchens, die gebratenen Tauben fliegen einem heutzutage nicht mehr ins Maul, und es ist dem Schicksal sehr egal, ob Ihr Frau und Fräulein von Tollen seid oder nicht. Hier ist die Frage: ‚Leben mit – oder ohne Hunger?‘ Ich kenne noch andere Leute wie die Tollens, die in Berlin auf diese Weise existiren und doch bleiben, was sie sind.“
Er erhielt keine Antwort. Ueber das Gesicht der alten Dame rollten große Thränen.
„Onkel“ sagte Käthe, „wir gehen nicht gern fort von hier, weißt Du, Papa liegt hier begraben und Lore ist hier –“
Sie ward nicht einmal roth bei dieser Lüge: sie dachte an Ernst Schönberg dabei.
„Dummes Zeug! Dann bleibt hier! Westenberg bekommt ja möglicherweise Garnison, da geht’s hier auch schließlich. Wieder nicht recht?“ setzte er ärgerlich hinzu „Ja, meine gute liebe Marie, daß Du von Deiner Pension nicht leben und außerdem noch den Lieutenant in Zulage erhalten kannst, das wissen wir ja, weshalb Du aber meinen Vorschlag so kühl aufnimmst, verstehe ich nicht. Ich – habe kein Vermögen.“
Die Damen sahen ihn ungläubig an und schwiegen.
„Ich habe kein Vermögen,“ wiederholte er und die Röthe eines ehrlichen Aergers schoß ihm ins Gesicht. „Ich – ich – Du meinst wohl, Marie, weil Leo die Heirathskaution stellen konnte, besitze auch ich dieses Kapital, weil wir ja Brüder? Ich –“
Er verstummte, sprang auf und trat ans Fenster; seine Gedanken flogen zurück in die Vergangenheit. Damals – er war ein junger Hauptmann, und er lebte solid wie ein Philister, das heißt er spielte nicht und hatte sonst keine kostspieligen Passionen. Da war eines Tages der Leo, der mit ihm in einem Regiment als Lieutenant stand, in seine Wohnung gekommen und hatte ihm in heller Verzweiflung erzählt, daß er sich von dem Vater seiner heimlich verlobten Braut einen ziemlich hoffnungslosen Korb geholt habe. Grund: das mangelnde Vermögen. Die Braut besaß nichts, Leo nur sechstausend Thaler, soviel wie er.
Er hatte hin und her überlegt, er konnte eine ganze Nacht hindurch das bekümmerte Gesicht des Bruders nicht loswerden und meinte immer, die niedliche Braut schluchzen zu hören um ein verlornes Glück. Da machte er sich am andern Morgen auf, suchte den Bruder auf dem Exerzierplatz und theilte ihm mit, daß er, da er ja Hauptmann sei und doch nicht heirathen werde – nein, sicher nicht, denn die eine, die er gewollt, sei ihm verloren – das kleine väterliche Erbe im Grunde gar nicht brauche. Der Leo möge nur darüber verfügen, dann sei es doch zu was nütze, das bißchen Mammon – nämlich, ein paar Menschen zum sogenannten Glück zu verhelfen, indem es das Kommißvermögen vervollständige. Und Leo hatte es genommen und hatte geheirathet. – Ob die Frau dort eine Ahnung davon besaß? Die Kinder jedenfalls nicht, sonst hätte wohl der Schlingel, der Rudolf, in seiner Geldnoth ihn nicht so unverschämt an Schätze gemahnt, die er auf der Reichsbank liegen haben sollte. Unverschämter Bengel!
„Ich habe thatsächlich kein Vermögen!“ sagte er jetzt zum dritten Male, „ich hätte z. B. dem Rudolf nicht helfen können, selbst wenn ich gewollt, aber – ich hätte es auch nicht gethan. Nein, nein, guckt mich nur nicht so an! Ein Mensch, der so gotteslästerlich leichtsinnig ist wie der Schlingel, der mit Behagen seinen Sekt schlürft und doch genau weiß, mit jedem Schluck entzieht er seinen armen Eltern, seinen Schwestern, einen nothwendigen Groschen – mit so einem habe ich kein Mitleid, keins! Wollte Gott, er hätte das Geld zu seinem Arrangement nirgend geborgt bekommen, es ist doch nur eine Galgenfrist.“
Der alte Herr hatte sich in Hitze gesprochen, nun that es ihm leid, als er die verweinten Augen der Schwägerin sah.
„Na, laß gut sein, Marie!“ sagte er weich, „ich helfe Euch, soviel ich kann, meine Pension ist ja ziemlich reichlich. Aber auch Ihr müßt die Hände rühren, Kinder. Ich sage Euch, Arbeit ist ein Gottessegen, ein wahrer Gottessegen. Aber nun –“ er zog die Uhr – „gehe ich doch zu Lore.“
Frau von Tollen trocknete sich die Augen. „Du weißt nicht, Wilhelm, wie alles so schrecklich war mit dem Rudolf, und Du weißt nicht, wie eine Mutter an ihrem Kinde hängt.“
„Freilich nicht aus Erfahrung,“ antwortete er gutmüthig, kann’s mir aber vorstellen. Ein Mutterherz soll aber nicht bloß an so einem hübschen Bengel hängen, es soll gleicherweise auch der andern Kinder gedenken, die ohnehin schon das Unglück haben, Mädels zu sein, arme Mädels. Na, nichts für ungut, Marie, Ihr seid einmal so. Je wilder und nichtsnutziger so ein Junge ist, desto verliebter seid Ihr in ihn. Käthe hat’s doch nicht gehört? Na, Gott sei Dank! Nein, die hat sich vor meinem Lärm geflüchtet. Adieu, Marie, auf Wiedersehen!“
Lore hatte es abgelehnt, mit ihrer Schwiegermutter auszufahren.
Sie saß oben in ihrem Zimmer, blickte in den Garten hinaus und
kümmerte sich kaum darum, daß alle Augenblicke Tante Melitta
in ihr Boudoir trat und irgend etwas Wichtiges zu melden hatte.
Eben erschien sie wieder mit einem Tellerchen voll Gebäck.
[183] „Nein, ich begreife nicht, Lore,“ rief sie, „daß Dir diese Vorbereitungen keinen Spaß machen! Du solltest nur sehen, wie reich die Tafel bedeckt ist mit Gaben für die armen Kinder. Und der Baum! Da sind auch die Makronen aus dem Ofen gekommen, bitte – koste einmal, – nach dem altbewährten Tollenschen Rezept. Denke Dir, wie rührend von Deiner Schwiegermutter. Käthe bekommt einen neuen Wintermantel. Das Mädel sieht auch gar zu spökerig aus in dem alten Jäckchen; na und was für Dich alles da ist, – Lore, ich sage gar nichts, nur soviel – Du hast einen rührenden, einen opulenten Mann. Willst Du nicht eine Makrone nehmen?“
Lore dankte und zog fröstelnd das Tuch fester um die Schultern.
„Na, dann verzeih; ich muß wieder hinunter.“
Die junge Frau holte sich eine Häkelarbeit, aber die lag bald vergessen auf der Fensterbank. Sie nahm eines der Bücher im weißen goldgepreßten Ledereinband aus dem zierlichen Bibliothekschränkchen. Es waren die Gedichte von Burns. Sie blätterte darin und wußte selbst nicht, was sie las. Dann blieben ihre Augen an einer Stelle haften:
Versprich mir Treue, Marie,
Gieb mir Deine weiße Hand,
Und schwöre mir Treue, Marie!
Wir haben’s gelobt, Marie,
Vereinigt ist Geist mit Geist,
Und Fluch sei dem Augenblicke,
Der uns von einander reißt.
Da waren sie wieder so lebendig vor ihren Augen, das Flüßchen, die Birke, der Herbstabend, als auch sie ihm Treue gelobte. Ja – und verflucht war sie gewesen von dem Augenblicke an, da sie sie brach, und sie würde es bleiben, solange sie athmete. Es gab keine andere Hilfe, als – –
Sie stand plötzlich auf, das Buch fiel zur Erde. Es ist ein fürchterliches Gesetz, das zwei Menschen an einander schmiedet wie Galeerensklaven. Es erfaßte sie, die Aristokratin, eine zitternde ohnmächtige Wuth gegen Ordnung und Obrigkeit. Und gleich darauf schlug sie die Hände vor das Gesicht – bis zu welchen irren Gedanken würde ihr krankes Herz sie noch führen? – Vorhin war eine Depesche an sie gekommen mit der Nachricht, daß ihr Gatte bereits am siebenundzwanzigsten Dezember die Rückreise wieder antrete, und daß sie vom achten oder neunten Januar ab in Hamburg seiner warten solle. – –
Er sollte warten, vergeblich warten, immer, immer! Wenn nur erst der heutige Tag vorbei wäre – –.
Die Mittagsstunde rückte näher; Fräulein Melitta lächelte abermals herein. „Ich begreife nicht, wo Deine Schwiegermutter bleibt!“ rief sie, „bist Du nicht auch verwundert? Seit zehn Uhr fährt sie in der Stadt umher; sie hat zwar zwölf arme Familien zu besuchen, aber – –“
Lores Jungfer trat ein. „Gnädige Frau, ein Herr wünscht Sie zu sprechen.“
Lore nahm die dargereichte Karte vom silbernen Teller, dann fuhr sie vom Stuhl empor. „Der Onkel,“ stammelte sie, „Onkel Wilhelm!“ Und im nächsten Augenblick war sie an Tante und Dienerin vorübergeeilt, und ein leiser in Thränen erstickter Aufschrei. „Ach, Onkel, Du?“ scholl zurück.
Als das alte Fräulein ihr nacheilte, fand sie die schlanke Gestalt Lores halb bewußtlos in den Armen ihres ältesten Bruders, der ganz verwirrt über das Aussehen und Gebaren seines Lieblings weiter nichts zu sagen vermochte, als: „Kind – Lore – was ist aus Dir geworden!“
Sie faßte sich gewaltsam und zog ihn mit zitternder Hand nach ihrem kleinen Boudoir. Dort blieb sie vor ihm stehen, seine beiden Hände noch immer festhaltend, und sah ihn an mit den blauen Augen, die so angstvoll aus dem schmalen Gesicht blickten. „Onkel,“ sagte sie, „Du kommst zu spät – –“
„Was denn, mein Lorchen, was denn?“ fragte er verwirrt.
„Ach, laß nur, Onkel, es ist Unsinn, was ich da rede, Du hättest ja auch nicht helfen können. Setze Dich, Onkel, ich bin so dankbar; es ist doch eine Freude, eine, am heutigen Tage.“
Er setzte sich, ohne ein Wort zu erwidern und sah sie unverwandt an. „Lore,“ fragte er endlich, ohne sich um die Gegenwart Tante Melittas zu kümmern, die auf der Chaiselongue saß und schluchzte, „Lore – bist Du – Du bist doch nicht –?“
Tante Melittas Schluchzen verstummte vor dem unruhigen Gebaren des alten Herrn. „Aber Wilhelm,“ sagte sie vorwurfsvoll, „was hast Du denn?“
Die junge Frau reichte ihm die Hand herüber. „Onkel, erzähle, wie es Dir ergangen!“
Er übersetzte es sich: Laß nur, es ist alles gleich. Frage nicht, ich muß mein Schicksal tragen. – Er öffnete den Mund zu einer Frage, aber er verschluckte sie, denn eben rauschte Frau Elfriede, die Wangen blauroth vor Kälte, ins Zimmer, und begrüßte „Seine Excellenz“ mit einem solchen Aufwand von Worten, daß es ihm unmöglich ward, auch seinerseits etwas vorzubringen. Er betrachtete von seiner stattlichen Höhe herunter die aufgeputzte kleine Person, und ein Anflug ironischen Lächelns zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe.
„Und Excellenz verleben den heutigen Tag bei uns?“ Frau Elfriede schmolz fast, als sie dies mit süßestem Lächeln flötete. „Lorchen, Kind, Du mußt es ja wissen – liebt Se. Excellenz ein Sprungfederbette oder eine Roßhaarmatratze? Die Herren Offiziere sind so eigenthümlich mit ihrem Lager. – Es versteht sich von selbst, daß Excellenz mit Lorchens bescheidener Logirstube vorlieb nehmen. Friedrich soll die Effekten Sr. Excellenz sofort aus dem Hotel holen.“
„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ lehnte der General ab, „es ist ein Grundsatz von mir, ich wohne niemals in einem Privathause.“
„Aber Wilhelm, Du verdirbst Lore die Freude am ersten Gast in ihrer reizenden Häuslichkeit!“ rief Tante Melitta.
„Lore, Du nimmst’s nicht übel, – ich danke, gnädige Frau.“
„Nein, Onkel!“ erwiderte Lore.
„O, wie bedaure ich das,“ klagte Frau Elfriede, „aber ich will eilen, um zu sorgen, daß die Herrschaften bald etwas zu essen bekommen. Auf Wiedersehen! Liebstes Fräulein von Tollen, o bitte, auf einen Augenblick!“
Tante Melitta lief wichtig hinter Frau Becker her. Es herrschte jetzt eine fast beängstigende Stille in dem kleinen Gemach, in dem sich Onkel und Nichte ganz allein gegenüber saßen.
„Gott soll mich schützen!“ dachte der alte Herr. Er war gar nicht imstande, Lore jetzt anzusehen, er meinte, ihr feines Gefühl schäme sich dieser alten ordinären Schachtel, die ihre Schwiegermutter hieß. „Lorchen,“ fragte er endlich, „Du siehst elend aus, und Deine Mutter meinte, Da seist so sonderbar geworden; hab mal Vertrauen zu mir – stimmt hier nicht alles?“
„Doch, Onkel, doch!“
„Hm!“
Sie schwiegen wieder, man hörte nur das leise hastige Ticken der kleinen Uhr. Lore sah so aus, als wollte sie bitten: „Wozu denn, Onkel? Du kannst mir auch nicht helfen.“
Dem General that das alte ehrliche Herz in seiner Brust mächtig wehe. Was war aus dem Mädel geworden? Und er war doch höllisch ungeschickt, er wußte nicht mal, wie er es anfangen sollte, zu erfahren, ob sie unglücklich war über des Vaters Tod, oder gar – hm –. „Es ist hart, Kind, daß Du gleich so Bitteres erfuhrst im Anfang Deiner Ehe.“
Sie nickte. „Wo traf Dich denn die Todesnachricht?“ fragte sie dagegen, und als er sagte. „In Cairo,“ da begann sie hastig zu fragen nach seinen Reisen; er war kaum imstande zu antworten, so forciert, so nervös klang es. Sie dachte dabei ganz anderes; aussprechen möchte sie sich gegen ihn, die Last von ihrer Seele wälzen, aber – würde er sie verstehen?
Sie ging dann an seinem Arm hinunter nach der Beletage in das Speisezimmer der Schwiegermutter.
Die alte Dame hatte der „Excellenz“ zu Ehren alles Silber aufgesetzt, über das sie verfügte. Es war zu der frühen Stunde schon dämmerig in dem mit dunklem Holz getäfelten Raum, deshalb brannten die Flammen an der altdeutschen Messingkrone über dem Tische und entlockten dem Tafelgeräth Funkeln und Blitzen. Im Kamin glühte ein mächtiger Block Eichenholz. Weich und warm breitete sich der Smyrnateppich über den Boden. Es war ein behaglicher, harmonischer Raum, nur einzig und allein zwei schreckliche Oeldruckbilder störten dieses comme il faut, Stillleben nach irgend welchen berühmten Originalen aus der Dresdener Galerie, das eine Wild, Fische und Geflügel, das andere Früchte und ein Kelchglas mit Rheinwein darstellend.
Das Talmi guckt überall durch, dachte der General. Er saß, den Rücken nach dem eichengeschnitzten Kredenztisch gewandt, an der Schmalseite des Tisches, Lore und ihre Schwiegermutter zu beiden Seiten, Tante Melitta gegenüber.
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[185] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [186] Das Gespräch drehte sich, durch Frau Elfriede angeregt und nicht gerade erhebend für die Familie, um den Tod des Major von Tollen und die Lage, in der Frau und Kinder zurückgeblieben. „Seien Excellenz versichert,“ flötete Frau Becker und führte die Serviette an die Augen, gerade als der Diener mit frischer Platte eintraf „wir werden helfen, wo wir können; wozu wären wir denn verwandt mit einander?“
„Sie sind sehr gütig,“ antwortete Lore, „aber im Namen meiner Mutter danke ich, sie wird Ihre Unterstützung auf keinen Fall annehmen!“ Ihre Hand zitterte so, daß der Wein in dem Glase, welches sie mechanisch erfaßte, über den Rand floß.
Eine Verlegenheitspause entstand; es hatte verächtlich geklungen, und rauh war die Stimme gewesen, die sonst so biegsam. Der in veilchenblauen Plüsch gekleidete Diener bot verstohlen lächelnd ein Ragout an. Lore dankte. Man aß schweigend.
Frau Elfriede saß da, roth und zornig. Tante Melitta versuchte möglichst ungeschickt, ein Gespräch in Fluß zu bringen, aber ihre Mittheilung, daß irgendwo ein Eisenbahnunglück geschehen, erwies sich als wirkungslos. Lore blieb zurückgelehnt in ihrem Stuhl und spielte mit einem Bröckchen Semmel. Sie sah entsetzlich bleich aus.
„Wenn Du angegriffen bist, Lorchen, so zwinge Dich nicht; lege Dich doch!“ schlug Tante Melitta vor.
„In der That – Verzeihung –“ stammelte sie, unfähig sich zu beherrschen, und verließ das Zimmer.
Im hallenartigen Flur lag der letzte Tagesschein. Da, wo die große Treppe mündete, stand augenblicklich der Diener vor einer Dame.
„Ich bedaure sehr, gnädige Frau, der Herr ist verreist und die Damen sind gerade bei Tische,“ hörte Lore ihn sagen.
„Kann ich nicht warten?“ klang es gebrochen deutsch, „ich finde in der Dunkelheit so schlecht den Weg. Oeffnen Sie mir das Empfangszimmer und melden Sie mich nach beendetem Diner.“
Der Diener trat zurück, als Lore jetzt wie ein dunkler Schatten aus der Dämmerung des Korridors hervortrat.
„Die Dame wünscht zur gnädigen Frau,“ meldete er.
„Nicht doch! Frau Becker möchte ich in einer Angelegenheit sprechen,“ sagte die Fremde, die neben sich ein Kind, einen kleinen Jungen hatte, der sich dicht an sie schmiegte.
„Mich? – oder meine Schwiegermutter?“ fragte Lore müde.
„Frau Becker!“ wiederholte die Fremde stockend; und da in diesem Moment der flammende Kandelaber an der Treppe aufleuchtete, sah Lore in ein junges Frauengesicht, dessen Augen sie mit erstauntem Ausdruck anstarrten.
„Ganz recht, da werden Sie meine Schwiegermutter meinen,“ antwortete Lore. „Aber wollen Sie nicht – –“
„Die Mutter von Adalbert Becker –“ stieß die Dame hervor.
„Ja! Aber wollen Sie nicht bei mir oben so lange warten? Meine Schwiegermutter hat Gäste, und –“
„Sie sind – mein Gott, Sie sind –“
Lore fühlte sich am Arm gepackt, wie Eisenklammern hielten die schlanken Finger der Fremden sie fest. „Sie sind die Braut von Adalbert Becker?“ flüsterte es fast versagend neben ihr.
„Die Braut? Nein, seine Frau! … Aber mein Gott!“ schrie Lore erschreckt. Die Fremde wankte plötzlich und faßte nach dem schmiedeeisernen, zierlich mit Laubwerk umgebenen Pfeiler des Treppengeländers und lehnte da wie zusammengebrochen mit einem irren, entsetzten Ausdruck in den Zügen.
„Seine Frau? Seine Frau? Das ist nicht wahr!“ stieß sie hervor, „das ist einfach nicht möglich!“
„Mama, komm!“ bat das Kind.
Lore stand rathlos. Sie strich sich über die schmerzende Stirn. Was sollte das sein? „Kommen Sie mit nach oben, ich bitte Sie!“ flüsterte sie voranschreitend.
Die Fremde raffte sich zusammen und folgte ihr.
Wie erkennen und verbessern wir schlechte Zimmerluft?
In einem feuchten Zimmer wohnt niemand gern, und doch wird, besonders bei den neueren Heizungsarten, viel über Trockenheit geklagt und auf Mittel gesonnen, die Zimmerluft zu befeuchten. Manche trockne, gesunde Wohnung wird so zu einer feuchten, ungesunden gemacht.
Da die Fähigkeit der Luft, Wasser aufzunehmen und aufgelöst zu halten – die Feuchtigkeitskapacität der Luft – mit der Erwärmung wächst, so geschieht es im Winter oft, daß die in einem kalten Zimmer nahezu mit Feuchtigkeit gesättigte Luft, nachdem sie durch Heizen erwärmt wurde, trocken befunden wird. Diese Veränderung tritt besonders da hervor, wo mit der Heizung reichlicher Luftwechsel verbunden ist, weil dann die durch Athmung und Ausdünstung der Bewohner und andere Ursachen, namentlich durch Aufnahme des vorher von den wasserziehenden Möbeln und Umgrenzungskörpern des Zimmers absorbirten Wassers, befeuchtete Luft abgeführt und durch trocknere Luft ersetzt wird.
Bei mangelndem oder geringem Luftwechsel steht der durch Erwärmung entstehenden Verminderung der relativen Feuchtigkeit (Verhältniß der in einem Raume gasförmig vorhandenen Wassermenge zu der bei gleicher Temperatur möglichen Sättigungsmenge) aus den genannten Feuchtigkeitsquellen eine solche Zunahme der absoluten Feuchtigkeit gegenüber, daß die Zimmerluft gewöhnlich feucht genug, oft sogar zu feucht ist.
Eine nahe liegende Folge dieser Verhältnisse ist es, daß man den neueren Heizungen mit ausgiebigem Luftwechsel, namentlich der Luftheizung als derjenigen Heizmethode, welche bei der üblichen unvollkommenen Einrichtung das Erwärmen der Zimmer nicht anders als mit beständigem Luftwechsel gestattet, den mitunter auch gerechtfertigten Vorwurf gemacht hat, die Heizung bewirke zu starke Austrocknung der Zimmerluft. Auf diesen Vorwurf hat man die Forderung gegründet, die Luftheizung aus öffentlichen Gebäuden, namentlich Schulen, zu beseitigen, obgleich seit Jahren in der Regel so umfangreiche Einrichtungen für Wasserverdampfung in den Luftheizkammern oder Heizkanälen und in den Zimmern selbst angewendet werden, daß man häufiger über zu große Feuchtigkeit als über zu große Trockenheit zu klagen Grund haben könnte. Ein lästiger Reiz auf die Schleimhäute des Athmungsorgans kann wohl durch Einathmung zu trockner Luft entstehen, nicht minder aber auch bei genügend feuchter Luft durch Einathmung von Erzeugnissen der trocknen Destillation, die bei mangelhaft ausgeführten oder schlecht bedienten Heizungsanlagen aus dem auf diesen abgelagerten Staube entwickelt werden.
Die Ansichten darüber, welchen Feuchtigkeitsgrad die Zimmerluft haben soll, sind sehr verschieden. Von wissenschaftlicher Seite ist eine Norm dafür noch nicht festgestellt, obwohl Männer der Wissenschaft ihre Meinungen darüber mehrfach ausgesprochen haben.
Ohne Zweifel ist es eine Bedingung unseres Wohlbefindens, daß wir fortwährend durch Athmung und Ausdünstung eine weder zu große noch zu kleine Wassermenge ausscheiden. Sehr trockne Luft kann dem Körper zu viel Wasser entziehen, sehr feuchte Luft nimmt zu wenig von ihm hinweg. Daher liegt die Annahme nahe, daß die etwa zur Hälfte mit Feuchtigkeit gesättigte Luft am angenehmsten und gesündesten sei. Dafür erklären sich denn auch mit ziemlicher Uebereinstimmung die meisten Physiologen; doch finden sich auch beachtungswürdige Stimmen, die bedeutend davon abweichen, und zwar nach der Richtung der Feuchtigkeit sowohl wie nach der der Trockenheit.
Das erklärt sich theilweise aus der Verschiedenheit der individuellen Empfindung, beziehungsweise der Geneigtheit zum Schwitzen, theilweise aus unrichtigen Angaben oder unrichtiger Benützung der zur Messung der Feuchtigkeit dienenden Vorrichtungen, [187] theilweise daraus, daß die relative Feuchtigkeit an verschiedenen Stellen eines geheizten Zimmers nicht gleich groß ist. Bei dem Zusammenwirken genannter Umstände können Abweichungen von 25 Prozent und mehr in den Ermittelungen der relativen Feuchtigkeit bei Zimmern mit thatsächlich gleicher relativer Feuchtigkeit wohl vorkommen.
Nach meinen vieljährigen Beobachtungen halte ich es für zweckmäßig, daß die Zimmerluft künstlich befeuchtet wird, wenn in Kopfhöhe an einer Wand von mittlerer Temperatur oder in der Mitte des Zimmers die relative Feuchtigkeit geringer ist als 40 Prozent der Sättigung, daß aber die Luftbefeuchtung höchstens bis zu 60 Prozent fortgesetzt wird.
Zwischen diesen Grenzen findet jeder die Luftfeuchtigkeit angenehm, nicht aber weit darüber und darunter. Eine relative Feuchtigkeit von 70 Prozent in einem geheizten geschlossenen Zimmer wird mir lästig, eine von 80 Prozent fast unerträglich, während einige Personen meiner Umgebung sich auch in so feuchter Luft behaglich fühlen, dagegen eine Luft von etwa 30 Prozent der Sättigung, wobei ich nicht das mindeste Unbehagen fühle, unerträglich trocken finden.
Nicht außer Berücksichtigung zu lassen ist auch, daß in sehr trockener Luft Möbel und Bautheile aus Holz schwinden und reißen, auch Tapeten abspringen, daß dagegen starke Luftbefeuchtung schädliches Aufquellen mancher Gegenstände, Rostbildung und feuchte Wände mit ihren für Eigenthum und Gesundheit verderblichen Folgen verursacht.
Damit ergiebt sich die Zweckmäßigkeit der Anwendung von Mitteln, welche die relative Feuchtigkeit bestimmen lassen. Wo es genügt, bedeutende Zunahme und Abnahme der Luftfeuchtigkeit zu erkennen und verschiedene Feuchtigkeitszustände ungefähr zu schätzen, kann man sich der weniger genauen Hygroskope, Feuchtigkeitsanzeiger, bedienen. Um aber den Grad der Sättigung der Luft mit Feuchtigkeit genauer zu beobachten und zu messen, braucht man Hygrometer. Alle Vorrichtungen dieser und jener Art können als Feuchtigkeitsprüfer bezeichnet werden.
Solche Feuchtigkeitsprüfer hat es vor Jahrhunderten schon gegeben. Von jeher hat es die Naturgelehrten beschäftigt, die Feuchtigkeitszustände der Atmosphäre und deren Zusammenhang mit der Witterung zu erforschen. Im Dienste der Wetterkunde sind daher Hygrometer und Hygroskope längst bekannt, und zwar in großer Menge und Mannigfaltigkeit.
Die Wahrnehmung, daß gewisse Körper in feuchter Luft schwerer, in trockner Luft leichter werden, mußte schon in den ältesten Zeiten darauf führen, die Vermehrung des Gewichts eines solchen Körpers durch aufgenommene Feuchtigkeit als Maß dieser dienen zu lassen. Man hängte den wasserziehenden (hygroskopischen) Stoff an einem Wagbalken auf, und ein Zeiger auf der anderen Seite gab durch seine höhere oder tiefere Stellung die Grade der Feuchtigkeit oder Trockenheit an. So benützte man das Meergras, häufiger noch einen mit Salmiak getränkten Badeschwamm, ferner Kochsalz, Weinstein und andere Salze in gepulvertem Zustande. In gleichem Sinne wird von der Eigenschaft der Schwefelsäure, Wasser aus der Luft aufzunehmen, seit 200 Jahren Gebrauch gemacht.
Zu den am frühesten zur Bestimmung der Luftfeuchtigkeit angewandten wasserziehenden Stoffen gehört das Papier. Auf der Londoner internationalen Ausstellung wissenschaftlicher Apparate 1876 waren zwei Papierhygrometer zu sehen. Das älteste, vielleicht über 260 Jahre alte aus King Georges III. Museum ist ein Gewichtshygrometer; es läßt die Feuchtigkeit aus dem Gewicht einer Anzahl angehängter Papierscheiben bestimmen. Das andere, 1664 von Folli da Poppi hergestellt, beruht auf der durch Feuchtwerden erfolgenden Längenzunahme; es zeigt einen in wagrechter Richtung mit den Enden auf Säulen befestigten Papierstreifen, in der Mitte mit einem Gewicht und Zeiger belastet, dessen höherer oder tieferer Stand Trockenheit oder Feuchtigkeit anzeigt.
Zu den schon vor mehr als 200 Jahren benützten Hygrometern gehören ferner die von Darmsaiten, bei welchen die Zunahme der Luftfeuchtigkeit Aufdrehen und damit Drehung eines daran aufgehängten Zeigers oder anderen Gegenstandes bewirkt. Darauf beruht auch die Einrichtung des sogenannten holländischen Wetterhäuschens, um 1685 von Molyneux erdacht und mit unwesentlichen Veränderungen heute noch ein beliebter Beobachtungsgegenstand. Auf einer Scheibe, welche an einer Darmsaite hängt, sind einander gegenüber zwei verschiedene Figuren stehend befestigt, gewöhnlich ein Mann mit einem Regenschirm und eine Frau mit einem Fächer oder Sonnenschirm, oder auch ein Gärtner mit einer Gießkanne. Bei feuchter Luft kommt die erstere Figur durch eine Thüröffnung zum Vorschein, bei trocknem Wetter die andere.
Die Wahrnehmung, daß eine zwischen zwei festen Punkten gespannte Darmsaite in feuchter Luft tiefer, in trockner Luft höher tönt, war Veranlassung zur Anfertigung von akustischen oder Tonhygroskopen.
Kurze dicke Stückchen von Darmsaite hat man stehend befestigt und oben mit einem Zeiger versehen. In gleicher und ähnlicher Weise haben andere feuchtigkeitziehende Körper Anwendung gefunden: ein dünn geschabter und schraubenförmig geschnittener Federkiel, Grannen von Wildhafer, die gewundenen Spitzen von Geranien und Pelargonien, die spiralförmigen Grannen des Storchschnabels oder Reiherschnabels. Feuchtigkeitsprüfer letzterer Art werden in neuerer Zeit wieder angeboten. Bei manchen derselben sieht man die Granne vollständig und die Spitze dient unmittelbar als Zeiger oder trägt ein vergoldetes Blättchen (Wetteranzeiger von Gangwisch in Hätzingen), bei andern verdeckt das Gehäuse die stark gekrümmte Granne und nur ein daran aufgestecktes gefärbtes Strohröhrchen ist sichtbar, welches als längerer Zeiger sich über eine ziemlich große Bogenskala hinbewegt (Hygroskop von August).
Einen dünn geschabten Federkiel, mit Quecksilber gefüllt, verwendete 1783 Chiminello, und Gefäßhygrometer nach gleichem Princip machte man von Cylindern aus Buchsbaumholz oder Elfenbein, auch von Rattenblasen, indem man bis zu gewisser Höhe Quecksilber in dieselben einfüllte und ein Glasröhrchen einsetzte.
Am meisten hat man band- und fadenförmige feuchtigkeitziehende Körper benutzt, um aus deren Verkürzung in trockner und Verlängerung in feuchter Luft auf den Grad der Luftfeuchtigkeit zu schließen. So außer dem Papierstreifen des Folli da Poppi auch Pergament, ferner einen Streifen Goldschlägerhaut (J. Baptiste), ein Stück Froschhaut, Eihaut, dünne Brettchen und Hobelspäne, quer über die Fasern geschnittene Fischbeinstreifen (De Luc 1773), dünne Hanffäden, Hanfschnüre ohne weitere Zubereitung oder in Salzwasser gesotten (Smeaton 1770), Seide, den Darm des Seidenwurms, Coconfäden, Haare.
Von allen aus den genannten Stoffen angefertigten Vorrichtungen zur Erkennung der Luftfeuchtigkeit hat nur das Haarhygrometer, welches Horace de Saussure, Professor der Physik in Genf, vor mehr als 100 Jahren erfand, allgemeines Ansehen erlangt und fast unverändert bis in die Gegenwart Anwendung gefunden. Die Einrichtung ist folgende:
Ein durch Kochen in Kalilauge oder durch Einlegen in Schwefeläther entfettetes blondes Menschenhaar ist an dem einen Ende befestigt, an dem andern um eine Rolle geschlungen, welche den Zeiger trägt. Ein kleines Gewicht an der Rolle hält das Haar gespannt. Der Zeiger deutet auf eine Kreisbogenskala, welche gleichmäßig getheilt ist.
Hierzu muß bemerkt werden, daß Haare sich nicht gleichmäßig mit der Zunahme der Feuchtigkeit verlängern, sondern von der größten Trockenheit, dem Nullpunkt der Skala aus, anfangs am meisten, dann immer weniger und in der Nähe des Sättigungsgrades, dem Punkt 100 der Skala, nur noch sehr wenig. Daher entsprechen die Hygrometergrade der gleichmäßig getheilten Skala nicht den Prozenten der höchstmöglichen Feuchtigkeit, der Sättigung. Um die relative Feuchtigkeit unmittelbar erkennen zu lassen, müßten die Theile der Skala nach einem bestimmten Verhältniß ungleich sein, von 0 bis 100 immer enger werden. Bei einer relativen Feuchtigkeit von 50 Prozent der Sättigung stellt sich der Zeiger des gleichheitlich getheilten Saussureschen Haarhygrometers auf ungefähr 72. Dieser Umstand, wenig bekannt, mag zu der viel verbreiteten irrthümlichen Annahme geführt haben, daß ein sehr hoher Feuchtigkeitsgehalt der Zimmerluft wünschenswerth sei.
Bald nach Saussure suchte man dessen Hygrometer dadurch zu verbessern, daß man anstatt eines Haares mehrere, drei oder sogar acht mit einander verbundene Haare nahm. Aber wegen der ungleichen Beschaffenheit derselben und der ungleichmäßigen Spannung, auch wegen der nicht mehr so allseitigen Berührung der Luft mit den an einander liegenden Haaren, machte man [188] dadurch das Instrument unzuverlässiger und weniger empfindlich. Das ist von Belang für die Vergleichung des Werthes einiger Hygrometer der Neuzeit.
Vor zwanzig Jahren war noch kein Hygrometer bekannt, an welchem man die relative Feuchtigkeit der Luft, den Wassergehalt in Prozenten der Sättigungsmenge ausgedrückt, unmittelbar ablesen konnte. Das Bedürfniß eines solchen Instruments zur leichten Ermittelung der richtigen Feuchtigkeit der Zimmerluft hat mich veranlaßt, ein Prozenthygrometer – das erste dieses Namens – herzustellen. Die Theorie desselben, auf welche sich die gleichmäßig getheilte Skala gründet, ist in wissenschaftlichen Zeitschriften (1872) veröffentlicht.
Nebenstehende Abbildung zeigt das Prozenthygrometer in etwa halber Größe der gewöhnlichen Ausführung; doch kann es auch ebenso klein und noch kleiner hergestellt werden. Der hygroskopische Bestandtheil ist ein über einer spiegelnden Skalaplatte an dem einen Ende festgeklemmter Kornstrohfaden.
Da Stroh aus zwei miteinander verwachsenen Schichten besteht, von welchen die äußere in geringem Grade, die innere in hohem Grade zur Aufnahme von Feuchtigkeit geneigt ist, so bildet der Faden eine um so mehr gekrümmte Bogenlinie, je trockener die Luft ist. Die freie Spitze des Fadens dient als Zeiger, jeder Mechanismus ist entbehrlich. Dieser Umstand ist für den leichten und gleichmäßigen Gang wesentlich vortheilhaft.
Nach den bisherigen Erfahrungen ist anzunehmen, daß der Strohfaden in sehr langer Zeit keine Veränderung erleidet. Zwar krümmt sich der Faden zu wenig und zeigt folglich zu feucht, wenn er einige Zeit trockener Luft ausgesetzt war, aber er zeigt immer wieder so richtig wie in neuem Zustande, wenn man ihn durch Annässen auffrischt, was von Zeit zu Zeit, besonders vor wichtigen Beobachtungen, geschehen muß.
Ein Strohhygroskop kann sich jeder leicht in folgender Weise anfertigen: aus dem weichen mittleren Theil eines alten, trocknen und gerade gewachsenen Kornstrohhalms nimmt man ein fingerlanges Röhrchen, legt es einige Minuten in Wasser und spaltet es dann in 10 oder 12 schmale Streifen. Einen solchen Streifen, Strohfaden, befestigt man mittels eines Holzzäpfchens auf einem Brettchen. Den Punkt der Sättigung findet man am besten, wenn man das Brettchen mit dem Faden nach unten auf ein entsprechend weites, bis zum Rande mit Wasser gefülltes Gefäß legt, so daß der Strohfaden sich im Wasser befindet. Nach etwa 10 Minuten bezeichnet man den Punkt, an welchem die Fadenspitze steht, und schreibt neben diesen Punkt gegen die Mitte hin „Feucht“, wie auf der Abbildung des Prozenthygrometers ersichtlich. Hierauf hält man das Brettchen mit dem Strohfaden über eine heiße Herdplatte oder in einen heißen Luftstrom, bezeichnet den Punkt, auf welchen die Spitze des stark gekrümmten Fadens gelangt, und schreibt von da gegen die Mitte hin „Trocken“. In die Mitte zwischen „Feucht“ und „Trocken“ schreibt man „Normal“. Wird der Faden zuweilen durch Annässen aufgefrischt, so zeigt er in einem Zimmer von richtigem Feuchtigkeitsgehalt auf die mit „Normal“ bezeichnete Strecke.
Eine andere fürs Haus brauchbare Vorrichtung, die sich jeder anfertigen kann, ist das Farbenhygroskop. Weißes Papier oder Baumwollzeug, mit einer Lösung von Kobalt-Chlorür leicht überstrichen, wird in trockner Luft blau, in feuchter rosenroth, bei normaler Feuchtigkeit violett.
Merkwürdige Beobachtungen lassen sich mit einem so zubereiteten von der Zimmerdecke bis zum Boden reichenden Bande machen. Man erkennt, bei der in der Regel ungleichen Wärmevertheilung in geheizten Zimmern, an der verschiedenen Färbung des Bandes die Verschiedenheiten der relativen Feuchtigkeit in verschiedenen Höhen des Zimmers. Das Band ist oft oben blau und unten roth, während die violette Mitte den richtigen Feuchtigkeitsgrad anzeigt. Eine hübsche Anwendung desselben Grundsatzes sind auch die jetzt unter dem Namen Chamäleon-Wetterbilder (Patent Rückert in Liebenwalde) käuflichen Glastransparente.
Um wieder auf genauere Feuchtigkeitsprüfer zurückzukommen, ist zunächst das durch beistehende Darstellung veranschaulichte Koppesche Hygrometer zu nennen. Dr. Karl Koppe in Zürich hat 1877 das Saussuresche Haarhygrometer vervollkommnet, indem er die Eintheilung der Skala nach Prozenten der Sättigung ausführte und dem Instrument eine solche Einrichtung gab, daß die Anpassung und zugleich die Auffrischung des Haares schnell und leicht zu bewerkstelligen ist.
Bei anderen Haarhygrometern der Neuzeit suchte man durch Anwendung eines Mechanismus mit Excentrik die Anwendung einer gleichmäßig getheilten Prozentskala zu ermöglichen; so bei den von Lambrecht in Göttingen angefertigten Klinkerfuesschen und anderen Lambrechtschen Hygrometern, welche in verschiedenen Gestalten und Herstellungsweisen seit mehreren Jahren Verbreitung gefunden haben.
Feuchtigkeitsprüfer durch Zusammenkleben hygroskopischer und nicht hygroskopischer Stoffe anzufertigen ist früher mehrfach ohne befriedigenden Erfolg versucht worden. Dagegen findet gegenwärtig das Metall-Spiral-Hygroskop von Mithoff vielseitige Anwendung. Ein Streifen Eihaut ist mit einer Lösung von Federharz in Benzin auf einer Metallspirale befestigt. Bei Veränderung der Luftfeuchtigkeit ändert sich die Länge der Eihaut und die Spirale rollt sich auf oder zusammen. Diese Bewegung wird durch einen Mechanismus hinter der Skalaplatte auf den Zeiger übertragen. Neuere Mithoffsche Hygroskope tragen die Zeiger unmittelbar am freien Ende der auf der Skalaplatte befestigten Spirale.
Ein 1886 zuerst in französischen Journalen beschriebenes Instrument ist Nodons Hygrometer mit Schreibwerk. Der wesentliche Bestandtheil ist ein schraubenförmig gewundener Papierstreifen, auf der äußeren Seite mit Gelatine bestrichen. Infolge der überwiegend hygroskopischen Natur der Gelatine sind in feuchter Luft die Windungen enger als in trockner Luft. Solche paarweise verbundene Strecken bewegen einen über zwei Röllchen laufenden Faden, woran eine Feder befestigt ist, welche zwischen zwei Führungen laufend auf einem senkrecht zur Richtung der Feder langsam fortbewegten eingeteilten Papierbogen mit Tinte Linien beschreibt, die in ihrem Zusammenhang den hygrometrischen Zustand der Luft zu jeder Zeit anschaulich machen.
Zum Schlusse mag noch des am häufigsten bei den meteorologischen Stationen benützten und daher am meisten bekannten Feuchtigkeitsprüfers, des Psychrometers von August, dessen Leistung auf der Verdunstungskälte an einem von zwei Thermometern beruht, in einer veränderten Anwendungsweise gedacht werden.
Da auf die Temperaturverminderung an der nassen Thermometerkugel die sehr veränderliche Luftbewegung Einfluß hat und die Berücksichtigung dieses Einflusses schwierig ist, suchte Doyère 1855 seine Beobachtungen unter dem Einflusse gleicher relativer Luftbewegung zu machen, indem er das Instrument als Schleuder-Psychrometer verwendete. Die beiden Thermometer werden an einer 1 Meter langen Schnur im Kreise geschwungen, und nach etwa 100 Kreisschwingungen wird der Unterschied der beiden Thermometerstände abgelesen, nach welchem man die relative Feuchtigkeit berechnet oder in einer Tabelle aufsucht.
Dieses Schleuder-Psychrometer wurde in neuerer und neuester Zeit von einigen Gelehrten empfohlen, wird aber – außer vielleicht für meteorologische Zwecke – wenig benützt werden. Für häuslichen Gebrauch sind nur solche Feuchigkeitsprüfer als handlich und praktisch zu bezeichnen, welche weder Vorbereitung, noch Berechnung, noch andere Bemühungen als höchstens zuweilen das Auffrischen nöthig machen und die relative Feuchtigkeit unmittelbar ablesen lassen. Ungenauigkeiten von etwa 5 Prozent der Sättigung haben dabei wenig oder keine Bedeutung.
Kleine Bilder aus der Gegenwart.
Es ist eine der ersten Pflichten, die der Verwaltung eines großen, volk- und verkehrsreichen Gemeinwesens obliegen, durch äußere Hilfsmittel aller Art die Möglichkeit von Unglücksfällen, sei es durch Wasser oder durch Feuer, im Innern der Häuser oder auf öffentlichen Straßen und Plätzen, auf das denkbar geringste Maß zu beschränken. Freilich, die trefflichste Fürsorge macht derjenige zu nichte, der freiwillig das Unglück, den Tod sucht. Der Kampf gegen Unglücksfälle dieser Art liegt auf einem andern, dem sozialethischen Gebiete, da helfen keine Mittel äußerer Abwehr, da kann nur die Nächstenliebe einen rettenden Damm vorschieben.
Sicher weisen die Polizeiberichte der großen Metropolen New-York, London und Paris eine größere Anzahl von freiwilligen und unfreiwilligen Unglücksfällen auf als Berlin. In diesen Weltstädten befindet sich, entsprechend der größeren Einwohnerzahl, auch ein zahlreicheres Proletariat, und im allgemeinen mag der Kampf ums Dasein dort Beispiele verzeichnen, die einen weit furchbareren Charakter tragen als in der Hauptstadt des Deutschen Reiches.
Aber auch die Berliner Zeitungen erzählen uns täglich von genug Elend und Jammer. Oft treibt die äußerste Noth, der nagende Hunger den Menschen zum Aeußersten, und während der eine zu Gift oder zur Mordwaffe greift, sucht der andere im Wasser ewiges Vergessen.
In Berlin sind die Fälle sehr häufig, daß sich Lebensmüde in den Kanal stürzen, ja, der Ausdruck „in den Kanal stürzen“ ist bei der häufigen Wiederholung solcher Todesart ein allgemeiner in dem Sinne geworden, daß er fast so viel bedeutet, wie „seinem Leben ein Ende machen“.
Es hat sich nun neuerdings der Magistrat entschlossen, zur Rettung solcher Verunglückter oder Lebensmüder eine Vorrichtung an verschiedenen Berliner Brücken, und zwar zunächst an der Gertraudten-, Kurfürsten-, Kronprinzen-, Bellealliance-, Herkules-, Moabiter-, Potsdamer- und Schleusenbrücke anzubringen, um dem Publikum Gelegenheit zu geben, einen Akt menschlicher Barmherzigkeit auszuüben oder den Verirrten, der der Verzweiflung wich, vom Tode zu erretten.
Oft genug wissen freilich die Geretteten dafür keinen Dank! Sie wollen sterben und sehen sich nach kurzer Zeit demselben Elend wieder gegenüber! Häufig aber wird die Oeffentlichkeit erst durch einen solchen furchtbaren Akt der Verzweiflung aufmerksam auf den Hilfsbedürftigen und es gelingt, Zuversicht und Lebensfreude noch einmal in demselben wachzurufen. Der Rettungsapparat ist ein mäßig großer, rothbekleideter, festumwundener, sich auf der Wasseroberfläche haltender und nach dem System der Schwimmgürtel konstruirter Ball, der mit starken Seilen versehen und an dem Geländer der Brücke aufgehängt ist. Jeder ist imstande und berechtigt, denselben zu lösen und ihn dem Verunglückten zuzuwerfen. Der Ertrinkende findet an ihm einen sicheren Halt, klammert sich an und wird von dem Retter ans Ufer gezogen. Auf einem einfachen dunklen Schilde an den Brückengeländern stehen die Worte: „Dem Schutze der Bürger empfohlen. Der Magistrat.“
Die Verwaltung der Stadt Berlin, die in jeder Weise eine musterhafte zu nennen ist, hat sich durch diese Einrichtung abermals den Dank der Einwohner erworben und es ist nicht zu bezweifeln, daß durch den Rettungsapparat manchem Unglück nach dieser Richtung vorgebeugt werden wird.
Der Sänger der „Bezauberten Rose“.
Wer hätte sich nicht einmal in schwärmerischen Jugendtagen des Duftes der „Bezauberten Rose“ innig erfreut und wie viele Jünglinge mögen in einer heute allerdings längst entschwundenen Stimmung für das Geschenk des kleinen goldberänderten Büchleins aus lieblichen Augen „nur noch süßere Strahlen“ empfangen haben! Noch steht mir, als wäre es gestern gewesen, die Scene lebhaft vor Augen, da meine „erste Liebe“ mir „mit Blicken, die ein trunkner Glanz belebt,“ für den Genuß dankte, den ich ihr durch dieses Gedicht bereitet hatte. Seither habe ich eine, wie ich gern zugestehen will, mehr persönliche Stimmung für den Sänger dieser [190] Dichtung beibehalten. Ob dieselbe sich auch litterarhistorisch rechtfertigen läßt, ist freilich eine andere Frage. Aber es ist immerhin eine Frage, über die sich gerade in diesen Tagen wohl reden läßt. Hat doch die Stimmung, aus der Ernst Schulzes Gedicht hervorgegangen ist, nahezu zwei Menschenalter deutschen Lebens so beherrscht, daß sie, diese Stimmung nämlich, als der getreueste Ausdruck deutscher Liebesempfindung in Glück und Leid angesehen werden darf.
Hundert Jahre sind am 22. März 1889 vergangen seit der Geburt des Dichters, zweiundsiebzig Jahre seit seinem Tode. Er hat also im ganzen nur achtundzwanzig Jahre gelebt. Er wurde in Celle geboren, lebte in Göttingen und starb in Celle. Er hat also auch nicht in verschiedenen Kreisen gelebt. Demgemäß ist sein dichterisches Schaffen eng umgrenzt. Drei romantische Dichtungen „Cäcilie“, „Psyche“, „Die bezauberte Rose“, daneben eine geringe Anzahl lyrischer Gedichte füllen dasselbe mehr als reichlich aus. Und doch bezeichnet sein Name einen Markstein in unserer Litteraturgeschichte, an dem kein Wanderer vorüber gehen darf, ohne den Manen des Dichters seine Huldigung dargebracht zu haben.
Von Hause aus ist Ernst Schulze zu einer sogenannten guten Lebenskarriere gleichsam vorherbestimmt; er ist ein kräftiger, geweckter, begabter und beliebter Knabe, der im Elternhause eine gute Erziehung und auf dem Gymnasium zu Celle eine tüchtige Fortbildung erhält. Sein Vater, der Bürgermeister von Celle, liebt den Knaben ganz besonders herzlich, und auch die Stiefmutter hat ihn früh ins Herz geschlossen. Er selbst bezeichnet sich zwar als einen unbedeutenden, linkischen, scheuen Burschen; aber man weiß ja, was es mit solchen Geständnissen auf sich hat. Daß er sich als vierzehnjähriger Knabe in seine Tante verliebte, wollen wir ihm dagegen gern glauben, da er uns mittheilt, daß diese Tante ein sehr geistreiches und gebildetes Mädchen war. So erwachte schon in jungen Tagen, durch verschiedene Freundschaftsbeziehungen, durch kleine Reisen und durch Lesen gefördert, eine poetische Welt in dem Knaben, über deren „ordnungslose Gebilde“ er aber noch nicht Herr zu werden vermochte.
Aber mit dem Tage, da er die Landesuniversität Göttingen bezieht, beginnt sein Leben eine neue und später eine wenig günstige Wendung zu nehmen. Zunächst fällt schon die Unsicherheit ins Gewicht, die Ernst Schulze über sein Berufsstudium zeigt und die ihn schließlich zur Theologie führt. Erst die Bekanntschaft mit dem Aesthetiker Professor Bouterwek erschließt ihm eine neue Gedankenwelt. Bouterwek ward und blieb ihm bis zum Tode ein väterlicher Freund und Berather. Er führt ihn in die Gesellschaft gebildeter Frauen, er liest und beurtheilt seine Gedichte, er ist es wohl auch, der seinen Uebergang von der Theologie zur Philosophie vermittelt. Wieland war damals Schulzes Ideal- und Lieblingsdichter, der ihn völlig bezaubert hat und dem er durchaus nachstreben will. Das erzählende Gedicht „Psyche“, welches in jene Lebenszeit fällt, verräth in der That sowohl dem Geiste wie der Form nach den übermächtigen Einfluß Wielands und des „französischen Hellenismus“ auf den werdenden Poeten, der hier sein erstes dichterisches Werk gab.
Von solchen Bestrebungen und Vorbildern wurde Schulze natürlich zum Studium der Antike geführt, dem er sich aber nicht etwa bloß mit dichterischer Freiheit, sondern mit grammatischer Genauigkeit ergab. Die Philologie ward bald sein Hauptstudium, und Horaz, Virgil, Aristophanes und Lucian wurden seine Lieblingsschriftsteller. Daneben war er heiter, mit seinem bescheidenen Lose zufrieden, fröhlich im Kreise zechender Genossen, ein lustiger Bruder Studio, der sich gern ein Stückchen Rinde vom Lebensbaum abschnitt und manchen harmlosen Liebeshandel anknüpfte. Vielleicht waren die ersten Göttinger Jahre die glücklichsten seines Lebens; jedenfalls war es die einzige Zeit, auf die des Dichters eigenes Bekenntniß in seinen „Elegien“ paßt:
„Wahrlich, ich habe gelebt! Nicht reut mich die fröhliche Wildheit,
Fest an die feurige Brust drückt’ ich das blühende Sein,
Küßte die scheidende Lust, und der nahenden lacht’ ich entgegen,
Und zur geliebtesten Braut ward die Minute mir stets.“
In diese Zeit fällt Schulzes Harzreise und seine Liebe zu jenem Brockenmädchen, dem einige seiner schönsten Elegien und Gedichte gewidmet sind. Aus seinen Briefen und Tagebuchblättern in jenem Lebens- und Liebesfrühling (im April 1810) strömt uns förmlich ein frischer Harzgeruch entgegen, und über der ganzen Liebesepisode ruht etwas wie der unsagbar anheimelnde Duft der Landschaft selbst. Wie Heine, so unternimmt auch Ernst Schulze seine Harzreise, weil ihm der trockene Gelehrtenstolz der Georgia Augusta, die Studentenhändel und das Philistertreiben zuwider sind; auch er hat sich im romantischen Mondschein umhergetummelt und Zauberschlösser der Phantasie aufgebaut; auch sein Herz sehnt sich nun aus dem schönen Nebel der Dichtung in die heitere Wirklichkeit zurück. Da begegnet ihm Adelheid, des Försters Pflegetöchterlein, und macht einen tiefen Eindruck auf seine empfängliche Seele. Es ist kein flüchtiger Liebeshandel und mehr als eine sentimentale Liebesepisode, was ihn mit dem anmuthigen Harzkinde verbindet. Er gedenkt ihrer oft und gern, er feiert sie in vertrauten Briefen an seinen Freund v. Bergmann und in schwungvollen Gedichten, ja er gesteht selbst zu, daß er durch dieses Mädchen besser geworden sei.
Mit dem Geständniß, daß diese „letzte romantische und sentimentale Episode in seinem Leben“ ihm gewiß „ewig theuer“ bleiben werde, und mit der Einbildung einer gesunden Lebensphilosophie trennt sich Ernst Schulze von seinen Erinnerungen, um wieder nach Göttingen und zur Arbeit zurückzukehren. Vielerlei Pläne beschäftigen seinen regen Geist: er will eine griechische Litteraturgeschichte schreiben, er arbeitet an einem romantischen Epos, zugleich aber auch an seiner Doktordissertation. Daneben verstrickt er sich in einen neuen Liebeshandel mit einer verheiratheten adeligen Dame, wie er selbst ehrlich genug eingesteht: hauptsächlich aus Eitelkeit; und Ueberdruß, innere Aufregung, Unbefriedigung mit dem eigenen Thun und dem Lauf der Welt wachsen immer mehr, um schließlich eine dämonische Lebensstimmung hervorzubringen, in welcher der junge Poet zwischen weicher Sentimentalität und wildem Sarkasmus hin- und herschwankt.
In dieser überaus gefährlichen, ja für einen Dichter geradezu verhängnißvollen Lebensstimmung, in der er alle Frauen für kokett, selbstgefällig und selbstsüchtig halten zu dürfen glaubt, in der er erklärt, daß es unter dem weiblichen Geschlecht doch mehr Karikaturen gebe als unter dem männlichen und daß es ihm leichter sein würde, den Chimborasso zum Frühstück zu verzehren, als eine Satire auf alle Untugenden des weiblichen Geschlechts zu machen, in dieser Stimmung lernt Ernst Schulze ein Mädchen kennen, das bald von entscheidendem Einfluß auf sein Leben werden und seinen Anschauungen über die Würde der Frauen eine ernste, aber tiefschmerzliche Richtigstellung angedeihen lassen sollte. Cäcilie Tychsen, so lautete ihr Name, wurde das Verhängniß seines Lebens. Sie war die Tochter eines Göttinger Professors, und der junge Dichter lernte sie in einer jener langweiligen Theegesellschaften kennen, die er in seinen Tagebüchern so unnachahmlich geschildert hat. Der erste Eindruck war kein sonderlich günstiger. Cäcilie, die viele Verehrer hatte, deren Ruf aber untadelig war, zu erobern, meinte er zuerst, würde ihm nicht wenig Ehre eintragen. Ueberkühn spielte der junge Poet mit dem Feuer, das ihn nur zu bald verzehren sollte. Das leichte, vielleicht sogar frivole Spiel verwandelte sich rasch in tiefen, schmerzlichen Ernst und der Flüchtling wurde in den Banden einer heißen Liebesgluth gefesselt, die ihm bis dahin völlig fremd gewesen.
Cäcilie gehörte, nach der Schilderung des Biographen Schulzes, zu den seltenen, hochbegabten Frauennaturen, in denen die Psyche so übermächtig ist, daß sie das Körperliche noch vor dessen Vollreife in seiner zartesten Jugendblüthe aufzehrt. Reizend vor vielen ihres Geschlechts, war sie empfänglich für alles Schöne, begeistert für alles Gute und erfüllt von Wissen und Kunstsinn. Sie war glühende Patriotin, die die deutsche Schmach jener Jahre tief empfand, und eine echt poetische Natur, in der Dichtung und Musik sich zum harmonischen Bunde vereinigt hatten. Was Wunder, daß sie den für weibliche Einflüsse überaus empfänglichen Dichter in den Heerbann ihrer Verehrer zog!
Hat aber Cäcilie seine Liebe auch erwidert? Es scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Die Zeitgenossen sprechen nur von dem „freundlichen Wohlwollen“, das sie seiner schwärmerischen Neigung entgegenbrachte. Indeß scheint sich ja Ernst Schulze thatsächlich mit diesem Wohlwollen begnügt zu haben. Er selbst gesteht schon nach kurzer Zeit, daß er dieser Liebe unendlich viel Dank schuldig sei und daß sie eine vollständige Umwandlung seines Wesens bewirkt habe. Seine religiöse und seine patriotische Gesinnung verdankte er dieser Liebe, die Vertiefung seines Charakters und die Erhebung seines Geistes zugleich. Seine Tagebuchblätter aus dem Jahre 1812 gewähren einen tiefen Einblick ist das Werden und Wachsen dieser Neigung bis zu ihrem Höhepunkte. [191] Auf diesem Höhepunkt angelangt, erwies sich seine Liebe allerdings als völlig hoffnungslos, denn Cäcilie war unheilbar krank.
Was nun folgt, bedarf keiner Erläuterung mehr. Das geliebte Wesen von Tag zu Tag dem Tode entgegenwelken zu sehen, das ist ein Schmerz, der auch die stärkste Natur aufreiben kann. Ernst Schulze war aber eine zu zartbesaitete Natur, die den Schlägen des Schicksals nur eine geringe innere Lebenskraft entgegenzusetzen hatte. So wankte er zwischen Schmerz und Hoffnung unruhig hin und her, bis ein rauher Dezembermorgen ihm die entsetzliche Gewißheit brachte. Im Tagebuch des Dichters heißt es an jenem Tage: „Holde Laura, ich will Dein Petrarca sein! Einst zweifelte ich an einer solchen Liebe und Du sagtest mit stillem Vertrauen: ‚Warum glauben Sie nicht, daß die Liebe so geistig, so dauernd sein könne?‘ O Du beschämtest mich damals, aber ich werde halten, was Du versprachst. So lange meine Lieder leben, sollst auch Du nicht sterben!
Jetzt liegst Du da im heil’gen Schoß der Stille,
Noch glänzt die Stirn, die Wange noch so mild,
Noch schwebt der Geist um seine theure Hülle
Und schmückt mit ernstem Reiz das theure Bild.
Doch ich muß trüb und weinend fort mich wenden,
Denn ach, der Ruf der kalten Wahrheit spricht:
Es war ein Traum, und jeder Traum muß enden,
Was sterblich ist, das hoff’ und zage nicht!“
Als man Cäcilie Tychsen begrub, senkte man auch des Dichters bestes Lebenstheil, sein Hoffen und Sehnen, in die kühle Erde hinab. Ungemessener Schmerz und finstere Verzweiflung bemächtigen sich seiner in der ersten Zeit. Erst nachdem er die Idee erfaßt, der theuren Todten ein poetisches Denkmal zu setzen, wird er gefaßter, ruhiger. „Ich will ein Werk dichten,“ schreibt er einem Freunde, „worin Cäciliens Charakter bis in seine kleinsten Feinheiten dargestellt werden soll . . . In Cäcilien soll die christliche Sehnsucht nach dem Himmlischen und Ewigen dargestellt werden, und ich selbst will in demüthiger Entfernung als die irdische Liebe neben ihr stehen.“
Die Idee dieses Gedichtes und die Arbeit an demselben war nun lange Zeit seine einzige Freude und sein Trost. Die große Wandlung, die sein Geist durchgemacht, kam jetzt erst zur charakteristischen Aeußerung. „Der Uebergang vom schwärmerischen Glück zu einem Schmerz, von dem er sich bis dahin keine Vorstellung machen konnte, hatte allen seinen Gedanken eine andere Richtung gegeben.“
In dieser Stimmung schrieb er sein Gedicht. Binnen Jahresfrist waren nahezu zwölf Gesänge fertig, aber die befreiende Stimmung, die es dem Dichter bringen sollte, wollte sich nicht einstellen. Ja, seine Melancholie wurde noch vermehrt durch neue Irrungen und Wirrungen des Herzens, die ihn zu der liebenswürdigen Schwester der Dahingeschiedenen führten. Die Episode des fünften Gesanges der „Cäcilie“ enthält auch die Geschichte dieser neuen Neigung, die aber nicht von so kurzer Dauer war, wie der Dichter dort sie schildert. Das Schicksal wollte seinen süßen Traum nicht wahr machen, und der Gemüthszustand Ernst Schulzes wurde durch diese neue Enttäuschung noch mehr verdüstert.
Erst der Kriegslärm, der im Herbst 1813 sich immer näher an sein Heimathland zog, weckte ihn aus seinem dumpfen Traumleben auf. Er erinnert sich der heiligen Erbschaft patriotischer Gesinnung, die ihm Cäcilie hinterlassen, und schließt sich der allgemeinen Bewegung an, welche damals alle Deutschen erfaßt hatte. Er trat in die Reihen der Freiwilligen ein, die 1814 gegen Frankreich auszogen, um der heiligen Sache des Vaterlandes zu dienen. Unter den Beschwerden und Entbehrungen des Soldatenlebens kräftigte sich seine schwankende Gesundheit wieder, sein Geist aber verharrte in jener trüben Stimmung, die ihn zwischen Unmuth und Verzweiflung fast willenlos hin- und hertrieb. Mancherlei Mißverhältnisse, die erfolglosen Bemühungen um eine ihm zusagende Stelle, die geringen Erfolge, die Schulze als akademischer Lehrer zu erreichen vermochte, endlich der volle Bruch mit dem Tychsenschen Hause kamen dazu, um des jungen Dichters Lebensstimmung immer mehr zu verbittern. Der trostlos nüchterne Ausgang, den seine Neigung für Adelheid Tychsen hatte, raubte ihm allen Muth; ja es scheint, als ob er einen schmerzlicheren Eindruck hinterlassen hätte als der Tod Cäciliens, der zwar in der Seele des Dichters einen unvertilgbaren tiefschmerzlichen Riß verursacht, zugleich aber seinem ganzen Wesen einen höheren Schwung und seinem dichterischen Vermögen eine gehobene Stimmung verliehen hatte. Sein Charakter war den Mißverhältnissen, die aus dieser schwärmerischen Doppelneigung entstanden, nicht gewachsen; an Leib und Seele zehrten schmerzliche Erinnerungen und getäuschte Hoffnungen. Italien ward nun das Ziel seiner Wünsche. Um den trüben Gedanken zu entgehen, die der Aufenthalt in Göttingen täglich neu hervorbrachte, machte der Dichter zunächst 1816 eine Rheinreise, dann kehrte er in seine Vaterstadt Celle wieder zurück, immer noch mit Plänen und Hoffnungen sich tragend und stets von neuem gegen den Dämon der Schwermuth ankämpfend, indem er sich „zur Mannheit und zur That“ aufzuraffen suchte.
Vergeblich! Der Keim eines innern Leidens hatte bereits zu tief seinen Körper erfaßt; aber je tiefer die Schatten seines Lebens fielen, desto höher schwang sich sein poetischer Genius. Wie in einem Wurf hatte er in schmerzfreien Stunden ein Gedicht vollendet, das er für das Preisausschreiben des Leipziger Buchhändlers Brockhaus bestimmt hatte und das in der That auch den Preis erhielt. Es war „Die bezauberte Rose“, Ernst Schulzes Schwanengesang, das Reifste und Reinste aber auch, was seine Muse geschaffen. Als er die Nachricht von dem ihm zuerkannten Preise erhielt, war seine Empfänglichkeit für freudige Eindrücke schon zu sehr gesunken, indessen erregte die Anerkennung seines poetischen Talents auch jetzt noch seine innige Theilnahme. Allerdings hätte er den Hauch, der so süß durch die Stanzen seines Gedichtes weht, jetzt lieber für einen freien Hauch aus seiner todwunden Brust vertauscht. Aber es war zu spät. Am 29. Juni 1817 starb er still und schmerzlos im Vaterhause.
Die Erinnerung an Cäcilie begleitet den Dichter bis zum Grabe. Sein ganzes poetisches Schaffen ist von diesem Bilde erfüllt und seine beiden großen Dichtungen sind ihr geweiht. Die letzten Strophen der „Bezauberten Rose“ sprechen dies in einer sinnigen und warmen Huldigung aus:
„Dies sang ich Dir, als mit der ersten Rose
Auch mir ein Lenz der neuen Freud’ erschien;
Doch tückisch mischt das Schicksal seine Lose,
Ein weißes zeigt’s, wenn wir ein schwarzes ziehn.
So ruht auch setzt schon unter kühlem Moose,
Die freundlich mir die kurze Lust verliehn,
Und mir ist nichts aus jener Zeit geblieben,
Als nur dies Lied, mein Leiden und mein Lieben.“
Es ist nicht leicht, Ernst Schulze eine bestimmte Stellung in der Geschichte der deutschen Poesie zuzuweisen. Er geht von der Romantik aus und ist eigentlich zeitlebens nicht aus ihrem Feenschloß herausgekommen. Und dennoch darf man ihn nicht zu der romantischen Schule zählen. Sein gesunder Sinn hat ihn vor den phantastischen Verirrungen der Romantiker bewahrt, seine klassische Klarheit hat ihn vor ihren Fehlern behütet. Aber er bleibt darum doch ein romantischer Poet in seinen Stoffen in seinen Formen, in seinen Vorbildern und in seiner Art zu dichten. In der „Cäcilie“ behandelt er die Bekehrung des heidnischen Nordens zum Christenthum, in der „Bezauberten Rose“ die Erlösung der Königstochter, die in eine Rose verzaubert worden war. Das sind gewiß romantische Stoffe. Seine Vorbilder waren Wieland und Ariost. Ihnen strebte er auch in der Form nach. Aber man ist schuldig, zu gestehen, daß er in dieser Richtung seine Meister oft übertroffen hat. Seine Verse athmen einen Wohllaut der Sprache und eine poetische Anmuth, die in der deutschen Dichtung nur selten zu finden sind. Etwas von der „Süße des Minnesangs“ lebt in seinen Gedichten, in denen sich Weichheit und Innigkeit der Empfindung mit dem melodischen Vollklang des Verses, der selbst schon Musik ist, vereinigt. Ein Freund nannte ihn nicht ohne Berechtigung „den wärmsten Dichter unserer nördlichen Zone“. Und alle, die in seine Eigenart sich vertieft, gestehen bereitwillig zu, daß er bei weiterer Reife vielleicht das Höchste zu schaffen berufen gewesen wäre. Aber er ist in der Blüthe seiner Jahre dahingegangen, das gelobte Eiland seiner Poesie vor Augen, ohne daß er es hätte betreten dürfen.
Durch Neu-Mexiko.
Unter den vielen Ländern, die der nordamerikanische Staatenbund in sich vereinigt, ist Neu-Mexiko sicherlich eines der merkwürdigsten: reich an geschichtlichen Erinnerungen, reich an landschaftlicher Pracht, reich an werthvollen Metallen und Naturerzeugnissen und voll des Interessanten und Sehenswerthen. In dem von allen fremden Einflüssen bis vor wenig Jahren fast vollständig abgeschlossenen Lande haben sich altspanische und indianische Sitten und Bräuche unverändert erhalten, und erst seitdem das Dampfroß in dieses sagenumwobene Montezumareich eingedrungen, ist dasselbe wieder mehr in den Bereich des Weltverkehrs und der Forschung gezogen worden.
Namentlich der letzteren hat sich mit der allmählichen Aufschließung dieses wunderbaren Landes eine Welt von Fragen eröffnet, und noch sind die Hypothesen keineswegs erschöpft, wer die Erbauer jener überaus merkwürdigen Ruinenstädte gewesen sein mögen, die sich auf den dürren Hochebenen und in den schwer zugänglichen Cañons von Neu-Mexiko so häufig finden und den schlagendsten Beweis liefern, daß vor Zeiten, deren Dauer sich allerdings der genaueren Bestimmung entzieht, in diesen weiten menschenleeren Landen Völkerschaften gewohnt haben, die auf einer höheren Kulturstufe standen als die heute in Neu-Mexiko lebenden Stämme.
Das Eigenartige dieser längst untergegangenen Völker – die Amerikaner nennen sie „Cliff-dwellers“, „Felsenbewohner“ – bestand in der Wahl ihrer Wohnstätten, die sie, gleich den Schwalben, an alle Felsenabhänge anklebten. Hoch über schwindelerregendem Abgrund hängen in den Schluchten des Rio Manco, San Juan, de Chelle etc. zahlreiche malerische Ruinen, manche leicht zugänglich, andere hingegen gar nicht oder nur dann erreichbar, wenn man sich an langen Seilen vom Rande der Schlucht bis zu den Höhlenwohnungen hinabließe. Einzelne dieser Häuser sind 800 Fuß über der Thalsohle gelegen und von unten aus dem unbewaffneten Auge nur als kleine Punkte erkennbar. Kein Fußsteig führt die fast lothrechten Wände hinan, ebenso wenig ist ein Zugang von oben her zu erzwingen, da die Wohnstätten unter weit überhängenden Felsensimsen liegen. Hinter mehreren dieser Luftwohnungen finden sich kleine Stallungen für Vieh, und es ist geradezu unbegreiflich, wie man Thiere in diese unwegsamen Höhen bringen und hier erhalten konnte.
An anderen Punkten Neu-Mexikos finden sich altindianische Bauten, die an Umfang alle gegenwärtigen Bauten Nordamerikas mit Ausnahme des Kapitols zu Washington hinter sich lassen. Eine dieser Ruinen, das Pueblo Chetho Kettle, ist 440 Fuß lang, 250 Fuß breit und weist vier Stockwerke auf. Das ganze Mauerwerk enthält etwa 30 Millionen Stück Bausteine. Pueblo Bonita am Rio Chacos gelegen, hatte einen Umfang von 1300 Fuß und umschloß 641 Räume, welche nach einer Schätzung 3000 Indianern Wohnung geben konnten. Noch größere Maßverhältnisse hat das Pueblo de Penasca Blanca, es weist einen Umfang von 1700 Fuß auf.
Auf die Frage, wer die Erbauer dieser merkwürdigen Ruinenstädte gewesen, hat, wie schon angedeutet, die Wissenschaft eine endgültige, befriedigende Antwort noch nicht gefunden. Daß diese Erbauer aber vor der Entdeckung Amerikas durch Columbus gelebt haben müssen, geht aus den Aufzeichnungen der spanischen Mönche und Conquistadoren hervor, welche bereits im Jahre 1540 nach Neu-Mexiko vordrangen, denn schon diesen ward von den Eingeborenen versichert, daß die „Casas Grandes“, die „großen Häuser“, mehr als 700 Jahre alt seien. Ueber die Erbauer aber wußten auch sie keinerlei Auskunft zu geben.
[193]
[194] Die Annahme ist, daß es die Vorfahren der jetzt noch in Neu-Mexiko wohnenden Pueblo-Indianer waren, die namentlich in dem fruchtbaren Thal des das Land von Nord nach Süd durcheilenden Rio Grande noch eine ganze Reihe ihrer eigenthümlichen Kolonien haben, wie Taos, Laguna, Isleta, Acoma und Tesuque. Da lebt es, ein durchaus harmloses, friedliches und kindlich glückliches Völkchen, in den kleinen sonderbaren Adobegehäusen, die mit kleinen Thür- und Fensteröffnungen versehen sind.
Welche Bilder bieten sich hier dem Maler! Von der Sonne scharf beleuchtet, hebt sich der weiche graue Ton der Adobemauern bestimmt gegen den tiefblauen Himmel ab. An den Wänden der Häuser hängen Bündel blutrother Pfefferschoten, am Boden liegen goldgelbe Kürbisse von riesiger Größe. Dort an dem grellbeleuchteten Wall zäumt ein von Kopf bis zu Fuß blaß weinroth gekleideter Indianer seinen kohlschwarzen Gaul auf, während drüben eine Anzahl junger hübscher Mädchen, in farben- und ornamentenreiche Navajodecken gehüllt, in glücklichem Geplauder beisammen sitzt. Ein von breitstirnigem Ochsenpaar gezogener Erntewagen schwankt um die Ecke, und jauchzende Kinder tummeln sich in den fahlgelben Maisstauden.
Beiden Geschlechtern gemeinsam ist etwas zu eigen, was ich in gleicher Pracht bei keinem anderen Volke der Erde wiedergefunden habe, die herrlichsten Zähne und die schönsten Augen. Wie untadelhafte Perlenschnüre erglänzen die ersteren, tiefdunkel und schier unergründlich sind die letzteren. Und so sauber die Kleider, so sauber sind auch die Wohnungen. Alles hat seinen richtigen Platz. Auf den Brettern stehen in Reih und Glied die breitbauchigen, vielgestaltigen und originell bemalten Thongeschirre, in den Ecken liegen rothbäckige Aepfel aufgeschichtet, und an langen Stangen dörren kleine, dunkle, süße Trauben. Wie unbefangen, wie herzlich ist das Lachen der Mädchen und Weiber, wie bescheiden und würdevoll das Benehmen der Männer! Leider Gottes aber scheinen die Pueblos ihrem Ende entgegen zu gehen.
Wie die Indianer, so werden auch die Mexikaner langsam aber sicher verschwinden, denn die Gegensätze zwischen der kalten, rücksichtslos vordringenden Energie des Amerikaners und der schläfrig trägen Versumpftheit des romanischen Neu-Mexikaners sind eben zu groß, als daß sie sich je ausgleichen könnten. Diese Gegensätze sind klar und deutlich bemerkbar in all den entlang der Atchison-Topeka- und Santa-Fé-Eisenbahn gelegenen Ortschaften, wo Amerikaner und Mexikaner neben einander hausen. Nehmen wir z. B. den Ort Albuquerque. Neu-Albuquerque, welches der erst wenige Jahre bestehenden Eisenbahn seine Geburt verdankt, hat die alte Stadt längst überflügelt, es stellt sich dar als echte amerikanische Stadt voll geschäftigen Treibens, voller Rührigkeit und Bewegung und unterscheidet sich in keiner Weise von den übrigen aufblühenden Städten des Westens. Alt-Albuquerque, mit seiner jüngeren Rivalin durch eine Pferdebahn verbunden, hat dagegen vollständig seinen spanischen Charakter bewahrt. Da sind überall die einstöckigen aus Lehm gebauten Adobehäuser mit den flachen Dächern und dem hölzernen Vorbau, der auf Säulen ruht. In der Mitte des Ortes ist die Plaza mit der alten, zweithürmigen Kathedrale.
An den Straßenecken hocken runzelige, uralte, häßlichbraune Weiber vor kleinen Obstständen mit wenig einladenden Früchten. Durch den sonnendurchglühten Staub kommt auf häßlichem Pony ein Mexikaner dahergesprengt, den abgegriffenen silberbestickten Hut auf das krause, kohlschwarze Haar gedrückt. Im Gurt stecken zwei blanke Revolver und an den langen Stiefeln klirren die mächtigen Radsporen. Hart hält er den Gaul im Zügel und ruft einige schelmische Worte der Duenna zu, die, ihr Gesicht bis an die feurigen Augen mit dem unerläßlichen schwarzen Schleier verhüllend, an der kleinen Fensteröffnung lehnt. Eine Unzahl jener kleinen, das Dasein von Märtyrern führenden Burros oder mexikanischen Esel, die schwerbepackt und vielgeschlagen durch die Straßen ziehen, vollenden die lebendige Seite des Bildes.
Verlieren wir uns in die äußerst engen Seitengäßchen, so ist es stille um uns wie in einer ausgestorbenen Stadt. Wollen wir unsere Leser in die Kunst, Lehmgebäude nach dem Muster derer von Albuquerque zu errichten, einweihen, so geben wir ihnen am besten nachstehend das Adobebau-Rezept wie es ein den Südwesten bereisender Korrespondent seiner Zeitung schickte. Es lautet also: „Sucht der Land-Mexikaner die Nähe des Wassers, so hingegen der Stadt-Mexikaner die dürrsten Kämme und Hügel. Auf diesen letzteren findet er den besten Boden zu seiner Adobepflanzung. Derselbe besteht aus einem grobem, sandigen Lehm, in welchem sich, mit liberaler Hand eingestreut, Steine bis zur Größe einer fünfzigpfündigen Geschützkugel finden. Es ist wünschenswerth, ja nach der Meinung besonders anspruchsvoller Adobebauern unerläßlich, daß sich in der Nähe auch nicht die geringste Spur einer Vegetation zeige, kein Strauch, keine Blume, kein Grashalm, kein Moos. Auf diesem festen, dürren Grunde gedeiht das viereckige „Schmutzhaus“ am besten. Denn das und nichts anderes ist das Adobehaus. Es besteht ganz und gar aus getrocknetem Schmutz, mit Ausnahme der Thüre, der Fenster und der Pfosten, welche das Dach zusammenhalten und zugleich den zur Regenzeit höchst wichtigen Dachrinnen zur Stütze dienen. Aber nicht genug, daß es Schmutz ist, es ist auch nothwendig, daß es eine besonders häßliche Art Schmutz sei. Zu diesem Zweck wird behufs der Herstellung von Adobeziegeln und Adobekuchen die Erde in möglichster Nähe des beabsichtigten Hauses aufgegraben und das Ganze, wie es da ist, Erde, Kies und kleine Steine, mit Wasser vermischt. Die Folge ist, daß die Wände des neuen Baues allerlei Dinge aufweisen, die gar nicht hinein gehören, und die, wenn sie bei zunehmender Sonnentrocknung herausfallen, noch viel weniger hinein gehörige Löcher, Höhlungen, Risse und Schrammen zurücklassen. Vor dem Hause wird zum Schluß dann noch ein runder Ofen nach indianischem Muster aus etwas sorgfältiger sortirtem Schmutz zusammengebacken. Ist dies geschehen, so ist das Etablissement fertig. Es erübrigt nur noch, einige der häßlichen Hunde, die sich in diesem Lande so trefflich groß zu hungern verstehen, um das trotz seiner Neuheit schon am ersten Tage wie ein hundertjähriges vergessenes Stück Erdwerk aussehende Haus herum auszustreuen, in sein Inneres aber eine Anzahl Männer, Frauen und namentlich Kinder hineinzustecken, um ihm die letzte Weihe der Vollendung zu geben. Wo es etwas vornehmer zugeht, pflegt man das Adobehaus vierflügelig einzurichten und um einen offenen Hofraum herumzubauen. Da aber in den nördlichen Vorpostenorten der altspanischen Besiedelung die Mittel, sich so viel Haus auf einmal zu gestatten, ziemlich selten sind, so pflegen sich verschiedene Hausgründer zu einem regelrechten Verband zusammenzuthun und den von ihren Häusern eingeschlossenen Hofraum gemeinsam zu benutzen und mit so viel Menschen und Thieren zu bevölkern, wie sie nur aufzubringen vermögen.“
Eine gleiche, nur etwas vornehmere Adobestadt wie Alt-Albuquerque ist auch la Villa Real de Santa Fé, die älteste Stadt der Vereinigten Staaten und die „Capitale“ von Neu-Mexiko. Hier war bereits ein volkreicher Ort, als Columbus die Neue Welt entdeckte, und wo jetzt der langgestreckte „Palacio del Gobernador“ sich erhebt, war vor undenklichen Zeiten der Regierungssitz eines aztekischen Kaziken.
Kaum eine Stadt der Union hat eine so wildbewegte, blutige Vergangenheit wie Santa Fé, kaum eine ist der Schauplatz so schrecklicher Kriegsstürme, Verbrechen und entsetzlicher Geheimnisse gewesen wie die „Stadt des heiligen Glaubens“. Erst seitdem Neu-Mexiko durch den Vertrag von Guadalupe im Jahre 1848 an die Vereinigten Staaten fiel, ist Ruhe eingetreten und Neu-Mexiko der Kultur und Civilisation wiedergegeben worden.
In einer eintönigen, 7000 Fuß über dem Meeresspiegel gelegenen Steppe liegen reizlos, wie in der Sonne zum Trocknen ausgebreitete Lehmziegel, die elenden grauen Adobegebäude von Santa Fé, von einigen Kirchthürmen überragt. Der öffentliche Platz befindet sich in dem Mittelpunkte der Stadt, an ihm liegen das Gouvernementsgebäude und der erzbischöfliche Palast. Die meisten Häuser haben einen überdachten, nach vorne offenen Vorsprung, eine Veranda, wodurch die Straße bis auf 25 Fuß verengt wird. Von Baumanlagen oder Gärten findet sich keine Spur, nur die mit einem Denkmal zum Andenken an die in der Schlacht zu Valverde gefallenen Bundessoldaten geschmückte Plaza ist mit Blumenbeeten versehen und mit Bäumen bepflanzt.
Daß es in der „Stadt des heiligen Glaubens“ nicht an kirchlichen Bauten fehlt, ist selbstverständlich; geschichtlich am merkwürdigsten ist das allmählich verfallende Adobekirchlein San Miguel, dessen Erbauung bereits in das Jahr 1582 fallen soll.
Zwischen die uralten mexikanischen Lehmgehäuse schieben sich nun von Jahr zu Jahr immer mehr Backsteinwohnungen der [195] „los Americanos“, und zweifelsohne wird gar bald die thätig schaffende angelsächstsche Rasse der Stadt Santa Fé ein anderes, ein amerikanisches Gepräge verliehen haben.
Unter den Handelsfirmen der Stadt befinden sich auch einige deutsche; so unterhalten die Gebrüder Spiegelberg, die Häuser Z. Staab, Ilfeld und Komp. reiche Waarenlager, während bei Lucas und Komp. wahre Prachtstücke jener herrlichen Gold- und Silberfiligranarbeiten zu finden sind, die vornehmlich in Santa Fé, Las Vegas und Chihuahua angefertigt und von den Besuchern der Stadt viel gekauft werden. Auch die hier in Massen aufgestapelten, originell geformten und grellbemalten Thongefäße der Pueblo-Indianer, welche vielfach Thier-, Menschen- und Göttergestalten nachbilden, finden viele Abnehmer.
Von je her war Santa Fé die „Capitale“ des südwestlichen Nordamerika und der Hauptstapelplatz des Handels mit dem alten Mexiko, Arizona, Texas und Kalifornien.
Von den Ufern des Missouri her führte jener wunderbare, über 800 Meilen lange „Santa-Fé-Trail“, eine von blutiger Romantik umwobene Handelsstraße, die gar oft der Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen Händlern und Grenzstrolchen, zwischen Ansiedlern, Wegelagerern und Indianern war. Hunderte von „Prairieschooners“, hochbeladenen Frachtwagen, bildeten eine Karawane, deren Eintreffen nach monatelanger Wanderfahrt ein Ereigniß für die Bewohnerschaft von Santa Fé bedeutete.
Bis vor wenig Jahren bestand der „Santa-Fé-Trail“, bis zum Jahre 1880, wo die erste Lokomotive in die alte Bergstadt einfuhr, die bisherigen Verkehrsmittel ablöste und dem Handel neue Bahnen öffnete.
In den Wolken.
Ein schlimmer Handel das!“ sagte der Forstmeister in der Stadt, nachdem er den Bericht des Eisenhans angehört hatte. „Um so schlimmer, als Ihr, wie Ihr selbst eingesteht, mehr als einmal gefährliche Drohungen gegen den Menschen ausgestoßen habt.“
„Ja, ja, das war mein Fehler,“ sagte zögernd der Eisenhans.
„Für den Ihr jetzt so lange gestraft werdet, als sich der Meßner nicht vorfindet.“
So ging es auf dem Forstamt zu. Es war aber doch viel besser als das, was dem Eisenhans bei Gericht widerfuhr. Denn der freundliche Forstmeister kannte seine Leute und wußte, daß der Eisenhans zu einer That, wie diejenige war, deren er verdächtigt wurde, ganz und gar unfähig sei.
Bei Gericht war es anders. Der Beamte, der die Anzeige aufnahm, machte eine eigenthümliche Miene. Aus seinen Fragen ging geradezu hervor, daß er sich seine besonderen Gedanken machte. Er entließ den Eisenhans mehr als kühl und diesem entging der Blick nicht, mit welchem ihn der Richter verabschiedete. Diese Erfahrungen verfehlten ihren Eindruck nicht. Sie erregten in dem alten Förster ein eigenthümliches Gefühl von Widerwillen und Trotz. „Verlasse sich einer auf die Menschen!“ brummte er vor sich hin, während er durch eine enge Gasse der Stadt schritt. „Wahres Vertrauen hegt zu uns doch nur Weib und Kind.“
Das sagte er in einem Augenblick, in welchem niemand der Zweifel über ihn so voll war wie Regina, sein Liebling.
Jedesmal, wenn der Eisenhans in die Stadt kam, litt es ihn nicht lange zwischen den Mauern. Er dachte an seinen Wald, an die freie, weite Welt, die er von ihm aus überschaute. Heute aber war ihm diese Empfindung zum Heimweh geworden – es verlangte ihn nach einem theilnehmenden Wesen.
Indessen konnte er seinem Drange nicht sofort folgen. Regina hatte ihm einige Kleinigkeiten zu besorgen aufgetragen, welche sich auf den Haushalt bezogen. Auch mußte er noch an ein kleines Geschenk, ein Buch oder dergleichen, denken, welches er niemals unterließ seinem Töchterlein aus der Stadt mitzubringen.
Heute wußte er nicht, wo ihm der Kopf stand, und das Aussuchen eines solchen Geschenkes machte ihn völlig verwirrt. Er rannte herum, ohne zu wissen, wohin. Plötzlich fand er sich statt in der Gasse, in welcher die Verkaufsgewölbe offen stehen, am felsigen Ufer des Flusses. Er blieb stehen und schaute in die blauen Wellen als ob er ihnen das Geheimniß, welches ihn plagte, abfragen wollte.
Da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. „Der Eisenhans!“ sagte eine angenehm klingende Männerstimme.
Der Förster wendete sich um und stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Derjenige, welcher ihn so berührt hatte, war Franz, ein alter Forstwart, der seiner Zeit jahrelang bei ihm oben im Bergwalde gedient hatte. Jetzt lebte er von seinem kärglichen Ruhegehalt in der Stadt.
Dieser Franz war ein merkwürdiger Kauz. Unter den Jägern gab es keinen abergläubischeren als ihn. Wild bannen, das heißt, es so bezaubern, daß es vor dem Rohr des Jägers stehen blieb, war eine Kunst, auf deren Wirklichkeit er schwur. Unfehlbare Kugeln gießen, die glücklichen Tage von den unglücklichen von vornherein unterscheiden, wunderkräftige Salben und Mixturen herstellen, das war seine besondere Wissenschaft.
Das plötzliche Auftauchen des vertrauten Gesichtes war dem Eisenhans keine unliebe Ueberraschung. Jetzt hatte er jemand, dem er klagen konnte, wo es ihn drückte. Er schlug Franz deshalb vor, mit ihm vor der Thür einer nahen Schenke Platz zu nehmen, wo sie sich unter den Latten des Rebendaches in den Schein der Frühlingssonne hinsetzten, welche hier im Thale schon angenehme Wärme verbreitete. Die Magd, welche den Wein auftrug, kehrte mit ihrer Schürze die Mandelblüthen weg, welche auf den Tisch gefallen waren.
„Nun!“ sagte Franz. „Was giebt’s denn Neues?“
Der Eisenhans ließ sich nicht zweimal auffordern, sondern erzählte von Anfang an die ganze Geschichte, die ihm in den letzten Tagen begegnet war.
Während er sprach, schaute Franz unter seinen buschigen grauen Augenbrauen fortwährend nach dem weißen Berge hinauf, wie wenn er durch das lichte Gewölk, welches dort lagerte, hindurch zu erspähen suchte, was die Lösung des Räthsels wäre, das er da zu hören bekam.
„Nun, Franz,“ so schloß der Förster seine Erzählung, „Du warst alleweil ein halber Prophet, Wahrsager und Zauberer. Jetzt wende einmal Deine Kunst an!“
Franz blickte unverwandt nach der Höhe, that einen mächtigen Zug aus dem gefüllten Weinglase und sagte ruhig:
„Ich meine, die Sonne wird es schon an den Tag bringen.“
„Das war einmal gescheit geredet,“ erwiderte der Eisenhans, indem er trotz seines Kummers lächelte. „Gerade ungefähr so viel habe ich mir auch gedacht.“
Der Franz aber schien sich aus dem gutmüthigen Spott des Eisenhans gar nichts zu machen. Er schaute unverwandt noch immerfort hinauf, als ob er von dort oben seine Eingebungen bekäme. Nach einer Weile sagte er wieder:
„Ja ja die Sonne bringt’s schon an den Tag. Alles kommt ans liebe Himmelslicht.“
Der Eisenhans sah, daß aus dem Kauze bis auf weiteres nichts mehr herauszubringen sein werde. Er schwieg deshalb eine Weile, dann suchte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen, wurde aber von Franz unterbrochen:
„Höre, Eisenhans, heute mußt Du mich mit hinaufnehmen. Ich war schon lange nicht mehr droben. Da wollen wir dann unterwegs und bei Dir daheim weiter sprechen.“
Dem Eisenhans wäre kein Vorschlag gelegener gekommen als dieser.
„Das ist ein Wort,“ sagte er.
Zuerst aber wollte er noch in die Stadt gehen, um die Aufträge seiner Tochter zu besorgen und ihr ein kleines Geschenk zu kaufen. Franz ging indessen nach Hause, um sich für den Gang auszurüsten, nachdem er den Ort des Zusammentreffens am Nordende der Stadt mit dem Eisenhans verabredet hatte.
[196] Während dieser durch die finsteren Bogengänge vor den Kaufläden schritt, blieb er plötzlich wie versteinert stehen. Er hatte hinter sich flüstern gehört:
„Der ist es, der ihn umgebracht hat!“
Als er sich umdrehte, sah er einige Weiber, sie stutzten, als sie seinen Blick auf sich gerichtet sahen, und gingen in weitem Bogen an ihm vorüber.
So weit also war es schon gediehen! Er war Mörder in den Augen des Volks. Wer weiß, was er, nachdem er sich von der Ueberraschung erholt, gethan hätte, wenn es Männer gewesen wären!
Als er in das Gewölbe trat und ein kleines Korallenhalsband kaufte, frug ihn der Herr, welcher ihn als ständigen Kunden kannte, ob es wahr sei, daß oben im Walde ein armer Mensch von einem Bösewicht auf die grausamste Weise ermordet worden sei.
Nun riß ihm die Geduld, er brach in eine solche Fluth von Verwünschungen aus, daß der Besitzer des Ladens eiligst in das Hinterstübchen flüchtete und seiner Gattin zurief, sie solle Leute herbeiholen, der Herr Förster sei wahnsinnig geworden. Als aber auf das Geschrei der Frau einige Männer herbeieilten, war der Eisenhans schon zum Laden hinausgestürzt. Er rannte durch die Gassen gleich einem scheu gewordenen Pferde, so daß ihm alt und jung nachschaute.
Was ihm in diesem Augenblicke alles durch den Kopf ging! Ein Mensch thut sein ganzes Leben hindurch seine Schuldigkeit, weicht nicht einen Augenblick von seiner Pflicht ab, ist ein Ehrenmann, den seine Vorgesetzten schätzen und auszeichnen – auf einmal kommt ein dummes Gerede, und er ist ein Scheusal, dem die Menschen ausweichen, ein Geächteter. Was bedeutet die Ehre? Mußten die Menschen nicht, wenn sie einen Verdacht gegen ihn aussprechen hörten, demselben eher Unglauben als Glauben entgegenstellen? War die Unbescholtenheit seines vergangenen Lebens gar nichts? Ein Wort genügt – und alles geht in Rauch auf!
Unter solchen Gedanken stürmte er dahin. Da sah er Franz stehen, der seiner harrte. Bei diesem Anblick wich seine Entrüstung einem anderen Gefühle. War nicht diese treue Seele da, hatte er daheim nicht sein Kind?
Franz merkte wohl, daß wieder etwas vorgekommen sein müsse. Indessen sprach er nicht darüber, als er mit dem Eisenhans den dunkeln Cypressen zuschritt, welche den Beginn des Aufstieges zum Berge bezeichnen.
Während des Aufstieges redeten die beiden Männer nicht viel. Es war ein schwüler Südwind über das Land gekommen, welcher schier betäubend auf sie einwirkte und ihnen, von den Strahlen der Sonne unterstützt, vielen Schweiß auspreßte.
Seltsam – war es die Einwirkung des bleiernen Windes, die seit langer Zeit nicht mehr gewohnte Anstrengung, oder der Eindruck, den die Wortkargheit seines Gefährten hervorrief, auch in Franz begannen sich Zweifel an der Unschuld des Eisenhans zu regen. Er betrachtete ihn manchmal von der Seite und dachte sich: „Wer weiß, wer weiß, am Ende hat er ihn doch irgendwo niedergeknallt. Schön wär’s freilich nicht, einen solchen Schlingenleger, der nicht einmal ein Gewehr hat und der’s nur aus Noth thut.“
Als sie zur halben Höhe des Berges gekommen waren, rann das Wasser vom Schnee, welchen der Wind aufgeweicht hatte, in breiten Bächen über den Weg.
Noch niemals, so lange der Eisenhans auf dem Berge war, hatte er ein derartiges Schauspiel gesehen. Es rüttelte ihn aus seinen Gedanken empor. Es geschah dies um so schneller, als es sich darum handelte, über dieses und jenes Rinnsal hinüberzukommen. Es war wirklich gut, daß der Franz mitgegangen war, denn hier konnte einer, der nicht von einem Zweiten unterstützt wurde, kaum durchkommen. Sie brauchten die doppelte Zeit, als sie vorgesehen hatten, und es war fast abend, als sie das Forsthaus erblickten.
Wäre der Weg nicht durch den zerfließenden Schnee in einen Sumpf verwandelt gewesen, so hätten die Männer wohl schon eine geraume Strecke vor dem Hause Regina angetroffen, welche stets ihrem Vater, wenn er aus dem Land unten heraufkam, entgegen zu gehen pflegte. That sie es doch schon aus kindlicher Freude an den Kleinigkeiten, welche der Eisenhans niemals mitzubringen vergaß.
Heute aber war alles anders. Der Eisenhans schob seinen Gast in die Stube und ging selbst in einen andern Raum, um trockenes Schuhwerk zu holen für sich und den Franz.
Als der letztere in die Stube eintrat, schnellte Regina vom Boden in die Höhe; sie hatte offenbar vor dem Kruzifix in der Ecke gekniet. Als sie ein Kind war, hatte sie den Franz zum letztenmal gesehen, daher kannte sie ihn nicht.
Ihr erster Gedanke war, der Mann komme, ihren Vater abzuholen und fortzuführen.
Franz war nicht viel weniger überrascht über den Anblick, den ihm das aufgescheuchte Mädchen bot. Noch war er im Begriff, in etwas verworrener Rede auseinanderzusetzen, auf welche Weise er hierher gekommen wäre, als der Förster eintrat.
Regina begrüßte ihren Vater, wie wenn er von einer jahrelangen Reise zurückgekommen wäre. Auf einen Wink verließ sie jedoch für eine Weile die Stube, während Franz sich theilweise umkleidete, um die durchweichten Stücke vom Leibe loszuwerden.
„Mir scheint, ich habe das arme Kind in Angst versetzt,“ sagte Franz zum Förster.
„In Angst?“ frug dieser betroffen.
„Gewiß, sie hat mich angestarrt, wie wenn sie fürchtete, ich würde ihr etwas anthun.“
„Immer die nämliche verfluchte Geschichte!“ rief der Eisenhans, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich wollte doch schon gleich –“
Franz begriff, was sein Freund damit sagen wollte. Sein Verdacht, der sich ihm während des Weges in einigen Augenblicken aufgedrängt hatte, war wieder entschwunden.
„Höre, Eisenhans,“ sagte er, indem er ihm die Hand vertraulich auf die Schulter legte, „die Geschichte müssen wir herausbringen. Ich bin ein alter Fuchs – und es müßte doch der Teufel seine Hand im Spiele haben, wenn wir diese Fährte nicht aufspürten.“
„Ja ja, ich weiß,“ erwiderte der Eisenhans halb lächelnd und gerührt durch die Anhänglichkeit des alten Weidgenossen, „Dich haben sie ja immer für einen Zauberer gehalten. Wenn einer diese Geschichte aufspürt, so bist Du es. Ich sage nur so viel, daß ich nicht eher wieder schlafen kann, als bis der Luka zum Vorschein gekommen ist.“
Regina trug das Abendessen auf. Während desselben sprachen die Männer vom Wetter und von der absonderlichen Wärme. Das Mädchen verhielt sich schweigend. Es sah wohl, daß der Sinn keines der beiden bei dem Gegenstand ihres Gespräches war.
Es dauerte denn auch nicht lange, so wich diese künstliche Zurückhaltung. Franz, der lange Zeit wie geistesabwesend seinen Blick auf eine Ecke des Zimmers geheftet hatte, brach plötzlich in die Worte aus:
„Auf den Sebaldus hätte ich am meisten Zutrauen. Den kenne ich noch von der Stadt her als einen durchtriebenen Burschen. Wenn der es nicht ’rauskriegt, was mit dem Luka vorgegangen ist, so verschießen wir alle miteinander unser Pulver umsonst.“
„Wirklich ein findiger Kerl,“ entgegnete der Eisenhans. „Aber er ist neulich hinausgegangen und hat auch nicht mehr herausgebracht als die andern.“
„Ich meine es nicht gerade so,“ fuhr Franz nachdenklich fort. „Ich denke vielmehr, daß er sich besser auskennt, weil, so viel ich weiß, seine Leute verwandt sind mit der Familie des Luka.“
Es war ein Glück, daß keiner der beiden Männer, während dies gesprochen wurde, einen Blick aus Regina warf. Alle Lebensfarbe war aus ihrem Gesichte gewichen, sie saß da, als ob sie einen Schlag mit einer Keule erhalten hätte.
Würden die beiden Männer dies wahrgenommen haben, so hätte es ihnen unmöglich entgehen können, daß Regina ein Geheimniß verbarg, welches mit der räthselhaften Geschichte zusammenhing. Es wäre alsdann zu peinlichen Fragen gekommen und die drei hätten sich nicht in der scheinbar ruhigen Stimmung getrennt, in welcher sie einander „gute Nacht“ sagten, um ihr Lager aufzusuchen.
Dennoch war der Tag der Ueberraschungen noch lange nicht zu Ende.
Regina leuchtete dem Jäger Franz in seine Schlafstube.
Das sonst so aufgeweckte und muntere Mädchen schritt lautlos vor ihm her, die Augen auf die Treppe und auf den Boden geheftet. Die unheimliche Gestalt des Vermißten ging durch das Haus und ließ niemand zur Ruhe kommen.
[197] Franz war über die auffallende Schweigsamkeit Reginens nicht gerade sonderlich verwundert. Eben, als das Mädchen im Begriffe war, sich von ihm zu verabschieden, schickte er sich an, ihm einige Trostworte zu sagen. Beim ersten Worte aber brach Regina in Thränen aus. Sie wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihr vor Schluchzen. Franz faßte sie bei den Händen und endlich gelang es ihm, durch gütliches Zureden es so weit zu bringen, daß sie Worte fand.
Es waren aber nur wenige Silben, die sie hervorstammelte.
„Nichts dem Sebaldus sagen! Nichts dem Sebaldus sagen!“
Das war das Einzige, was er verstand.
Plötzlich faßte Regina ihn bei den Schultern, schaute ihm mit ihrem thränenden Blick in die Augen und sagte nochmals: „Wenn Sie Mitleid mit mir und meinem Vater haben, nichts dem Sebaldus sagen!“
Und ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte sie hinaus.
Franz hatte einige Mühe, nach diesem gänzlich unerwarteten Auftritt sich zu sammeln. Er stand mit verschränkten Armen am Fenster und schaute in den Wald hinaus. Da glaubte er die Lösung des Räthsels gefunden zu haben. Hatte er doch vorhin nicht nur deshalb vorgeschlagen, den Sebaldus besonders heranzuziehen, weil er wußte, daß dieser in der That mit den Leuten da oben verwandtschaftlich zusammenhänge und auch ein kluger, anstelliger junger Mensch war, sondern auch deshalb, weil er den Erzählungen, welche er heute vom Eisenhans in der Stadt gehört hatte und in denen so viel von seiner Tochter und den Leuten des Waldes die Rede war, zu entnehmen glaubte, daß Regina die Annäherung des Sebaldus seit geraumer Zeit gerne sah, daß die Rose für den jungen Jäger keine Dornen hatte.
Er hatte gedacht, ihr etwas Angenehmes mit seinem Vorschlage zu sagen. Wie sie es aber jetzt auffaßte, so hatte er, wie es ihm vorkam, das gerade Gegentheil erreicht. Sie fürchtete sich, so däuchte es ihm, in weiblicher Selbstsucht, daß der Mann ihrer Zuneigung in diese Unglücksgeschichte hineingezogen werde, in welcher man ihren Vater als Mörder nannte. Dadurch konnte die Verwirklichung ihrer Träume für immer vernichtet werden.
Regina aber ängstigte sich in Wirklichkeit deshalb, weil sie die Rücksicht, welche der Entdecker der blutigen That für sie und ihren Vater hegte, nicht noch weiteren Proben ausgesetzt wissen wollte.
Franz war nicht der Mann des Zögerns. Das Waldhaus, welches Sebaldus bewohnte, war kaum eine Stunde entfernt. Er kannte den nächsten Weg dahin. Es war kaum acht Uhr abends und er mußte unfehlbar Sebaldus noch wach finden.
Da er die Gewohnheiten des Hauses kannte, wußte er, daß er unbemerkt durch die in die Scheune führende Thür hinausgehen und wieder hereinkommen könne. Er mußte Klarheit haben, er mußte noch heute eine andere Stimme über die seltsame Geschichte des Luka hören.
Er wartete nur noch, bis er im ganzen Hause kein Lebenszeichen mehr hören würde. Dann wollte er leise über die Treppe hinabgehen und die hölzerne Klinke des Heuschuppens öffnen.
Es dauerte geraume Zeit, bis es ruhig wurde. Er hörte den Eisenhans, welcher ununterbrochen in seiner Stube auf und ab ging, trotzdem er einen beschwerlichen Tag gehabt hatte. Endlich schien es ihm, als hätte sich der Förster niedergelegt.
Nachdem er noch einige Zeit gehorcht hatte, machte er sich daran seinen Plan auszuführen. Es gelang ihm, das Freie zu erreichen, ohne daß er durch das geringste Geräusch seinen Weggang verrathen hätte. Kaum aber hatte er den Rand des Waldes erreicht, als er wie festgewurzelt stehen blieb.
Weiterhin gegen Norden stand urplötzlich eine Feuersäule am Himmel.
Wo sollte jetzt der Waldbrand herkommen? Die Erde war zum Theil noch mit Schnee bedeckt und die Bäume troffen vor Feuchtigkeit. Aber – der Augenschein war da – hoch loderte tief drinnen im Walde eine Flamme empor. Am liebsten wäre Franz augenblicklich wieder zurückgegangen, um den Förster zu wecken, doch zögerte er, weil er sich scheute, seine Abwesenheit aus dem Hause zu erklären.
Es bemächtigte sich seiner plötzlich der Gedanke, irgend jemand im Hause möchte das Feuer gleichfalls entdeckt haben und er alsbald vermißt werden.
Schon wollte er umkehren, um den Rückweg einzuschlagen, als ihm einfiel, daß weder der Förster noch die übrigen Angehörigen des Hauses den Brand bemerkt haben konnten, da deren Schlafgemächer, wie er wußte, auf der anderen Seite lagen. So setzte er denn seinen Weg fort. Bald knirschte eine aufgeweichte Eisplatte unter seinen Füßen, bald stieg er in einen Wassertümpel hinein. Wo die Bäume eine Lichtung ließen, da breitete sich röthlicher Schimmer auf den Schnee um die schwarzen Zacken der Fichten aus.
Mit einem Mal schnellte ein dunkler Körper wie ein Pfeil an ihm vorüber. Obwohl derselbe seine Bahn durch die Luft beschrieb, konnte es doch nicht ein aufgeschreckter Vogel, etwa eine Eule oder ein Auerhahn sein, denn dazu war die Bewegung viel zu rasch und der Körper zu groß.
Dann hörte er ein Aufklatschen im Dickicht.
Dorthin drang kein Schimmer der fernen Feuersäule, deren Wiederschein sich auf dem Schnee der Lichtungen wohl bemerklich machte. Nachforschen hätte zu nichts geführt. Auch blieb alles regungslos. Franz vernahm nicht das geringste Geräusch mehr.
„Das ist doch ein verteufelter Wald!“ brummte er vor sich hin. „Die Leute verschwinden, der Schnee fängt zu brennen an, durch die Luft fliegt, der Himmel weiß, was.“
Aber es kam noch seltsamer. Rehe, die sonst um diese Nachtstunde ruhig in ihren Dickichten verbleiben, rannten aufgescheucht durch den Wald, als ob sie rasend geworden wären. Das Feuer allein konnte es nicht sein, welches den Thieren eine solche Angst einjagte.
Indessen näherte Franz sich immer mehr und mehr der Brandstätte. Als er schon fast die Lichtung erreicht hatte, von welcher das Feuer ausging, sah er, daß vor einem Schneehügel lichterloh eine Flamme aufschlug. Durch die Hitze hatte die Zweige einiger Tannen Feuer gefangen und schwächliche Flammen tanzten auf dem feuchten Geäst hin und her, unfähig, dasselbe in Gluth zu verwandeln.
Franz unterschied schwarze Umrisse von Menschen und vernahm Stimmen. Zu seiner Ueberraschung unterschied er deutlich den kräftigen Brustton des Sebaldus. Es war offenbar, daß man sich stritt. Nun erkannte auch Sebaldus den Herannahenden und rief ihm zu: „Franz, Ihr seid ein alter Jäger! Sagt frisch und frei, ist Euch jemals eine ähnliche Narrethei vorgekommen?“
Franz, welcher verblüfft bald den Jäger Sebaldus, bald die anderen Männer anstarrte, vermochte kein Wort hervorzubringen. Die fünf oder sechs jungen Leute, welche er da vor sich sah, waren aufs zierlichste gekleidet. Sie trugen feine Jagdröcke, Handschuhe und Gamaschen und sahen aus wie als Jäger verkleidete Stutzer.
Sebaldus aber fuhr fort:
„Machen die Herren da einen Ausflug aufs Gebirge, verspäten sich und gerathen in die Nacht hinein. Da kommen sie zur alten Köhlerhütte, in der schon seit fünfzig Jahren niemand mehr hantiert hat, und die von Schnee überdeckt ist. Sie hören etwas wie Eulen schreien und glauben, es seien Wölfe, welche kommen, um sie aufzufressen. In ihrer Angst zünden sie die verstreuten Kohlen an, die sie finden, und machen mit dem Holz vom alten Meiler ein Feuer an und merken nicht, daß ihnen der Wald über dem Kopf zusammenbrennt. Glücklicherweise habe ich es von meinem Waldhause aus gesehen. Aber blechen sollen mir die Herren für den Schaden, daß ihnen die Lust vergeht, Kohlenhaufen oder Baumstämme anzuzünden.“
Zur Verwunderung des Sebaldus sagte Franz: „Es ist ganz richtig, es sind Raubthiere im Wald. Ich bin selbst vorhin mit einem solchen zusammengetroffen.“
Als die Stutzer diese Nachricht hörten, welche Franz in allem Ernste vorbrachte, schrieen sie alle, wie wenn ein einziger aus ihnen spräche, nach dem nächsten und sichersten Wege in die Stadt.
Sebaldus lächelte und versprach, sie bis zu einer Stelle zu begleiten, von welcher an alle Gefahr von reißenden Thieren aufhören sollte.
Alle hatten bereits ihre Namen abgegeben und jetzt versprachen sie noch überdies, den Schaden doppelt und dreifach zu ersetzen. Gefahr für den Wald war nicht mehr vorhanden, denn wenn die niedergehenden Flammen der Kohlen und des Geästes die von Schnee durchtränkten Zweige nicht mehr erhitzen konnten, so hörte das Brennen von selbst auf.
Trotzdem aber nahm Sebaldus eine barsche Miene an und herrschte die Stadtherren, während er neben ihnen auf dem Wege herging, an wie ein Gerichtsdiener seine Gefangenen.
[198] Kaum hatte er gesagt: „Jetzt können die Herren immer dem breiten Wege nachgehen, ohne zu fehlen, bald senkt sich die Straße und dann sehen Sie fern in der Tiefe die Lichter der Stadt,“ so fingen sie an zu rennen, als ob alle Raubthiere der Erde hinter ihnen her wären. Sebaldus und Franz schauten ihnen eine Weile lachend nach, dann schlugen sie einen Fußpfad ein, der am Weißen Thor vorüber zur Sehnsuchtstanne führte, wo sich ihre Wege trennen mußten. Franz wußte nicht, wovon er zuerst zu reden anfangen sollte, während er neben Sebaldus auf dem dunklen Pfade einherschritt. Zuerst drängte es ihn, die Angelegenheit des Eisenhans und des Luka zur Sprache zu bringen, welche jene Unruhe in ihm erregt hatte, von der er aus dem Hause getrieben worden war. Indessen war es ihm durch die Schweigsamkeit seines Begleiters immer schwerer geworden, eine Anknüpfung an diese Geschichte zu finden. Nach der Bitte Reginens um Stillschweigen nahm er an, daß dieser Gegenstand einen eigenthümlichen Eindruck auf Sebaldus hervorbringen müsse.
Was sollte er opfern: den Wunsch Reginens oder die eigene Neugierde, die ihn verzehrte?
Mittlerweile sahen sie durch die helle Nacht hindurch den Steilabsturz des Trichters vom Weißen Thor.
Das wußte Franz freilich nicht, daß er keine verhängnißvollere Oertlichkeit hätte wählen können, um mit seinen Fragen anzufangen. Er schrak verblüfft zurück, als Sebaldus auf die einfachen Worte: „Weiß man jetzt noch immer nichts vom Luka?“ augenblicklich stehen blieb und den Fragenden mit einem seltsamen Blick von oben bis unten maß.
Nach einer Weile sagte Sebaldus: „Was soll’s damit?“
Franz antwortete nicht. Er dachte an Reginens Warnung. Offenbar wollte Sebaldus gleich dem Mädchen nichts von einer Sache hören, mit welcher zusammen der Name des Eisenhans genannt worden war.
„Es ist mir eben so durch den Kopf gegangen,“ sagte er nach einer Weile.
Sebaldus schritt hinter ihm her, ohne ihm zu antworten. Endlich kamen sie über das Weiße Thor hinaus und das Stillschweigen wurde Franz lästig. Er suchte nach einem Gegenstand, mit welchem er die Frage, die so übel aufgenommen worden war, vergessen machen könnte.
Warum hatte er aber auch nicht früher daran gedacht!
Er erzählte nun dem Sebaldus, welch wunderliche Begegnung er vorhin im Walde gehabt hatte. Ein mächtiges Thier war pfeilschnell durch sein Gesichtsfeld geflogen, es konnte kein Vogel, es konnte kein Reh gewesen sein. Waren Wölfe in den Wald eingedrungen? Er hatte kein Wort davon gehört.
Mittlerweile hatte sich der Himmel wieder verfinstert, der Südwind schob schwere Wolken vom Meere herauf. Sie gingen eben durch ein Dickicht und Sebaldus steckte seine Laterne an.
„Zum Kuckuck, was ist das?“ rief er, indem er mit der Laterne auf einen rundlichen Fleck im Schnee hindeutete. Zugleich horchte er in den Wald hinein, als ob ihm von dort etwas Auffallendes in die Ohren gedrungen wäre.
„Es ist nichts,“ sagte er. „Es ist der Schnee, welcher feucht und schwer geworden ist und von den Bäumen herabfällt.“
Im nächsten Augenblicke wendete er um so größere Aufmerksamkeit wieder dem Fleck im Schnee zu. Er leuchtete weiter. Da war ein paar Spannen weiter ein gleicher Fleck, dann ein dritter und so weiter.
„Straf mich der Himmel, das ist ein Luchs!“ sagte Sebaldus fast athemlos.
Franz bückte sich gleichfalls gegen den Boden und erwiderte: „Nichts anderes, wenngleich man nach der Spur meinen könnte, es sei ein Elephant durch den Wald getrabt.“
„Durch den warmen Wind ist sie eben größer geworden,“ sagte Sebaldus. „Morgen wird sie ausschauen wie ein Teller. Es ist nichts anderes. Wäre es ein Wolf, so müßte man die Krallen sehen.“
„Der Luchs ist’s, der an mir vorübergeflogen ist,“ rief Franz.
„Das Feuer muß den Burschen ganz verrückt gemacht haben. Das giebt morgen eine Treibjagd,“ sagte Sebaldus, indem er mit der Hand auf den Schenkel klatschte. „Gehe jetzt nur heim und verrathe kein Wort! Ich werde morgen den Eisenhans überraschen.“
Und ehe Franz Zeit hatte, ihm Ja oder Nein zu sagen, winkte er ihm mit der Laterne gegen die Sehnsuchtstanne hin, welche sich in geringer Entfernung von ihnen erhob, und schlug, offenbar in höchster Aufregung, eiligst den Weg nach seiner Behausung ein.
Am nächsten Morgen war an dem Forsthause des Eisenhans ein Leben, wie es Regina seit langer Zeit dort nicht mehr wahrgenommen hatte.
Sebaldus mußte noch während der Nacht Gelegenheit gefunden haben, den Forstmeister in der Stadt von seiner Entdeckung zu benachrichtigen, denn es fehlten nur noch zwei Stunden bis Mittag, als der Forstmeister schon in voller Jagdausrüstung ankam und nach den Vorbereitungen zur Treibjagd fragte.
Dem Forstmeister war die Geschichte mit dem Luchs aber auch noch in anderer Hinsicht eine angenehme Nachricht gewesen. Es war jetzt offenbar, daß die zwei Schüsse, welche der Eisenhans dem Luchs nachgeschickt haben wollte und von denen Barbara herumgeschrieen hatte, daß sie ihrem verschwundenen Manne gegolten hätten, keine Erfindung des Försters gewesen waren. Er sagte dies auch sofort dem Eisenhans, noch während er sein Gewehr ablegte.
Der Eisenhans freute sich über die freundliche Ansprache des Forstmeisters, doch vermochte er im Augenblick nicht weiter über diese Angelegenheit, die ihm so nahe ging, zu sprechen.
Fort und fort kamen Jäger und Bauern mit ihren Meldungen. Dieselben wurden besprochen, gegen einander abgewogen und endlich, nach allen Beschreibungen der Fährten, ward angenommen, daß der Luchs an einer Stelle des Waldes nahe an der verlassenen Köhlerhütte liegen müsse, die man den „Bruch“ nennt, weil dort seit langer Zeit Stämme, welche ein Sturm umgeworfen hatte, übereinander lagen. Gelang es, das Thier von dort herauszutreiben, so mußte es auf der weiten Lichtung, welche den Bruch umgab, unzweifelhaft unter den Kugeln seiner Verfolger fallen.
Das Fell des Luchses war längst verkauft, bevor man es hatte.
Regina hatte alle Hände voll zu thun, ein kleines Mahl zu bereiten, mit welchem sich die Jäger vor ihrem Aufbruch zu stärken gedachten. Alle waren guter Laune; das schlimme Raubthier hatte eine heitere Stimmung über die ganze Gesellschaft gebracht.
Der Forstmeister, welcher die verstohlenen Blicke bemerkte, welche Regina und Sebaldus sich zeitweilig zuwarfen, sagte beim Fortgehen neckisch zu dem Mädchen:
„Auf diese Weise aber werden wir nicht aus dieser Wildniß herauskommen. Die Rose wird unter den Dornen bleiben.“
Regina erröthete, als ob sie es darauf anlegte, dem Schmeichelbeiwort, welches ihr der Herr Forstmeister bei guter Laune zu geben pflegte, nach Kräften gerecht zu werden. Noch lange schaute sie den Männern nach, als ihre Gestalten zwischen den Stämmen der Buchen und Tannen verschwanden.
Seit gestern hatten Sonne und Südwind mächtig gearbeitet, den Schnee von unbewaldeten Kuppen zu entfernen. Die „Große Kuppe“, wie man einen Hügel in der Nähe des Forsthauses nannte, hatte ihre Farbe seit dem gestrigen Abend vollständig verändert. Sie zeigte jetzt grauen, nackten Fels, wo man vorher nur zerfließenden Schnee oder nasse Steinflächen gesehen hatte. Es ging ein seltsames Schwirren durch den Wald. Der Wind trieb von Mittag gegen Norden, dennoch aber jagten die Wolken hoch oben am Himmel von Nord gegen Süd. Zwei Strömungen kämpften mit einander.
Es mußten noch lange Stunden bis zur Rückkehr der Jäger verstreichen. Regina beschloß deshalb, diesen ersten Frühlingstag zu benützen, um die aussichtsreiche Kuppe zu besuchen. Es verging keine halbe Stunde und sie befand sich auf der Erhöhung. Mit Freuden erspähte sie einiges Heidekraut, dessen rothe Blüthe sich schon unter dem Schnee entwickelt haben mochte. Hier und dort war der grauliche Stengel eines Huflattichs in die Höhe geschossen, und aus der tieferen Waldgegend vernahm sie die Stimmen zahlreicher Amseln.
Nachdem sie sich eine geraume Weile an diesem Frühlingsbilde erfreut hatte, fuhr sie sich plötzlich mit der Hand über die Augen, als ob sie etwas Störendes von ihnen wegwischen wollte. Doch umsonst. Sie versuchte es noch einmal. Es half nichts, was sie verscheuchen wollte, wich nicht.
[199] Es war aber auch etwas Unerhörtes. Der ferne Gipfel des Mittagkogels, zu welchem man stundenweit zu gehen hatte, lag da vor ihr, als ob sie ihn mit den Händen zu greifen vermöchte. Und gerade unter ihm eine Menge schwarzer Gestalten, so deutlich, daß sie die Gesichtszüge eines jeden erkennen konnte.
Es waren die Treiber. Ihre Umrisse mit den Gegenständen, welche sie in der Hand trugen, wie Gabeln, alte Gewehre oder Stöcke, hoben sich scharf vom Schnee ab.
Wunderlich nahm es sich aus, daß Regina keinen Ton von all diesen Menschen zu hören bekam, welche, wie es schien, sich in ihrer nächsten Nähe bewegten. Doch war es ihren Bewegungen und Gebärden deutlich anzusehen, daß sie nicht nur sprechen, sondern auch schreien mußten.
Was konnte das alles zu bedeuten haben?
Regina erinnerte sich an manche Erzählung ihres Vaters, in welcher er ihr das wundersame Spiel geschildert hatte, welches mitunter an diesen Gebirgen der Küste die Zauberin des Mittags, die Fata Morgana, aufführt. Ferne Gegenden, Stücke der Meeresfläche mit ihren Segeln, entlegene Waldlandschaften tauchen mit einem Male empor und rücken in die nächste Nachbarschaft des Beschauers heran.
Heute war sie dieses Wunders gewürdigt worden. Die zwei Strömungen, von denen die eine kalt und trocken, die andere feucht und warm war, hatten die Spiegelung geschaffen. Mit verhaltenem Athem, als ob sie imstande wäre, durch ihren Hauch das zarte Gebilde zu verwehen, folgte sie den Bewegungen der Gestalten.
Plötzlich nahm sie wahr, daß alle Männer auf einen weißen Hügel zustürzten, um welchen an einer Stelle die Zweige der Tannen versengt waren; dort blieben sie stehen und es schien, als ob alle angestrengt lauschten.
Dies dauerte aber nicht lange. Dann sah Regina, wie sie mit ihren Gabeln, Schaufeln, Stangen und Stöcken im Schnee herumbohrten. Wie wüthend arbeiteten die Männer, der emporgehobene Schnee flog um sie herum wie Schaumflocken.
Mit einem Male stieg einer in die Grube, welche gegraben worden war, hinab. Dann sah Regina zwei, drei Bretter herauffliegen. Gleich darauf kam der Mann wieder zum Vorschein, hinter ihm aber stieg langsam eine Gestalt herauf, bei deren Anblick sämmtliche Männer die Arme in die Höhe hoben.
Diese Gestalt war Luka und kein anderer.
Plötzlich aber erhoben sich alle diese Männer mitsammt dem Luka in die Luft. Die einen derselben blieben aufrecht stehen, die anderen streckten die Füße gegen den Himmel. Dann zuckten sie noch ein paarmal hin und her und mit einem Mal war alles zerronnen.
Es war noch nicht abend, als Regina den erklärenden Text zu diesem Bilde bekam.
In der Försterstube schwirrte es von Stimmen, von Fragen, Rufen und Gelächter. Die Luchsjagd war heute erfolglos geblieben. Das störte aber nicht, wie sonst, die gute Laune der Jäger. War doch der Mensch wieder zum Vorschein gekommen, der nicht bloß dem Förster so böse Stunden bereitet hatte.
Es war einfach zugegangen. In jener Nacht hatte es sich der Fallensteller in der verlassenen Hütte bequem machen wollen, weil ihm die Bora draußen zu arg mitspielte. Dann hatte diese so viel Schnee über der Hütte in der Lichtung zusammengetragen, daß er nicht mehr heraus konnte, selbst wenn er in der Finsterniß die Thür gefunden hätte. Er hatte Branntwein und Speck bei sich, womit er sich die paar Tage und Nächte am Leben erhielt. Uebrigens hatte er die Stärkung auch nothwendig, denn er brüllte in einem fort, um die Aufmerksamkeit von irgend jemand zu erregen, der vorüber gehen konnte.
Am meisten hatte er gestern gebrüllt, als er undeutlich Menschenstimmen vernahm. Es war die Gesellschaft gewesen, die sich an einer Stelle, an welcher der Wind den Schnee von den Kohlen weggeweht hatte, das Feuer anzündete, um den vermeintlichen Wolf zu verscheuchen.
Und sein Brüllen hatte denn auch heute seine Rettung herbeigeführt, welche Regina in der Fata Morgana sich abspielen gesehen hatte.
Nur der geistliche Herr dachte daran, dem Luka, den sie mehr todt als lebendig heim schleppten, eine Strafpredigt zu halten. Die anderen alle meinten, er habe seine paar Schlingen genug abgebüßt.
Was den Luchs anbelangt, so mußte er irgendwo durch die Kette der Treiber hindurchgesprungen sein. Wahrscheinlich war er ihnen entwischt, während sie sich um den weißen Hügel, unter dem die Hütte lag und wo man den Nothschrei des Meßners dumpf herauftönen hörte, zu schaffen gemacht hatten.
Am vergnügtesten war ohne Zweifel Regina. Wer anders hatte die Unschuld ihres Vaters aufgehellt, als Sebaldus?
Der Abend verfloß unter heiteren Gesprächen und auch dem Forstmeister fiel es nicht ein, in die Stadt zurückzukehren.
Am nächsten Tage aber litt es den Sebaldus nicht länger, er erzählte dem Eisenhans und dem Forstmeister, was er seinerzeit beim Weißen Thore gesehen hatte.
Die beiden Männer trauten ihren Ohren nicht, als sie vernahmen, daß sich Sebaldus in diesen lothrechten Abgrund hinabgewagt habe. Sie konnten es nicht verstehen, was ihn veranlaßt haben mochte, in solcher Weise sein Leben einzusetzen. Sebaldus aber hütete sich wohl, ein Wörtlein verlauten zu lassen über die Beweggründe und Muthmaßungen, von welchen er geleitet worden war.
Der Forstmeister ließ sich wiederholt beschreiben, was Sebaldus am Rande des Abgrundes und auf dem Balken wahrgenommen hatte, dann forderte er ihn auf, mit ihm und dem Eisenhans in den Wald hinaus zu gehen.
Nach einer Stunde standen sie beim Weißen Thor. Der Forstmeister beugte sich so weit wie möglich vor, dann wendete er sich gegen seinen Begleiter und sagte mit einem eigenthümlichen Ausdruck: „Nun, weißt Du, Sebaldus, ein Mensch ist’s nicht, aber ein Hund. Es ist mir gerade, als ob ich dabei gewesen wäre. Da liegt der Hund begraben!“
„Flott?“ erwiderte Sebaldus.
„Es ist nicht anders,“ sagte der Eisenhans zum Forstmeister. „Läge er nicht da drunten, kein anderes Hinderniß hätte ihn aufgehalten, nach Hause zu kommen. Den armen Kerl hat der Luchs gejagt. Er ist in seinem Schrecken vor einer solchen Bestie, die er niemals gesehen hatte, weit hineingesprungen.“
Sebaldus erwiderte kein Wort. Das Unrecht, welches er in Gedanken dem Förster angethan hatte und das nach der vorliegenden, augenscheinlichen Wahrheit nunmehr fast lächerlich erschien, schnitt ihm die Rede ab.
Schweigend traten die Männer den Rückweg an. Sebaldus verabschiedete sich von ihnen beim Kreuzweg. Der Eisenhans aber trat aufgeräumter als je mit dem Forstmeister in die Stube.
Franz und Regina saßen im Gespräche bei einander. Der Eisenhans steckte sich seine Pfeife an, setzte sich im Lehnstuhl zurecht und begann zu erzählen, was ihm Sebaldus gezeigt hatte.
Regina unterdrückte die Bewegung, die sich ihrer bemächtigte, als sie von dem Vorgange hörte, welcher sie damals so sehr erschreckt hatte. Dagegen konnte sie einer Blutwelle nicht Einhalt gebieten, welche ihr frisches Gesicht tief röthete, als ihr Vater sagte:
„Der Sebaldus ist doch ein verflucht schneidiger Kerl – wenn ich einen Sohn hätte, so einen hätte ich mir gewünscht, – das echte Jägerblut!“
Ihre Bewegung entging weder Franz und dem Eisenhans, noch dem Forstmeister. Franz sagte lächelnd:
„Mir scheint, das Katzenthier hat doch auch sein Gutes gehabt. Erstlich wäre der arme Teufel da drüben verkommen, wenn es sich nicht im Wald gezeigt hätte, und dann –“
Er warf Regina einen Blick zu und stockte, offenbar in Verlegenheit über das, was er weiter sagen wollte.
Der Forstmeister aber kam ihm zu Hilfe, indem er sich zum Eisenhans wendete:
„Unsere alten Deutschen waren auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatten eine Hochzeitsgöttin, die hieß Freya. Ihren Wagen, in dem sie oft in voller Schönheit durch das Land fuhr, zogen Luchse. Mir scheint, sie muß sich irgendwo daher in unsere Nähe verirrt haben.“
Der Eisenhans ging auf den scherzhaften Ton ein und erwiderte: „Nun ja, es ist noch nicht aller Tage Abend.“
Regina stand rasch auf und verließ das Zimmer, indem sie ihr Gesicht von den Männern abwendete. Franz aber rief ihr nach: „Und der Frühling und die Sonne bringen es an den Tag!“
Blätter und Blüthen.
Hexenschlaf. (Mit Illustration S. 184 und 185.) Die Entwickelungsgeschichte der Menschheit weist einzelne Zeiträume auf, in welchen nicht durch einzelne Länder oder Völker bloß, sondern durch ganze Welttheile ein fremdartiger Zug hindurchweht, wie ein Rausch oder ein Wahnsinn, der die Massen erfaßt hat. Dann greift etwas Unmenschliches oder Uebermenschliches mit unwiderstehlicher Macht in den geregelten Gang der Dinge, verwirrt und betäubt die klare Einsicht, die vernünftigen, einfach menschlichen Triebe und Ziele der Gesammtheit und spielt mit den Geschicken einzelner grausam und herzlos.
Solch eine schauerliche Krankheit der ganzen Kultur war der Hexenglaube und sein Gefolge, die Hexenprozesse. Durch drei Jahrhunderte, vom fünfzehnten bis ins achtzehnte Jahrhundert herein, zog sich der Irrwahn, daß es Menschen gäbe, die mit dem Teufel in Person Bündnisse schlössen, in Zaubernächten auf Besenstielen nach den Hexentanzplätzen führen und dort unheilige Feste feierten. Und drei Jahrhunderte lang flammten in allen Ländern abendländischer Kultur die Scheiterhaufen, auf welchen die unglücklichen Opfer dieses Irrwahns ein Ende voll Schmerz und Verzweiflung fanden. Wie viele Tausende die Zahl dieser Opfer betrug, weiß die Weltgeschichte nicht, aber die Chronisten verzeichnen, daß auf den Richtstätten einzelner Städte die Brandpfähle wie Wälder dagestanden hätten, und daß während einer fünfjährigen Verfolgung im Stifte Bamberg allein an sechshundert, im Bisthum Würzburg neunhundert Menschen wegen Hexerei hingerichtet worden wären. Man weiß wahrhaftig nicht, worüber man sich heutzutage mehr verwundern soll: über die Gesetzgeber, welche es möglich machten, solche Verfolgungen einzuleiten, über die Richter, welche es übers Herz brachten, mittels der Folter aus ihren armen zitternden Opfern Geständnisse herauszulocken, oder über die Völker, welche die Urtheile und ihre grausame Vollstreckung als gerecht und vernünftig erduldeten. Am unbegreiflichsten aber erscheint es, daß allen der furchtbare und zugleich lächerliche Widerspruch nicht in die Augen sprang, der zwischen der allgemein geglaubten übermenschlichen Macht der Hexen und ihrem jämmerlichen Ende bestand. Man sah nicht ein, daß Personen, die sich nicht vor einem qualvollen Tode durch Henkershand zu schützen vermochten, unmöglich Zauberkräfte besitzen konnten. Aber auch zur Beseitigung dieses Widersinns hatte der Aberglaube ein Mittel bereit.
Man hatte mitunter bemerkt, daß einzelne zum Feuertode verurtheilte Hexen furchtlos den Scheiterhaufen bestiegen und anscheinend völlig gefühllos oder in einem Zustande ekstatischer Verzückung den Flammentod erlitten. „Hexenschlaf“ nannte man diesen Zustand und glaubte, derselbe sei ein Geschenk des Teufels an seine Verbündeten.
Es wird für alle Zeit ein Räthsel bleiben, wie es sich in Wahrheit mit diesem Hexenschlafe verhielt. Die Quellen über ihn sind getrübt von finsterem Aberglauben und die letzten Seufzer der Opfer dieses Aberglaubens wurden von Rauch und Flammen erstickt. Ob es natürlicher Heldenmuth oder stumpfsinnige Verzweiflung, ob es ein hypnotischer Zustand oder eine eigenthümliche Krankheit des Geistes und der Sinne oder eine durch narkotische Mittel herbeigeführte Gefühllosigkeit war, was den Verurtheilten die Fähigkeit gab, angesichts der um sie her auszüngelnden Flammen zu lächeln: unsere Zeit wird es nicht mehr erklären können.
Der Künstler aber, dessen Bild wir heute mittheilen, hat es in meisterhafter Weise verstanden, uns den seltsamen Zustand des „Hexenschlafes“ vor Augen zu führen. Das jugendliche Opfer mittelalterlicher Verblendung, das da an den Brandpfahl gefesselt ist, empfindet keinen Schmerz und wird keinen empfinden, bis es hinübergegangen ist. Die Augen dieses Mädchens schauen in eine andere Welt; aber nicht in die Welt des Teufels. Was ihr die Kraft giebt, so zu sterben – ist’s jene Begeisterung, die einst die Märtyrer im römischen Cirkus beseelte? Oder ist’s die warme Hand des Freundes, der verstohlen ihr Handgelenk umfaßt hält, daß in der letzten bangen Minute noch eine feine Nervenströmung in ihr Wesen hinüberfluthet und sie den Schmerz vergessen läßt, der um ihre Füße zuckt?
Professor Albert Keller, der Schöpfer dieses Bildes, welches der letzten Münchener internationalen Kunstausstellung zur Zierde gereichte, hat mit demselben einen neuen Beweis seiner Vielseitigkeit gegeben. Ein Schüler des leider zu früh verstorbenen Professors v. Ramberg und unter den angenehmsten Verhältnissen zu München lebend, hat sich Keller zuerst durch Genrebilder aus der eleganten Gesellschaft, dann auch durch seine Damenporträts einen Namen geschaffen. Das vorliegende Bild, wie mehrere, die ihm vorangingen, zeigen aber, daß der Künstler, was wir ihm hoch anrechnen, sich keineswegs darauf beschränken will, ein einmal erobertes Gebiet bloß festzuhalten, sondern daß ihm auch daran gelegen ist, den Kreis seiner künstlerischen Ideen stets zu erweitern. M. H.
An den Fabeldichter Wilhelm Hey erinnert der 26. März dieses Jahres, der hundertjährige Geburtstag des Kinderfreundes, dessen „50 Fabeln“ und „Noch 50 Fabeln“ seit mehr als einem halben Jahrhundert in jedem deutschen Hause bekannt und heimisch sind, ein unübertrefflicher Schatz für Herz und Gemüth unserer Jugend. Hey war Theologe, lange Zeit Pfarrer in Töttelstedt, später Hofprediger in Gotha und endlich Superintendent in Ichtershausen, wo er am 19. Mai 1854 starb. Seine theologischen Schriften erwarben ihm in den Kreisen der Amtsgenossen einen verdienten Ruf, ohne daß sie deshalb in weitere Kreise eindrangen; aber die Fabeln, von Otto Speckters Meisterhand illustrirt, trugen seinen Namen schnell in alle Winde. Es ist schwer zu sagen, in wie vielen Exemplaren die Fabeln heute verbreitet sind; „es werden jedenfalls,“ schreibt der Verleger derselben, Friedrich Andreas Perthes in Gotha, mit dessen Familie Hey aufs innigste befreundet war, „anderthalb bis zwei Millionen sein. Von den hauptsächlichsten Ausgaben werden jedes Jahr ein bis zwei Neudrucke veranstaltet, aber eine Auflage ist nie angegeben worden.“ Zahllose Nachahmungen der Heyschen Fabeln haben die meisterhaften Vorbilder weder erreichen noch verdrängen können und wenn auch für den Dichter in den meisten Literaturgeschichten kaum ein Platz von wenigen Zeilen übrig ist, seine Dichtungen selbst sorgen dafür, seinem Namen den gebührenden Ehrenplatz dauernd zu sichern. Die Fabeln prägen sich dem Gedächtniß geweckter Kinder geradezu unauslöschlich ein und mit der heranwachsenden Jugend wächst der Dichter in jede neue Generation hinein.
Eine eingehende Biographie Heys besitzen wir von Theodor Hansen (Gotha, F. A. Perthes), eine weniger umfassende von J. Bonnet (ebenda). Beide machen uns mit dem Wesen des Dichters und seiner Werke, theils nach seinen eigenen Briefen, theils nach Mittheilungen von Freundeshand, vertraut. Aber beide lassen eines vermissen, was wir gern in ihnen gefunden hätten: ein Bildniß des Dichters. Es ist keines vorhanden. Der allzu bescheidene Hey verweigerte es standhaft, irgend ein Porträt von sich anfertigen zu lassen. Eine von Freundeshand heimlich ausgeführte Zeichnung wanderte vor dessen Augen in den Ofen. **
Inhalt: Lore von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 181. – Wie erkennen und verbessern wir schlechte Zimmerluft? Von Professor Dr. A. Wolpert. II. Der richtige Feuchtigkeitsgehalt der Zimmerluft und Feuchtigkeitsprüfer alter und neuer Zeit. S. 186. Mit Abbildungen. S. 188. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Der Rettungsball. Mit Illustration S. 189. – Der Sänger der „Bezauberten Rose“. Von Gustav Karpeles. S. 189. – Durch Neu-Mexiko. Von Rudolf Cronau. S. 192. Mit Illustrationen S. 181, 192 und 193. – In den Wolken. Eine Waldgeschichte von Heinrich Noé (Schluß). S. 195. – Blätter und Blüthen: Hexenschlaf. S. 200. Mit Illustration S. 184 und 185. – Der Fabeldichter Wilhelm Hey. S. 200. – Bilderräthsel S. 200.
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