Die Gartenlaube (1887)/Heft 9
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No. 9. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. — In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder Halbheften à 25 Pf.
Herzenskrisen.
Hortense begann ein wunderliches Treiben, sie schien von einem wahren Vergnügungstaumel erfaßt zu sein. Spazierfahrten, Theater, Besuche folgten sich ohne Unterbrechung. Es war eine Pensionsfreundin in Dresden verheirathet an einen Officier, eine andere an einen Rittergutsbesitzer der Umgegend, und – was sie früher weit von sich gewiesen, ja ängstlich vermieden hätte – jetzt suchte Hortense die Damen auf. Sie fuhr bei ihnen vor, unter Scherz und Lachen wurde ein Diner auf der Terrasse verabredet, eine Wasserfahrt nach Pillnitz. Und Abends nach dem Theater saßen sie mit der heiteren Gesellschaft im Saale des Hôtels; Hortense hatte sie eingeladen. Sie lachte und plauderte und schien die Heiterste von Allen.
Waldemar Weber war auch mit in das lustige Treiben hinein gerathen. Lucie wußte nicht, hatte ihn Hortense ermuthigt, oder hatte er sich selbständig dazu gefunden; genug, er war mit dabei und saß so ruhig auf seinem Stuhl und sprach mit seiner tiefen Stimme, die sich schon beim ersten Klange Geltung zu verschaffen wußte, mit den Herren von Jagd und Pferdezucht, mit den Damen von zierlichen Nippsachen, die in einer Thüringer Porcellanfabrik angefertigt würden, und von denen er ihnen Proben versprach für ihre Nipptische.
Lucie saß still dabei. Sie fragte sich, was Hortense wolle. Und sie fand keine Antwort.
An Wilken’s Polterabend blieb Hortense zu Hause, sie hatte eine Partie nach der Bastei abgelehnt unter dem Vorwand, daß sie Kopfweh habe. Sie lag in der That mit geschlossenen Augen und blassem Gesicht auf dem Sofa des verdunkelten Zimmers.
„Hortense,“ sagte Lucie mitleidig und streichelte ihre bleichen Wangen, „wenn ich nur wüßte, warum Du Dich so wissentlich krank machst?“
Hortense faßte die weiche Mädchenhand, aber sie antwortete nicht.
Lucie war heute von einer eigenthümlichen Angst erfüllt, sie ging im Laufe des Tages wohl drei- bis viermal hinunter und fragte den Portier nach Briefen. Er hatte nie etwas. Ob dies Schweigen ein gutes oder böses Zeichen sei, überlegte sie, als sie zum fünften Male vergeblich nachgeforscht hatte. Sie stand mit besorgter Miene im Vestibül, an ihr vorüber schleppten Gärtnerburschen riesige Lorbeer- und Myrthenbäume in den Saal, dessen Thüren weit offen standen. Im Hintergrunde schimmerte ein purpurrother Vorhang, an dem der Tapezierer noch beschäftigt war, und auf der improvisirten Bühne stand ein Herr mit weißem Schnurrbart und verhandelte mit dem Wirth.
Die Treppe herunter kam Wilken am Arm einer
[134] alten schönen Dame in Straßentoilette, deren Züge den seinen glichen. Im Vorbeigehen hörte Lucie, wie er „Mutter“ zu ihr sagte. Ein unendliches Mitleid ergriff sie, sie flog die Treppe hinan und zu Hortense, welcher sie weinend um den Hals fiel.
Der Tag verging. Gegen Abend erhob sich die junge Frau, es war doch noch ein Brief gekommen, aber von Mademoiselle. Ein kleiner Brief mit Wappensiegel und ausländischer Marke war eingelegt. „Von meinem Vater!“ sagte Hortense und schob ihn zurück. Sie überflog das französische Gekritzel Mademoiselles. „Es ist Alles beim Alten, sie spielen Schach und die Pferde sind gesund,“ sprach sie und begann den andern Brief ungelesen mit einer Schere in tausend kleine Stücke zu zerschneiden.
Lucie blickte sinnend hinaus auf den schönen Platz. der im Duft der Abendsonne vor ihr lag. Die zahlreichen Statuen der Hofkirche waren wie in rothes Gold getaucht. Ueber den durchbrochenen Thürmen der evangelischen Kirche, die sich wie Spitzengrund von dem stahlblauen Himmel abhob, stand scharf die Mondsichel. Im Theater brannten die Lampen und die letzten Besucher schritten eilig den Portalen zu. Die Luft war erfüllt von dem Duft, den der Westwind aus Gärten und Anlagen herübertrug.
Nun rasselte eine elegante Equipage über das Pflaster, Lucie sah hinunter, als der Wagen vor dem Portal hielt. Wilken in Uniform half seiner Braut beim Aussteigen, die Eltern folgten. Das junge Mädchen im rosa Seidenkleide trug ihre blonden Zöpfe heute aufgesteckt und hielt ein Rosenbouquett in der Hand. Lucie schreckte empor, Hortense hatte plötzlich neben ihr gestanden.
„Soll ich Dir vorlesen?“ fragte sie; „ich sehe eben die Tauben über der Hofkirche in den Abendhimmel flattern, ich mußte an Venedig denken. Weißt Du noch, wie wir dort ‚Childe Harold‘ lasen und den ‚Kaufmann von Venedig‘?“
In diesem Moment klopfte es, der Kellner meldete Herrn Weber. Hortense nickte bejahend.
„Ich hatte gar nicht erwartet, daß ich Gnade finden würde vor Ihren Augen,“ sagte er scherzend zu Hortense, „ich hörte mit Bedauern, Sie seien krank, gnädige Frau, und wollte mich bei Fräulein Walter nach Ihrem Befinden erkundigen. Ich danke herzlich,“ sagte er, den Sessel ablehnend, den die junge Frau ihm bot, „ich will durchaus nicht stören, ich sehe, daß Sie noch leiden, Sie sind blaß. Ich beklage nur lebhaft, daß dieses Zauberfest da unten Ihnen die Nachtruhe stören wird. Es ist unglaublich, daß Leute, die eine so schöne Wohnung besitzen wie der alte Herr von Norbert, im Hôtel Familienfeste feiern.“
Hortense, die sich wieder in den Fanteuil gesetzt hatte, fragte: „Kennen Sie die Herrschaften?“
„Flüchtig, sie haben ein Gut in der Nähe meiner Besitzung. Ich bin im Klub mit ihm zusammengetroffen und auch einmal im landwirthschaftlichen Verein. Er ist ein wunderlicher Heiliger, aber ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, alle Achtung vor seinen Lebensanschauungen. Die Damen kenne ich freilich gar nicht,“ fügte er noch hinzu. „ich weiß nur, daß Marie von Norbert als ein wohlerzogenes gutes Kind gerühmt wird. Aber verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie sehen wirklich krank aus, wollen Sie nicht den Arzt –“
Hortense schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie mich heute Abend –“
Er empfahl sich mit besorgter Miene.
„Es ist eine schwüle Luft,“ sagte er leise zu dem jungen Mädchen, „ich meine, wir werden über Nacht ein Gewitter haben.“
Hortense saß, den Kopf an das Polster gelegt, ohne ein Wort zu sprechen. Es war still in dem Zimmer und so schwül. Dann schreckte sie empor, die ersten Laute des Hochzeitsmarsches aus „Lohengrin“ drangen jubelnd herauf.
„Ich glaube, in meiner Stube wird es ruhiger sein,“ sprach Lucie.
„Laß mich!“
Das Mädchen setzte sich stumm ihr gegenüber. Die wundervollen Klänge wogten durch das Gemach, dann ward es still, und nun hob die Musik wieder an. Ein Walzer! Jetzt hat er seine Braut im Arm und fliegt mit ihr durch den Saal, und diese Braut hat einen Vater, der ist ein Ehrenmann, dachte Lucie. Arme, arme Hortense!
„Eine Depesche für Fräulein Walter!“ rief der Kellner, dessen Klopfen überhört worden war, reichte Lucie das kleine gefaltete Papier, zündete eilig eine Kerze an und verschwand.
„An mich?“ sagte das Mädchen tonlos. Sie wußte, was es war, ohne daß sie gelesen. Die Hände, welche die Oblate öffneten, zitterten, und als sie hineingeschaut, stand sie still, das Haupt tief gesenkt, als habe sie einen Schlag empfangen.
„Was denn?“ fragte Hortense und kam herüber. Sie nahm das Papier aus der schlaff herabhängenden Hand. „Mathilde heute Mittag sanft entschlafen. Georg“, las sie.
Sie wagte nicht. Lucie anzusehen, still legte sie das Blatt auf den Tisch. Die Musik unten war verstummt, man hörte nur das bange thränenlose Schluchzen des Mädchens. Dann raffte Lucie sich empor, eilte in ihr Zimmer und kam mit Hut und Mantel zurück.
Hortettse faßte sie am Arm. „Was willst Du thun?“
„Fort will ich!“ war die Antwort.
„In dieser Nacht noch? Ich beschwöre Dich. Lucie. Du kannst nicht reisen, Du bist furchtbar erregt. Geh’ erst morgen!“
Lucie band, ohne zu antworten, die Schleife des Regenmantels um die Taille.
„Sei doch vernünftig, Lucie; Du kannst ja nicht mehr helfen, Du kommst morgen noch früh genug, Du –“ Aber sie schwieg betroffen, so zornig trat das Mädchen auf sie zu.
„Du!“ kam es von den bebenden Lippen, „versuche es nicht noch einmal, mich von meiner Pflicht abzuhalten! Um ihr letztes Wort hast Du mich betrogen, Du –!“ Sie stockte, nach Athem ringend, und wandte sich um. Auf dem Tische lagen Handschuhe und Schleier, sie riß sie an sich und ging zur Thür hinüber.
Hortense stand unbeweglich auf der nämlichen Stelle. „Lucie!“ rief sie. Das Mädchen hielt ein und schaute zurück.
„Ich habe Angst um Dich, so allein.“ sprach Hortense.
Lucie sah sie an mit verstörten Augen. „Angst? Warum kommst Du nicht mit?“
„Weil – weil wir unser Ziel diese Nacht doch nicht erreichen würden; ich weiß es genau, der Zug hat keinen Anschluß. Morgen, Lucie – bleibe hier!“
Das Mädchen stand zögernd. Aber dann trat ein stilles blasses Antlitz vor ihre Seele, das lag, als ob es schliefe. „Ich muß fort!“ sagte sie. „halte mich nicht, ich kann nicht bleiben!“ Und im nächsten Augenblick schlug die Thür hinter ihr zu.
Lucie wußte selbst kaum, wie sie auf den Bahnhof und in
das Koupé kam, und wie die Nacht verging und die drei Stunden
des Wartens auf der kleinen Station, wo sich die Bahnstrecke
ihrer Heimath von der großen Linie trennt. Sie hatte nur einen
Gedanken, den einer bittern Reue, sie sah nur ein Bild vor sich:
das waren die Augen Mathildens, wie sie in Thränen schwammen
vor Sehnsucht nach der jungen Schwester, die da draußen in
dem schönen glänzenden Leben ihrer vergessen hatte.
Als der Zug endlich vor dem Perron stand, dämmerte eben der Morgen herauf. Fröstelnd stieg sie in das leere Koupé und starrte in den Dunst des trüben Junimorgens, der erst nach und nach einen lichteren Schein annahm. Sie kannte die Gegend, die sie durchfuhr, die umnebelten Berge dort hinten, die Ausläufer des Harzes, und die Dörfer, die noch im Morgenschlummer ruhten. Die Wolken im Osten wurden allmählich durchsichtiger, aber die Sonne vermochte sie nicht zu zerstreuen, und endlich begann es zu regnen, ein leiser feiner Regen, der die ganze Gegend in graue dichte Schleier hüllte. Auf den kleinen Haltestellen, die der Zug gewissenhaft einhielt, stiegen Bauerweiber ein mit Marktkörben, hier und da ein paar Herren, die ebenfalls nach der Kreisstadt wollten, einige Augenblicke drängten sich Regenschirme und Kiepen durch einander; dann ward es wieder still, und der Zug ging weiter. Auf dem Bahnhofe der Stadt war schon mehr Gedränge, auch gab es längeren Aufenthalt. Wie im Traum hörte sie das Getriebe der Menschen und den Regen, der einförmig auf die Dächer der Wagenreihe schlug.
Dann sprang sie empor und ließ das Fenster herunter. Durch die Menge schob sich ein Kind, ein ohngefähr zwölfjähriger Knabe, das schmale Gesicht unter der weißblauen Gymnasiastenmütze hatte einen eigenartigen Ausdruck von Wichtigkeit und Trauer.
„Konrad!“ rief das Mädchen; „Konrad!“ Der Kleine stutzte und kam herüber. „Steig’ ein!“ sagte Lucie. „willst Du nach Hause?“
Er hatte die Mütze abgenommen und nickte. Aber er wies auch zugleich sein Billett. „Ich muß ja die Dritte,“ sagte er.
[135] „Warte!“ rief sie und kam heraus, und im nächsten Augenblick saßen sie sich gegenüber in einem leeren Koupé dritter Klasse, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.
Ein Weilchen fuhren sie still dahin, Keines sprach ein Wort. Der kleine Bursche mit dem blassen Gesicht und den Augen, aus denen eine bange Frage an ein unverstandenes, bitteres Schicksal sprach, blickte unverwandt zum Fenster hinaus. Lucie konnte vor Thränen nicht reden, als sie das Kind vor sich sah, dem die Mutter so früh genommen war.
„Gestern hat’s der Vater schon geschrieben,“ begann er endlich; „aber Frau Müller hat es mir erst heute gesagt, und daß ich kommen soll. Er hat es Dir wohl auch geschrieben, Tante?“
Der kleine Kerl biß nach diesen Worten die Zähne auf einander, damit ihn die Thränen nicht übermannten.
Lucie nickte, und dann saß sie neben ihm und legte die Arme um das Kind und begann leidenschaftlich zu weinen.
„Wie ich das letzte Mal draußen war,“ sagte der Kleine, der diese Liebkosung, ohne sich zu rühren, hinnahm, „– am Sonntag – da hat Mutter gedacht, Du kämst, sie hatte auch Kuchen backen lassen. Sie meinte, sie wüßte es ganz genau, weil sie Dir geschrieben, daß sie krank ist. Warum bist Du denn nicht gekommen, Tante?“
Sie weinte noch heftiger, die Vorwürfe des Kindes trafen sie wie Dolchstöße.
„Sie war ja gar nicht böse,“ tröstete der Junge gutmüthig, „bloß traurig war sie.“
Lucie ließ ihr Tuch sinken und starrte auf das hell lackirte Holzwerk des Wagens und von da auf den Regen draußen.
„Morgen wird sie begraben,“ meinte der Kleine. „Herr Müller hat mir Ferien gegeben; ich darf acht Tage beim Vater bleiben; weil ich doch der Aelteste bin,“ setzte er stolz hinzu. „Da ist schon Schulzenskamp, nun werden wir gleich da sein,“ fuhr er fort. Und mit dem nämlichen traurigen Ausdruck der klaren Kinderaugen fragte er. „Bleibst Du nun bei uns, Tante?“
Sie nickte hastig und strich sich die Haare aus dem verweinten Gesicht.
„Ist’s wahr?“
„Ja, mein Junge.“
Auf der winzigen Haltestelle am Waldesrand war keine Menschenseele. Sie standen im Regen auf dem Kies vor dem Wärterhäuschen und sahen in das Wetter.
„Wir wollen nur gehen,“ meinte der Kleine; „der Vater weiß nicht, daß Du kommst, und ich – laufe ja immer.“
Sie gingen auf dem Waldweg dahin, den alten wohlbekannten Pfad. Der Nebel hing in dem jungen Laub der Buchen und das Wasser stand in den Gleisen des Weges.
„Gieb mir Deine Hand, Konrad,“ bat Lucie, als könne der Knabe ihr eine Stütze sein. In ihrem unsagbaren Schuldbewußtsein meinte sie, der Schwager müsse sie von dem Todtenbette der Schwester weisen.
„Die Hunde, Tante, hörst Du sie?“ fragte der Junge.
Sie nickte; dort unten tauchte das Haus auf. „Geh lieber voraus,“ stammelte sie, „und sag’s dem Vater, daß ich komme.“
Der Kleine lief voran, aber als er dem Hause näher kam, verlangsamte sich sein Schritt. Lucie sah, wie er zögernd die Stufen der Hausthür emporstieg. Ebenso langsam kam sie nach.
In dem großen mit Hirschgeweihen geschmückten Hausflur, der im Sommer zugleich als Speisezimmer diente, war es mäuschenstill; nur die Schwarzwälder Uhr tickte an der Wand. Die Thür zu des Schwagers Stube war angelehnt, und daraus hervor drang jetzt eine Frauenstimme, die Lucie nicht kannte, tröstend und mahnend. „Um der Kinder willen, Vetter – die armen Würmer! Wer wird denn solche Gedanken haben! – Ja, das wäre wohl bequem, wenn Eines dem Andern gleich nachsterben könnte? – Versündigen Sie sich nicht, kommen Sie und essen etwas!“
Lucie ging hinüber und öffnete die Thür. Sie that ein paar Schritte in die Stube hinein, dem Manne entgegen, der da wie gebrochen in der Ecke des Ledersofas saß, den Kopf in die Hand gestützt.
„Georg!“ sagte sie und hielt sich am Tisch. Sie sah zum Erbarmen aus, die blassen Lippen konnten nicht weiter sprechen.
Er blickte auf und erhob sich. „Du kommst zu spät, Lucie.“
Sie stand ganz still, mit gefalteten Händen. Ein kleine dicke Frau in den fünfziger Jahren, mit schlichtem Scheitel, einer Stumpfnase und hellen harten Augen, die über ihrem lila Kattunkleide eine schwarze Schärpe, schwarze Bänder an der Haube und ein schwarzes Halstuch trug, trat zu ihr.
„Ach, Sie sind wohl die Schwester, auf welche die selige Frau so gewartet hat? Lieber Gott, ja, es ist freilich sehr schwer, wenn man kommt, und es ist Alles vorüber. Aber Sie sind ja naß wie eine Made! Haben Sie denn trockenes Zeug bei sich? Na, warten Sie nur, ich hole heißen Kaffee; der Mensch soll essen und trinken auch an solchen Tagen.“
Sie nahm dem Mädchen Hut und Mantel ab und ging dann hinaus. Der Oberförster ging im Zimmer umher; er trat schwer und müde auf und hielt sich gebeugt. Lucie meinte, er sei um Jahre gealtert. Sie stellte sich ihm mit den noch immer gefalteten Händen in den Weg.
„Bringe mich zu ihr,“ bat sie.
Er wies mit der Hand nach der Thür. „Drüben liegt, was noch übrig ist – sie kann Dir nichts mehr sagen.“
Lucie ging hinaus und über den Flur durch das Wohnzimmer. Die drei ältesten Kinder saßen da um den großen mit Wachstuch bezogenen Tisch; die Mädchen von neun und acht Jahren, mit verweintem Gesicht, hantirten geschäftig in grünen Blättern herum; der Junge, von der schrecklichen Gewißheit überwältigt, hatte die Arme auf den Tisch gelegt, den Kopf darein verborgen und schluchzte jämmerlich. Das jüngste Dreijährige aber stand an der Thür, die in das Schlafzimmer der Verstorbenen führte, und über die runden Kinderwangen liefen helle Thränen; die ganze kleine Gestalt bebte im Weinen. „Mach’ auf!“ rief es, „mach’ doch auf!“
Lueie nahm das Kind auf den Arm. „Komm,“ sagte sie und trat in das Sterbezimmer. Sie schritt mit der still gewordenen Kleinen zu dem Lager; ein weißes blumenbestreutes Laken war darüber gebreitet. Sie wagte nicht, das Tuch zurückzuschlagen, um das stille Gesicht zu sehen.
„Mama!“ sagte die Kleine. Da nahm sie das Linnen zurück und hockte mit dem Kinde vor dem Bette nieder und faltete die Hände über demselben. Und ihr thränenüberströmtes Gesicht schmiegte sich an die kalte Wange der Todten.
„Vergieb mir!“ schluchzte sie, „vergieb mir!“
Aber diese müden Augenlider hoben sich nicht mehr, und der Mund blieb stumm.
Als die alte Frau einige Minuten später in das Zimmer trat, da lag eine Bewußtlose vor der Todten, und die Kleine saß neben ihr und spielte mit den Blumen, die sie von dem Lager genommen –
Der Begräbnißtag nahte sich seinem Ende, der Wagen der letzten Leidtragenden rollte eben den Waldweg entlang; im Hause war es still geworden. Die Kinder saßen im Hofe und kamen sich wichtig vor, weil ein Jeder sich heute mitleidsvoll mit ihnen beschäftigt hatte. Die kleinen Mädchen sahen komisch aus in den schwarzwollenen Kleidchen, die ihnen fast zu lang waren. Sie hatten das Schwesterchen in die Mitte genommen und thaten mütterlich mit ihr; der Junge aß ein Stück Kuchen mit verweinten Augen. Der Oberförster kam an ihnen vorüber; er sah nach der andern Seite, als könne er den Anblick nicht ertragen. Er hatte das Gewehr übergehängt und schritt, von seinem Hunde gefolgt, über den Hof zum Thore hinaus. Im Wohnzimmer, wo sonst die Verstorbene gesessen, saß nun die kleine ältliche Frau und ruhte sich aus von den Strapazen der letzten Wochen und des heutigen Tages. Lucie, die am andern Fenster stand und ihrem Schwager nachschaute, wußte nun, daß diese Frau ein Recht hatte, hier zu sitzen; sie war eine Verwandte und sollte, wie sie dem jungen Mädchen mitgetheilt hatte, im Hause bleiben der Wirthschaft und der Kinder wegen; und so genau Lucie das wußte, so wußte sie auch, daß sie hier überflüssig war. Sie hatte den Kopf an das Fensterkreuz gelegt und sah, wie der große Mann eben zwischen den Stämmen der Buchen verschwand. Er lief dahin in seiner Verzweiflung; ihm war das Haus öde, das Leben einsam jetzt. Sie hatte versucht, mit ihm zu sprechen, als sie heute früh vor dem Sarge zusammengetroffen waren; sie hatte nach seiner Hand gegriffen – er sah weder ihre Thränen, noch schien er ihre Hand zu fühlen. „Laß nur gut sein!“ hatte er gemurmelt.
Ihr Versuch, bei dem Herrichten des Frühstücks zu helfen, das für die Leidtragenden in der guten Stube aufgesetzt wurde, war fehlgeschlagen. Die Kousine hantirte in Speisekammer und
[136][137] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [138] Wäschspind so wichtig und hastig, so laut und lärmend, daß Lucie meinte, das Läuten des Schlüsselbundes müsse die Hausfrau in ihrem Todtenschlummer noch stören.
„Ich brauche keine Hilfe, Fräulein,“ war die Antwort gewesen, als sie sich fast demüthig zum Helfen anbot. Selbst die alte Rike wehrte ihr unter Schluchzen als sie sich erbot, in der Küche zu helfen.
„Lassen Sie doch, Fräulein Lucie, das ist nichts für Ihre Hände. Ach Gott, Sie hätten ja gar nichts zu thun brauchen im Hause, wären Sie nur hier gewesen bloß zum Trost für die Frau, sie konnte gar nicht zum Sterben kommen, Fräulein, von Allen hatte sie Abschied genommen und sprechen konnte sie schon nicht mehr, aber die Augen gingen immer noch nach der Thür. Sie hat gewartet, so lange, Fräulein, aber Sie kamen nicht.“
Das Mädchen stand mit gefalteten Händen am Herd, an dem sie einst so fröhlich geschafft. Weinen konnte sie nicht mehr. Stumm saß sie auch inmitten der Trauergesellschaft. Die Freundinnen der Verstorbenen, die Frau Pastorin aus dem nahen Dorfe und die Frau des Direktors der Zuckerfabrik, sprachen theilnehmend mit ihr, als der Leichenzug im Waldwege verschwand, sie hörte nicht und antwortete nicht. Und so starr und stumm war sie auch jetzt noch. Endlich schlich sie hinauf in ihre kleine Stube und legte sich aufs Bett, in welchem sie glückliche Jugendträume geträumt, und horchte in die Stille hinaus. – Ein seltsamer Zustand war es. Sie versuchte sich zurückzuversetzen in die Zeit, da noch hier ihre Heimath war, und wunderbar – es gelang ihr. Halb wachend, halb träumend hörte sie die Uhr schlagen und sah den Mond durch die Bäume lugen, er malte zitternde Flecke auf den weißgescheuerten Fußboden. Der kleine eiserne Ofen in der Ecke sah in dem ungewissen Lichte aus wie eine Frau mit langer Taille und spitzer Haube. Sie hatte ihn einst in einer fieberhaften Krankheit als solch Wesen angesehen, und die Erinnerung war ihr geblieben – sobald die Dämmerung kam, stand die Frau in der Ecke. Auch heute wieder. Auf der Birkenkommode die kleine Porcellanvase – warum war sie leer? Hatte sie heute keine Blumen gepflückt, als sie im Walde gewesen mit den Kindern? – Horch, war das nicht Mathildens Stimme? Nein, Mathilde war krank, wie immer, aber da sprach Jemand.
Das ist er ja, ihr Bräutigam! „Alfred!“ sagte sie und richtete sich empor mit jähem Erschrecken. Nein, sie mußte sich getäuscht haben! Wo war sie denn eigentlich?
Sie richtete sich vollends auf und hielt sich wie im Schwindel an der Bettpfoste. Nun scholl das hohe kreischende Frauenorgan herauf. „Das Begräbniß? Grundgütiger, das ist vorüber! Sie wollten ihr die letzte Ehre geben? Morgen? Lieber Himmel! Nun, ein Bett haben wir schon für Sie, Herr Doktor, treten Sie ein. Mein Vetter wird bald wiederkommen, er ist grad ins Holz gegangen.“
Das Mädchen setzte sich nieder, die schreckliche Gegenwart stürmte mit aller Macht auf sie ein, und nun er noch, er! Wie lange sie so verharrte, wußte sie nicht, im Hause war es wieder still.
„Geht einmal gleich zu Bette, allez marsch!“ scholl es plötzlich wie Trompetenton, dann ein bitterliches Kinderweinen. „Gott erbarme, vor was fürchtet Ihr Euch denn? So ein Unsinn!“ klang es wieder. Und nun trappelten kleine Füße die Treppe empor.
Des Mädchens Herz krampfte sich zusammen. Sie dachte, wie Mathilde jeden Abend an dem Bette der Lieblinge gesessen, bis sie eingeschlafen waren. Und sie stand plötzlich auf den Füßen und lief in das Kinderzimmer, welches dem ihren gegenüber lag. „Soll ich Euch zu Bette bringen?“ fragte sie. Da hingen die Kinder an ihr wie die Kletten, schluchzend und kosend.
„Seid still,“ flüsterte sie, „damit das Schwesterchen nicht aufwacht.“
„Wir gehen sonst immer allein zu Bette, aber wir fürchten uns heute so,“ weinte die kleine Christine. „Der Dammköhler hat gesagt, acht Nächte lang käme die Mutter und sähe zu, ob wir auch gut versorgt würden,“ flüsterte die Aelteste, und in dem mondhellen Gemach sah Lucie deutlich die von unsagbarem Grauen erfüllten Kinderaugen. Sie zog die Kleinen an sich. „Eure Mama ist beim lieben Gott im Himmel,“ sagte sie, „und bittet ihn, daß es ihren Kindern wohlergehe. Wiederkommen, Ihr armen Würmer, wird sie nicht.“
Die Kleinen begannen abermals bitterlich zu weinen. Lucie küßte und beruhigte sie und half ihnen die Nachtröckchen anziehen. Sie saß dann, wie früher Mathilde, zwischen den Bettchen nieder.
„Soll ich Euch etwas erzählen?“
„Ja!“ rief der Junge, der hinter einem Vorhange seine Schlafstelle hatte. „von Rom, Tante! Die Mutter sagte, Du hättest das Kapitol gesehen und wenn Du kämest, dann könntest Du es uns beschreiben.“
Sie faßte an die Stirn. „Rom! – Ja –“ murmelte sie.
„Onkel Alfred hat mir ein Buch von Rom geschenkt, Tante, ich möchte einmal hin, gelt – es ist schön?“
„Onkel Alfred hat uns heute eine Tüte mitgebracht, aber die Kousine hat sie eingeschlossen.“ flüsterte eins der kleinen Mädchen. „Morgen muß sie uns aber etwas davon geben, sonst sagen wir es dem Onkel, ehe er fortfährt.“
Er blieb also die Nacht hier! – Das Mädchen stand in furchtbarer Unruhe auf. Nur ihn nicht sehen müssen, nur das nicht! – Sie setzte sich wieder, weil die Kinder aufs Neue klagten, daß sie Furcht hätten. „Schlaft, schlaft.“ sagte sie gepreßt, „morgen will ich Euch viel erzählen.“
Gehorsam schwiegen sie; sie lagen mit großen offenen Augen und starrten in den weißen Mondenschein, der durch die unverhüllten Fenster drang. Nichts war zu hören, als ihr Athemholen. Da klangen Schritte auf dem Gange draußen, die das Mädchen emporfliegen ließen. Hastig sah sie sich um – wohin konnte sie entweichen? Vergebens, nur die eine Thür führte hinaus. Aber dort, hinter dem großen Kachelofen –. Sie flüchtete hinüber in den schwarzen Schatten und setzte sich auf die alte Truhe, in der die Wäsche der Kinder aufbewahrt wurde. Und nun öffnete sich die Thür, und er trat über die Schwelle. In dem hellen Mondlichte sah sie jeden Zug seines Gesichtes. Sie preßte die Hände auf das Herz, so ungestüm begann es zu klopfen. Nahe an ihr schritt er vorüber, durch die offene Röhre des Ofens gewahrte sie, wie sich seine große Gestalt über eines der Bettchen beugte. „Schläfst Du schon, mein Mäuschen?“ hörte sie ihn sagen. Unendlich weich klang seine Stimme.
„Nein, Onkel,“ kam es schlaftrunken zurück.
„Fürchtet Ihr Euch noch?“
„Nein!“ flüsterte die Kleine, und ein weißes Aermchen schlang sich um seinen Hals. „Tante Lucie hat uns zu Bette gebracht.“
Er fuhr empor. „Tante Lucie?“ fragte er.
„Eben war sie noch hier,“ wisperte Anne Marie, „da hat sie gesessen. und dann ist sie fortgelaufen, ich hab’s wohl gesehen.“
„Thut Dir Dein Hälschen noch weh? Hast Du gestern einen nassen Umschlag bekommen? Nicht? Aber heute mußt Du ihn haben – sage Tante Lucie, daß sie ihn Dir umlegt, Mäuschen, Tante bleibt nun bei Euch, nicht wahr?“
„Onkel!“ schrie der Junge, „die Kousine will sie gar nicht, sie sagte vorhin, solche Prinzessin könnte ihr nichts nützen.“
„Tante ist so fein, so fein,“ versicherte das kleine Mädchen, „und sie hat so geweint.“
„Möchtet Ihr gern, daß sie hier bleibt?“
„Famos wär’s!“ rief der Junge, „sie ist in Rom gewesen und kann etwas erzählen.“
„Bittet sie nur, sie bleibt gern.“
„Sag Du’s ihr doch, Onkel,“ rieth der Junge.
Er stand jetzt aufrecht. „Mein alter Schelm,“ sagte er bitter, „das würde wenig helfen! Schlaft wohl, Ihr Kinder.“
„Onkel, soll ich Tante Lucie von Dir grüßen?“ fragte Anne Marie. Er antwortete nicht, er stand mitten im Zimmer, mitten in dem bläulichen Glanz, ohne zu ahnen, daß nicht weit von ihm heiße stille Thränen über ein blasses Mädchengesicht herabflossen, daß sich Lucie krampfhaft an die Truhe klammerte, als müßte sie sich festhalten, um nicht hinüber zu kommen und mit gesenktem Kopf vor ihn zu treten und zu sagen: „Vergieb mir, was ich Dir gethan!“
„Was denn?“ fragte sie sich, aber sie fand keine Antwort. Und sie sah ihn an durch diese Thränen und fühlte sich so klein und so schlecht und so elend!
Langsam wandte er sich und schritt zur Stubenthür hinüber. „Gute Nacht!“ sagte er noch einmal, dann war er gegangen. Und Lucie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte.
[139] In der Stube aber blieb Alles still, und als sie endlich an die Betten trat, da schliefen die Kinder süß und friedlich. Vorsichtig hob sie die kleine Marie im Bettchen hoch und wand ihr den Umschlag um den Hals und knieete nieder und küßte das Kind heiß und innig. Dann ging sie in ihr Stübchen hinüber und saß da am Fenster lange Zeit.
„Zu Tische!“ schrillte draußen die Stimme der Kousine, und ein harter Finger klopfte an die Thür.
Sie antwortete nicht und rührte sich nicht. Die Pantoffeln klapperten wieder die Stiege hinunter, vom Flur scholl das Klirren von Tellern und Gläsern herauf und die Stimmen der Männer. Georg mochte zurückgekehrt sein aus dem Walde.
Sie lauschte dem spärlichen Hin- und Herreden. Dann fuhr ein Wagen vom Hofe und hielt mit Peitschenknallen vor der Hausthür; dort unten rückten Stühle und wurden Abschiedsworte gesprochen. Lucie verstand sie nicht. Sie hatte die Hände in einander gepreßt und den Kopf gesenkt. Er ging noch heute Abend!
Nun fiel die Hausthür zu, der Wagen rasselte über das Pflaster, dann verklang das Rollen auf dem weichen Waldwege; still ward es draußen und drinnen. Nur die alte Uhr schwang ihren Pendel weiter, es war, als klinge ihre Stimme höher, froh, daß sie nun allein das Wort führe; und die Glockenschläge, die sie nachhallen ließ, unbekümmert, ob sie gute oder böse Stunden verkünden, die zählte ein schlafloses langes Geschöpf, und erst der Morgen brachte einen kurzen Schlummer den müden Augen.
Als Lucie am andern Tage in das Wohnzimmer trat, kam sie mit einem Entschluß, den sie in der bangen Nacht sich abgerungen. Sie wollte ihren Schwager bitten. „Laß mich bei Dir bleiben, ich will Deine Kinder pflegen und erziehen.“ Sie war ruhiger geworden und trat an den Frühstückstisch, vor dem er saß, mit jener Sicherheit, die ein ehrlicher fester Wille auch in schweren Augenblicken verleiht. Die Hausthür war weit geöffnet, draußen spielte der Sommerwind in den hohen Bäumen, und die Sonnenstrahlen huschten neckend über die Blondköpfe der Kinder, die auf der Bank unter der Linde hockten.
Lucie bot ihrem Schwager die Hand, dann deutete sie hinaus und fragte. „Georg, kann ich Dir nützlich sein für diese? Sag’s, und ich will mir alle Mühe geben, Deine Wünsche zu erfüllen.“ Sie sprach es hastig, denn eben trat ihr das Bild wieder vor die Seele, das sich die ganze Nacht hindurch in ihre Träume gedrängt: Hortense, mit der verzweiflungsvollen Miene der letzten Tage in Dresden. Dort stand ja auch eine geöffnete Schachtel auf der Ecke des Tisches; ein wundervoller Kranz weißer Rosen lag darin und auf ihm eine zierliche Visitenkarte, unter siebenzackiger Krone den Namen „Hortense von Löwen, geborene von Löwen“.
Der große Mann mit dem bekümmerten Gesicht schüttelte den Kopf und goß sich ein Gläschen Nordhäuser voll. „Mathilde hat noch selbst, ein paar Tage vor ihrem Tode, eine Erzieherin engagirt; sie kommt zu Johanni.“
Lucie wurde um einen Schein bleicher. Sie setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und sah auf die kleinen Mädchen, die den gelben Teckel vor ein umgekehrtes Fußbänkchen gespannt hatten, in dem sie ihre Puppen spazieren fuhren.
„Für die Wirthschaft sorgt meine Kousine,“ fuhr er fort. „Aber mach’ Dir deßhalb keine Sorgen. Es ist in den schweren Tagen der Krankheit ohne Dich gegangen, es wird auch jetzt gehen, muß gehen,“ schloß er, aber er wich dem jammervollen Blick der beiden Augen aus.
„Mariechen ist kränklich?“ stotterte sie.
„Eine Kleinigkeit!“ wehrte er ab.
„Laß mich hier bleiben,“ flüsterte sie, „ich will das Kind pflegen, wie es nur seine Mutter gekonnt – um Mathildens willen laß mich hier!“
„Es ist ein trübseliger Aufenthalt in meinem Hause, ich danke Dir. Und warum solltest Du eine Stellung aufgeben in der Du Dich wohl befindest?“ Er erhob sich, trat zu dem Bord, an dem Hut und Gewehr hingen, und nahm das letztere über die Schulter. „Aber ich danke Dir vielmal,“ wiederholte er und pfiff seinem Hunde.
„Ich gebe doch keine Stellung auf!“ widersprach sie.
Er blieb stehen und sah sie an. „Die Frau von Löwen sollte mit ihrer Gesellschafterin kein Abkommen getroffen haben? Das wäre schlimm für Dich und nicht nobel von der Gnädigen. Zudem, es war die einzige Entschuldigung in meinen Augen für Dein Fernbleiben. Als Besuch, wie ich anfänglich wähnte, dünkt mich die Zeit etwas unbescheiden lang.“
Lucie stand auf. „Du verkennst die ganze Sachlage, Georg,“ sagte sie ruhig. „Hortense ist mir eine Freundin, und, und –“
„Meinetwegen nenne sie so,“ unterbrach er. „So lange sie Dich braucht, wirst Du wohl auch bleiben; aber eines schönen Tages wird sie heirathen und Du bist kaltgestellt. Ich habe übrigens Deiner Schwester versprochen, daß Du jeder Zeit eine Zuflucht hier findest. Guten Morgen!“ Er rückte den Hut und ging hinaus. Ueber Luciens blasses Gesicht flog ein trauriges Lächeln. Sie stieg die Treppe hinauf, holte sich den Hut, dann nahm sie den Kranz aus der Schachtel und verließ ebenfalls das Haus. Sie wollte nach dem Kirchhof gehen.
Die kleinen Mädchen kamen ihr nachgesprungen, sie wehrte ihnen das Mitgehen, sprechen konnte sie nicht, so weh war ihr zu Muthe. Sie fühlte jetzt eine brennend heiße Sehnsucht nach Hortense, nach dem Augenblick, wo sie ihren Kopf an die Schulter der jungen Frau legen konnte und sagen: „Nun habe ich weiter Niemand mehr in der Welt, als Dich! Meine einzige Zuflucht bist Du!“ Nie meinte sie Hortense so lieb gehabt zu haben, wie in diesem Moment, wo man so plump an ihrer Freundschaft zu zweifeln wagte.
Sie ging mit heißen Wangen und erhobenem Kopf durch den Wald. Sie mußte an der kleinen Haltestelle vorüber.
„Geht der Zug noch wie früher um fünf Uhr Nachmittags hier ab?“ fragte sie den Beamten in dem winzigen Stationsgebäude.
„Ja, Fräulein.“
„Ich danke!“ Und sie schritt weiter die Chaussee nach dem Dorfe entlang. Die Ebereschen zur Seite des Weges standen in Blüthe, in vollster Frühlingspracht rauschte der Wald, und aus dem jungen Korn stiegen jubilirend die Lerchen in den blauen Himmel empor. Die Pforte des Gottesackers stand weit geöffnet; die Fliederbüsche hingen ihre duftenden Zweige über die Gräber und eine Schar Kinder tummelte sich zwischen ihnen umher. Der Todtengräber, den Spaten in der Hand, kam ihr entgegen. „Dort hinten, Fräulein“ sagte er, „in dem neuen Theil.“
Es sah noch so wüst aus, das Grab, Erdschollen lagen um den frisch aufgeworfenen Hügel und die Kränze waren schon verwelkt – dicht daneben hatte man bereits ein frisches Grab geschaufelt. Es stand hier noch kein Baum, der kühlen Schatten spendete, die Sonne brannte erbarmungslos herunter. Das Mädchen legte Hortense’s Kranz zu Füßen des Grabes und verharrte regungslos daneben, den öden Hügel anschauend; sie meinte zu sterben vor Weh, und doch kam keine Thräne aus ihren Augen. War es denn so furchtbar, was sie gethan? Sie hatte versöhnen, wieder gut machen wollen, ihre ganze Kraft, ihr ganzes junges Leben hatte sie einsetzen wollen für Mathildens Kinder, und – sie ward zurückgewiesen.
Sie schritt wieder durch den Haupteingang des Kirchhofes, in der Hand ein paar halbverwelkte Cypressenzweiglein, die sie sich aus einem der Kränze genommen. Als sie aus dem Thore des Gottesackers hinaus war, begann sie schneller zu gehen. In der Dorfstraße begegnete ihr der alte Briefträger, sie kannte ihn noch gut, er hatte ihr einst schmunzelnd den ersten Brief von dem Bräutigam gebracht.
„Hier habe ich etwas für Sie,“ sagte er, „und dies für den Herrn Oberförster. Nehmen Sie es gleich mit? Danke auch schön.“
Lucie hielt die Schreiben in der Hand, das für sie bestimmte war von Hortense. „Gott sei Dank – von ihr!“ sagte sie. Als ob eine warme treue Hand die ihre ergriffen, so tröstlich ward ihr auf einmal zu Muthe. Ob sie ihr wohl zürnte?
Als sie in den Waldweg einbog, wollte sie den Brief öffnen; sie besann sich aber und schritt nur eiliger vorwärts dem Hause zu.
Die Kousine füllte eben, auf Mathildens Platz am oberen Ende der Tafel sitzend, die Suppe auf. Noch fehlte der Hausherr, aber die jungen Forsteleven standen bereits hinter ihren Stühlen, eben so waren die Kinder zur Stelle. Lucie legte die Briefe auf Georg’s Platz und flog die Treppe hinan. In ihrem Stübchen legte sie den Hut ab und wusch das erhitzte Gesicht und die Hände, dann zog sie das Schreiben hervor. Nur einen Blick, ehe sie hinunter ging. Hastig rissen ihre Finger das Kouvert auf und entfalteten den kleinen starken Bogen.
[140] Dann sank sie wie betäubt auf den Stuhl am Fenster. War es denn möglich? Sie wandte die Augen wieder auf das weiße Blatt – es ward nicht anders, da stand es, klar und deutlich:
„Mein Liebchen!
Sie legte den Kopf auf die Fensterbank und faßte mit den Händen in ihr Haar. Sie hatte keine klare Vorstellung mehr von dem Geschehenen, oder was jetzt geschehen sollte. Sie wußte nur Eins: sie hatte nun Alles verloren!
Gleich im ersten Plane zu seiner „Gartenlaube“ bestimmte Ernst Keil einen ständigen Raum für die Pflege der Naturkunde; namentlich sollten der Volksbildung, in deren Dienst er sein Blatt stellte, alle dem allgemeinen Verständniß zugänglichen Resultate der Naturforschung wie auch die Kenntniß vom „gesunden und kranken Menschen“ zu Gute kommen. Deßhalb zog er einen Kreis von Naturforschern und Aerzten zu seinem Blatte heran, zu denen schon in den fünfziger Jahrgängen desselben Männer zählten wie Roßmäßler, Bock, H. M. Willkomm, Burmeister, E. Hallier, die Hallenser Giebel, Ule und K. Müller, der treffliche Thüringer Berthold Sigismund, der Gartenbaumeister Herm. Jäger, der Wild-, Wald- und Waidmannsbilderer Guido Hammer, der Orthopäde Schildbach, der Botaniker Schleiden, Karl Vogt, Alfred Brehm u. A., und diesem Kreise schloß sich zu Anfang der sechziger Jahre das Brüderpaar Adolf und Karl Müller an.
Es war eine überraschende Erscheinung, als diese zwei Söhne der Wetterau, geleitet von Alfred Brehm, mit welchem sie innige Freundschaft verband, zum ersten Male als Mitarbeiter der „Gartenlaube“ vor Ernst Keil’s Redaktionspult traten, von ihm als liebe Gäste begrüßt. Ein frischer Waldhauch strömte von den drei Naturmännern aus, und daß derselbe auch in die „Gartenlaube“ einströme, dafür wußte der Leiter des angehenden Weltblattes allezeit Rath. – Was beide Brüder für die „Gartenlaube“ geleistet, liegt den Lesern seit fünfundzwanzig Jahren vor Augen, denn so lange ist es her seit jenem Märzmorgen des Jahres 1862, wo das Brüderpaar die Schwelle des Keil’schen Hauses in Leipzig überschritt. Solch ein Vierteljahrhundert der Thätigkeit zweier auf mehr als einem Gebiete rastlos und glücklich strebender Männer ist aber werth, daß man ihr eine Feierstunde widme und Dem, was sie geschaffen, einen dankbaren Blick zuwende.
Adolf und Karl Müller sind die Söhne eines Mannes, dessen Gedächtniß auf diesem Ehrenblatte seiner Kinder erneut zu werden verdient. Peter Müller gehörte zu jenen Theologen, welche, wie Abt, Methfessel, Julius Otto u. A., aus dem Dienst der Kirche in den der Musik übergetreten sind und als Liederkomponisten, Lehrer und Direktoren sich ausgezeichnet haben. Erst Pfarrer in Gladenbach, leitete er 22 Jahre lang den Musikunterricht am Lehrerseminar zu Friedberg in der Wetterau, und erst am Lebensabend kehrte er zum Pfarramt zurück, und zwar nach Staden, wo man ihn am 3. Oktober 1877, 86 Jahre alt, zur Ruhe legte. Nicht was er Musikalisches geschaffen, seine Männerchore, Orgelpräludien, Opern, seine Lieder für die Jugend, die als Volkslieder, deren Ursprung längst vergessen ist, im Odenwald und selbst in den Urwäldern Amerikas wiederhallen, können wir hier in nähere Betrachtung ziehen; wir müssen die Gedächtnißrettung des Vaters den Söhnen überlassen; aber ein Lob, das alle Schüler und Freunde gleich begeistert aussprechen, ist uns von besonderem Gewicht; sie alle verehrten in Peter Müller das Muster eines Mannes von harmonischer Ausbildung an Geist und Herz; „Nie trübte ein Wölkchen den schönen Himmel, der sich über ihm und allen ihm Nahestehenden wölbte. Das Haus des Mannes, der wie der ewige Friede verkörpert wandelte und dessen Wesen Harmonie ausstrahlte, zog die Menschen aus der Nähe und Ferne an“. Dieses Bild des Vaters erklärt uns am würdigsten das Bild seiner Söhne in der unwandelbaren Eintracht ihres gemeinsamen Wirkens auf naturwissenschaftlichem Felde, trotz der Verschiedenheit ihrer Lebensberufe. Auch die gemeinsame Liebe zur Natur erwuchs diesem Hause und dem Heimathboden, dem es zum Schmuck gereichte.
In Friedberg wurden beide Brüder geboren, Adolf am 16. Januar 1821, Karl am 16. Juli 1826. Ihr Vaterhaus stand in der Burg von Friedberg. All die unvergängliche Romantik, welche zwischen altersgrauen, epheuumrankten Mauern mit winkeligen Zwingern, ragenden Thürmen, versteckten Erkern und durch ihre Unheimlichkeit unwiderstehlich anziehenden Gewölben und unterirdischen Gängen selbst auf ältere Augen ihren Einfluß übt, treibt in frischen Knabenseelen die kühnsten Blüthen, namentlich wenn eine Spielgenossenschar von „Burgbuben“ auf solchem Boden und in dem baum- und buschreichen Schloßgarten der alten Wetterauer Gahn- und Erbgrafen sich ungebunden herumtummeln kann. In dieser Knabenzeit legten die Brüder den Grund zu ihren Forschungen über das Leben der Thiere der Heimath, dessen Darstellung das Hauptwerk ihrer Männerarbeit werden sollte. Kein Wunder, daß jetzt, wo Letzteres vollendet ist, im Dichtergemüth der Altersnahen die Erinnerung an jene Kindheit Ausdruck verlangt, und erfreulich ist es, daß namentlich Adolf dieser Neigung nachgiebt, indem er, neben allerlei Märchen und Kinderdichtungen seines Bruders, das wilde Treiben der „Burgbuben“ in der „Kinder-Gartenlaube“, einer Nürnberger Jugendzeitschrift, schildert.
Der Studiengang beider Brüder war der gewöhnliche. Beide waren Zöglinge der Schulen in Friedberg und des Gymnasiums in Darmstadt, und Beide verlebten eine frohe Studienzeit in Gießen, wo Adolf Forstwissenschaft und Karl Theologie studirte. Adolf wurde, nach vielfacher Verwendung in den hessen-darmstädtischen Forsten, 1858 Oberförster in Gladenbach, trat als solcher 1866 in preußische Dienste über und hat jetzt seinen Sitz in Krofdorf bei Gießen. - Karl begann seine geistliche Laufbahn als Rektor und Mitprediger im hessischen Städtchen Alsfeld, wo er später zweiter und vor zwölf Jahren erster Pfarrer mit den Funktionen eines Dekanats geworden ist.
Den Brüdern Müller gebührt unter den volkstümlichen Schriftstellern von wissenschaftlicher Bedeutung eine höchste Stelle in unserer Litteratur; ihren Werken ist es gelungen, vergessen zu lassen, daß keiner von beiden Brüdern ein zunftgelehrter Professor, sondern daß der eine ein Forstmann, der andere ein Geistlicher ist. Die Quelle, aus welcher sie ihre Wissenschaft in einer langen Reihe von Jahren schöpften, waren nicht Bücher, nicht die Schriften der Vorgänger auf derselben Bahn, sondern es war die Natur selbst; ihre Beobachtung und Erforschung des Lebens der höheren Thierwelt begannen sie schon in früher Jugend, schon die „Burgbuben“ fanden den Weg dazu. Die eigenen Forschungen verleihen den Müller’schen Werken ihren Hauptwerth, und die immer frische und klare Schilderung ihrer Beobachtungen gewährt ihnen den fesselndsten Reiz. Die ersten Mittheilungen über die Resultate ihrer stillen und beharrlichen Belauschung des endlos mannigfaltigen Treibens im Reiche der heimischen Fauna geschahen durch die periodische Presse, namentlich durch die „Gartenlaube“, und erst die gesammelten, geprüften und mit den Forschungen der Vorgänger verglichenen Schätze ihres Wissens ließen sie als Bücher in die Welt gehen. Von diesen haben wir hier fünf zu nennen.
Als erstes Werk erschien 1865 (Leipzig, C. F. Winter): „Charakterzeichnungen der vorzüglichsten deutschen Singvogel“. Roßmäßler, der als eben so gründlicher Gelehrter wie gediegener Volkslehrer der Naturkunde jede neue Erscheinung auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete mit patriotischem Geiste nach ihrem Werth für wahre Volksbildung prüfte, begrüßte in seiner Zeitschrift: „Aus der Heimath“ diese Schrift aufs Freudigste. „Ja,“ schrieb er, „das ist die echte rechte Naturpoesie, wie ihr Gottfried Benedikt Schmiedlein (ein s. Z. berühmter Leipziger Naturforscher) den Transcendentalphilosophen und trockenen Systematikern gegenüber das Wort sprach.“ So anmuthend empfahl das Buch sich in seiner Darstellungsweise, daß auch eine französische Uebersetzung desselben ihr Publikum fand.
Vier Jahre später erschien (bei O. Spamer in Leipzig) das zweite Werk der Brüder: „Wohnungen, Leben und Eigentümlichkeiten in der höheren Thierwelt“ und erlebte den Vorzug, von der im Lobe nicht freigebigen „Allg. Zeitung“ „eine That gründlichen deutschen Forschergeistes“ genannt zu werden. - Ein drittes Buch ist dem „Gefangenleben der heimischen Singvogel“ gewidmet und 1870 von C. F. Winter verlegt. Diesem folgte 1873 (im Verlag von Ernst Keil) die noch immer vielgesuchte Schrift: „Die heimischen Säugethiere und Vögel nach ihrem Nutzen und Schaden in der Land- und Forstwirthschaft“.
Diese Bücher und all die zerstreuten Aufsätze und Abhandlungen der Brüder Müller können nunmehr nur als Vorarbeiten zu ihrem Hauptwerke gelten, das im Verlag von Th. Fischer in Kassel und Berlin seit 1883 dem deutschen Publikum in zwei stattlichen Bänden übergeben ist und das den Titel führt: „Thiere der Heimath. Deutschlands Säugethiere und Vögel, geschildert von Adolf und Karl Müller. Mit Original-Illustrationen nach Zeichnungen auf Holz und Stein von C. F. Deiker und Adolf Müller.“ - Unser Urtheil über dieses Meisterwerk der Brüder, von dem soeben eine zweite Auflage mit farbigen Bildern vorbereitet wird, haben wir in der „Gartenlaube“ wiederholt ausführlich ausgesprochen.
Wie der Titel des Werkes uns verräth, haben wir in Adolf Müller auch ein künstlerisches Talent zu beachten, und wir werden dasselbe um so beachtenswerther finden, wenn wir erfahren, daß hier ein Schüler ohne Schule, durch Naturnothwendigkeit und unerschütterliche Energie aus einem Dilettanten zum Meister geworden ist. Viele Beobachtungen des Thierlebens, die nur ihm allein möglich waren, die oft in größter Eile geschehen mußten und zu denen er nicht erst einen Künstler beiziehen konnte, verlangten eine bildliche Aufnahme, und so gab die Noth dem Autodidakten den Stift in die Hand. Daß seine Zeichnungen in dem reich illustrirten Prachtwerke neben denen eines Karl Friedrich Deiker mit Ehren bestehen können, ist ihr bestes Zeugniß. Schließlich haben wir auch noch der dichterischen Schöpfungen beider Brüder zu gedenken. Dem, was oben bereits angedeutet ist, können wir hinzufügen, daß eine wiederum gemeinsame Sammlung ihrer lyrischen Gedichte demnächst zum Druck kommen wird. Aus einem andern Gebiete finden wir außerdem Adolf Müller. Bei einem Besuch im Ernst Keil’schen Hause 1869 hatte er im trauten Familien- und Freundeskreise eine dramatische Dichtung vorgetragen, einen zweiten Theil zu Goethe’s „Faust“, eine Tragödie in fünf Akten, die ihn achtzehn Jahre in seinen besten Stunden beschäftigt hatte. War ihm auch von diesem kühnen Wagstück vieles gelungen, so half doch erst unsere große Zeit dem Dichter dazu, den Helden zu einem höheren Ziele zu führen. Wie in diesem Drama die Sehnsucht der Deutschen nach religiöser Einigkeit behandelt ist, so wird in einem anderen dramatischen Werke: „Hermann, Schauspiel in fünf Akten mit einem Nachspiele“ die politische Einheit Deutschlands gefeiert.
Bei der körperlichen und geistigen Rüstigkeit, in welcher die Brüder Müller ihr „Gartenlauben-Jubiläum“ begehen, ist ihnen, so hoffen wir, noch Zeit genug gegeben, um gerechte Wünsche erfüllt zu sehen und auf allen Gebieten ihrer Thätigkeit Neues zu schaffen zu ihrer und des deutschen Volkes Freude und Ehre.
Die internationale Ausstellung für Volksernährung und Kochkunst zu Leipzig.
Schon einmal, vor drei Jahren, haben wir unsere Leser in die Räume des Krystallpalastes zu Leipzig geführt, um sie das eigenartige Bild einer Kochkunstausstellung schauen zu lassen. Zu demselben Gange laden wir sie auch heute ein; denn wiederum war an demselben Platze in den Tagen vom 27. bis 31. Januar eine Ausstellung errichtet, auf welcher Koch und Köchin die erste Rolle spielten. Aber das Bild, welches sich jüngst unseren Augen darbot, war von dem früheren verschieden. Die höhere Kochkunst war nicht mehr allein auf dem friedlichen Kampfplatze erschienen; neben ihr rang um die Siegespalme ihre jüngere, vielverheißende Schwester, die Kunst der Volksernährung.
Die höhere Kochkunst bietet uns bei den oft wiederkehrenden Ausstellungen stets dasselbe stereotype Bild: schöngeputzte Braten, Aufsätze, bei denen Hummer und Austern hohe dekorative Rollen spielen, Pasteten, mit ausgestopften Vögeln verziert, Denkmäler und reizende Figurengruppen aus Marzipan, Froschkeulen, seltene Fische in durchsichtigen Aspik eingebettet, zahllose Konserven und unzählige Getränke, das sind die appetitlichen Ausstellungsobjekte, die naturgemäß immer und immer wiederkehren. Wie sie in den Sälen des Krystallpalastes in buntem Wirrwarr dastanden, zeigten sie deutlich, daß die heutigen Meister ihren Vorgängern keineswegs nachstehen, daß sie wahre Zauberkünstler sind und ein und dasselbe Nahrungsmittel, das einfache Ei oder den gewöhnlichen Reis, zu Dutzenden von schmackhaften und pikanten Gerichten zu verarbeiten wissen. Wenn unser Zeichner von all den Herrlichkeiten nur zwei herausgegriffen und sie im Bilde unseren Lesern vorgeführt hat (vergl. S. 142), so hat er damit nur andeuten wollen, in welcher kunstvollendeten Form fast jeder Aussteller sein Gericht zu liefern verstand. Die Ausstellungen sind gewissermaßen Turniere für die Industriellen und Gewerbetreibenden; wir können offen zugeben, daß die Köche und Köchinnen Deutschlands und der angrenzenden Länder das letzte Turnier in Leipzig mit hohen Ehren bestanden haben.
Die Ausstellung führte den Titel einer internationalen, und in der That bot das bunte Treiben auf derselben stellenweise den Anblick eines farbenreichen Völkergemisches. Es fehlten nicht Chinesen, welche den Thee brachten; eine Schwarzwälderin kredenzte die nahrhafte Suppe der bekannten Fabrik Julius Maggi in Singen (Baden); in einem Bierausschank waltete eine Hebe in russischem Nationalkostüm; dort wurde das Bier ausgeschenkt, welches in Petersburg gebraut wurde und die weite Reise im Winter bis nach Leipzig nicht scheute. Diese „slawische“ Brauerei steht unter deutscher Leitung und versendet das Getränk des Königs Gambrinus quer durch Sibirien bis nach Wladiwostok an dem Gestade des stillen Oceans. Ja, die Ausstellung brachte selbst eine neue Tracht zum Vorschein. An einem Tische, auf welchem Tisch- und Hôtelwäsche der Leipziger Firma Friedrich und Lincke ausgebreitet lag, stand ein Fräulein in sonderbarer Tracht: der Stoff ihres Kleides und ihres Häubchens war [142] mit Zwiebelmuster gezeichnet – eine originelle Erscheinung, welche Scharen wohlgefällig lächelnder Besucher herbeizog. Auch die Besucher selbst trugen dazu bei, dieses bunte Bild noch bunter zu gestalten; mitten unter den Damen in pelzverbrämten Mänteln schritt auch die Altenburgerin in ihrer bekannten Tracht, blieb hier und dort stehen und prüfte mit sachverständigen Blicken namentlich die Erzeugnisse der Molkereiwirthschaft.
Am ersten Tage dominirte jedoch das zweierlei Tuch. Zwei Bataillone der in Leipzig garnisonirenden Regimenter waren auf der Ausstellung erschienen, allerdings nicht als müßige Zuschauer, sondern als fleißige Esser. Die Fortschritte unserer Zeit in der Volksernährung sollten ja zum ersten Male auf einer Ausstellung dem Publikum vorgeführt werden, da waren auch Massenspeisungen am Platze, und die Soldaten eröffneten in dieser Beziehung den Reigen. Wie das blitzte und strahlte in dem großen unteren Saal, wo an langen Tischreihen die Kompagnien in Reih und Glied – saßen! Die Menage wurde regelrecht gefaßt und die Speisung ging in musterhafter Ordnung von Statten. Die Zeiten sind schwer, Kriegswolken verhängen den Himmel, und so freute man sich, daß die Massenspeisung in den letzten Jahren so große Fortschritte gemacht hat, daß die Dampf-Feldküchen solche Vollendung erreicht haben! Sie werden gewiß auch im Ernstfall ihre Pflicht thun.
Nach den Soldaten kamen an anderen Tagen die Armen und die Schulkinder an die Reihe. Die Maschinen rasselten, die Kessel brodelten, die unteren Säle boten den Anblick einer Riesenküche, welche namentlich die Sachverständigen fesselte. Um wichtige Fragen des Volkswohls handelte es sich dabei, Fragen, die sich in dem engen Ranm eines allgemeinen Berichtes nicht erörtern lassen. Hier mußte man prüfen und studiren, und wir werden nicht verfehlen, das Ergebniß unserer Studien in einer Reihe selbständiger Artikel den Lesern der „Gartenlaube“ mitzutheilen. Auch die Hausfrau mit ihren Bedürfnissen wird dabei nicht leer ausgehen, denn wie kurz auch diese Ausstellung dauerte, ihre Wirkung ist keineswegs zu unterschätzen, und Vieles, was sie bot, verdient zum Gemeingut weitester Kreise zu werden.
Ein verhängnißvolles Blatt.
(Fortsetzung.)
Als der erste Schimmer emporstieg im Ost, war Anna schon unterwegs. Zuerst wollte sie doch noch im Kobel bei den Arbeitern vorfragen. Da war noch Alles still. Sie klopfte, Mathias öffnete. Er mußte schon auf gewesen sein, so schnell ging es.
„War der Rupert hier, gestern Abend, heut Nacht?“ fragte sie hoffnungslos.
„I hab’n net g’seh’n, bin erst spat hoamkumma von M.“ Seine Stimme war unsicher, und im Dämmerlicht sah sein sonst so frisches Gesicht todtenbleich aus.
„Hast d’ Schüss’ g’hört gestern Abend?“ fragte sie dringend weiter.
Mathias zögerte sichtlich einen Augenblick mit der Antwort.
„Wo?“ fragte er dann.
„Bei der grauen Wand umanand!“ erwiederte sie, gespannt seine Züge beobachtend.
„Na, die hab’ i net g’hört, werd’ wahrscheinli no drunten g’wes’n sei, wia’s g’fall’n san, und was is damit?“ fragte er das Mädchen.
„Dem Rupert hab’ns golt’n! Er wollt sich’r kumma, gestern Abend, und is net kumma – er liegt wo, Mathias, erschossen – i fühl’s!“
Sie brach fast zusammen bei diesem schrecklichen Gedanken.
„Aber, wo denkst denn hi, Anna? Er wird si halt versa’mt hab’n, sei do net so narrisch!“
Er wollte sie aufrichten, doch sie sprang selbst auf und eilte bergab über den Schlag.
„I muaß zum Förster, wenn er da a net is – dann – is er todt!“ rief sie ihm zu.
Sie flog nur so den Berg hinab, in einer halben Stunde war sie vor dem Dorf angelangt. Da begegnete ihr Reiser, der eben ins Revier gehen wollte. Sie erzählte ihm Alles, ihre Befürchtung, die zwei Schüsse, das Ausbleiben Rupert’s, sie hoffte, von ihm vielleicht beruhigende Nachricht zu bekommen, doch der machte eine bedenkliche Miene. Wo sollte er sein? Er wußte, wie verliebt Rupert war – der wär’ sicher nach der Alm gekommen. Sein beschwichtigendes Zureden klang unwahr, er begleitete das aufgeregte Mädchen ins Forsthaus.
„Da ist ein Unglück g’scheh’n!“ polterte der Förster heraus, nachdem er Alles gehört – „am End’ is er mit dem Tiroler zusammen troffen, der ihm neulich auskommen ist. Die Kerl’ sind rachsüchtig, das wär’ net das erste Mal! Wo nur der ,Gams‘ blieben sein mag, daß der net heimkommt? Reiser, augenblicklich hinaus zu die Holzknecht und nachsuchen in der Gegend, wo die Schüss’ g’fallen sein soll’n, vielleicht is er no am Leben!“
Anna hörte überall nur die Bestätigung ihrer Ahnung; sie fühlte einen heftigen Schwindel, die Stärke ihrer Natur schien sie ganz verlassen zu haben.
Den Förster jammerte der Anblick der Verzweifelnden.
„Ich geh’ selber mit!“ sagte er, hing seine Büchse um, ergriff den Bergstock und drängte die Andern zur Thür hinaus.
Anna war immer um hundert Schritte voraus, die Beiden gingen ihr viel zu langsam, Reiser und der Förster erschöpften sich in Vermuthungen, was Rupert zugestoßen sein könne, wenn ein Unglück geschehen, so war gewiß der Tiroler vom vorigen Sonntag der Thäter. Dieser Verdacht wurde immer bestimmter in ihnen.
Endlich hatten sie den Schlag erreicht. Der Förster gab sofort Befehl, die Arbeit einzustellen und eine Suche nach Rupert zu veranstalten. David schien am meisten entsetzt über diese Nachricht, und er warf einen forschenden Blick auf Mathias, der Allen aus dem Wege ging und sich in der Hütte zu schaffen machte.
David war gestern spät in den Kobel gekommen, er hatte sich etwas „versess’n“ unten im Wirthshaus. Kaum hatte er sich niedergelegt, kam Mathias, dessen verstörtes, aufgeregtes Wesen ihm auffiel.
„Wo kommst denn Du her, so spat?“ fragte David, „hast ’n Rupert do d’ran kriagt – hast was?“
[143] Sonst nahm das Mathias gewiß nicht übel; David war ja schon lange Mitwisser seiner geheimen Gänge, aber jetzt fuhr er wüthend auf – „wie er denn so was behaupten könnt’! er sei den ganzen Tag in M. g’wes’n, bei der Nacht hab’ er sich a Bisl verganga.“
„Nur net glei so hitzi!“ entgegnete David, „Du hast’s ja selbst neuli g’sagt am Sunntag, wollst den Rupert d’ran krieg’n, mir is auch ganz gleich – bin selb’n net sei Freund – woaßt ja!“
David dachte weiter nicht darüber nach und verschlief die ganze Geschichte. Als aber jetzt die Nachricht kam, „der Rupert gehe ab“, fiel ihm dieses Gespräch, das ganz auffallende Benehmen des Mathias ein.
„Er hat’s than!“ sprach’s in seinem Innern, „wann überhaupt was d’ran is an dera G’schicht!“
Alles brach nun auf, der von Anna angegebenen Richtung zu; sie allein hatte ja die Schüsse gehört; das war der einzige Anhaltspunkt.
In der Reviergegend angekommen, welche von einer mitten aus dem Tannenunterholz hervorragenden, steil abfallenden Kalksteinwand „die graue Wand“ benannt war, vertheilte der Förster die Leute, wie bei einer Treibjagd, in der Entfernung von dreihundert Schritt, um ein möglichst großes Terrain abzusuchen. Wenn Einer etwas Verdächtiges oder den Jäger selbst antreffen sollte, so hatte er sofort Lärm zu machen.
Mathias war der Nächste an David. Dieser konnte ihn genau beobachten; nach seiner bestimmten Ansicht wußte Mathias am besten, wo zu suchen sei, und so ließ er ihn keinen Augenblick aus den Augen; kam man in die Nähe des verhängnißvollen Platzes, so mußte er es irgendwie an ihm merken!
Bald war die ganze Gesellschaft in dem zerklüfteten Terrain verschwunden, man hörte nur noch das Klappern der eisenbeschlagenen Bergstöcke, das Abrutschen von Gestein unter den Tritten der Suchenden.
Anna ging zwischen dem Förster und Reiser; ihr Athem flog, ihr scharfer Blick drang überall umher, jetzt mußte sie ja an der Stelle sein, wo sie die Schüsse gehört zu haben glaubte. Jeden Augenblick fürchtete sie den Leichnam des Geliebten zu erblicken, dann hoffte sie wieder! Minute um Minute verrann, ohne daß ein Zuruf ertönte, ohne daß man etwas fand. Eine schwächere Natur als die ihrige wäre der wahnsinnigen Aufregung erlegen; aber dieser kraftstrotzende Körper gab nicht nach.
David war schon weit vorgedrungen, bald näherte er sich wieder einer unbewaldeten Fläche, nur ein kleiner Kessel, rings von niederen Wänden eingeschlossen, war noch zu durchschreiten; auf einmal bemerkte er, daß Mathias gerade diesen vermied: er zog sich immer mehr seitwärts hinauf, so daß er fast mit seinem obern Nebenmann zusammentraf, dabei stolperte er jeden Augenblick, und sein Gesicht war aschfahl.
Dem Kleinen mit den Luchsaugen entging das nicht, und wie ein Hund auf der Fährte des Wildes, schnupperte er jetzt überall umher, keinen Busch ließ er undurchsucht. Auf einmal vernahm er leises Winseln eines Hundes, eine junge Fichte, gerade unter ihm, bewegte sich heftig; er sprang darauf zu und hätte bald laut aufgeschrieen vor Erstaunen. – Der rothe „Gams“ war dort angebunden an einen Riemen, daneben lag ein Rucksack, der Hund zerrte wüthend an der Leine, als er Jemand nahen sah. David schnitt rasch die Leine durch und beschwichtigte den Hund, damit er keinen Lärm mache. Rupert war sicher in der Nähe und zwar todt, das war klar, schon wollte David die Andern rufen, da kam ihm der Gedanke, er könne eben so gut die Entdeckung allein machen.
Der Hund, sonst ein lauter Kläffer, war scheu und kroch nur langsam, mit eingezogenem Schweif hinter David her. Er schnupperte in der Luft herum, den Wind suchend und stürzte dann vorwärts, direkt in den kleinen Kessel; im Augenblick war er verschwunden. Dann kehrte er wieder zurück, machte einige Schritte vorwärts und sah sich wieder nach David um, als winke er ihm zu folgen. Dieser vertraute sich nun ganz der Leitung des Hundes. Plötzlich sprang Gams über einen großen Felsblock, der gerade im Wege lag, hinüber und stieß ein jämmerliches Geheul aus.
Jetzt war es Zeit, die Oberen hatten es auch gehört und riefen schon herab, mit einem Sprung war David hinter dem Felsblock, und vor ihm lag – Rupert mit zerschossener Brust. Das gestockte Blut besudelte das Hemd, ein Schwarm von Fliegen erhob sich brausend! Er mußte zuerst, an der großen Fichte angelehnt, gesessen sein, ehe er starb. Die ganze zusammengesunkene Stellung deutete darauf hin.
Als David näher trat, bemerkte er in der linken Hand des Todten ein offenes Büchelchen, das Weiß des Papieres blitzte aus dem grünen Moos heraus. Er faßte darnach – doch die Hand war fest darüber geschlossen, nur mit einer heftigen Anstrengung vermochte David es ihr zu entreißen. Die Andern schrieen von oben herab, ob er etwas gefunden habe, aber er hörte sie gar nicht, so gierig betrachtete er das Büchlein; starr hing sein Auge auf der letzten Seite. „Mathi..“ stand hier mit Bleistift geschrieben, mit ganz verzerrten Buchstaben und ein blutiger Fingerdruck war darauf sichtbar.
„Mathi..!“ Die andern zwei Buchstaben konnte er dazu errathen – er hatte also recht vermuthet. Böse Gedanken schienen ihm gekommen – verschmitzt lächelnd ließ er das Büchlein in seiner Tasche verschwinden.
Mathias hätte schon längst da sein müssen, er schien sich Zeit zu lassen. Anna aber, die bei dem Rufe unten in den Knieen wankte, entwand sich mit Gewalt den Männern, welche strebten, sie zurückzuhalten, da sie ja jetzt mit Gewißheit wußten, welch’ ein Anblick der Armen harrte. Sie überstürzte sich fast in wilder Hast, unaufhaltsam durch die Büsche hinunterbrechend. Da – mit einem wilden Aufschrei stand sie plötzlich an der Leiche! Sie stürzte nicht über ihn, sie fiel auch nicht in Ohnmacht, wie eine Bildsäule stand sie da, mit der Rechten sich am Gesträuch festhaltend. Die Augen stierten bewegungslos, nur die krampfhaft arbeitende Brust verrieth Leben.
Der Förster und Reiser, die nun auch herabgekommen und selbst von diesem Anblick entsetzt waren, führten sie gewaltsam abseits; sie ließ es ruhig geschehen, kein Wort kam über ihre Lippen, sie setzte sich auf den Boden, verhüllte ihr Gesicht in der Schürze und brach nun in lautes Gejammer aus.
Mathias war auch herangeschlichen, das erkünstelte Erstaunen bei dem Anblick des Todten kämpfte in seinen Zügen mit einem unverkennbaren Entsetzen, welches er vergebens zu bewältigen trachtete. Sein Anblick müßte jedem aufgefallen sein, der auf ihn Acht gegeben hätte; zum Glück waren der Förster und Reiser zu sehr mit dem Todten beschäftigt, nur David ließ ihn nicht aus den Augen.
„Wer muaß denn das ’than hab’n, Mathias?“ sagte er, „am End der Tiroler von neuli – no, es muaß ja aufkomma, glaubst D’ net, Mathias?“
„Wohl mögli!“ entgegnete dieser, sich den Schweiß mit dem Sacktuch abtrocknend, „obwohl ’s hart sein wird, den z’ find’n.“
„Moanst?“ erwiederte David, „oft is leichter, als ma ’s glaubt!“
Mathias sah ihn ängstlich an.
„Woaßt Du vielleicht was?“ fragte er fast geistesabwesend.
„Woher soll i was wiss’n? I war ja den ganz’n Tag in S., Du ehnder, Du warst ja do auf ’n Berg! Hast Niemand begegnet unterwegs?“
„Der Tiroler war’s,“ hub der Förster an „i möcht’ wetten, der ihm neuli auskommen is. Die Kerl vergess’n so was net, er soll ja dem Mathias so gleich seh’n! Kennst Du vielleicht einen in der Gegend, bei dem das der Fall is?“
David verneinte dies. Die Aeußerung machte ihn nachdenklich: am Ende hatte sich der Sterbende geirrt, vielleicht hatte ihn die Aehnlichkeit getäuscht, vielleicht war es doch nicht der Mathias? Hätte dieser nur nicht so scheu dagestanden, David würde jetzt daran gezweifelt haben. Das Buch mit der Schrift brannte förmlich in seiner Brusttasche, durch dieses Buch war Mathias mit Leib und Leben sein eigen! Dieses Gefühl, einen Menschen so ganz abhängig von sich zu wissen, war dem David ein Labsal, er triumphirte innerlich über die Macht, die er nun in der Hand hatte. Vor der Hand sollte Niemand davon wissen, auch der Mathias nicht.
Der Leichnam durfte nach dem Gesetz nicht berührt werden, bevor nicht die gerichtliche Kommission erschienen war, und der Förster mußte sofort einen der Leute nach dem Landgericht senden.
Mathias drängte sich zu diesem Dienst und war im Nu verschwunden.
Der Schuß mußte aus nächster Nähe abgefeuert worden sein; Papierpfropfen hingen in dem schwarzen Schnurrbart des Todten; [144] der eine Flintenlauf war entladen, der andere gespannt; er hatte also auch geschossen – wohl gefehlt!
Alle möglichen Kombinationen wurden gemacht, wie das Ganze so gekommen sein konnte. Am Boden war kein Zeichen eines stattgehabten Kampfes zu finden. Rupert mußte unversehens auf den Wilderer gestoßen sein, mit dem ersten Schuß ihn gefehlt haben und dann von seiner Kugel gefallen sein.
Nur einen Augenblick kam Reiser der Gedanke an Mathias.
„Wo war denn der Mathias gestern?“ fragte er David.
„In M. bei seiner Bas’l!“
„Schon wieder! Daß der alle Sonntag auf einmal da ’nüber geht! Und d’ Schüss’ hat er net g’hört?“
„Wie er sagt, na!“ erwiederte kurz David.
Reiser schüttelte den Kopf.
„Der wird sicher ein Alibi nachweis’n müass’n; sonst kann er in Unannehmlichkeit kommen, obwohl ich net glaub, daß er damit was z’thun hat!“
Anna machte den Versuch, sich der Unglücksstätte zu nähern; aber kaum hatte sie ein paar Schritte gemacht, so befiel sie ein solches Grauen, daß sie wieder inne hielt; zuletzt bezwang sie sich doch und trat zitternd vor die Leiche, mit thränenvollem Blick die starren Züge des Geliebten durchforschend. Dann kniete sie nieder und betete laut unter Schluchzen ein Vaterunser; die Männer fielen mit entblößten Häuptern ein. Tiefer Ernst lag auf den rauhen Zügen, aber auch eine feierliche Ruhe. Das Leben in den Bergen ist rauh und gefahrvoll; vielgestaltig lauert der Tod, kein Jahr vergeht so ohne einen derartigen Unglücksfall, sei es, daß bei der gefahrvollen Holzarbeit Einer verunglückt, daß eine Lawine im Bergsturz Unheil anrichtet oder die Wilderei ein Opfer fordert.
Der Förster ließ von David und Toni ein Feuer machen, das Ungeziefer zu verscheuchen. Dann setzte man sich etwas abseits; es war doch zu peinlich, immer dieses Todtenantlitz zu schauen.
Anna suchte sich zu fassen, der Thränenstrom hatte ihre Brust erleichtert, und ihre starke Natur gewann allmählich wieder die Oberhand. Jetzt fiel ihr die alte Mutter ein, die wohl noch nichts von dem Unglück ahnte. Sie hatte sich mit dem Gedanken an die Heirath versöhnt und Rupert bereits liebgewonnen, wenn sie es nur nicht durch Jemand anders zu plötzlich erfährt – die Frau war alt, der Schreck konnte sie umbringen! An den Mörder dachte Anna nicht, was hätte ihr das helfen können! In ihren Augen war dieses Unglück eben das traurige Resultat des nie endenden blutigen Kampfes, von dem sie von Kind auf gehört – sie fühlte so wenig das Bedürfniß persönlicher Rache, wie ein Mädchen, dessen Geliebter vor dem Feinde auf der Wahlstatt bleibt, sie fühlte nur brennenden Schmerz und das Bewußtsein so großen Elends, wie sie es noch nie im Leben empfunden.
Es dauerte lange, bis die gerichtliche Kommission erschien; der ganze Nachmittag verging darüber. Endlich kamen sie, von Mathias geführt, der Gerichtsarzt, ein Assessor und ein Schreiber und machten sich gleich an die Feststellung des Thatbestandes. Zuerst wurde die Wunde untersucht, die Lage des Erschossenen notirt. Zu seinem Erstaunen gewahrte der Arzt einen Bleistift in der rechten geballten Hand des Todten; er wollte sichtlich noch eine Abschreibung machen, vielleicht den Mörder kennzeichnen. Wo war aber die Schrift? Er hatte wohl nicht mehr Zeit ein Papier hervorzuziehen, der Tod trat dazwischen. Sie durchsuchten ihm die Rocktaschen. Der Förster behauptete, er müsse so sein Dienstbuch bei sich haben, wo alle Begebenheiten und Vorkommnisse notirt werden, man durchwühlte die Taschen und fand nichts – das war auffallend!
Mathias verfolgte jede Bewegung des Arztes. Als man den Bleistift entdeckte, zuckte er zusammen. Niemand achtete darauf – nur David wußte, warum er erschrak. Hätte er das Buch nicht an sich genommen, wäre Mathias jetzt ein Verlorener. „Wie kann man aber a so dumm sei und net no amal nachschaugn, wenn eim scho’ so was passirt, er hätte das schlauer gemacht,“ dachte er.
Dann wurde jeder Grashalm gewendet, der Boden durchsucht, ob kein Fußabdruck zu finden, die Papierpfropfen, die im Barte hängen geblieben, sorgfältig aufbewahrt, es war der Abriß einer Zeitung dieser Gegend – das Kleinste kann so dazu dienen, dem Thäter auf die Spur zu kommen! Zuletzt wurde rasch eine Tragbahre gemacht, die Leiche darauf gelegt, mit einem Wettermantel bedeckt, und der düstere Zug bewegte sich dem Thale zu.
Mathias und David waren die Träger, die übrigen, Anna in der Mitte, folgten ihnen.
Mathias, sonst ein so kräftiger, unermüdlicher Bursche, mußte jeden Augenblick ausruhen; der Athem ging ihm aus, sein Gesicht war eben so blaß, wie das des Todten. Auf halbem Wege konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten, sodaß Reiser selbst Mitleid mit ihm hatte und ihn ablöste. Allen fiel es auf, daß der derbe Bursch durch dieses Ereigniß so angegriffen war, ja Anna rechnete es ihm sehr hoch an.
„Des zeigt von Deim gut’n G’müath!“ sagte sie, „daß Dir das Elend so z’ Herz’n geht. Os wart’s so do gar keine guat’n Freund, der arme Rupert und Du!“
Mathias antwortete nichts darauf, er wankte nun unbeobachtet hinter dem Zuge her.
Der Rastatter Gesandtenmord.
In der Geschichte giebt es Räthsel, denen sich die Forschung, von einer gewissen Jagdfreude angefeuert, immer wieder zuwendet, obwohl wenigstens dem einen und andern nicht einmal sonderliche Wichtigkeit zukommt. Welche Bedeutung hat Kaspar Hauser zu beanspruchen, nachdem wenigstens das Eine festgestellt ist, daß die Sage von seiner fürstlichen Abkunft auf eitel Klatsch beruht, und doch erscheinen immer wieder „neue“ Enthüllungen über das mysteriöse Findelkind, von deren jeder behauptet wird, daß sie den langen Streit zu schlichten im Stande sei. Auch heute ist noch nicht festgestellt, wer der in der Bastille schmachtende Mann mit der eisernen Maske war. Noch immer suchen die Forscher das „entscheidende Dokument“, welches Schuld oder Unschuld Wallenstein’s endgültig feststellen soll.
Zu diesen Räthseln der Geschichte gehört auch der Rastatter Gesandtenmord. Wie viele Forscher haben sich mit Aufspürung und Kritik der Quellen über dieses sensationelle Ereigniß beschäftigt; dennoch ist ein abschließendes Urtheil über Ursachen und Urheber der blutigen Katastrophe auch heute noch nicht zu fällen.
Immerhin sind wir in jüngster Zeit der Wahrheit näher gerückt, als es vor Auffindung einiger maßgebender Aktenstücke möglich gewesen war, und deßhalb dürfte eine kurze Belehrung über die cause célèbre an der Wende des 18. Jahrhunderts und den heutigen Stand der Forschung vielleicht willkommen sein.
Werfen wir zunächst einen Blick aus den tatsächlichen Verlauf.
Der am 17. Oktober zu Campo Formio unterzeichnete Friedensvertrag setzte dem zweiten Krieg der gegen die französische Republik verbündeten Mächte ein Ende; doch sollten die deutschen Angelegenheiten erst aus einem nach Rastatt berufenen Kongreß geordnet werden.
Am 9. December 1797 begann in dem badischen Festungsstädtchen jenes unwürdige Schauspiel, das von der Auflösung des Reiches wie von der politischen Moral der Fürsten, die sich in die Fetzen des altehrwürdigen Purpurs zu theilen trachteten, das traurigste Bild gewährte. Noch nie waren Selbstsucht, Bestechlichkeit, Arglist der Reichsstände so schamlos, so häßlich zu Tage getreten. „Lauter betrogene Betrüger,“ sagt Häusser, „vom Kaiser bis zu den Duodezfürsten herab!“
Weit entfernt, eine Gemeinschaft der Interessen und Ziele zu erkennen oder gar anzuerkennen, ging Jeder nur darauf aus, dem Nachbarn in der Gunst der Franzosen den Rang abzulaufen und nicht selten durch Mittel von zweideutigstem Charakter den eigenen Antheil am drohenden Verlust so klein, am erhofften Gewinn so groß wie möglich zu gestalten. Es handelte sich hauptsächlich um Entschädigung derjenigen Fürsten, die ihren Besitz auf dem linken Rheinufer verlieren sollten; denn die Anerkennung der „natürlichen Grenze“ Frankreichs, die Abtretung des gesammten
[145][146] linken Rheinufers an die Republik war von vornherein zugestanden worden. Die Franzosen hatten auch das Zaubermittel gefunden, welches die Mehrzahl der deutschen Fürsten erwünschten, Gewinn hoffen ließ und dadurch zu allen Opfern und Plänen bereitwillig machte, das Wort: Säkularisation. Preußen war ohnehin seit dem Baseler Frieden im Schlepptau Frankreichs, das Kabinett Haugwitz gab sich zwar hier und da den Anschein, als wolle es sich aufraffen und die übrigen Reichsstände zu kräftiger Opposition um sich sammeln, sank aber bald in die gewohnte Unthätigkeit zurück. „Der König von Preußen,“ schrieb damals Sieyes aus Berlin an das Direktorium in Paris, „faßt die schlechteste aller Entschließungen, die, sich für keine zu entschließen.“
Treffend charakterisirt ein fliegendes Blatt, „Die Leidensgeschichte des Friedenskongresses“, den jämmerlichen Zustand des Reichs. „Da versammelten sich die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer, daß sie das römische Reich mit List griffen. Das römische Reich spricht: ‚meine Seele ist betrübt bis in den Tod.‘ Aus dem Kreise der geistlichen Kurfürsten hört man den Ruf: ‚Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, einer unter Euch ist’s, der es verrathen wird!‘ Bonaparte verfügt: ‚Wir haben nur Ein Gesetz, nach dem muß es sterben!‘ ‚Was wollt Ihr mir geben,‘ fragt Preußen, ‚daß ich es Euch verrathe?‘ Und vom Kaiser heißt es: ‚Er ließ es geißeln und übergab es, daß es gekreuziget würde.‘ Auch die Reichsarmee wird nicht vergessen: ‚Sie schlugen an ihre Brust und kehrten wieder um.‘“
Dank den Erfolgen der französischen Waffen und der Zwietracht der deutschen Stände waren die Vertreter Frankreichs in Rastatt die Herren der Situation. Das Direktorium hatte drei Gesandte abgeordnet, Treilhard, der aber bald durch einen der radikalsten Jakobiner, Jean Debry, ersetzt wurde, einen früheren Edelmann Bonnier und einen ehemaligen Pfarrer Roberjot. Der Letztgenannte wird als stiller, bescheidener Mann geschildert; um so hochfahrender und brutaler traten seine Amtsgenossen auf, und je dreister sie sich gebärdeten, desto unterwürfiger suchten die deutschen Diplomaten die Gunst der im Grunde des Herzens so verabscheuten „Königsmörder“. Die Taktik der Franzosen war sehr einfach. Anfangs gingen sie mit den Vertretern Oesterreichs Hand in Hand und gaben sich den Anschein, als wollten sie auf alle in den vorausgegangenen geheimen Unterhandlungen kundgegebenen Wünsche des Kaisers eingehen; zugleich trachteten sie aber darnach, die mittleren und kleineren Staaten zu gewinnen, und sobald sie eine größere Klientel erworben hatten, traten sie brüsk gegen Oesterreich auf und verriethen sogar von den früheren Abmachungen Manches, was Den und Jenen an der Uneigennützigkeit des Reichsoberhauptes gründlich irre machte. Noch einmal suchte der kaiserliche Minister Cobenzl Annäherung an die Republik; in Selz wurden von österreichischen und französischen Bevollmächtigten Zwischenverhandlungen eingeleitet, auf welche man in Rastatt mit wachsender Besorgniß blickte, allein die Weigerung Frankreichs, zur Einverleibung Bayerns in die habsburgisch-lothringische Monarchie seine Zustimmung zu geben, ließ auch die neue Freundschaft scheitern. Fortan fahndete das Wiener Kabinett nach anderen Bundesgenossen und gewann solche um so leichter, da der gefürchtete Bonaparte in Folge der verfehlten Expedition nach Aegypten als ein „todter Mann“ angesehen wurde. Eine neue europäische Koalition bildete sich, während in Rastatt noch immer das „lebhafte Verlangen nach Frieden“ in jedem Protokoll figurirte.
Die inneren Zustände der Republik hatten sich während Bonaparte’s Abwesenheit so verschlimmert, die Stellung des Direktoriums war so gefährdet, daß den Regierungskreisen ein neuer Krieg gar nicht unerwünscht war. Als Zar Paul, verletzt durch die Weigerung, Malta dem Johanniterorden zurückzugeben, zu den Feinden Frankreichs übertrat, brach der Kampf los, im italienischen Alpengebiet blieben die Franzosen Sieger; in Schwaben gewann Erzherzog Karl die Oberhand.
Noch wurde in Rastatt debattirt, als österreichische Patrouillen in der Umgegend anlangten. Am 23. April 1799 ließ der Kommandant der österreichischen Vorposten, Oberst Barbaczy, den Gesandten eine Erklärung zugehen, er könne für ihre Sicherheit nicht mehr bürgen und die Neutralität des Kongreßortes nicht länger anerkennen.
Nun machte sich Alles reisefertig. Die französische Gesandtschaft suchte um freies Geleit nach, erhielt aber eine abschlägige Antwort. Am 28. April wurde Rastatt von Szeckler Husaren besetzt. Die Franzosen erhielten Weisung, binnen vierundzwanzig Stunden abzureisen; als sie aber das Thor passiren wollten, wurde ihnen der Durchzug verweigert, und erst nachdem über neuen Verhandlungen die Nacht hereingebrochen war, durften die acht Kutschen der drei Gesandten und ihrer Dienerschaft durch das Rheinauer Thor die Fahrt antreten.
Um die neunte Nachtstunde waren gerade noch mehrere Diplomaten im Kasino anwesend, als plötzlich die Meldung kam: die französischen Gesandten sind überfallen und ermordet worden!
Was da in fliegender Hast berichtet wurde, klang unglaublich!
Kaum waren die Wagen ein paar hundert Schritte von der Stadt entfernt, hielten ungarische Husaren die erste Kutsche, in welcher Jean Debry fuhr, an. Der Gesandte wurde herausgerissen und durch mehrere Säbelhiebe zu Boden gestreckt; eben so wurden die beiden Kollegen, als sie auf die Frage: „Es-tu Bonnier? le ministre Roberjot?“ bejahend antworteten von den Säbeln der Reiter so übel zugerichtet, daß schon nach wenigen Augenblicken der Tod die Armen von ihren Qualen erlöste. Dagegen war Debry noch im Stande, sich aus dem Straßengraben, wohin ihn die Räuber geworfen hatten, ins nahe Gehölz zu schleppen und so, von der Dunkelheit, dem gräulichen Unwetter und der lärmenden Verwirrung begünstigt, der Verfolgung zu entrinnen. Nach vollbrachter That plünderten die Szeckler die Wagen und führten dieselben nach Rastatt zurück. Hier nahm der Rittmeister Burckard, der sich inzwischen der mit Klagen und Vorwürfen auf ihn einstürmenden Diplomaten kaum hatte erwehren können, die Gesandtschaftspapiere in Empfang und ließ dieselben an den Oberstkommandirenden, Erzherzog Karl, weiter befördern.
Am Morgen des nächsten Tages kam Debry, jämmerlich am ganzen Leibe zugerichtet, im Gewand eines Handwerkers, dem er sein Leid geklagt hatte, in das Haus des preußischen Botschafters Grafen Görtz und erzählte weinend und wehklagend eine kleine Odyssee, wie es ihm möglich geworden war, sich zu retten. Nun drangen die deutschen Gesandten aufs Neue in den österreichischen Befehlshaber, es möchten doch wenigstens jetzt die geretteten, zur französischen Gesandtschaft gehörigen Personen unter genügender Bedeckung auf französischen Boden in Sicherheit gebracht werden. Endlich ward der Bitte entsprochen, wie denn auch der Oberst des Szecklerregiments, Barbaczy, sein Bedauern über die „schreckliche That“ aussprechen ließ und kategorische Bestrafung der Verbrecher, „die unter seinem Kommando gehabt zu haben er zeitlebens mit innigster Wehmuth fühlen müsse“, in Aussicht stellte. Debry und die Angehörigen der ermordeten Gesandten wurden nun von Husaren nach Plittersdorf eskortirt, wo sie über den Rhein setzten. Das wonnige Gefühl der Rettung überwog, wie es scheint, vorerst alle anderen Gedanken. Debry versicherte seinen Begleitern, er werde diesen Dienst nie vergessen und, wenn je Einer in französische Gefangenschaft gerathen sollte, seinen Dank bethätigen. Sobald er sich aber in Straßburg auf sicherem Boden wußte, berichtete er an den Minister des Auswärtigen, Talleyrand, in anderem Tone über die Vorgänge der Schreckensnacht.
Nach seiner Rückkehr nach Paris entwarf er eine noch ausführlichere Schilderung, die im „Moniteux“ und anderen Blättern veröffentlicht wurde. In den beiden überaus phrasenreichen Erzählungen bezeichnete er nicht bloß österreichische Husaren als die Thäter, sondern gab auch mit aller Bestimmtheit seiner Ueberzeugung Ausdruck, daß die That auf Kommando von Officieren, also mittelbar auf Befehl der kaiserlichen Regierung vollzogen worden sei. „Für meine Lebenszeit werde ich dies Zeugniß der österreichischen Verruchtheit bewahren; ich werde es meinen Kindern als Vermächtniß hinterlassen; sie werden ihre Pflicht eingegraben finden in der einzigen Zeile: Segnet die Vorsehung und fluchet Oesterreich!“
Das „Verbrechen des Wiener Hofes“ rief denn auch unerhörte Aufregung in Paris und ganz Frankreich hervor. Zumal das Direktorium beutete die günstige Gelegenheit, dem Unwillen des Volkes eine andere Richtung zu geben, nach Kräften aus; im Rath der Alten, wie in der Versammlung der Fünfhundert erschall der Ruf: „Rache für eine Schandthat, vor welcher die Menschheit zurückschaudert! Rache am Haus Oesterreich!“
Allenthalben wurden Trauergottesdienste für die Gemordeten veranstaltet, allenhalben auch weltliche Todtenfeierlichkeiten, Aufzüge [147] mit Fahnen, Thränenkrügen und Cypressenzweigen. Bei der Todtenfeier auf dem Marsfeld wurden die geretteten Frauen und Kinder der Ermordeten dem Volke vorgestellt, die zerfetzten Kleider Debry’s gezeigt und aufreizende Reden gehalten, bis die ganze versammelte Menge in wüthendes Geschrei ausbracht: „Rache an Oesterreich!“
Auch den zurückgebliebenen Diplomaten war es nach der Abreise Debry’s in Rastatt nicht mehr geheuer, sie verließen noch am nämlichen Tage die Kongreßstadt und begaben sich zunächst nach Karlsruhe. Hier unterzeichneten sie einen „gemeinschaftlichen Bericht“ über die Katastrophe, den der preußische Gesandte Dohm aus den Erzählungen Debry’s und der übrigen vom Ueberfall Betroffenen, aus den Aeußerungen der österreichischen Officiere etc. zusammengestellt hatte. Der Bericht ist im Ganzen objektiv gehalten, läßt aber – ein paar verdächtige Redensarten des Rittmeisters Burkard sind in den Originalen unterstrichen – die Ansicht durchblicken, daß man nicht an eine zufällige That einer übermüthigen, räuberischen Soldateska glauben könne, sondern die kaiserlichen Officiere als Mitwissende, demnach als Mitschuldige anzusehen habe. Das officielle Schriftstück wurde bald darauf auch dem Publikum bekannt gemacht, und zwar mit einigen Zusätzen, unter welchen einer besonders gravirend auftrat. „Ein glaubhafter Mann“ habe dem Herausgeber – als solcher ist der dänische Legationsrath Eggers, der selbst in Rastatt anwesend war, konstatirt – mit allen Einzelheiten erzählt, er habe in der Wirtschaft „Zum Engel“ in Rastatt am Tage des Begräbnisses den Mörder des armen Roberjot gesehen und gesprochen. Der Husar habe „mit vielen Thränen und unter Händeringen“ versichert, es sei „auf Befehl eines Officiers“ geschehen, der ihm, als er zauderte, den Kopf zu spalten gedroht habe.
Auch die französische Regierung ließ die vor Gericht deponirten Aussagen der nach Frankreich zurückgekommenen Frauen und Diener verdeutlichen. Deßgleichen wurde als belastendes Zeugniß gegen die Kaiserlichen die Aussage eines Schiffers Jean Zabern aus Straßburg gedruckt. Dieser, bei einer Fahrt den Rhein herauf von österreichischen Husaren zur Landung gezwungen, glaubte während seines unfreiwilligen Aufenthalts bei der feindlichen Truppe deutlich von einem Befehl vernommen zu haben, die französischen Gesandten zu ermorden; einer von den Soldaten habe geäußert, er selbst sei bei dem Gespräch mit den französischen Ministern anwesend gewesen und habe gethan, was er thun mußte …
Wie benahm sich nun solchem Verdacht, solchen offenen Anschuldigungen gegenüber das kaiserliche Kommando? Auf den Bericht des Husarenobersten über das Attentat „einiger raubsüchtiger Gemeinen“ verfügte Erzherzog Karl strenge Untersuchung und gab davon dem französischen Obergeneral Massena amtliche Nachricht. Der Husarenoberst und der Kommandant der in Rastatt eingezogenen Husaren blieben zwei Jahre lang in Untersuchungshaft; dann wurden sie freigegeben, befördert, darauf wieder Knall und Fall in Ruhestand versetzt; ein gerichtliches Urtheil wurde aber nicht bekannt gemacht, als ob es sich nicht der Mühe lohnte, sich um die öffentliche Meinung zu kümmern. Nur gelegentlich drang eine Aeußerung des Erzherzogs ins Publikum, der Ueberfall sei vielleicht gar nicht von wirklichen Husaren, sondern von verkleideten französischen Emigranten ausgegangen.
Ein paar Jahre später schien man sich in Wien zu offenerem Handeln aufraffen zu wollen. Auf Vorschlag des Ministers Thugut erging an die Reichsversammlung zu Regensburg ein Dekret, sie möchte einige Deputirte zu Theilnahme an der Untersuchung „eines so unerhörten und verabscheuungswürdigen Vorfalls“ abordnen, damit selbst der mögliche Verdacht irgend einer Konnivenz entfernt werde. Der lahme Reichstag begnügte sich aber, die ganze Angelegenheit dem „reichsoberhauptlichen Justiz-Eifer“ zu überlassen, und dieser trieb nicht mehr dazu an, ein Ergebniß der Untersuchung zu veröffentlichen.
Unter solchen Umständen kann es nicht Wunder nehmen, daß der Verdacht, das Attentat sei nicht nur durch kaiserliche Soldaten, sondern auch in kaiserlichem Auftrag vollzogen worden, in weitesten Kreisen fest wurzelte. Dohm glaubte sogar den eigentlichen moralischen Urheber zu kennen, den Civilkommissär im Hauptquartier, Graf Lehrbach, jenen geriebenen Intriguanten, der viele Jahre hindurch am Münchener Hofe in österreichischem Interesse die zweideutigsten Künste entfaltet hatte. Wenn von ihm das Verbrechen ausging, war auch die Absicht leicht zu errathen. Schon der Umstand, daß die Gesandtschaftspapiere aus den Wagen entnommen, in das Hauptquartier geschickt und erst nach längerer Zeit an die französischen Behörden zurückgegeben wurden, schien zu beweisen, daß es auf Wegnahme der Papiere abgesehen war.
Mochte aber auch diese Annahme, wie sich insbesondere aus den Berichten der Diplomaten aus Rastatt und Karlsruhe an ihre Hofe ersehen läßt, weit verbreitet gewesen sein, so fehlte es doch nicht an anderen Vermuthungen. In besonnenen Politikern mußte so unwillkürlich die Frage auftauchen: aus welchem Grunde hätte die kaiserliche Regierung eine so schwere Blutschuld auf sich laden sollen? Wenn es ihr um die Dokumente zu thun war: die Franzosen würden so wohl, wenn ihnen mit Säbel und Pistolen auch nur gedroht worden wäre, die Papiere herausgegeben haben; warum die Wehrlosen niederhauen lassen? warum durch grauenhaften Mord in der ganzen gebildeten Welt Aufregung und Entrüstung wachrufen?
Reine auf den Lofoten. (Mit Illustration S. 135 und 136.) Der Reisende, welcher auf einem der schnellfahrenden „Touristenschiffe“ oder dem gewöhnlichen Postdampfschiffe, von Drontheim kommend, den Polarkreis bei den eigenthümlichen Inselgruppen der „Threnenstäbe“ passirt hat, nähert sich am späten Abend, wenn die Sonne kaum unter den Horizont getaucht ist, dem gewaltigen Vorgebirge Kunnen.
Um Mitternacht herrscht hier eine feierliche Stille. Die stundenlange Dämmerung, welche nichts ist als eine lichte Nacht, spielt mit tausend Lichtern auf der vielfarbigen Fluth. Ueber dieser weiten Fläche schwebt aber fern im Norden eine Reihe lichter Wölkchen, bläulich durchsichtig wie ein Nebelschleier: die Inselkette der Lofoten. In der That, sie liegen vor uns, klar, greifbar, trotz der Enfernung von beinahe 25 deutschen Meilen. So seltsam klar und durchsichtig ist die Luft in diesen nördlichen Breitengraden.
Am folgenden Vormittag nähern wir uns mehr und mehr diesem Archipel, der von der Hindö im Norden ab bis zu der Insel Röst im Süden einen flachen Bogen von Gebirgsinseln bildet, einer Kette von lauter ungeheuren Rückenwirbeln vergleichbar; wir sehen zunächst nichts als eine einzige, 3000 Fuß hohe Gebirgswand, rothglühend in der Morgensonne, weißgestreift und gesprenkelt von unzähligen Schneefeldern. Kommen wir näher, so löst sich diese „Lofotenwand“ in Tausende von gothischen Thürmen, Strebepfeilern, Fialen, Ecken, Wimpergen und Dächern auf. Wir blicken in blaue Fjorde, in thaltiefe Gründe. Oft ist oben aus dem Massiv des Granits gleichsam ein Stück herausgerissen; die kraterartigen Vertiefungen sind mit Schnee gefüllt, glatte Flächen lassen jeden Aufstieg unmöglich erscheinen.
Aber in den kleinen Buchten, an den „Vaagen“, wie sie hier und in Island heißen, wohnen die Menschen in ihren kleinen, aber sauberen, rothgetünchten freundlichen Häusern, wie wir sie auch auf unserm Bilde in der kleinen Ortschaft Reine sehen. Durch die hellen Fenster scheinen immer die schneeweißen Gardinten und auf dem Fensterbrett stehen blühende Blumen. Um die Kirche – sie sind hier selten – gruppiren sich die Wohnungen der „konditionirten Leute“: des Pfarrers, des Lensmanns (Amtsvorstehers), des Distriktsarztes. Daran schließt sich der „Gaard“ (Hof) des „Landhändlers“, des willkommenen Vermittlers alles dessen, was man unter Zivilisation versteht. Er ist ein Millionär; seine Tochter hat ihre Ausbildung auf dem Leipziger Konservatorium erhalten; im Frühling war er in Italien oder in Spanien.
Die Quelle dieses Reichthums aber ist der „Fisch“, der norwegische Dorsch (gadus morrhua), welcher die Liebenswürdigkeit hat, jedes Jahr im Februar und März aus den kalten Tiefen des Oceans zu den warmen Golfstrom-Küsten der Lofoten zu wandern, um hier zu laichen. Schon im Februar bringen die großen Dampfer Tausende von Fischern hierher, welche dem Fisch mit Garnen, Leinen und Handschnüren nachstellen. Oft verschlägt sie der Sturm, Hunderte missen das Leben. Aber der Verdienst ist zu groß, und was wagte der Mensch nicht für das Geld! So leben hier zwei Monate lang gegen 25 000 Fischer mit etwa 6000 Böten, und die Zahl der gefangenen Fische beträgt bis dreißig Millionen.
Eine Zigeunerkönigin. Wir kennen in Europa Zigeunermütter und Zigeunerhauptleute, und sei es auch nur aus der „Preciosa“: in Nordamerika giebt es aber eine Zigeunerkönigin, und nicht etwa bloß auf den weltbedeutenden Brettern. Auch hat dort vor Kurzem ein Thronwechsel stattgefunden. Unweit Jackson in Mississippi ist Mrs. Emma Stanley, die Königin aller amerikanischen Zigeuner, am 30. December 1886 gestorben, und da die Würde der Königin erblich ist, so folgt auf Königin Emma deren jüngere Schwester, Lucy Stanley, ein junges, hübsches und sehr gebildetes Mädchen, das bisher auf seiner Farm bei Evansville in Indiana lebte und auch fernerhin dort ihren Wohnsitz aufschlagen wird. Alle Zigeunerstämme, die das Land durchziehen, huldigten der neuen
[148] Königin. Ihre hohe Würde ist indeß keineswegs eine bloße Sinekure.
Sie ordnet die Wanderzüge der Zigeuner an, die sich nach bestimmten
Regeln bewegen, und zwar im Sommer in den nördlichen, im Winter
in den südlichen Staaten; sie schlichtet alle Streitigkeiten zwischen den
einzelnen Gruppen und übt eine große Macht aus über alle Angehörigen
ihres Stammes. Sie darf indeß nach der Neigung ihres Herzens
heirathen, auch wenn der Erwählte kein Zigeuner ist; dann verlieren
jedoch ihre weiblichen Nachkommen die Anwartschaft auf die Würde und
Macht der Königin. †
Der alte Wilderer. (Mit Illustration S. 145.) Keine Leidenschaft ist unbesiegbarer als die, welche den Wildschützen zwingt, zur Büchse zu greifen und seinem verbrecherischen Gewerbe sich hinzugeben. Der Wilderer, der aus dem Gefängniß entlassen wird, benutzt die ersten Stunden seiner Freiheit, um zu dem geliebten Raubgewerbe zurückzukehren, das ihn hinter Schloß und Riegel brachte. Nichts kann ihn von dem verbotenen Wege ablenken, nicht die Thränen der Gattin, das Hungern seiner Kinder: er ist nur in der Zeit kein Wilderer, wo ihn die Eisengitter des Kerkers vom Walde trennen.
Verhaßt ist ihm Jeder, der seinem nichtsnutzigen Thun entgegentritt, in erster Linie der pflichtgetreue Forstmann, der Heger und Pfleger des Wildes, und kreuzen sich ihre Wege, so ist vom Wilderer zum Verbrecher nur ein Schritt. Wie mancher brave Grünrock tränkte nicht im deutschen Walde, von der meuchlerischen Kugel des Wildschützen durchbohrt, das Moos mit seinem Blute!
Wie unschuldig läßt uns der Künstler auf seinem Bilde den alten weißhaarigen Raubschützen erscheinen, der mit seinem rostigen Feuerschloßgewehre von Anno 13 hinter der Bretterwand auf dem Anstande sitzt. Vor sich hat er eine Anhöhe, und wenn Meister Lampe aus dem Holze „rückt“, um auf Klee oder junger Saat zu „äsen“, zeichnet er sich dort oben scharf vor dem röthlichen Abendhimmel ab und bietet den vom Alter geschwächten Augen noch einen sichern Zielpunkt. Das sieht so harmlos aus; aber das bewegte, vielleicht verbrecherische Leben, das der Alte hinter sich hat, und sein böses Gewissen hat uns der Künstler nicht zum Ausdruck bringen können, wohl aber, daß das Wildern eine Leidenschaft ist, die selbst das Alter, sonst der beste Arzt für fast alle Leidenschaften, nicht zu kuriren versteht. Und ansteckend, das zeigt uns der Künstler, ist diese Leidenschaft auch. Die Enkel des Alten zittern vor Aufregung und Erwartung, vor Jagdfieber, daß der zweite Hase vor dem Abendhimmel erscheint. Die böse Saat ist gesäet und aufgegangen, und wenn sie die Knabenschuhe ausgezogen haben, werden sie in die Fußstapfen ihres Ahnen treten.
Lawinen und Bannwälder. Neuerdings wird in den Blättern von der Lawinengefahr im schweizer Kanton Tessin berichtet. Oberhalb Bedrettos haben sich schon im November Lawinen losgelöst und über 50 Baumriesen der uralten Schutzwaldungen niedergeschmettert; eine andere Lawine hat oberhalb Airolos einen jungen Wald gleich einem Kartenspiel zur Tiefe gefegt. Eine kleine Ortschaft Albinasca ist so bedroht, daß die Einwohner ihren Heimathsort verlassen werden, nachdem durch Stürme und Lawinen der uralte Tannenwald, der das Dörfchen schützte, fast ganz vernichtet worden ist.
Bei diesem Anlaß weisen wir auf die trefflichen Schilderungen hin, welche H. A. Berlepsch in seiner Schrift „Die Alpen in Natur- und Lebensbildern“ von den Lawinen und Bannwäldern giebt, wie derselbe überhaupt ein farbenreiches Gemälde der Alpenwelt vor uns entrollt. Von den Lawinen sagt er: „Gewöhnlich hört man den Sturz eher, als man ihn sieht. Durch den donnernden Schall plötzlich aufgeschreckt, richtet der Blick des mit der außerordentlichen Erscheinung nicht vertrauten Fremdlings sich gewöhnlich in die Höhe und sucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe: kein Wölkchen schwimmt im Luftocean. Schon rollt das Getöse nachhallend durch die Thäler und erneuert jetzt abermals, stärker anschwellend, die erschütternden Tonwellen, während das Auge drüben am Silbermantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, stäubendes Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederrollende Bewegung an den kaum zuvor noch in starrer Todesruhe daliegenden Firnwänden wahrnimmt. Scheinbar langsam, im stolzen getragenen Zeitmaß, schwebt die Schneekaskade wie bunte Atlasbänder über die Felsenwände herab, staucht tiefer an hervortretenden Fluhsätzen auf, zerstiebt in wellig-runde Schaumbogen und zerflatternde Wolkenwimpel, wie die Intervallen eines Stromkatarakts, oder verliert sich sekundenlang in verborgenen Schluchten und sinkt, das Schauspiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hinunter, bis sie auf flach auslaufenden Alpenmatten oder im tiefen Trümmerbecken zur Ruhe kommt.
Von den Bannwäldern wird berichtet, daß sie fast nur aus Nadelholz, in
den östlichen Alpen vorwiegend aus Arven und Lärchen, in den westlichen
mehr aus Rothtannen und Kiefern bestehen. Die Aufgabe derselben ist,
durch die Menge ihrer hochaufstehenden starken Baumstämme das Losbrechen
und Herabrutschen der während des Winters sich anhäufenden Schneemassen,
also die Bildung von Grundlawinen zu verhindern, nicht,
wie man gewöhnlich glaubt, Lawinen, die bereits in Gang gekommen sind,
wie ein Damm aufzuhalten. Die Alpenbäume wachsen langsam unter
den hindernden klimatischen Einflüssen; ihr Holz ist aber derber, zäher,
fester, als das des tiefliegenden, in fetter Dammerde wurzelnden Waldes;
der Wuchs dieser Bäume ist gedrungener, trotziger, widerstandsfähiger,
als derjenige der andern, die in der Dammerde des tieferliegenden Waldes
wurzeln. Jene geeigneten Waldungen der höchsten Waldregion werden in
„Bann“ gethan, für unantastbar erklärt – deßhalb ihr Name. †
Frage 3: Bei einem kurzsichtigen Knaben, der beim Lesen und Schreiben stets eine schiefe Haltung einnimmt, bewährt sich ein Geradehalter nicht. Der Knabe kann in gerader Haltung die Schrift auf dem Tisch nicht erkennen. Welchen Rath würden Sie mir geben?
Antwort: Bei derartiger hochgradiger Kurzsichtigkeit müssen Sie das Kind vom Augenarzt untersuchen lassen, der vielleicht eine passende Brille verordnen wird. Dann wird auch der Geradehalter seinen Zweck erfüllen. – Außerdem möchten wir Sie auf „Atzert’s Universal-Schreib-, Zeichen- und Lesepult“ aufmerksam machen. Das Pult ist für stark Kurzsichtige mit einer besonderen Stellvorrichtung nach augenärztlicher Angabe versehen und von Fachautoritäten vielfach als zweckmäßig empfohlen worden. Wir geben beistehend eine kleine Abbildung desselben und bemerken, daß es auch von Leuten mit gesunden Augen benutzt werden kann. Das Lesen und Durchsehen großer Bücher, wie z. B. der gebundenen Jahrgänge der „Gartenlaube“, wird durch dasselbe wesentlich erleichtert.
Frage 4: Wo und in welcher Wattenfabrik wird seidene Watte
aus Seiden-Charpie gearbeitet? C. S.
Frage 5: Wer kann einige Recepte für Osterspeisen angeben?
Frage 6: Wodurch unterscheidet sich kaukasisches Petroleum von dem amerikanischen?[WS 1]
Frage 7: Giebt es wasserfesten Kitt für Glassachen?[WS 2]
Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 133. – Die „Brüder Müller“. Von Friedrich Hofmann. S. 140. Mit Portraits S. 133. – Die internationale Ausstellung für Volksernährung und Kochkunst zu Leipzig. S. 141. Mit Illustrationen S. 141 und 142. – Ein verhängnißvolles Blatt. Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall (Fortsetzung). S. 142. – Der Rastatter Gesandtenmord. Von Professor Dr. Karl Theodor Heigel. S. 144. – Blätter und Blüthen: Reine auf den Lofoten. Von L. Passarge. S. 147. Mit Illustration S. 135 und 136. – Eine Zigeunerkönigin. S. 147. – Der alte Wilderer. S. 148. Mit Illustration S. 145. – Lawinen und Bannwälder. S. 148. – Sprechsaal. Mit Abbildung. S. 148.
theilen wir hierdurch mit, daß sie den letzten Jahrgang (1886) der „Gartenlaube“ komplet broschirt bis auf Weiteres noch zum Subskriptionspreise von 6 Mark 40 Pfennig durch alle Buchhandlungen beziehen können. Derselbe enthält unter Anderem die folgenden Novellen und Romane:
Was will das werden? Roman von Fr. Spielhagen. | Sankt Michael. Roman von E. Werner. |
Die Andere. Von W. Heimburg. | Die Lora-Nixe. Von St. Keyser. |
Die beiden Schaumlöffel. Von Klara Biller. | Ueber den Gartenzaun. Von A. Weber. |
Außerdem bietet der Jahrgang 1886 eine Reihe kleinerer Erzählungen, ein große Zahl unterhaltender und belehrender Artikel und einen reichen Schatz vorzüglicher Illustrationen unserer ersten Künstler.
Von einzelnen älteren Jahrgängen der „Gartenlaube“ sind noch Exemplare zu dem ermäßigten Preise von nur 3 Mark für den vollständigen Jahrgang broschirt durch alle Buchhandlungen zu beziehen. Es sind dies die Jahrgänge 1858, 1868, 1869, 1872, 1875, 1876, 1877, 1878, 1879. – Zum Preise von 6 Mark sind noch zu haben die Jahrgänge 1859, 1860, 1863, 1870, 1871; zum Preise von 6 Mark 40 Pfennig die Jahrgänge 1873, 1880, 1881, 1882, 1883, 1884, 1885.
Die übrigen Jahrgänge 1853, 1854, 1855, 1856, 1857, 1861, 1862, 1864, 1865, 1866, 1867, 1874, sind entweder ganz vergriffen oder nur noch antiquarisch zu erhöhtem Preise zu haben. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die unterzeichnete Verlagshandlung.
Leipzig, Februar 1887. Ernst Keil’s Nachfolger.