Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1887)/Heft 52

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[861]

No. 52.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Jascha.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Am Nachmittage des Tages, an welchem ich Jascha das Geld geliehen hatte, – wir saßen nach beendeter Litteraturstunde sämmtlich im Garten mit der Handarbeit – kam plötzlich das Dienstmädchen und meldete, Herr Levysohn sei da, um mit Frau Doktor zu sprechen. Herr Levysohn war der Juwelier des Ortes; er hatte am Marktplatz einen kleinen Laden, in dem ein Kästchen mit goldenen Ringen, die zwischen schwarzen Sammetleisten steckten, neben einigen Korallenschnüren, silbernen Serviettenbändern und Löffeln prangten. Wir pflegten dort unsere zerbrochenen Broschennadeln ergänzen zu lassen und auch hin und wieder ein Ringelchen mit einem Türkis zu erhandeln, um es irgend einer Freundin als „ewiges Andenken“ zum Geburtstag zu schenken.

Frau Doktor schüttelte verwundert den Kopf.

„Levysohn, zu mir?“ fragte sie, indem sie sich erhob. „Was mag er wollen?“

Wir saßen plaudernd und lachend beisammen, nachdem sie uns verlassen, ohne weiter an Herrn Levysohn zu denken; wir hatten soviel Stoff zur Unterhaltung. Die fürstlichen Herrschaften wurden zur Jagd erwartet, und, wie alljährlich, war Frau Doktor nebst ihren jungen Damen schon jetzt für Freitag über acht Tage zum Souper und Tanz befohlen. Ein Tanzfest bei Hofe, in dem hohen mit Hirschgeweihen dekorirten Saale des Schlosses! Ueber das spiegelnde Parkett zu fliegen mit einem eleganten Hofkavalier, vielleicht gar mit dem Prinzen Georg – es konnte wahrhaftig in der Welt nichts Schöneres geben, und unsere Frau Doktor wußte sich in solchen Zeiten vor unseren stürmischen Liebkosungen kaum zu retten; denn ihr, welche die Erzieherin der jungen Fürstin gewesen war, verdankten wir ja einzig und allein diese Gunst. Was Wunder, wenn die Toilettenfragen eifrigst erörtert werden mußten, die Vermuthung laut wurde, daß der bildschöne Adjutant des Prinzen Georg wieder mit von der Partie sein werde, der im vorigen Jahre Olga so sehr den Hof gemacht und auch, wie wir sämmtlich wußten, so tiefen Eindruck hinterlassen hatte, daß das Kotillonsträußchen, welches er ihr verehrte, in einer reizenden Schachtel aufbewahrt und heimlich oft von ihren frischen Lippen geküßt wurde.

„Wir wollen Alle ganz gleich gehen,“ schlug Eine vor, „weiß mit blau.“

„Ich danke!“ erklärte Olga, „ich nehme blaßgrün mit Wasserrosen.“

„Ich rosa!“

„Das kleidet mich nicht, ich nehme hochroth!“

„Ich ganz weiß!“

„Es präsentirt sich zu schlecht auf den weißen Wänden des Saales,“ meinte Dora, „ich denke, schwefelgelb mit –“

Weiter kam sie nicht, denn Frau Doktor trat eben an den Tisch. Sie hatte etwas Blitzendes in der Hand und fragte: „Gehört einer von Euch dieser Schmuck?“

Sie hielt ein goldenes Kreuz, mit Türkisen besetzt, empor. „Herr Levysohn behauptet, er habe es von einer der jungen Damen vor mehreren Wochen behufs einer Reparatur erhalten und es der Eigenthümerin schon

Ein Hasenduell.0 Nach dem Oelgemälde von C. F. Deiker.

[862] am andern Tage wieder zugestellt und gestern sei ihm dasselbe von einer unbekannten Person zum Verkauf angeboten worden. Ist es so?“

Meine Augen hingen wie gebannt an Jascha’s Gesicht; ich wußte ja, es war ihr Kreuz.

Sie rührte sich nicht.

„Jascha!“ murmelten einige von uns, „Jascha, es ist ja das Ihre!“

„Jascha!“

Sie hob die Wimper und sah zur Frau Doktor auf. „Es gehörte mir,“ sprach sie leise.

„Verloren Sie es?“ forschte Frau Doktor gütig.

„Nein!“

„Wie kam es in die Hände einer Fremden?“

„Ich hatte kein Geld und sie bat mich um Unterstützung,“ brachte Jascha mühsam hervor.

„Kein Geld! Und Sie sind eine von Denen, die über das reichhaltigste Taschengeld verfügen?“

Sie wurde purpurroth und schwieg.

„Sie hatten wohl Ihr Portemonnaie vergessen?“

Das Mädchen nickte.

„Nun, da nehmen Sie Ihr Kreuz und händigen Sie Levysohn eine kleine Summe ein für die Person, wenn sie wiederkommt. Er hat ihr nämlich gesagt, er müsse das Kreuz erst taxiren. Sei so freundlich, Liddy,“ wandte sie sich an die jüngste von uns, „und bitte Herrn Levysohn hierher.“

Das junge Mädchen flog davon und kam bald zurück, gefolgt von dem kleinen jüdischen Händler, der, den Hut in der Hand, die possirlichsten Verbeugungen nach allen Seiten machte.

Jascha hatte sich erhoben. Das Kreuzchen in der Hand, trat sie dem Mann entgegen.

„Welchen Werth hat dieser Schmuck, mein Herr?“ fragte sie leise.

„Nun, was wird er sein werth? Hätte ich ihn der Frau abgekauft, so würde ich gezahlt haben drei Thaler höchstens, allerhöchstens drei Thaler, gnädiges Fräulein.“

„Drei Thaler? So wenig?“ stammelte sie erschreckt.

„Nicht einen Groschen mehr; es ist hohl und die Türkisen haben keinen Preis; der Werth steckt in der Arbeit, und kann ich doch nicht bezahlen die Arbeit, ich bezahle nur das Gold.“

„Sie wollen den vollen Werth geben, Jascha?“ fragte Frau Doktor freundlich, als sie sah. wie das Mädchen aus ihrem Portemonnaie mehrere Silberstücke nahm. „Für eine fremde Bettlerin ist es ein wenig opulent, wie?“

„O, sie sah so bedrückt aus,“ murmelte Jascha.

„Nein, nein, sie sah nicht aus bedrückt, sie sah aus abenteuerlich,“ fiel eifrig Herr Levysohn ein. „Gott soll’s wissen. habe ich gesagt zu meinem Sahrchen, wenn die nicht ist weggelaufen von den Kunstreutern, so bin ich nicht der Levysohn aus dem Rathhausgewölbe. Lauter seidenes Gelump um den mageren Leib. falsche Haare und Schminke und ein Blick, als wäre sie meschugge. Geben Sie nur einen Thaler, gnädiges Fräulein, und sie wird sich freuen, wird sich sehr freuen. Ich weiß schon, weiß schon, gnädiges Fräuleinche,“ fuhr er beschwichtigend fort, als Jascha ihm einen Schritt näher trat mit einem förmlich drohenden Ausdruck in den Augen, „junge Lait in Ihrem Alter haben mildthätiges Wesen. aber keine Erfahrung; sie glauben Alles. Nun, mir soll’s recht sein, geben Sie her die Thaler!“

Und die Rechte ausstreckend empfing er das leise klirrende Geld aus Jascha’s Hand.

„Mag’s Ihnen Segen bringen,“ setzte er hinzu. „Empfehle mich, meine Damen, und wenn die hochgeehrten Fräuleins gelegentlich bei meinem Laden vorübergehen wollten, ich habe Neuheiten feinsten Genres. Armbänder, wie sie sich die Freundschaft schenkt, Herzchen von Gold für Photographien eingerichtet, echte Georgenthaler, wenn Eine hat ’nen Bruder oder Bräutigam, der viel reitet zu Pferde.“

Unter diesen Anpreisungen ging er rückwärts den Gartensteig entlang, vom Lachen und den Versprechungen der Mädchen begleitet.

Dann ward es still in unserem Kreise. Jascha war zu Frau Doktor getreten und hatte mit halblauter Stimme gefragt, ob sie sich zurückziehen dürfe, sie habe Kopfweh. Sie ging gleich darauf, die Hand an die Schläfe gepreßt, in das Haus.

Wir blickten ihr sämmtlich nach, auch Frau Doktor, und ein leises Schütteln ihres Kopfes entging uns nicht. Alle warteten wir gespannt, ob sie Etwas sagen würde über Jascha Ponianska; aber sie senkte ruhig ihre Augen auf den blüthenweißen Strickstrumpf in ihrer Hand und bat: „Olga, gieße Kaffee ein, und nun wollen wir über Eure Toiletten berathschlagen. Ich denke, Ihr nehmt Alle weiße Spitzen und wählt nur die Schärpen und Unterkleider nach Eurem Geschmack.“

Sie brachte uns damit schnell und ganz auf andere Gedanken. Und als sie nach einem Weilchen aufstand und strickend langsam in das Haus schritt, dachten wir wohl an bunte Bänder, hatten aber Jascha völlig vergessen.

Irgend eine von uns schlug vor, ins Städtchen zu gehen und bei der Putzmacherin die Bandvorräthe und Blumen zu inspiciren, um, falls diese nicht genügten, Bestellungen bei ihr zu machen. Ich wurde ersucht, hinauf zu gehen und um Erlaubniß zu fragen. In ihrem gemüthlichen Wohnzimmer war Frau Doktor nicht, auch nicht im sogenannten Salon. Mademoiselle, die Französin, an deren Thür ich klopfte, lag längelang auf ihrer Chaise longue mit einem Buche in der Hand; sie hatte Migräne und antwortete nur ein verdrießliches: „Non, non, voyez donc –“

Miß Marten, meine halbe Landsmännin, lächelte, wie aus einem Traum erwacht, mit allen ihren falschen Zähnen. Sie war beschäftigt mit der Uebersetzung eines deutschen Romans in die englische Sprache und schüttelte stumm ihre langen Locken bei meiner Frage. Nun, sie wird ausgegangen sein. dachte ich und schritt den Korridor hinab zu meinem und Jascha’s Zimmer, um meinen Sonnenschirm zu holen. Die Thür war nur angelehnt und heraus klang Frau Doktors tiefe sanfte Stimme:

„Ich mußte Ihnen das sagen, Jascha; Ihre Frau Großmutter hat mich aufmerksam gemacht auf diesen Ihren Fehler; Sie haben wiederholt Ihre Großmutter um größere Summen gebeten und heute schrieb sie mir, daß sie Ihnen von jetzt ab Nichts weiter geben würde, als Ihr bestimmtes Monatsgeld, weil Sie eine entschiedene Anlage zur Verschwendung besitzen. Ich bitte Sie, Jascha, sagen Sie mir, wozu gebrauchen Sie all dies Geld? Ich sehe doch nicht. daß Sie Toilettenausgaben machen, Sie kaufen sich auch nicht theure Bücher, für Parfüms, Handschuhe und Briefpapier können Sie hier doch am Ende auch nicht soviel ausgeben?“

Ich hatte schon zu lange gehorcht und flog eilends zurück. Drunten beschlossen wir, den kleinen Gang ohne die feierliche Erlaubniß zu thun, und drängten uns zu diesem Zweck zu Vieren, die auserwählte Deputation, durch die Buchenhecke, um den kürzeren Weg durch den Schloßgarten zu wählen, und uns lebhaft unterhaltend gingen wir die prächtige Kastanienallee entlang, durch deren Laubgewirr die Sonnenstrahlen gleich Funken blitzten. Wie immer, herrschte eine vollständige Einsamkeit und Stille hier; zum Spazierengehen fanden die Bürger des Städtchens nicht Zeit an Werktagen, es war gar nicht Mode. Frau Doktors Pensionsdamen und der alte taube Oberst von D., der alle Tage die nämliche Promenade machte, waren für gewöhnlich die einzigen Besucher des köstlichen Gartens, um so wunderbarer erschien es, als Olga plötzlich rief: „Himmel, da sitzt aber eine komische Dame!“

Wir blickten beim Näherkommen Alle hinüber zu der Bank, auf der eine weibliche Gestalt saß, und unsere Augen mochten wohl vor Erstaunen immer größer werden, denn sie sah allerdings putzwunderlich aus. Sie trug einen mächtigen Rembrandthut mit einer schwarzen Straußfeder, die einst bessere Tage gekannt haben mochte; jetzt hing sie ziemlich geknickt über den Rand des Hutes hinweg. Blonde Ponyhaare waren in die Stirn eines entsetzlich mageren Gesichtes gekämmt, das im bläulich weißen Puderglanz leuchtete; die Augenbrauen dunkel gezogen wie mit einem Pinsel, die Wangen, das Kinn, die Ohrläppchen jugendlich rosa angehaucht, und doch so alt, so entsetzlich verlebt und krank schaute dieses Antlitz durch das kokette weiße Halbschleierchen. Dazu ein fadenscheiniges schwarzseidenes Kleid von längst vergangener Mode, eine bunte römische Schärpe als Umhang über die Taille; Schuhe, die einstmals hochelegant gewesen sein mochten, jetzt aber kaum noch in ihren Nähten zusammenhielten, und gewebte Handschuhe. So saß sie da, mit einem zerschlissenen Sonnenschirm in den Kies zeichnend, auffallend und abstoßend zugleich.

[863] Als wir dicht an ihr vorübergingen, hob sie die Augen; ich meinte, ich müsse diesen düstern Blick kennen, und konnte mich doch nicht besinnen, wo ich ihn gesehen.

„Entsetzliche Person!“ flüsterte Dora.

„Sie wird zu einer Harfenbande gehören,“ meinte Liddy.

„Nein,“ erklärte Olga, „sie ist nur heruntergekommen; sie hat trotz allem Schäbigen ein vornehmes Exterieur.“

Wir lachten alle Vier herzlich und laut. „Ei, am Ende ist es Die, welche Jascha angebettelt hat,“ fiel mir ein.

„Sie sieht nicht aus, als ob sie bettle,“ beharrte Olga.

„Vielleicht kam Jascha mit ihr in ein Gespräch und hat ihr aus freien Stücken das Kreuz geschenkt?“

„Wohl möglich, gutmüthig ist sie ja.“

Wir waren währenddem durch das Gartenthor auf den Schloßplatz getreten und verfolgten die Straße, die zum Markt führt, wo neben der Apotheke das Schaufenster der Putzmacherin mit der stolzen Firma prangte: „Ida Irmisch. Hoflieferantin Ihrer fürstlichen Durchlaucht.“

Als wir noch im Laden standen und wählten und bestellten, ging die Fremde vorüber.

„Fräulein Irmisch, wissen Sie nicht, wer Die ist?“ fragten wir einstimmig.

„Die rennt seit acht Tagen hier oft vorüber,“ meinte verächtlich die asthmatische dicke Ladendame; „sie wohnt im ‚Wachholderbaum‘, ganz oben in einer Dachkammer und verlangt für ihre zehn Silbergroschen Pension täglich weiß Gott was Alles vom Wirth.“

Der „Wachholderbaum“ war ein Gasthaus untersten Ranges am Ende des Städtchens; Sonntags tanzten dort die Dienstmädchen, und eigentlich verkehrten nur Fuhrleute in demselben und arme Reisende.

Wir machten zustimmende Gesichter, wo sollte sie sonst auch wohnen? Sie sah ganz darnach aus.

„Was mag sie hier nur wollen?“

„Ja, wer kann das wissen?“ meinte Fräulein Ida. „Also die Damen wünschen von dem Vergißmeinnichtblau und dazu die Kränzchen? Es sind französische Blumen; im vorigen Jahre hatte die Hofdame Gräfin Erbsleben dies nämliche Kränzchen, es ist reizend.“ Und sie balancirte das kleine zierliche Gewinde auf ihrer dicken Hand, ehe sie es in den Karton legte.

Wir kamen mit Packeten beladen zurück und fanden allgemeine Anerkennung.

Daß Jascha Abends bei Tische fehlte, bemerkte vielleicht nur ich: so hoch gingen die Wellen freudiger Erwartung für unser kleines Hoffest. Als ich dann in unser Zimmer kam, fand ich Jascha anscheinend schlafend. Sie hatte ein Glas Himbeerwasser neben sich auf dem Tischchen, wie es Frau Doktor den Kranken unter uns zu spenden pflegte, aber es stand noch völlig unberührt da. Sie lag wie gewöhnlich, die Hände über der Brust gefaltet und unbeweglich. Als ich eben begann, mein Haar aufzustecken, klang ihre Stimme zu mir herüber:

„Miß Mary, ich habe eine Bitte, eine große Bitte; geben Sie mir Auskunft, wie theuer würde eine Toilette für das Fest auf dem Jagdschlosse sein?“

Ich zuckte die Schultern und sah sie verwundert an. Sie hatte sich im Bette hoch gesetzt und ihre Augen sahen so gespannt auf meine Lippen, als ob von meiner Antwort ihr ganzes Wohl und Wehe abhinge. „Je nun,“ sagte ich endlich, „es kommt darauf an – es richtet sich nach der Eleganz dieser Toilette.“

„Und man kann sich sehrr elegant anziehen, Miß Mary?“

„Man kann es wohl –“

„O, und ich liebe so sehrr elegante Kleider,“ sagte sie.

„Sie?“ rief ich unwillkürlich. Es mochte wohl ein sehr ungläubiger Ausdruck auf meinem Gesichte liegen, kannte ich sie doch immer nur in ihrem blauen Kleidchen, das an den Aermeln bereits ziemlich dünn und schäbig aussah, nur ein einziges Mal war sie in schwarzer Seide gewesen – eines Sonntags, als im Saale der „Rothen Forelle“ das Koncert einer Damenkapelle stattfand, wozu wir alle Dreizehn unter Frau Doktors, Mademoiselles und Miß Marten’s Begleitung erschienen waren.

„O sicher!“ sprach sie leise. „Großmutter liebt es auch sehrr, sie ist sehrr reich, Miß Mary; sie wird mir erlauben, Seide zu tragen, weiße Seide.“ Und plötzlich sprang sie vom Lager auf, und hastig einen Schlafrock überwerfend, eilte sie an den Schreibtisch.

„Sie sind noch angezogen,“ sagte sie nach ein paar Minuten und hielt mir einen Zettel hin, den sie geschrieben, „haben Sie die große Freundlichkeit, geben Sie ihn der Johanne, sie soll ihn morgen so früh wie möglich, so bald geöffnet ist, auf das Telegraphenamt tragen.“

Sie sah mich so bittend an mit den großen Augen, daß ich, wenngleich zögernd, das Papier nahm.

„Bitte, lesen Sie, ob ich deutlich schrieb!“ scholl es hinter mir her.

Ich hielt einen von meinen ihr geborgten blanken Thalern in der Hand und las, während ich den Korridor entlang schritt bis zu Johanne’s Stube, beim Schein der Flurlampe:

  „Frau Landrath von Ponianska,
  O…,
  Provinz Posen.

Liebe, liebe Großmama, schicke mir umgehend vierhundert Mark für Toilette zum Hoffest.   Deine dankbare Enkelin Jascha.“  

Vierhnndert Mark! Das war unerhört! freilich – weiße Seide. Aber wozu denn das? Die Fürstin selbst trug irgend eine einfache Toilette, und Prinzeß Sibylla von X. war in einem krêmefarbenen Kaschmirkleide erschienen im vorigen Jahre. Mir wurde diese Jascha immer unangenehmer und unverständlicher. Nun, was ging es mich an, wenn die Großmutter so thöricht war!

Als ich zurückkehrte, lag sie wieder im Bette. „O, ich danke Ihnen!“ flüsterte sie.

„Wo wollen Sie denn das Kleid eigentlich machen lassen?“ bemerkte ich ärgerlich; „hier im Orte ist weder Stoff noch Schneider zu haben.“

„O, ich denke doch,“ erwiederte sie. nicht im Mindesten beunruhigt. Dann schloß sie die Augen und schien zu schlafen, noch ehe ich im Bette war. – –

Im Gartensaale saßen während der nächsten Tage zwei Schneiderinnen, und ganze Berge von Mull, Spitzen und bunten Bändern lagen auf Stühlen. Sofas und Tischen umher. Die Näherinnen, zwei ältliche gutmüthige Schwestern, wußten sich kaum aus dem Gewirr von Wünschen zurecht zu finden; die neusten Nummern eines Modenblattes waren in unser Aller Händen. Irgend Eine probirte immer an; es duftete nach Bügeleisen und Nähmaschinenöl. Zwei besonders Geschickte falteten Plissés, und dabei horchten wir den Wundergeschichten von den Vorbereitungen im Schlosse, welche die Schneiderinnen zum Besten gaben. Ein Bruder derselben, welcher Hoftapezier zu sein den Vorzug hatte, war mit seinen Gehilfen beschäftigt, die Festräume zu schmücken. Alle Vorhänge wurden frisch aufgeheftet; Guirlanden von Eichenlaub und Tannengrün sollten die Wände zieren; die Sessel der hohen Herrschaften bekamen neue Sammtüberzüge; die alten stammten noch vom hochseligen Fürsten her und waren etwas verbraucht. Die Frau Fürstin war so sparsam, und hier im Schlosse ja überhaupt Alles sehr einfach. Aber in der Residenz!

Wir hörten Alle beseligt zu; nur Jascha verzog keine Miene und that keine Frage. Sie saß still und niedergeschlagen in irgend einem Winkel; die Antwort der Großmutter war ausgeblieben.

„Entscheiden Sie sich nur, Fräulein,“ meinte die ältere Schneiderin, „sonst kann ich Ihnen kein Kleid mehr fertig stellen.“

„O, danke!“ mnrmelte sie.

„Jascha,“ redete Frau Doktor zu; „nehmen Sie doch ein einfaches Mullkleid, dazu langt Ihr Taschengeld.“

„O, ich liebe Mull nicht.“

„Sie werden auf diese Weise zu Hause bleiben müssen, liebes Kind.“

Sie antwortete nicht und sah noch betrübter aus.

So waren fünf Tage verstrichen; die letzten Kleider sollten heute fertig werden; die beiden vielgeplagten Schneiderinnen hatten heiße Köpfe, und Olga behauptete nach der sechsten Anprobe, ihre Taille sitze noch immer nicht, und zu einem andern Kleide war der passende Stoff nicht mehr zu bekommen. Die niedliche Besitzerin schwamm in Thränen bei der Aussicht, zweierlei Zeug tragen zu müssen, obgleich man den Unterschied kaum sah. Dora aber rief alle Heiligen zu Zeugen, daß sie die hiesigen Handschuhe

[864]

Lauterbach. Gudehus. Clementine Schuch. Hagen. Therese Malten. Scheidemantel. Grützmacher.
Pappoldi. Louise Reuther. Graf Platen. Schuch. Laura Friedmann. Fürstenau.
Riese. Bulls. Decarli. Erl. Irene v. Chavanne.


Die Dresdener Oper.
Portraits ihrer hervorragenden Mitglieder. Nach Photographien auf Holz gezeichnet von C. Kolb.

[865] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [866] nicht anziehen könne, weil sie ihr vier Nummern zu groß seien; kurz, es war eine unerquickliche Stimmung.

Jascha wurde eben von der Frau Doktor aufgefordert, „Ja!“ oder „Nein!“ zu sagen, ob sie mit wolle oder nicht. Aber ehe das Mädchen noch antworten konnte, erschien Johanne mit einer riesigen flachen Holzkiste.

„Da, für Fräulein von Ponianska.“

„Ein Kleid!“ riefen wir Alle und drängten uns um den Kasten, dessen Deckel Johanne soeben vermittelst eines Stemmeisens lüftete. Weißes Seidenpapier quoll empor; eine der Schneiderinnen kniete nieder, um es zurückzuschlagen.

„Leute! Kinder! O wie fein!“ rief sie und hob ein schimmerndes, von Spitzen überrieseltes Etwas empor.

„Herr Gott!“ schrie die Andere; „wie ein Brautkleid! Fräulein, was haben Sie für eine gute Großmutter!“

Wir Andern schwiegen still – wo blieb unser einfacher luftiger Mädchenputz gegen dieses Feengewand, in dessen duftigen Spitzen sich die schweren Kelche der Wasserrosen verbargen!

Frau Doktor sah etwas unzufrieden aus. „Jascha,“ fragte sie, „haben Sie eine so kostbare Toilette gewünscht?“

Wir blickten sämmtlich dorthin, wo das Mädchen gestanden hatte, und machten eben so erstaunte Gesichter, wie Frau Doktor es that, denn der Platz war leer – Jascha hatte das Zimmer verlassen.

„Wunderbar!“ murmelte Frau Doktor und hieß Johanne das Kleid mit allem Zubehör in die Nebenstube tragen, wo unsere Festgewänder in einer langen Reihe aufgehangen waren.

Dora murmelte Etwas, das wie „verrückt!“ klang, und Olga zuckte die Achselm „Protzenhaft! Was sollen die Durchlauchten denken, wenn sie daher kommt wie die Königin von Saba!“

Die Schneiderinnen wollten sich nachher noch das Arrangement der Schleppe ansehen, es sei ja zu schön und sie hätten just ein Brautkleid zu arbeiten. Das würde Aufsehen machen.

Im Uebrigen ging es stiller bei uns zu als vorher. Um Jascha bekümmerte sich niemand von uns; sie war schon längst in den Bann gethan; diese Toilettenrenommage aber verdarb ihr vollends die Position. Beim Abendessen erschien sie blaß mit bläulichen Ringeln um die Augen.

„Um Gotteswillen!“ rief Mademoiselle; „Jascha. Sie sind ja ganz naß und Ihre Hände, als ob man unversehens einen Frosch berührt!“

„Es regnet draußen,“ erwiederte das Mädchen. „verzeihen Sie.“ Und sie rückte ein Stückchen mit ihrem Stuhle weiter.

In der That sprühte ein feiner Regen an die Scheiben, und die Aeste der hohen Bäume wogten im Winde auf und ab. Wie schade für das morgende Fest – was sollte aus der Illumination werden!

„Wo waren Sie, Jascha?“ erkundigte sich Frau Doktor mild.

„Im Schloßgarten; ich hatte Kopfschmerzen und glaubte –“

„Sie würden besser werden?“ ergänzte unsere gütige Pensionsmama. „Ist es so“

Jascha ward roth. „O, ich danke sehrr – ja.“

„Essen Sie Nicht?“

„Danke sehrr, nein!“ – Sie ließ in der That die Schüsseln vorüber gehen.

„Sie sind wirklich leidend. Jascha; es ist mitunter eine Qual, wenn man beim Essen zusehen muß. Ziehen Sie sich doch zurück.“

Jascha dankte, stand auf und schob ihren Stuhl unter den Tisch. Als sie an der Thür war, rief Frau Doktor ihr nach. „Jascha, in meiner Stube auf dem Nähtischchen finden Sie englisches Riechsalz.“

Sie neigte dankend den Kopf und verschwand.

Wir durften zweimal in der Woche Abends in Frau Doktors Zimmer kommen; es gab dann eine kleine Erfrischung an Obst oder Kuchen. und wir konnten uns in den vielen Fauteuils. die in dem roth dekorirten, unendlich behaglichen Raume umher standen, vertheilen; wir durften auch auf dem weißen Bärenfelle vor dem Kamin hocken oder im Schaukelstuhl und auf den Puffs und plaudern.

Plaudern mit Anmuth sei eine Kunst, meinte Frau Doktor, und sie war Meisterin darin. Diese Stunden in der Dämmerung eines regnerischen Sommertages oder im Winter am lodernden Kaminfeuer waren von unsagbarem Reiz; sie sind noch jetzt eine meiner schönsten Jugenderinnerungen.

Auch heute war solcher Abend. Wir kamen in fröhlichster Stimmung herein; in den Winkeln der Stube lag schon die Dämmerung; nur die Hermesbüste hob sich leuchtend ab von dem Dunkel der Tapete. Jede von uns eilte zu ihrem besonderen Lieblingsplätzchen, ich hinüber zu dem meinigen, dem teppichbelegten Fenstertritt zu Füßen der Frau Doktor. O, er mar schon besetzt.

„Jascha?“ fragte ich.

Sie saß so merkwürdig da wie eine Statue, und so steinern sah auch das blasse Gesicht aus dem Zwielicht zu mir herüber.

„Rücken Sie ein wenig, Jascha.“ sagte Frau Doktor; „dort ist Platz für Zwei.“

Wir hockten neben einander, eng genug, daß ich Jascha’s Körper berührte und das Zucken und Schauern fühlte, das ihn durchzog.

„Sie sind sicher krank, Jascha.“ flüsterte ich in einer Anwandlung vom alten Mitleid.

„Nein, nein!“ gab sie zurück. Es klang, als müsse sie es mühsam hervorbringen.

Es ward ungewöhnlich rasch dunkel heute. Mademoiselle plaidirte für Licht, sie begriff nicht diese deutsche Liebhaberei, im Dunkeln zu schwatzen. „Es werden doch immer nur lauter sentimentale Geschichten,“ meinte sie in ihrem wunderlichen Deutsch. Wir protestirten aber sämmtlich.

Auf der Straße rollten rasch mehrere Wagen hinter einander vorüber; der Schein ihrer Laternen huschte an der Decke des Salons hin. „Das waren die Herrschaften,“ sagte Frau Doktor, indem sie aufstand, zu ihrem Schreibtisch hinüber schritt, den Deckel schloß und das Schlüsselbund in die Tasche schob. Sie mußte bei dem Lichtschein bemerkt haben, daß er offem gestanden hatte. Und ruhig auf ihren Platz zurückkehrend, wiederholte sie: „Das waren die Herrschaften, so schnell fahren hier nur die Hofequipagen. Ich muß immer noch daran denken; als ich zum ersten Male hierher kam, geschah es auch in einem fürstlichen Wagen. Es war, wie mein Prinzeßchen sich ihren Schwiegereltern als Braut präsentirte.

Wir hatten die Geschichte, glaube ich, schon öfter gehört. aber einstimmig riefen wir: „Bitte, bitte, erzählen Sie uns davon!“

Und Frau Doktor erzählte. „Es war an einem Donnerstag gewesen, im August, und ganz Wilhelmsburg hatte sich mit Fahnen und Kränzen geschmückt. Sträuße wurden dem jungen Paare in den Wagen geworfen, und die Leute schrieen „Hurrah!“ auf der Straße, aus Fenstern und Thüren. Zuletzt mußte das Prinzeßchen ein Glas Champagner trinken; der Herr Hofkonditor in schneeweißer Jacke, Mütze und Schürze brachte es an den Wagen und sagte, ob Durchlaucht ,allunterthänigst‘ geruhen wollten, die bescheidene Erfrischung anzunehmen, was die reizende junge Fürstenbraut auch unter herzlichster Belustigung that. Sie war in Blau und Weiß, den Landesfarben, gekleidet und hielt ein weißes Spitzensonnenschirmchen mit blauem Futter in der Hand.

Am Rathhaus war just ein kleiner Auflauf; es sollte dort in aller Eile ein junges Menschenkind hinter Schloß und Riegel gebracht werden, das mit den Gesetzen in Konflikt gerathen war. Aber der kräftige Bursche wehrte sich den Polizeidienern gegenüber mit verzweifelter Heftigkeit, und Eins – Zwei – Drei hatte er die Braven zur Seite geschleudert, war aus dem Menschenknäuel gesprungen und stürzte an den Schlag des eben daher rollenden fürstlichen Wagens. Allgemeines Entsetzen! Alles lief herzu, um den Menschen wegzureißen, aber er hielt fest. Der Bursch sah zum Erbarmen aus; seine hübschen intelligenten Züge waren von Verzweiflung beherrscht, die Kleider zerrissen, die Hände blutig geschunden.

Der Wagen hielt, die Prinzeß wehrte den Polizisten. ,Was ist’s mit ihm?‘ fragte der Erbprinz. – ‚Gestohlen, Durchlaucht,‘ sagte der alte Stadtsergeant. ‚Laß los, Geselle!‘

‚Nein! Nein!‘ schrie der Mensch, ‚Barmherzigkeit! Sperrt mich nicht ein, meine arme Mutter hat den Tod davon!‘ – Mein Prinzeßchen, auf deren Seite er sich wohlweislich geflüchtet [867] hatte, kam ihrem Bräutigam, der unwillig den Beamten winkte, zuvor. ‚Was thaten Sie?‘ fragte sie mild.

‚Ich nahm ein paar Semmeln; meine Mutter ist krank, ich hatte keinen Pfennig, sie zu bezahlen – ich wollte es später thun – man borgt uns nicht mehr und sie hungert!‘

‚Wo wohnt Ihre Mutter?‘

‚Am Kirchhofe!‘ stammelte er, jetzt zur Besinnung kommend.

Mein Prinzeßchen sprach mit ihrem Prinzen, der mit dem Bürgermeister. ‚Die Noth ist groß, Durchlaucht. Es ist wohl richtig; sie werden unterstützt; der Junge hat das Gymnasium frei, ist einer der besten Schüler, sucht auch noch zu verdienen nebenbei – aber –‘

Die Prinzeß saß ganz blaß unter dem blauen Schirmchen; dann flüsterte sie ein paar Worte, und im nächsten Augenblicke rollte der Wagen über den Marktplatz dem Kirchhofe zu – Ihr kennt ja doch Alle den Herrn Doktor Reynand?“

„Ja! Ja!“

„Das war der Semmeldieb – die Fürstin ließ ihn erziehen.“

„Aber gestohlen hat er doch!“ meinte Olga trocken, „das vermag ihm Niemand abzunehmen. Ich fasse es nicht, wie kann man weiterleben so – –“

„Ja,“ sagte Frau Doktor weich, „gestohlen hatte er, aber Gott wird milder gedacht haben als Du.“

„Ich wäre lieber verhungert,“ beharrte das junge Mädchen. „Stehlen ist so gemein.“

„Ja, Du selbst, aber die kranke Mutter?“

In diesem Augenblicke klang ein leises Aechzen durch den Raum, und schwer lag Jascha’s Kopf an meiner Schulter.

„Um Himmelswillen, Jascha!“ schrie ich und faßte sie um. „Frau Doktor, Jascha ist ohnmächtig!“

(Schluß folgt.)




Die Dresdener Oper.
Von Franz Koppel-Ellfeld.

In seinem Buche „Das norddeutsche Theater“ äußert Laube, wo jetzt ein neues Theater gebaut werde, da lasse man sich verführen, den „Tempel“ mit allem möglichen Aufwand aufzurichten und Unsummen in ein Haus zu stecken, in welchem schließlich nur die Oper am Platze sei, deren bekannte Kostspieligkeit ohnehin über kurz oder lang die Theaterleitung zum Bankerott führen müsse. Es sei überhaupt eine Verirrung, monumentale Theatergebäude zu errichten, da doch allen an die Stirn geschrieben stehe, daß sie heute oder morgen abbrennen müssen. Ja, daß dabei nicht einmal die steinernen Umfassungsmauern stehen zu bleiben brauchen, das haben die zerbröckelten Trümmer des alten schönen Dresdener Hauses zum Schrecken Aller dargethan. Nach Laube’s Ansicht hätte man also nach dem Brand, der im September 1869 das Dresdener Hoftheater, „eine der vollendetsten Schöpfungen der neuern Kunstgeschichte“, vernichtete, am besten daran gethan, von einem ähnlichen Theaterneubau gänzlich abzusehen. Die öffentliche Meinung aber und maßgebende Kreise entschieden bekanntlich dahin, daß Gottfried Semper berufen werde, sich durch einen zweiten möglichst ähnlichen Theaterbau auf demselben Platze in Dresden zu verewigen. Der Meister jedoch wollte nicht zum Plagiator an sich selbst werden und, theils den gesteigerten Luxus moderner Ausstattung berücksichtigend, theils unausgeführte Entwürfe für ein Opernhaus in Rio de Janeiro und ein Wagner-Theater zu München als praktische Vorstudien benutzend, stellte Semper einen neuen Kunsttempel hin, mit dem sich wenig Theater vergleichen können, sowohl was Pracht und Herrlichkeit, Phantasie und edle Formengebung des Aeußern, als auch was die Poesie und dekorative Feierlichkeit der Innenräume anlangt.

Als dieses Haus am 2. Februar 1878 eröffnet wurde, sah Jedermann, obgleich oder gerade weil ein Schauspiel (Goethe’s „Iphigenie“) gegeben wurde, daß es ein Opernhaus sei. Soweit hat Laube auch in diesem Fall Recht behalten. Unter den Fachnotabilitäten, die am Eröffnungsabend die Würde und Schönheit der beiden Treppenhäuser und des dazwischenliegenden Foyers bewunderten, ragte die hohe Gestalt des Herrn von Hülsen hervor, der bei aller ihm eigenen vornehmen Zurückhaltung nicht umhin konnte, vernehmlich zu äußern: „Dies Haus wäre sogar für Berlin zu prächtig. Das wird Ihr König auf die Dauer gar nicht aushalten.“

Der verstorbene Berliner Generalintendant war ein kluger Hof- und Geschäftsmann, aber er hat sich gründlich geirrt: er hat den zu jedem Opfer allezeit bereiten Kunstsinn König Albert’s gröblich unterschätzt. Auf denselben gestützt, blüht das Dresdener Hoftheater nun schon seit einem Jahrzehnt in seinem Prachtbau. Das heißt, ein kunstgedeihliches Leben führt eigentlich nur die Oper; das Schauspiel gastirt so zu sagen nur im „großen Haus“ – und befindet sich wohler im Neustädter Hoftheater. Die Dresdener Oper aber, die sich zu verschiedenen Zeiten eines Weltrufes erfreute, verdient ihn heute so gut wie irgend jemals. In der Geschichte der Oper (die nach Riehl’s geistreichem Ausdrucke eine „Kriegsgeschichte“ ist) spielt Dresden überhaupt eine erste Rolle. Von Haus aus ist die Oper allerdings italienisch; sie ist ein Kind, man kann sagen ein Findelkind der Renaissance. In jenen schönheitstrunkenen Tagen legten sich nämlich die platonischen Fanatiker zu Florenz, welche dem ganzen klassischen Alterthum eine Auferstehung wünschten, die Frage vor: wie wurde denn in der antiken Tragödie eigentlich vorgetragen? Es wurde nicht gesungen, es wurde nicht gesprochen: es wurde eben recitirt. Diese Recitation suchten sie nun in Florenz mit allen Hilfsmitteln des Rhythmus und der Harmonie nachzuahmen und gelangten auf diese Weise zum dramatischen Recitativ; noch einen Schritt weiter – und nicht das antike Drama, sondern die moderne Oper war entdeckt. Es war sogar eigentlich schon die Richtung eingeschlagen, die zu Gluck’s und Wagner’s Musikdramen führen mußte.

Zunächst aber war nur ein ästhetischer Wechselbalg, die Oper, in die Welt gesetzt, und bald sollten alle Höfe des Abendlands an den gesungenen Schau- und Prunkstücken die finanzwidrigste Freude haben.

Die erste Oper war die „Dafne“ des Jac. Peri, welche 1596 im Palazzo Corsi zu Florenz aufgeführt wurde. Der erste Schritt, den sie in die Welt that, war von Florenz nach Elbflorenz. Daß sie zufällig zuerst bei einem Hoffest in Torgau (1627) zur Aufführung kam, ist nebensächlich; der kurfürstlich sächsische Kapellmeister Heinrich Schütz hatte die italienische Pflanze nach Sachsen importirt. Die Kurfürsten hatten immer auf eine gute Kapelle gehalten. Schon hundert Jahre früher hatte Kurfürst Moritz den Sing- und Musikmeister Johann Walther, einen Freund Luther’s, nach Dresden berufen zur „Aufrichtung einer ehrlichen großen Singerei“. Der Anlauf war gut gemeint; aber schon unter dem eben genannten Schütz gerieth die aus den ursprünglichen „Zinkenbläsern und Chitarristen“ zum großen Orchester sich entwickelnde sächsische Kapelle in das italienische Fahrwasser, in welchem übrigens das ganze Rokoko-Dresden sich bewegte. Der Stil der venetianischen Musikschule wurde herrschend, und war die „Dafne“ noch in deutscher Bearbeitung (von Opitz) gegeben worden, so hielt nunmehr die italienische Hofoper mit italienischem Text ihren Einzug; ja man ließ jetzt nur wälsche Sänger und Sängerinnen für vieles Geld und gute Worte oder Orden von jenseit der Alpen in das „barbarische“ Deutschland engagiren. Das nicht große, aber unerhört prächtige Dresden war damals eine Weltstadt, wenigstens eine Stadt der großen Welt und seine italienische Hofoper hatte einen Weltruf.

Das erste Opernhaus am Taschenberg mußte unter Friedrich August II. einem luxuriösen Prachtbau Platz machen, in welchem der berühmteste Komponist damaliger Zeit, der geniale Hasse, den Taktstock schwang. Dresden wimmelte von italienischen Sängern, und eine Diva wie Faustina, Hasse’s vergötterte Gattin, bezog 12 000 Thaler Gage, der erste Kastrat nicht viel weniger; für die Ausstattung einer Oper wurden 50 000 Thaler (sage Thaler) ausgegeben, und dabei gab es kein Eintrittsgeld; der Landesherr zahlte Alles aus seiner Tasche; Publikum und Kritik existirte nicht. Zu jeder Vorstellung wurden Hoffähige oder elegante Abenteurer, [868] die gerade Dresden unsicher machten, „befohlen“. Das konnte natürlich nicht ewig so fortgehen, und nachdem die italienische Hofoper unter dem vortrefflichen Naumann von Blasewitz noch eine kurze Periode der Grazie und italienisch-sächsischen Liebenswürdigkeit durchgemacht hatte, gab der Hof aus Rücksichten der Oekonomie sein Opernmonopol auf und subventionirte Unternehmergesellschaften, wie die der Brüder Seconda.

Nach den Befreiungskriegen raffte man sich in Deutschland dazu auf, das ausländische Opernjoch abzuschütteln. In Dresden ging man den am wenigsten steilen Mittelweg, die italienische Oper beizubehalten und die Begründung einer nationalen deutschen zu gestatten. Neben dem Italiener Morlachi tauchte der Deutsche Karl Maria von Weber auf. Dieser deutsche Kapellmeister war zugleich der deutscheste von unseren großen Tondichtern, und erst durch ihn, von seinem „Freischütz“ an, wurde der Kampf gegen die italienische Oper volksthümlich. Selbstverständlich waren die Augen der ganzen gebildeten Welt damals auf die Dresdener Oper unter Weber gerichtet. Sie richteten sich aber später und vielleicht noch mehr auf einen der Nachfolger Weber’s auf dem Dresdener Kapellmeisterstuhl, auf Richard Wagner, an dessen Namen sich die größte Umwälzung auf dem Gebiete der Oper für alle Zeiten knüpfen wird. Es giebt eine Brücke, die von Weber zu Wagner führt – die „Euryanthe“. Weber schrieb über die Aufnahme und Aufführung das Folgende: „Die Schröder hat das Höchste geleistet. Alle waren vorzüglich, die Chöre ausgezeichnet und die Kapelle spielte mit einer Vollendung der Nüancirung, wie man sie nur bei uns hören kann.“

So von Weber vorbereitet, wurde die Dresdener Oper unter Richard Wagner zur Wiege der neuen Schule in der dramatischen Musik. „Rienzi“, „Der „Fliegende Holländer“ und „Tannhäuser“ erblickten hier unter des „Meisters“ eigener Leitung das Licht der Welt, Sangesgrößen wie Tichatschek, Mitterwurzer. die Bürde- Ney machten siegreich Propaganda für den Glauben an die „Musik der Zukunft“.

Um so mehr konnte es auffallen, daß später, als der „Revolutionär“ Wagner längst amnestirt war, sich Dresden geraume Zeit Werken wie „Tristan und Isolde“ und dem „Ring des Nibelungen“ gänzlich verschloß. Allein es walteten eigenartige Rücksichten. und kaum hatten dieselben aufgehort, ein Hinderniß zu bilden, so erlebten die genannten Werke hier so vollendete Aufführungen, daß der Ruf derselben sich rasch überall hin verbreitete. Kein Wunder: denn es galt eben noch, was Weber über die Euryanthe-Aufführung gesagt hatte: „Alle waren vorzüglich!“

Die königlich sächsische Kapelle ist auch in ihrer heutigen Zusammensetzung ein vollendeter musikalischer Organismus; sie streitet mit der Wiener und Münchener um die Palme. Was die erstere an Glanz der Violinen, die andere an stilistischem Ausdruck etwa voraushaben mag, das ersetzt die Dresdener Kapelle durch den ihr einzig eigenen wundervollen Klang der Bläser, namentlich der Holzbläser. Die beiden ersten Koncertmeister, Johann Lauterbach und Ed. Rappoldi, zwei Geiger ersten Ranges, der Erstere durch sein seelenvolles, der Andere durch sein stilvolles Spiel bekannt, sowie der berühmte Koncertvirtuos Grützmacher, als Führer der Celli, und der als musikschriftstellerische Autorität anerkannte Flötist Moritz Fürstenau haben in unserem Gruppenbild Aufnahme gefunden. Leider beschränkt der knappe Raum den Stift des Zeichners wie die Feder des Textschreibers unerbittlich auf ein paar Repräsentanten der auserlesenen, fast nur aus ebenbürtigen Elementen bestehenden Künstlerschar, von welcher ganz eigenartige Meister auf ihrem Instrumente, wie der schon unter Wagner blasende Hornist Hübler, der Violinist Feigerl, der Klarinettist Demnitz, der Cellist Böckmann, der Flötist Bauer und der Trompeter Fricke, hiermit wenigstens genannt sein mögen.

An der Spitze der Kapelle steht gegenwärtig kein bahnbrechender Komponist, sondern nur ein Kapellmeister, aber ein Direktionsgenie von Gottes Gnaden: Ernst Schuch. Es ist wunderbar, wie er und das Orchester einander verstehen; er braucht nur zum ersten Taktschlag auszuheben, so ist eine Art elektrische Verbindung zwischen beiden hergestellt. Das Orchester scheint das beseelte Instrument in der Hand des Meisters. Als blutjunger, mit der Artöt-Padilla’schen Operngesellschaft reisender Kapellmeister kam Schuch im Anfang der siebziger Jahre nach Dresden. Als der Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers in Steiermark sollte er auf der Universität Graz das Studium der Rechte absolviren, sattelte jedoch vor Thorschluß um und wurde Musiker mit Leib und Seele.

Als er bald darauf die genannten Italiener nach Dresden begleitete und am Pult, welchen der etwas schwerfällig gewordene geniale Generalmusikdirektor Rietz mit dem hochbetagten Krebs theilte, den Taktstock schwang, da konnten die ältesten Kapellmitglieder nicht umhin, ihr freudiges Erstaunen zu äußern über die Geistesgegenwart und Sicherheit bei so viel Schwung und Jugendfeuer, bei solcher Eleganz und Findigkeit. „Er ist schneidig und geschmeidig,“ hieß es damals ... und die Nachricht, daß der jugendliche Maestro über Nacht fest engagirt worden sei, war für Alle eine angenehme Ueberraschung. Aber eine größere Ueberraschung für die Kenner war es, wie rasch Schuch sich, als der volle Ernst an ihn herantrat, in ungewohnte, große, ja die größten Aufgaben hineinzuleben verstand, so daß er heute den allerersten Dirigenten der Gegenwart ebenbürtig angereiht werden muß.

Ihm ist als Kollege beigesellt Kapellmeister Adolf Hagen, ein vorzüglich geschulter Musiker und bewährter Dirigent, ruhig und maßvoll in der Ausführung, unermüdlich im Studium, eine Arbeitskraft, die ihres Gleichen sucht.

Von den Dresdener Opernkoryphäen nun, die unser Gruppenbild darstellt, darf mit Recht Therese Malten zuerst genannt werden. Sie ist im vollen Sinn des Wortes auf der Dresdener Bühne groß geworden. Als schüchterne Anfängerin kam sie von Danzig nach Dresden und machte in dem Interimsrundbau, der sog. „Bretterbude“, ihre ersten Versuche. Wer glaubt es heute dieser im Sturm die Hörer mit fortreißenden Brünnhilde, dieser jedes Auge zu Thränen rührenden Isolde, daß sie ein Kind des Nordens sei? Wer versteht es wie sie, alle die stolzen und süßen Gefühle des heroischen wie des tragischen Liebeslebens im Gesang ausströmen zu lassen? Die Malten ist darum eine dramatische Sängerin ersten Ranges, weil die Leidenschaft voll und echt mit elementarer Gewalt in ihren Gestalten zum Durchbruch kommt, und für eine unvergleichliche Wagnersängerin muß sie um so mehr gelten, als der deklamirende Recitativgesang ihre eigentliche Stärke und sie, was Erscheinung und Bühnenrepräsentation anlangt, im Besitz der glänzendsten Mittel ist.

Auch Clementine Schuch ist an der Bühne, der sie zur Zierde gereicht, groß geworden. Sie kam aus dem sonnigen Süden, den süßen Wohllaut von Haus aus in der Kehle; feurig, sprühend, heiter, mit dem ganzen Reiz einer durch keine Verbildung getrübten Naivetät. Das einstige Fräulein Proska, welches von frühester Jugend an eine musterhafte musikalische Anleitung bei einem Organisten erhalten hatte und später mit Nummer Eins in allen Fächern vom Wiener Konservatorium abging, zog es gleich zu Beginn der theatralischen Laufbahn nach Dresden: „der Zug des Herzens war des Schicksals Stimme“. Frau Schuch, mit Recht die „Sächsische Nachtigall“ genannt, ist eine weit über Deutschland hinaus gefeierte vollendete Gesangskünstlerin, die zugleich als feine Darstellerin und Meisterin in dem von ihr mit Anmuth und Geist behandelten, stets glockenreinen verzierten Gesang ihres Gleichen suchen dürfte.

Das Fach einer ersten Altistin ist gegenwärtig wohl nirgends in so jungen Händen wie in Dresden, wo die seit kaum zwei Jahren erst der Bühne angehorige Irene v. Chavanne täglich überzeugendere Proben davon ablegt, welcher großen Zukunft sie entgegengeht. Eine umfangreiche, sonore, biegsame Stimme, bei welcher Einem einfällt, was die Engländer einst von der Jenny Lind sagten: „maidenhood is in her voice“ (Jungfräulichkeit tönt aus ihrer Kehle); Fleiß und Hingebung – diese allein genügen schon, um das Publikum schon jetzt für jede Leistung der jungen Künstlerin zu interessiren. Auch Louise Reuther hat im Interimsbau den ersten Schritt in die Oeffentlichkeit gethan: eine sympathische Erscheinung, sanftes Feuer und innige Empfindung verschmelzen sich in ihrem Gesang, naive Lieblichkeit und würdevoller Anstand in ihrer Darstellung, und so ist sie eine unentbehrliche Stütze des Repertoirs geworden. Als eben solche wetteifert Laura Friedmann mit ihr, eine vorzüglich geschulte Koloratursängerin voll frischen, rasch pulsirenden Lebens.

Unter den Sängern des Gruppenbildes mag Heinrich Gudehus als ebenbürtiger Wagner-Partner der Malten zuerst erwähnt werden. In der hochstämmigen Gestalt, dem offenen Wesen und hell schimmernden Auge prägt sich die friesische [869] Abstammung des Künstlers aus. Er macht das alte Wort, „daß die Friesen nicht singen“, zu Schanden: vom Volksschullehrer zu Bremen schwang er sich, von Talent, Fleiß und Willensstärke beflügelt, rasch zum Wagner-Tenor ersten Ranges und zum allgemein bewunderten, heute wohl unerreicht dastehenden „Siegfried“ empor. Gudehus ist ein heller schneidiger Tenor eigen, den keine noch so hohe Stimmlage genirt, für den es keine Ermüdung giebt und der sich, im Anfang spröd und hart, immer breiter und wohlklingender entwickelt hat.

Diesem ausgesprochenen Wagner-Sänger könnte ausgesucht kein passenderer Heldentenor zur Seite stehen, als Lorenzo Riese. Kein Jüngling mehr an Jahren, ist derselbe noch immer im ungeschmälerten Besitz einer der größten, metallreichsten und wohlklingendsten Tenorstimmen am ganzen deutschen Theater. Ueber den hohen Tönen liegt „herrlich wie am ersten Tag“ ein bestrickender Schmelz unvergänglicher Jugend. Wenn schon Riese, abgesehen von kleinen Eigenheiten, die man bei sogenannten Koryphäen manchmal in Kauf nehmen muß, für einen Repräsentanten der guten alten Gesangschule gelten kann, so ist dies wahrscheinlich noch viel mehr der Fall beim ersten lyrischen Tenor der Dresdener Oper – Anton Erl. Als er, der Sohn des seiner Zeit berühmten Wiener Tenoristen, noch der komischen Oper in Wien angehörte, hat ihn der Kompoist Delibes bereits für den besten Spieltenor erklärt. Erl ist zum Sänger geboren; er konnte sich dem Bühnenberuf auch dann nicht mehr entziehen, als er schon, ein Lieblingsschüler Rahl’s, auf der Wiener Malerakademie die Proben unbestreitbaren Malertalents abgelegt hatte. Wie vielseitig er ist, erhellt daraus, daß er den Almaviva singt, wie er sein soll, den Ottavio, wie er geschrieben steht, und den Loge und David in „Rheingold“ und „Meistersinger“, wie der Meister sie gewollt hat.

Drahtbinder.0 Originalzeichnung von J. R. Wehle.


Am Dresdener Theater werden beiläufig bemerkt die Wagner-Oper und im Gegensatz zu derselben die sogenannte Spieloper in gleicher Vollendung herausgebracht. Ein Sänger wie Erl trägt das Seinige redlich dazu bei. An Stimmglanz aber überragt alle seine Kollegen um eines Hauptes Länge Paul Bulß, ein geradezu phänomenaler Bariton, der Milde und Stärke, dramatische Tonenergie und lyrische Weichheit der besten deutschen Sänger mit einer sonst höchstens einmal bei Italienern sich findenden, Alles überstrahlenden Höhe verbindet. Man würde diesen flotten, feurigen, in der üppigen Tonfülle sich selbst genießenden Sänger und Darsteller überhaupt für einen Italiener halten, wenn man nicht wüßte, daß er in der Mark Brandenburg zu Haus ist und seine Gymnasialbildung in der bilderbogenreichen Stadt Ruppin erhielt. Der Humor freilich, den Bulß im Vortrag launiger Lieder an den Tag legt und der ihm auch auf der Bühne zu Statten kommt, ist echt norddeutscher Herkunft. An Bulß stimmlich freilich nicht ganz heranreichend, ihm aber ähnlich und doch wieder von ganz anderem Schrot und Korn in seinem ganzen künstlerischen Wesen ist Karl Scheidemantel, über dessen markig vollem schönen Bariton noch der ungebrochne Zauber der Jugend liegt. Eine scheinbar nach innen gekehrte Künstlernatur, arbeitet Scheidemantel unbeirrt an sich selbst, bekämpft die Neigung zu sentimentaler Verschwommenheit, ringt nach fester Gestaltung und geht vollbewußt auf das Doppelziel eines ersten Theater- und Koncertsängers aus.

In Beziehung auf große Baßstimmen ist die Dresdener Oper, die rasch hinter einander Scaria, Köhler, Fischer und Andere eingebüßt hat, zunächst etwas auf die Zukunft angewiesen. Eduard Decarli, der, ohne alt zu sein, nicht mehr über des Basses Grundgewalt verfügt, mit der er einst das Haus erzittern machte, hat sich als unschätzbares Gut in der Noth erwiesen. Von Haus aus für die wuchtigsten Partien angelegt, ein trefflich geschulter seriöser Baß, hat er bei seiner hervorragenden musikalischen Begabung sich neuerdings mit Erfolg der Spieloper und dem derb realistischen Genre zugewendet. Er und der im Gruppenbild leider nicht vertretene musikalisch feste Baß Wilhelm Eichberger können getrost mit dem besten italienischen Baßbuffo in die Schranken treten. – Ueberhaupt müssen, obschon oder vielmehr weil sie in dem engen Rahmen unseres Bildes keinen Platz mehr fanden, als Zierde und Stütze der Oper noch ganz besonders erwähnt werden die junge talentvolle, einer schönen Zukunft entgegen gehende Therese Saak (gute Elisabeth, vorzügliche Elsa) und der wieder engagirte Baritonist Schrauff (ausgezeichneter Telramund). Neben diesen tragen gediegene Künstlerinnen, wie Elise Sigler, Mathilde Hummel, Hedwig Schacko und Maria Jahn (beide noch im allerjugendlichsten Alter), und Künstler wie Jensen (Papageno; Alberich), Kruis (der beste Mime), Meincke und Gutzschbach so wesentlich zu dem von jeher berühmten und heute wie nur je durch den Klangreiz des Orchesters und der prächtigsten Stimmen glänzenden Ensemble bei, daß es schweres Unrecht wäre, sie mit Stillschweigen zu übergehen. Auch der Regie (Karl Ueberhorst) ist zu gedenken. Ihren eigenen Specialartikel aber verdienten der geniale Obermaschinenmeister Witte, sowie der sein elektrisches Licht in vielen Theatern der Welt leuchten lassende Beleuchtungsinspektor Bär und das ganze in ununterbrochener ferienloser Arbeit und Pflichttreue wetteifernde technische Personal.

Eine Unterstützungskasse für die Wittwen und Waisen des letzteren ins Leben gerufen zu haben, ist gewiß im schönsten Sinn kennzeichnend für den obersten Leiter und „Generaldirektor“ der königl. sächsischen Hoftheater – den Reichsgrafen Julius von Platen-Hallermund, dessen Name aber auch in anderem, gleich ehrende Erinnerung wie die „Platen-Stiftung“ weckenden Sinn für immer in der Geschichte des Dresdener Hoftheaters fortleben wird. Denn als eine Platen-Schöpfung könnte man, ohne zu übertreiben, den gegenwärtigen blühenden Zustand dieses vornehmen Kunstinstitutes und besonders der Oper recht wohl bezeichnen.

Als nämlich nach den Ereignissen des Jahres 1866 Graf Platen dem Dresdener Hoftheater vorgesetzt wurde, schien dasselbe durch schwer zu vermeidende Verluste und Katastrophen in seiner Entwicklung bedrohlich gehemmt; allein in aller Stille vollzog sich der Umschwung zum Besseren und dieselbe organisatorische Kraft, die sich schon in Hannover glänzend bewährt hatte, versagte auch in Dresden nicht und schuf eine Periode der Blüthe, welcher wir an dieser Stelle in Wort und Bild Ausdruck zu geben versuchten.




[870]

Der erste Generalpostmeister des Deutschen Reichs.

(Schluß.)


Wie deutlich erinnere ich mich noch des Abends, da ich nach Erledigung der gesellschaftlichen Pflichten und nachdem ich mit der liebenswürdigen und anmuthigen Frau des Hauses einige Worte gewechselt hatte, das Heim des Generalpostmeisters durchwanderte und die geräumigen Zimmer forschend durchmusterte. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, daß der Bewohner dieser Räume mit Horaz sagen könnte: „non ebur neque aureum mea renidet in domo lacunar“ (nicht von Gold und Elfenbein erglänzt in meinem Haus die Zimmerdecke); denn Alles zeugt von der größten Einfachheit. Der einzige Luxus besteht in kostbaren Gemälden und Stichen, mit denen die Wände geziert sind. Eine reichhaltige Bibliothek belehrt uns in ihrer Zusammenstellung, daß ihr Eigenthümer von jeher bestrebt gewesen ist, sich die verschiedenartigsten Gebiete menschlichen Wissens und Könnens zu erschließen; eine großartige Mineraliensammlung und Jagdtrophäen aller Art sind sichtbare Zeichen seiner Privatbeschäftigungen.

Eigenartig muthete es mich an, als ich in der Thür stand, die den Eintritt in seine geistige Werkstatt, das Arbeitszimmer, gewährt. Ein mäßig großer Raum von fast spartanischer Einfachheit, ein mächtiger Schreibtisch, Tisch und Stühle von Naturholz, sehr viele Bücher, an bevorzugter Stelle in besonderem Schranke die Klassiker des Alterthums, so weit ich sehen kann, vollständig, darunter sein Liebling, Horaz, in mehreren Ausgaben, einige Bilder – unter ihnen diejenigen von Frau und Kindern: so erscheint uns der Raum, von welchem aus das Post- und Telegraphenwesen des Deutschen Reichs seinen belebenden Hauch erhält.

Seitdem habe ich der gern gebotenen Gastlichkeit in jenen Räumen mich oft erfreuen dürfen. Es herrscht da der feine Ton, der für die inhaltsleeren Redensarten, welche so oft die Salonunterhaltung beherrschen, keinen Raum läßt. Die politischen Tagesfragen werden erörtert, Kunst und Litteratur, Geschichte und Philosophie in den Kreis der Besprechungen gezogen, und Herr v. Stephan beweist uns, daß er nicht nur als ein feiner Kenner und scharfer Beurtheiler den zeitgenössischen Erscheinungen folgt, sondern daß er auch Muße findet, von Zeit zu Zeit den klaren Himmel und das goldene Sonnenlicht der antiken Welt aufzusuchen.

Wenn er so im geselligen Kreise als Symposiarch seines Amtes waltet, da denkt Keiner daran, daß der Mann im schlichten Gewande einer der höchstgestellten Beamten des Reiches ist, auf dessen Schultern eine ungeheure Last von Arbeit und Verantwortlichkeit ruht. Hier sehen wir ihn von seiner liebenswürdigsten Seite als Gesellschafter. Nie sucht er nach einem bedeutenden Stoff der Unterhaltung, sondern überläßt es dem Zufalle, den Gegenstand herbeizuführen; aber von jedem aus leitet er das Gespräch zu einem allgemeinen Gesichtspunkte, und bald befindet man sich in dem Mittelpunkte einer anregenden Unterhaltung. Die freie Art, wie er sein ausgebreitetes Wissen handhabt und wie er sich große Perspektiven zurechtrückt, wirkt immer belebend, oft hinreißend, sei es, daß er im Kreise von Freunden und Bekannten seine Ideen entwickelt, sei es, daß er bei festlichen Gelegenheiten das Wort ergreift oder im Parlamente mit bekannter Schlagfertigkeit seine Sache verficht. Sokratischer Ernst und aristophanischer Scherz sind ihm gleich geläufig; alle seine Worte tragen das Gepräge glücklicher Geburten des Augenblicks. So bemerkte er einst, als Jemand von dem Fürsten Bismarck behauptete, er vereinige Cäsar und Cromwell in einer Person: „Jawohl, ein Cäsar und Cromwell, aber merken Sie wohl: ohne Bürgerkrieg, und dazu ein Demosthenes ohne Chäronea.“

Die Musik erfreut sich in dem Hause des Generalpostmeisters sorgsamster Pflege; er selbst verschmäht es auch heute noch nicht, zur Geige zu greifen, um die Melodien eines im Theater gehörten Stücks wiederzugeben oder das Klavierspiel eines Besuchers zu begleiten. Bei einer solchen musikalischen Gelegenheitsaufführung kam auch Richard Wagner an die Reihe, den aber Herr von Stephan mit ungewohnter Schroffheit ablehnte. Um den Grund seiner Abneigung befragt, meinte er, Wagner habe den Hegelianismus in die Musik eingeführt und auf ihn lasse sich das Wort anwenden: „Von allen seinen Schülern habe ihn nur einer verstanden und der habe ihn mißverstanden.“

Man darf manchmal zweifelhaft sein, ob man mehr über die Fülle seines Wissens oder über sein wahrhaft phänomenales Gedächtniß staunen soll. Er besitzt reiche Kenntnisse in den Naturwissenschaften, namentlich in der Mineralogie und Botanik, und auch mit Astronomie hat er sich eingehend beschäftigt. Philosophie und Geschichte sind ihm vertraute Gebiete und um seine Sprachkenntnisse konnte ihn mancher Gelehrte beneiden. In die Litteratur hat er sich schon frühzeitig durch die „Geschichte der Preußischen Post“ eingeführt. Die später von ihm geschriebenen, in Raumer’s „Historischem Taschenbuch“ und in „Unsere Zeit“ veröffentlichten nationalökonomischen und geschichtlichen Aufsätze, sowie sein kulturgeschichtliches Werk „Das heutige Aegypten“ zeichnen sich ebenso durch reichen Inhalt. wie durch Schönheit der Form aus.

Auf dem Gebiete der Kunst zeigt Dr. v. Stephan, wie uns schon die Ausstattung seiner Wohnungsräume belehrt, einen geläuterten Geschmack. Ueber Kunstverständigkeit läßt sich freilich streiten und es dürfte wohl schwer sein, einem Laien, der sich nicht durch eigenes Schaffen ausgezeichnet, ein hierauf bezügliches Zeugniß auszustellen. Immerhin hat sich aber Dr. v. Stephan ein solches Zeugniß, wenigstens auf mittelbarem Wege, selbst ertheilt, nämlich in den Leistungen der Reichsdruckerei.

Als im Jahre 1877 die damalige von Decker’sche Geheime Ober-Hofbuchdruckerei durch Kauf in das Eigenthum des Reiches überging und bald darauf mit der königlich preußischen Staatsdruckerei vereinigt wurde und man sich die Köpfe zerbrach, welchem Ressort wohl das zu schaffende neue Reichsinstitut einverleibt werden könnte, erschien eine Kaiserliche Kabinetsordre, durch welche der Generalpostmeister mit der Oberleitung des Instituts betraut wurde.

Während bis dahin die von Decker’sche Druckerei ihre Thätigkeit fast ausschließlich auf amtliche und halbamtliche Drucksachen beschränkt hatte und die Staatsdruckerei neben gleichartigen Arbeiten nur durch die Anfertigung von Banknoten und sonstigen Werthzeichen eine Annäherung an die eigentlichen vervielfältigenden Künste bot, machte die nunmehrige Reichsdruckerei gar bald auch in Kunstkreisen von sich reden; denn ebenso, wie auf den andern Gebieten, hatte der Generalpostmeister es auch hier verstanden, die richtigen Leute zu finden und durch seine Ideen und seinen persönlichen Einfluß zu fruchtbringendem Schaffen anzuregen. Wie alle Sachverständigen nicht nur in Deutschland, sondern weit über dessen Grenzen hinaus wissen, leistet die Reichsdruckerei auf dem Gebiete der Vervielfältigung von Kunsterzeugnissen durch Buch-, Kupfer-, Licht-, Steindruck etc. Mustergültiges; namentlich erregen die zum Theil lediglich der Reichsdruckerei eigenartigen heliographischen und heliotypischen Verfahrungsweisen geradezu das Entzücken der kunstverständigen Welt. Wir können aus eigener Anschauung u. A. die Reproduktion seltener Rembrandt’scher und Dürer’scher Stiche hervorheben, deren Originaltreue in der Detailtechnik wie in künstlerischer Wirkung gleich überraschend ist.

Der Erfolg ist denn auch nicht ausgeblieben. Während in den ersten Jahren der Entwickelung der Anstalt unter der neuen Leitung die Privatindustrie in ihr nur einen gefährlichen Mitbewerber witterte, ist sie heute schon auf dem Standpunkte angelangt, die Reichsdruckerei als anregendes Vorbild und praktische Rathgeberin anzusehen und zu benutzen.

Gern verweilt Herr von Stephan bei den Reisen, die ihn durch ganz Europa und einen Theil Afrikas geführt haben und die für ihn nicht nur ein Kräftigungs-, sondern vorzugsweise ein Bildungselement gewesen sind; denn da ist er mit der Natur in unmittelbaren Verkehr getreten und ist ihren Geheimnissen nachgegangen. Alle Wälder und Gebirge Deutschlands hat er, meist zu Fuß, durchstreift, hat die Gletscher der Schweiz und Tirols erstiegen und den Pyrenäen sowie den Karpathen Besuche abgestattet. Da er von früher Jugend an in allen Leibesübungen erfahren, gewandter Turner, tüchtiger Schwimmer ist – hat er doch bereits in seinem vierzehnten Lebensjahre einen Mitschüler vom Tode [871] des Ertrinkens gerettet – sind die Strapazen dieser Reisen nicht nur spurlos an ihm vorübergegangen, sondern haben vielmehr unverkennbar dazu beigetragen, die körperliche Rüstigkeit zu erhalten, welche ihn befähigt, die großen mit seiner dienstlichen Stellung verbundenen geistigen und körperlichen Anstrengungen zu ertragen.

Er ist ein Frühaufsteher. Sommer und Winter findet ihn die früheste Morgenstunde in voller Arbeit und es ändert Nichts daran, ob er die Nacht im Bette oder im Eisenbahnwagen zugebracht hat. Die Morgenarbeit wird um neun Uhr durch einen Diener unterbrochen, der eine Liste derjenigen Personen überreicht, die Seiner Excellenz ihre Aufwartung zu machen wünschen. Hierfür ist täglich die Zeit zwischen neun und halb elf Uhr Morgens bestimmt, und an dieser Zeit darf nicht gerüttelt, zu Niemandes Gunsten eine Ausnahme gemacht werden. Streng gegen sich selbst und sonder Rücksicht auf eigene Bequemlichkeit verlangt der Generalpostmeister auch, daß Jedermann, der ihm mit irgend welchen Wünschen naht, sich in die ein- für allemal getroffene und unverbrüchlich festgehaltene Zeitordnung füge. Die Stunde ist freilich für Viele eine ziemlich frühe; zu früh war sie ganz gewiß für jene Dame, die auf die Mittheilung, daß der Herr Generalpostmeister um zehn Uhr Vormittags für sie zu sprechen sei, auf die erbetene Audienz verzichten zu müssen meinte, da dieselbe „mitten in der Nacht“ angesetzt sei.

Das Vorzimmer bietet um jene Zeit täglich ein buntbewegtes Bild. Beamte auf der Durchreise, die sich bei ihrem Chef melden wollen, vortragende Räthe des Generalpostamts, Gelehrte und Künstler, Bittsteller, Erfinder, ferner Post- und Telegraphenbeamte aus aller Herren Ländern, nach Europa gesandt, um unsere mustergültigen deutschen Einrichtungen zu studiren, finden sich ein, darunter bisweilen exotische Erscheinungen aus dem fernen Osten, aus Japan und Siam, wo der Ruf der deutschen Post die bis in die neueste Zeit währende Alleinherrschaft der Engländer und Amerikaner gebrochen hat.

In der Wohnung des Generalpostmeisters befindet sich ein Saal, dessen Wände ausschließlich mit Geweihen, Gehörn, ausgestopften Vögeln und anderer Jagdbeute geschmückt sind. Alles ist „eigenhändig“ erworben auf frischem, fröhlichem Waidmannsgang, wo unser Generalpostmeister auf kurze Stunden des Lebens Mühen und Sorgen vergißt. Dann ist er ganz der Mann der grünen Farbe, und wenn man den einfach gekleideten Jägersmann sieht, der sich den größten Strapazen willig unterzieht, der als unermüdlicher Fußgänger auf wilden Hochlandspfaden selbst den Eingeborenen des Berglandes ein beifälliges Lächeln abgewinnt, da könnte man meinen, daß sein Freund Scheffel seiner gedacht hat, als er die Verse niederschrieb:

„Das ist des deutschen Waldes Kraft,
Daß er kein Siechthum leidet
Und Alles, was gebrestenhaft,
Aus Leib und Seele scheidet.“

Daß das edle Waidwerk (nebenbei gesagt, die einzige Liebhaberei des Generalpostmeisters) in ihm auch einen begeisterten Dichter gefunden hat, dürfte nur den Wenigen bekannt sein, die zur engeren Tafelrunde der Jagdfreunde gehören. Darum mögen die folgenden Zeilen hier Platz finden, die gewiß auch für weitere Kreise von Interesse sind; zeigen sie doch ihren Urheber von einer neuen Seite. Dieser aber möge, falls ihm diese Blätter zu Gesicht kommen sollten, die kleine Indiskretion verzeihen, welche die Veröffentlichung ermöglicht hat. Vielleicht ist er selbst überrascht, daß dieses Kind des Augenblicks, das einem besonders glücklichen Schusse bei einer Jagd auf dem Dars in Pommern seine Entstehung verdankt, noch am Leben ist:

      „Die Abendsonne verschönte
Die Waldpracht. Da zog der Hirsch –
Das Brausen der See übertönte
Verräth’risches Reisergeknirsch.

      Des Adlerfarns mächtige Wedel,
Sie haben ihn neigend begrüßt,
Wie trug er die Krone so edel
Durch uralter Kiefern Gerüst.

      Stolz hob das Kronhaupt der Recke –
– Ein donnernder Blitz! – und gefällt
Verschönte die herrlichste Strecke
Des Darses der stolzeste Held!“

Eng verbunden mit dem Namen Stephan’s sind die Bestrebungen, der deutschen Sprache wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen. Wir haben es Alle miterlebt, wie der deutsche Generalpostmeister zuerst an den Augiasstall eines verballhornisirten Kanzleistils den reinigenden Besen legte und, soweit sein Machtwort reichte, die Sprache von dem Weichselzopfe vorsintfluthlicher Ausdrücke reinfegte. Wir haben es ebenso mit angesehen, wie die Zunft der berufsmäßigen Witzbolde das Vorgehen Stephan’s, das für die Denkenden das Vollgewicht einer nationalen That hatte, ins Lächerliche zu ziehen gesucht hat. Vergebens! Denn die Sache war stark genug, für sich selbst zu sprechen, Andere haben sie zu der ihren gemacht, und heut steht die gebildete Mehrzahl des Volkes wohlwollend, helfend und fördernd für sie ein. Jenen aber, die den Generalpostmeister, dessen Urtheil in sprachlichen Fragen ein Daniel Sanders einzuholen sich nicht scheut, als einen Puristen auf alle Fälle hingestellt haben, muß das Programm unbekannt geblieben sein, das er in einem am 17. Februar 1877 im wissenschaftlichen Vereine zu Berlin gehaltenen und im Druck erschienenen Vortrage „Die Fremdwörter“ klar dargelegt hat. Da heißt es u. A.: „Die eigentlichen Fremdwörter möchte ich in zwei Klassen sondern: die überflüssigen und die ganz oder zeitweise nicht zu entbehrenden“, und gleich darauf: „Die Angriffsbewegung muß, damit sie sich nicht zersplittere, zunächst auf die erstgenannten Eindringlinge beschränkt werden“. Das ist doch deutlich genug, und nur Unverstand oder Halbbildung können es leugnen, daß wir Deutsche uns in unserer Sprache einen Wust von fremdländischem Abfall aufgehalst haben, der dem Volke der Denker wahrlich nicht zur Ehre gereicht.

*               *
*

Das ist das Bild des Mannes, den wir mit berechtigtem Stolz zu den Besten unseres Volkes zählen. Ohne Fürsprache, ohne Beschützer, ohne Verbindungen, lediglich durch treue Pflichterfüllung und unbedingte Hingebung an das Vaterland hat der schlichte Bürgerssohn aus der hinterpommerschen Kleinstadt Ehren erworben, wie sie in solcher Fülle nur selten Jemand zu Theil werden. Aber auch nur selten werden diese Ehren mit gleicher Anspruchslosigkeit getragen. Wo immer die Dankbarkeit der Zeitgenossen der Verdienste des Generalpostmeisters v. Stephan, seiner Erfolge auf internationalem Gebiete rühmend gedenkt: seine Erwiederungen sind immer nur Variationen desselben Grundtons, daß allein die große Zeit und glückliche Umstände sein Emporkommen ermöglicht haben. Wo immer er, und es ist oft genug der Fall, Huldigungen über sich ergehen lassen muß, nie verleugnet sich jener Grundzug seines Charakters: die Bescheidenheit, die wahrlich nicht oft mit der Berühmtheit Hand in Hand geht. Und so mögen die Worte, die er noch jüngst, im Februar dieses Jahres, bei der Einweihung des Hamburger Reichspostgebäudes als Antwort auf eine seine Verdienste hervorhebende Rede des Bürgermeisters der freien Reichsstadt gesprochen hat, den Schlußstein dieses Lebensbildes abgeben: „– ich will nur bemerken, daß ich den Ausdruck der Anerkennung meiner bisherigen Bestrebungen wohl als ein ehrendes Zeugniß für die Vergangenheit, mehr aber noch als einen Wechsel auf die Zukunft ansehe, den ich erst einlösen muß. Der große Zug der Zeit hat ja hauptsächlich mitgewirkt.

Wenn die glorreichen Thaten Sr. Majestät unseres erhabenen Kaisers nicht die Einheit des Reichs hergestellt hätten, wenn durch seinen starken Arm die Bahn nicht frei gemacht worden wäre: dann hätte sich auch auf dem Gebiet der inneren Organisation nichts Belangreiches herstellen lassen.

Sodann habe ich ja nur nach den Intentionen und unter der Leitung des Reichskanzlers, meines Chefs, gewirkt, und ich habe es stets als ein besonderes Glück angesehen, zwanzig der besten und kräftigsten Jahre meines Lebens an der Seite eines so großen Staatsmannes dem Gemeinwesen zu dienen.“


[872]
Die Martinswand in Tirol.
Von J. C. Maurer.0 Mit Originalzeichnungen von R. Püttner.

Straße in Zirl.  
 Ruine Fragenstein.
Eingang zur Schlucht am Kalvarienberg.

Wenn der Reisende auf der Arlbergbahn von Innsbruck thalaufwärts fährt, treten ihm, der Station Völs gegenüber, am linken Innufer schroffe Felsen entgegen, welche aus dunkelgrünem Föhrenwald steil und grau zur Kuppe des Hechenberges emporsteigen. Unter ihnen fällt besonders eine fast senkrechte Wand auf, in der hoch oben eine Grotte mit einem Krucifix und zwei Heiligenstatuen sichtbar ist; es ist die vielbesuchte und sagenberühmte Martinswand.

Hier soll einst Kaiser Maximilian I. auf der Jagd einer angeschossenen Gemse wegen sich so weit ins wilde Geschroff hineingewagt haben, daß er endlich weder vor- noch rückwärts konnte und auf einer schmalen Felsplatte in schwindelnder Höhe festgebannt war. Stunde um Stunde ging dahin, jede Hilfe schien unmöglich; schon war der Geistliche vom Dorfe Zirl unter der Felswand mit der Monstranz erschienen, um dem Fürsten vor seinem nahen Sterben noch den letzten Segen und die Absolution zu ertheilen; da, während unten das Glöcklein klingelte, erschien plötzlich ein Kind an der Seite Maximilians und führte ihn auf einem früher nicht bemerkten Steige bergan zu einer sicheren Stelle. Hier aber war es plötzlich verschwunden. Zum Andenken an diese wunderbare Rettung ließ der Kaiser das Krucifix in der Felsengrotte der Martinswand aufstellen.

So erzählt die Sage. Mag dieselbe nun immerhin dem frommen Wunderglauben entsprossen sein, so bleibt doch jedenfalls die Thatsache möglich und wahrscheinlich, daß Kaiser Maximilian, der kühne Gemsenjäger und Bergsteiger, in diesem Gebirge in Todesgefahr gerathen und auf eine ungewöhnliche Weise gerettet worden sei. Das Andenken an dieses Ereigniß, das vor vierhundert Jahren geschehen sein soll, wurde am 21. Juli 1884 auf der Martinswand festlich begangen. Böller knallten, vom lauten Echo begleitet, an den Bergen hin, und die Klänge der österreichischen Volkshymne jubelten empor zur Kaisergrotte, während droben in derselben sich eine Schar wackerer, fürs Alpenland begeisterter Männer zusammengefunden hatte. Es galt der Enthüllung der neuen Maximilians-Büste, welche an jenem Tage dort aufgestellt worden war, und schwungvolle Reden verherrlichten das Andenken des letzten Ritters. Besondere Weihe erhielt aber das Fest durch die Anwesenheit der Turner aus Sachsen, die herbeigekommen waren, um mit ihren deutschen Brüdern in Tirol den Gedächtnißtag an die Rettung des ritterlichen Kaisers zu feiern. Es war ein Fest deutscher, brüderlicher Einigung, ein Tag, der in Tirol wie im Sachsenlande Vielen ein unvergeßlicher sein wird! –

Das Verdienst, dieses Fest ins Leben gerufen zu haben, gebührt dem Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein und einem Komité von Tirolern, welche vereint während des vorhergehenden Sommers den Steig zur Grotte hatten in wegsamen Stand setzen lassen. Dieser Aufstieg war nämlich ehemals an manchen Stellen nicht ganz gefahrlos, so daß nur geübte und [873] schwindelfreie Bergsteiger sich ihm anvertrauen durften. Heute jedoch ist derselbe für Jedermann leicht zu passiren; die einst bedenklichen Stellen sind mit eisernen Geländern versehen, und wo früher glatte Felsplatten zu überschreiten waren, sind Stufen in das Gestein gehauen. Also frisch, ohne Zagen hinan!

Die Martinswand bei Zirl in Tirol. 

Die Grotte selbst scheint im Kalkfelsen durch Auswaschung entstanden zu sein. Sie ist etwa 12 Meter tief und am Eingange fast eben so weit. Auf steinernen Stufen mit eisernem Geländer steigt man darin zur Stelle empor, wo Max in Todesgefahr gestanden haben soll. Dort befindet sich ein zwei Meter hohes hölzernes Krucifix; Maria und Johannes stehen rechts und links davon. An der Rückseite des Kreuzes sagt eine halb verwaschene Inschrift, daß hier Kaiser Max „durch Gottes Vorsehung“ aus Todesgefahr befreit worden sei. Von einem Wunder erwähnt dieselbe Nichts. Eine zweite Inschrift in Marmor bezieht sich auf die bereits erwähnte Feier. Rings in der ganzen Höhle haben seit langer Zeit die Besucher ihre Namen in allerlei Schriften und Farben verewigt.

Werfen wir noch einen Blick auf die Gegend, ehe wir von der Kaisergrotte scheiden. Tief unten an der vorbeiziehenden Landstraße liegt das alte fürstliche Jagdschlößlein Martinsbühel. Hier entdeckte man vor mehreren Jahren menschliche Skelette, Artefakten, Eberzähne, Thonscherben, Sensen, alte Schlüssel, Römermünzen, Kupferkreuzer und Kanonenkugeln.

Die meisten dieser Gegenstände aus verschiedenen Epochen deuten darauf hin, daß an diesem Engpaß eine uralte Straßensperre sich befand, die verschiedene Völker benützt haben.

Drüben jenseit des Innstroms erhebt sich das malerische Plateau eines Mittelgebirges, hinter welchem die Hochtäler Senders, Vals und Sellrain sich aufthun. Unten rechts aber aus dem Innthal funkelt das Thurmkreuz des Dörfleins Zirl herauf. Steigen wir nun dort hinab!

Am Fuße des Berges kommen wir an einer Schlucht vorüber, aus welcher ein reißender Wildbach hervorbricht. Vor dem Eingange derselben erhebt sich auf steilem Felsen ein Kirchlein – der Zirler Kalvarienberg. Dahinter, zur Seite des Baches, stehen unter überhängenden, von Ruß geschwärzten Wänden zwei hölzerne Hütten, eine Gipsmühle und ein primitiver Brennofen. Durch eine derselben hindurch betreten wir die Klamm. Hohe groteske Felsmassen thürmen sich zu beiden Seiten auf, über die aus ferner Höhe der Solstein hereinschaut. Kein Sonnenstrahl dringt in die Tiefe. Unser Weg führt theilweise auf hölzernen Treppen fort an der Felswand; unter ihm rauscht der Bach durch die Schlucht, die häufig kaum die Breite von vier Metern erreicht. Ein eigenthümliches Bild bietet diese Klamm in der Abenddämmerung, wenn die rothe Gluth aus dem Brennofen ihr Licht aufs Gestein wirft und der Rauch an der schwarzen Felswand emporwirbelt. Gar Mancher mag sich dann an Dante’s Hölle gemahnt fühlen. Wir gehen wieder zurück und nehmen quer übers Feld den Weg nach Zirl. Bald ist die enge, krumme Dorfgasse erreicht, an deren Seiten malerische Bauernhäuser regellos neben einander hingebaut sind.

Die meisten derselben sind von Stein, andre wieder zur Hälfte Holz, zur Hälfte Mauerwerk; alle aber tragen den Typus des alten Tirolerhauses mit dem weit vorspringenden Schindeldach und den wuchtigen Steinen darauf, den kleinen Fenstern und dem hölzernen Laubengang. Nur die Gasthäuser zeigen einigermaßen den modernen Baustil und erfreuen sich durchweg eines sehr guten Rufes, weßhalb Zirl in neuerer Zeit ein besuchter Sommerfrischort geworden ist. Hierzu hat allerdings auch die prächtige landschaftliche Umgebung das Ihrige beigetragen. Ein Kranz majestätischer Gebirge umschließt das Thal: grüne Auen, Felder und schmucke Dörfer begleiten den schimmernden Strom. Hinter dem Orte, wo die Poststraße gegen Seefeld emporsteigt, erheben sich am Bergabhang die Ruinen des Schlosses Fragenstein. Die Burg ist bis auf zwei Thürme und einige Mauern in Schutt verfallen, des stolze Geschlecht, das einst dort gehaust, ist zu Grabe gegangen und vergessen; unvergänglich aber, wie die Felsen der Martinswand, bleibt im Volke die Erinnerung an Maximilian, den letzten Ritter.



[874]
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)
14.

Stunden verrannen, allmählich legte sich der Wind und immer spärlicher fiel der Schnee. Die graue Dämmerung wurde zum Tage; langsam hoben sich die dicht und eben liegenden Wolken, gaben den weißen Glanz der Berge frei und zerklüfteten sich, daß der fahlblaue Himmel niederblicken konnte in das winterliche Thal.

Das Dorf erwachte; an den Häusern begannen sich die Thüren zu öffnen, und mit halb verwunderten, halb noch schlafenden Augen traten die Leute über die Schwellen.

Die Beiden nur, die in der Stube des Pointnerhofes saßen, schienen nicht zu merken, daß es Tag geworden.

Karli lehnte sich mit beiden Armen über den Tisch und starrte finsteren Blickes vor sich nieder.

Ihm an der Seite saß der Pointner. Er athmete tief auf, als wäre er eben jetzt verstummt, nachdem er lange gesprochen. In seinen Zügen kämpfte Verstörtheit mit verlegenem Aerger. Heftig zitterte die Hand, mit welcher er an seinem knopflosen Hemdkragen nestelte.

Nun schaute er mit scheuen Augen zu Karli auf und stotterte: No also – hast jetzt gar nix zum sagen – jetzt, wo ich Dir Alles g’standen hab’? Oder kannst mich ’leicht so sitzen lassen und gar nix reden, wo Dir doch denken magst, wie schwer’s ei’m Vater ankommt, wann er sei’m eigenen Buben gegenüber so ’was in Diskurs bringen muß – so ’was!“

Karli schwieg; er schien über seinen grübelnden Gedanken die Worte des Vaters völlig überhört zu haben.

„Jetzt redst mir aber!“ schalt der Bauer in Scheu und Aerger, während er die Finger in den Arm des Burschen kniff. „Oder bist mir am End’ gar noch harb, weil mich d’ Lieb’ zu Dir alles so ’rausreden hat lassen?“

Erschrocken war Karli aufgefahren. „Harb sein?“ stammelte er. „Wie kannst denn so ’was denken! Ich hätt’ doch g’wiß kein’ Grund net und – und – na, gar kein’ Grund net, denn wie sich die Sach’ jetzt anschaut, liegt’s ja offen am Tag, daß ’s nix Anders von ihr g’wesen is als a Rach’ gegen mich. Na, Vater – schau – von Harbsein därfst mir net reden – da thust mich ehnder noch dauern! Denn Du – Du tragst ja an die Folgen schwerer noch wie ich!“

Die ärgerliche Scheu des Pointner’s schlug jählings in weinerliche Rührung um. „Ja, Karli – schwerer – schwer g’nug! Und schau, da is mir’s jetzt a ganze Wohlthat, daß ich Dich auf meiner Seiten weiß – und daß Du Dich so herzlich stellst zu mir – wie a rechter Freund – und wie mein richtiger, g’scheiter Bua – ja!“

„Laß gut sein, Vater – und reden wir nix weiter drüber!“ wehrte Karli mit verlegenem Tone. Dann blickte er in der Stube umher, und jetzt erst schien er des Tages zu gewahren, der sich mit bleichem, kaltem Licht durch die trüben Fenster gestohlen hatte. „Da, Vater – da schau – völlig Tag is ’worden – und Dein’ Bäuerin is noch net da!“

„Macht nix – macht nix!“ wisperte der Pointner, während er sich die Fäuste über die nassen Backen wischte. Und aus seinen kleinen Augen blitzte es fast wie boshafte Schadenfreude. „Macht nix – wie länger als s’ ausbleibt, wie besser is ’s! Sie grabt sich schon a Gruben – sie grabt sich schon eine! Und net g’fallen laß ich mir’s – g’wiß net! Verklagen thu ich s’ – und Du – Du mußt mir an Zeugen machen –“

„Aber, Vater! Wie kannst denn schon von so ’was reden! Z’erst mußt doch warten, bis s’ kommt – und mußt hören, was s’ Dir sagen kann auf Dein’ Frag’!“

„Na – nix da! Da brauch’ ich kein Warten nimmer und kein’ Frag’. Die is schon so Eine – die! Sie hat’s bewiesen! Und was mich völlig überzeugt – der Götz, der hätt’ sich net g’rührt, wann er nix G’wiß’ net g’wußt hätt’. Aber den G’fallen, den er mir ’than hat damit, den will ich ihm danken seiner Lebtag’! Jetzt soll er mir noch ’was reden vom Fortgehn! Jetzt bleibt er mir da!“

„Vater! An solchen G’fallen erst hat’s ’braucht, daß unser Götz bei Dir noch a Bleiben g’habt hätt’? Ich, Vater – ich sag’ Dir’s – er wär’ auch ’blieben ohne dem! Und wann ihn keiner net g’halten hätt’ – ich hätt’ ihn g’halten – ich ganz allein!“

„No ja – no ja –“ stotterte der Pointner, und weiter fand er kein Wort mehr.

Unwillig erhob sich Karli, lehnte sich in die Fensternische und wischte den grauen Beschlag von den Scheiben. Da machte er nun verdutzte Augen, als er überall, wohin seine Blicke trafen, nur Schnee und Schnee gewahrte.

„Da schau, Vater – Winter is ’worden über Nacht!“

Der Pointner trat an seine Seite. „Ja – da hast jetzt dengerst Recht b’halten! Umg’schlagen hat’s – und wie!“ Dann aber, als hätte die Thatsache, daß es Winter geworden, auf seine Stimmung irgend welchen ändernden Einfluß üben sollen, den er nicht dulden konnte, fuhr er scheltend auf: „Aber ein Ding – ob’s jetzt Sommer oder Winter is – das macht jetzt gar nix anders!“ Und so greinte und schalt er weiter, während er mit unruhiger Hast in der Stube auf und nieder trippelte.

Karli hörte nicht mehr auf ihn; mit verlorenen Blicken schaute er durch die Scheiben und seine Stirn furchte sich unter stummen Gedanken. Nun plötzlich stieß er sich heftig vom Fenster zurück und ging mit raschen Schritten der Thür zu.

„Ja, was is denn?“ staunte der Pointner. „Wo willst denn hin? Wirst mich doch net allein lassen?“

„Ich komm’ gleich wieder! G’rad schauen muß ich ’was!“

Der Pointner sah seinen Buben aus der Stube verschwinden und hörte ihn langsam über die Treppe steigen. Eine Weile war Stille – dann kam’s mit hastigem Poltern vom obern Stock herunter, und Karli stürzte zur Thür herein, bleich, zitternd vor Erregung, mit zornig blitzenden Augen.

„Vater! Soll ich Dir ’was sagen?“ schrie er mit heiserer Stimme. „Droben – Dei’m saubern Herrn Schwager sein’ Kammer is leer – und kein Bett net is ang’rührt. Und in der Bäuerin ihrem alten Stüberl steht die Thür sperrangelweit offen – und der Kasten is aufg’rissen, als wär’ a G’wand davon ’tragen worden! Jetzt, Vater – jetzt kenn ich mich aus! Wirst es sehen – sie kommt Dir nimmer – Dein’ Bäuerin – überhaupts nimmer! Jetzt kenn’ ich mich aus!“

Weit riß der Pointner die Augen auf; ein Schlottern kam in seine Kniee, und wortlos bewegten sich seine Lippen.

Draußen ging die Hausthür und ein dumpfes Geräusch wurde hörbar, als pochte Jemand an der Schwelle den Schnee von den Füßen.

Stoffel trat in die Stube. Mit verblüfften Augen schielte er die beiden Pointner an und frug:

„Is der Götz net da?“

„Der Götz? Warum?“

„G’spaßig, g’spaßig!“ murmelte Stoffel. „Im Holzhof is er net, im Stall net – ja wo kann er denn sein? Gleich bei’m Aufwachen hab’ ich g’merkt, daß er sich gar net schlafen g’legt hat. Aber dengerst muß er in der Kammer g’wesen sein. Der Kufer is aufg’rissen und Alles durch einander g’worfen –“

Weiter ließ Karli den Knecht nicht reden. Er eilte zur Thür hinaus, und unter stotternden Worten humpelte ihm der Pointner nach.

Sie erreichten die Kammer im Gesindehaus und starrten auf den offenen Koffer und die zerstreuten Kleidungsstücke.

„Vater – der Götz is fort,“ brach es mit tonloser Stimme von Karli’s Lippen, „fort is er – heut’ in der Nacht!“

„Ich glaub’s net – na – und ich glaub’s net!“ raunte der Bauer seinem Buben zu und schaute von der Seite mit blinzelnden Augen zu ihm auf. „So ’was thut er mir net an, der Götz – daß er fort geht ohne Abschied von mir! Den [875] kenn’ ich! Und ich kann mir schon denken, was los is! Den Götz, den kenn’ ich! Der hat g’wacht für uns – der hat die Ander’ ’troffen in der Nacht – und nach is er ihr – und heimbringen thut er s’ – mitten durchs Ort durch in Schand’ und Spott. Wirst es sehen, Karli! Den Götz, den kenn’ ich!“

Draußen im Flur ließ eine kreischende Stimme sich vernehmen: „Bauer – Bauer!“

Zenz erschien auf der Schwelle.

„Ja um Gotteswillen – was is denn schon wieder?“

„G’schehen, Bauer – g’schehen muß was sein! G’rad is der Martl in Hof ’rein g’rennt!“

„Der Martl?“

„Ja – und g’laufen is er, was er laufen hat können! Und ganz verlechznet hat er sich ang’schaut. Und ins Haus ’nein is er g’rumpelt –“

Da eilten sie Alle, Karli voraus, in den Hof hinunter. Dort stießen sie auf den Knecht, der aus dem Hause kam. Bis zu den Hüften hing der Schnee an ihm; sein Gesicht war von Schweiß beronnen, und der fliegende Gang seines Athems ließ ihn kaum zu Worte kommen.

„Den Bygotter – den Bygotter hab’ ich g’sehen!“ stieß er in abgerissenen Lauten hervor. „Droben am Sonnbergschlag – wie ich ums Tagesgrauen von der Holzerhütten fort bin – da hab’ ich ihn durch die niedern Boschen schliefen sehen – gegen d’ Höh’ zu! Und ausg’schaut hat er – zum Fürchten und zum Erbarmen! Jetzt aber – jetzt muß er sich finden lassen! Der Schnee verrath’ ihn – der Schnee! Droben am Kreuzweg hab’ ich d’ Holzknecht’ warten lassen – und im Vorbeilaufen hab’ ich’s dem Kommandanten ins Fenster ’neing’rufen – ja – der hat sich auch gleich am Weg g’macht, wie ich g’merkt hab’.“

„Ja heiliger Herrgott, ja kommt denn heut’ Alles z’samm’, Alles?“ jammerte der Pointner und schlug die Hände in einander.

Karli aber stürzte in das Haus, und als er wieder unter der Thür erschien, mit Hut und Bergstock, rief er die beiden Knechte zu sich und eilte mit ihnen aus dem Hofe. In dem Hause, in welchem die zwei Gendarmen wohnten, erfuhr er, daß der Kommandant mit einigen Nachbarsleuten bereits nach dem Sonnberg aufgebrochen sei.

Am Waldsaum holten die Drei aus dem Pointnerhofe die Vorausgegangenen ein. Karli wunderte sich, daß der Kommandant allein war, ohne seinen Kameraden. Doch kam er zu keiner Frage; denn als er sich dem Kommandanten näherte, empfing ihn derselbe mit seltsamen Blicken und einem eigenen Lächeln, das ihm unwillkürlich das Blut in die Stirn trieb. Wortlos folgte er den Männern, welche in möglichster Eile bergwärts stiegen durch den spröden Schnee, der immer tiefer wurde, je mehr sie zur Höhe kamen.

Als sie den Sonnbergschlag erreichten und auf die Fährte des Bygotters stießen, zog Karli den Kommandanten bei Seite und flüsterte ihm mit stockenden, vor Erregung bebenden Worten zu: „Gelten S’ – bitten thu’ ich Ihnen – gehen S’ fein net gar z’ hitzig drein! Es is ja kein Spitzbub net, der da zum suchen is – sondern a kopfkranker Mensch, der Ein’ erbarmen muß.“

„Ich weiß schon selber, was ich zu thun hab’. So g’scheit, wie Sie sind, bin ich auch noch!“ lautete die Antwort.

Einer hinter dem Anderen, der Kommandant voraus, so folgten sie der im Schnee deutlich erkennbaren Spur. Diese führte bald durch dichte Büsche und bald durch schütteren Wald, in gerader Steigung gegen die hochliegenden Lärchenbestände; doch ehe sie dieselben erreichte, lenkte sie seitwärts in eine Waldschlucht. Hier vertheilte der Kommandant die Leute, als gält’ es eine Treibjagd abzuhalten. Zwei seiner Nachbarn nahm er mit sich in die Schlucht, in deren schmalstem Theile sie zwar nicht den Bygotter, aber doch seinen Schlupfwinkel fanden, ein geräumiges, von wirrem Gestrüpp verborgenes Felsenloch. Im Hintergrunde der dämmerigen Höhle war auf dem feuchten Grunde aus Moos und dürren Blättern ein Lager aufgeschüttet. Ueberall lagen trockene Beeren umher. In einem Winkel stand ein hohles Rindenstück mit Wasser. Auf einem Steinblock lag der halb zerrissene Kadaver eines Berghasen, der noch eine dünne, aus grauen Haaren geflochtene Schlinge um die gedrosselte Kehle hängen hatte.

Vor kurzer Weile noch mußte der Bygotter hier gewesen sein; denn als der Kommandant und seine beiden Begleiter die Höhle wieder verließen, sahen sie im Schnee eine frische Spur über den steilen Hang der Waldschlucht aufwärts steigen. Mit keuchender Mühe arbeiteten sie sich empor und hielten, als sie unter Bäumen die Höhe erreichten, erschrocken still.

Die kahle, von tiefem Schnee bedeckte Kuppe, die sich vor ihnen erhob, war die Sonnbergplatte. Dort oben, an einer Stelle, von welcher der Wind den Schnee gefegt, sahen sie den Bygotter mit ausgebreiteten Armen auf den Knieen liegen, das starre, leichenähnliche Gesicht gegen den Himmel gerichtet. Sie hörten nur das heisere, zornige Murmeln seiner Stimme, ohne seine Worte zu verstehen. Gleich einer festen Masse stand ihm der mächtige Bart vom Halse. Seine Linnenkleider starrten von Schmutz; überall hingen die Fetzen nieder und die klaffenden Risse entblößten den Körper.

Da brach ein dürrer Ast, auf den sich einer von den Dreien gestützt.

Mit gurgelndem Laute fuhr der Bygotter in die Höhe, seine glühenden Blicke schossen nieder über den Hang, „Philister – Philister über mir!“ schrie er mit gellender Stimme in die Lüfte, stürzte davon in wilder Flucht und verschwand in der Tiefe des nahen Felsenkars.

Mit zornigem Fluche eilte der Kommandant ihm nach, während einer seiner Begleiter durch die hohlen Hände hinunterschrie in die Waldschlucht:

„Leut’ – da ’rauf – da is er – da!“

Nun kamen sie einhergerannt und emporgestiegen, Einer nach dem Andern, mit lautem Schelten oder kreischenden Fragen, und Jeder trat in die ausgewatete Spur, die er vorfand.

Karli, welcher am weitesten von der Sonnbergplatte entfernt gestanden, erreichte als Letzter die Höhe der Kuppe.

Bangendes Entsetzen lähmte seine Schritte, als er jenseit des Felsenkars den Bygotter aufwärts flüchten sah über die steilen, brüchigen Felsen der Sonnbergwände. Und während unter seinen Füßen Schnee und Geröll sich löste und in die Tiefe prasselte, während er Stein um Stein auf seine Verfolger niederschleuderte, gellte seine Stimme:

„Vertilge sie, Herr – vertilge sie – rette Deinen Knecht – schleudere Deine Blitze – Berge stürze über sie – und öffne Deine Wolken – mir – mir! Alles – mein Alles hab’ ich Dir – Dir gegeben! Und Du – was giebst Du mir?“

Da sah ihn Karli stürzen, sah, wie er sich mühsam noch erhielt, wie er sich emporraffte und wieder aufwärts flüchtete gegen den Grat des Berges.

In angstvollem Laufe stürmte der Bursche über den Hang der Kuppe nieder, und während er den letzten der Männer erreichte und am Arme packte, schrie er den anderen nach:

„Leut’ – Leut’ – Jesus Maria – Leut’ – so hört’s doch auf – so laßt’s doch ab von ihm – es muß ja an Unglück geben!“

Sie aber hörten nicht auf ihn. Als hätte der Anblick des Bygotters oder der Sinn seiner Worte oder das unheimliche Sausen der Steine, die, von Fels zu Felsen prallend, über ihre Köpfe hinwegflogen, sie in blinde Wuth gebracht, so kletterten sie ihm nach, und je näher sie ihm kamen, mit desto lauterem Geschrei befeuerten sie einander.

Und immer mischte sich in ihr Geschrei und in das Poltern der fallenden Steine die gellende Stimme des Wahnsinnigen:

„Siehe, Herr – schon nahen sie mir – Deinem Knechte! Ich rufe zu Dir – in meiner Noth – die Wolken öffne mir – den Himmel – sende mir – des Elias’ feurigen Wagen – daß ich auffahre – zu Dir – und Deiner Herrlichkeit –“

Da erlosch diese Stimme; von Karli’s erblaßten Lippen hallte ein dumpfer Schrei, und während die Männer auf dem steilen Berghang in jäher Flucht ihre Rettung suchten, starrte Karli mit brennenden Blicken regungslos zur Höhe. Noch eben hatte dort oben die Gestalt des Bygotters scharf vom Himmel sich abgehoben – jetzt war sie verschwunden – und unter der Stelle, an welcher sie gestanden, stäubte eine weiße Wolke auf, welche langsam erst, dann schneller und schneller über das steile Gewände niederrollte, mit jeder Sekunde sich vergrößerte, Schnee und Steine in breiter Gasse mit sich riß und ein wirres Geräusch [876] erweckte, das aus Rauschen, Sausen, Knattern und Dröhnen sich zusammensetzte, um mit einem donnerähnlichen Schlage zu erlöschen.

Ein grauer Wust von Schnee, Geröll und Staub erfüllte die Hälfte des Felsenkars. Ein zitterndes Summen ging noch durch die Lüfte, während dünne Schneebäche lautlos aus der Höhe nachgerieselt kamen.

Zitternd, mit aschfahlem Gesichte, stand Karli an einen Steinblock gelehnt. Sein ganzer Körper war überstäubt von Schnee und Sand. Dicht vor seinen Füßen waren die äußersten Massen der Lawine ins Stocken gerathen. Er brachte kein Wort über die Lippen. Mit irren Blicken suchten seine Augen die Anderen. Denen war nun aller Zorn und Uebereifer jäh vergangen. Mit blassen, verstörten Gesichtern kamen sie von allen Seiten herbeigeeilt und bekreuzigten sich unter lallenden Worten. Scheuen Blickes schauten sie einander an – sie schienen sich mit den Augen zu zählen. Und Einer fehlte. In ihrem Schreck erkannten sie nicht gleich, welcher es wäre. Endlich stotterte Martl den Namen. Einer der Nachbarn des Kommandanten war es – er hatte bei der Verfolgung des Bygotters die Andern weit hinter sich gelassen und war zuletzt noch ganz in der Nähe des Wahnsinnigen gesehen worden.

Nun begannen sie ein lautes Schreien und Jammern, und Einzelne brachen in wilde Verwünschungen gegen den Bygotter aus: daß er bei der „Gottesstraf’“, die ihn ereilt, auch noch einen Unschuldigen mit ins Verderben hatte reißen müssen.

Als Karli diese Reden hörte, schien ihm ein heftiges Wort auf der Zunge zu liegen; doch schweigend wandte er sich ab. Und auch ein Zweiter stand wortlos vor all diesem Lärme – der Kommandant. Mit zitternden Händen zerrte er an seinem Schnurrbart und brachte die Augen nicht von der Erde.

Inzwischen begannen ein paar von den Männern schon mit Händen und Bergstöcken in den Schnee zu graben. Aber die mit Steinen und Geröll durchsetzte Masse lag wie festgestampft und angefroren. Man mußte um Geräthe und um weitere Leute gehen. Karli zögerte erst, er wollte bleiben – aber die Furcht, daß eine Kunde von dem Geschehenen auf unvorsichtige Weise ins Lehrerhaus dringen möchte, trieb ihn mit den Anderen ins Dorf hinunter.

Als sie den ersten Häusern nahe kamen, eilte Karli voraus. Er traf den Lehrer nicht an; doch versprach ihm die Frau, daß sie den ganzen Tag nicht von Sanni’s Seite weichen und daß sie auch weiterhin Alles dransetzen würde, damit die Genesende Nichts von dem Tode ihres Vaters erführe, ehe nicht ihre Besserung so weit vorgeschritten wäre, daß sie die böse Nachricht ohne Schaden für ihre Gesundheit hören könnte.

Nur halb beruhigt, eilte Karli durch das lange Dorf, in welchem die aufregende Kunde schon von Haus zu Haus geflogen war.

Daheim in der Stube fand er den Vater. Die zornige Erregung, die aus des Pointner’s Augen und Zügen sprach, verwandelte sich in starren Schreck, als er hörte, was Karli mit stammelnden Worten berichtete.

Während sich der Bursche müde auf einen Holzstuhl sinken ließ, rannte der Pointner jammernd in der Stube auf und nieder. Und schließlich fuhr er sich mit beiden Händen in die grauen Haare und hatte nur immer das eine Wort: „So a Tag – na – so a Tag – so a Tag!“

Als er wieder einmal aus dem Fensterwinkel gegen die Thür schoß, schwenkte er sich plötzlich gegen Karli herum, blieb vor ihm stehen, zerrte mit ungestümer Hand ein zerknittertes Blatt aus der Tasche, hielt es dem Burschen dicht vor die Augen und stotterte:

„Da – da – daß auch ’was Neus erfahrst – da lies amal!“

„Was hast denn da?“

„An Brief – und was für ein’! Kein’ halbe Stund’ noch is ’s her, da hat ihn a Bua ’bracht – a fremder – von der Bahnstation. So lies, sag’ ich – lies!“

Karli las; in seinen Händen begann das Blatt zu zittern; betroffen schaute er zum Vater auf, schüttelte den Kopf und las von Neuem.

Es war ein Brief von Götz, in schwerer, unsicherer Schrift mit Blei geschrieben.

Dieser Brief erklärte Alles und verschwieg nur Eins: den Weg, welchen Götz mit Kuni genommen.

„Na! Wer hätt’ sich so ’was ’denkt! So ’was!“ stammelte Karli mit schwankender Stimme.

Weiter ließ ihn der Pointner nicht reden. Er riß ihm das Blatt aus den Händen, zerknüllte es zwischen den Fäusten, und während er sein Auf- und Niedertrippeln wieder begann, tobte er gegen die Stubendecke:

„So ’was – ja – so ’was! Alles kommt über mich – Alles! Schand’ und Spott werd’ ich haben davon, und auslachen werden mich d’ Leut’ am hellen Tag’! Und wenn’s mir auch schon net um die Ander’ is – im Gegentheil – aufschnaufen thu’ ich – aufschnaufen – aber der Götz! Der Götz! Wie soll denn ich und der Hof ohne den Götz g’rathen können! Was fang’ ich denn an ohne den Götz!“

„Aber Vater! So sei doch g’scheit –“

„Na! Ich mag net! Ich möcht’ mein’ Götz wieder haben! Meinetwegen kann er Vater sein, zu wem er mag! Und weßwegen hat er denn da gleich fortlaufen müssen? Da hätt’ er ja bleiben können auch – erst recht! Na – so Eine! Das is Eine! Verführt mir mein’ Götz zum Davonlaufen!“

„Ja Vater, wie redst denn jetzt –“

„Ich red’, wie ich mag! Und ich laß’ net aus, ehvor ich net mein’ Götz wieder hab’! Und wenn s’ schon davonlaufen hat müssen, da wär’ s’ mir schon lieber mit ihrem Bruder davong’laufen – mit ihrem saubern! Ja – daß ich Dir’s sag’! Weißt, was g’schehen is? Im Wirthshaus hat er getrunken die ganze Nacht durch – und über sein’ Schwester hat er g’schimpft, daß ’s kaum zum Anhören war. Und noch Einer is dabei g’wesen, so a Vagabund, so a lumpiger! Der hat von Anfang schon an Rausch g’habt, und da hat er sich gift’, daß sich der noble Herr net zu ihm an Tisch setzt. Und Streit haben s’ ’kriegt – und der Lump hat ihm vorg’worfen, daß er amal falsch g’schworen hätt’ um seinetwegen – und der Schandarm is dazu ’kommen – und auf’packt hat er s’ alle Zwei und hat s’ dahin, schön Hand an Hand! In der Fruh, kaum daß zur Thür draußen warst, is d’ Walli daherg’rennt ’kommen – d’ Wirthskellnerin – ganz verweint! D’ Händ’ hat s’ z’sammg’schlagen über’m Kopf, und g’rad g’flennt und ’bettelt hat s’, ich sollt’ mich doch wehren um mein’ Schwager. Ja – Schnecken! Ich? Mich wehren? Um so an Schwager? Ja – so a Schwager, der kann mir g’stohlen werden! Aber natürlich – Schwager, Schwager – jetzt wird’s allweil heißen: a Schwager vom Pointner! Na! Na!“

Der Pointner schlug die Fäuste vor die Stirn, und die Thränen eines ohnmächtigen Grimmes rannen ihm über die Backen.

Wortlos saß Karli auf seinem Stuhle und starrte den Vater an.

Da trat der Pointner an eines der Fenster, als hätte irgend Etwas im Hofe seine Aufmerksamkeit erregt. Er schluchzte noch einmal auf; wischte die Hände über die Augen und stotterte mit gedrückter Stimme:

„Karli – da – Leut’ sind draußen im Hof. Entweder suchen s’ Dich – oder sie wollen sich Schaufeln und Hacken ausleihen.“

„Jesses na! Ich muß fort, Vater – fort!“ fuhr Karli erschrocken auf. „Ich muß mit ’nauf am Berg – ich muß!“

„Ja, Bua, ja, mußt schon gehn!“ seufzte der Pointner. „Na! Is das a Tag! Du lieber, lieber Gott! Und so an Unglück! Und so auf amal! Na! Na! Und das arme Deandl erst – das arme, arme Hascherl!“

Wenn diese Worte für Karli berechnet waren, so kamen sie zu spät, denn während der Pointner noch sprach, stand der Bursche schon im Hofe draußen. Die Leute, die er dort vorgefunden, waren in der That um Pickeln und Schaufeln gekommen. Karli schleppte herbei, was er nur zu finden wußte.

Dann eilte er mit den Leuten dem Sonnberg zu.

Als sie die Unglücksstätte erreichten, war die traurige Arbeit schon in vollem Gange.

Den Nachbar des Kommandanten fanden sie zuerst; trotz seiner gräßlichen Wunden zeigte er noch Leben; doch während sie ihn auf die Tragbahre betteten, verschied er ihnen unter den Händen.

[877] Eine Stunde später fanden sie den Bygotter. Sein starrer, fast zum Skelette abgemagerter Körper war unversehrt; aber von den zusammengezogenen Brauen aus ging ein klaffender Bruch über die Stirn und das kahle Haupt. Seine Fäuste waren geballt, und über seinem gespenstigen Gesicht lag noch der Ausdruck eines finsteren Zornes.

Die Leute beteten vor den Leichen; dann nahmen acht Männer die beiden Bahren auf, und unter murmelndem Gebete schlossen die übrigen sich an.

Langsam ging es thalwärts durch den beschneiten Bergwald.

Im Dorfe theilte sich der Zug.

Den Bygotter wollten sie zum Armenhause tragen. Karli aber setzte es beim Vater durch, daß der Todte im Pointnerhofe aufgebahrt wurde. Zwei Tage später, am Morgen des Allerseelentages, wurden die Beiden, die in der gleichen Stunde den Tod gefunden, in der gleichen Stunde zur ewigen Ruhe bestattet.

Und während eine dunkle Menschenmenge den weißen Kirchhof füllte, saß Karli im Lehrerhause an Sanni’s Seite.

Das Mädchen ruhte in einem Lehnstuhl, den Schoß von einer wollenen Decke verhüllt. Ihre schmalem blassen Hände lagen auf den weitgespannten Lehnen. Das rührend liebliche Köpfchen mit den sorgsam geflochtenen Haaren war in die Polster zurückgesunken, die feuchten Augen schauten zur Höhe, und über die schmalen Wangen, auf welche die wiederkehrende Gesundheit schon eine zarte, durchsichtige Röthe hauchte, ging ein kaum merkliches Zittern.

Die Pleißenburg und der Peterszwinger zu Leipzig, im Jahre 1857.
Nach einer alten Vorlage von Sprosse.

Da lösten sich zwei Thränen von ihren Lidern.

„Daß ich heut’ gar so viel auf ihn denken muß“ flüsterte Sanni. „Ob er jetzt wohl schon drüben sein mag – über’m Wasser?“

„Ja, Sanni – jetzt is er drüben – jetzt!“

Von seinem Tone betroffen, schaute sie ihm ins Gesicht. „Was hast denn, Karli?“ fragte sie. Doch bevor er noch eine Antwort finden konnte, hob sie den Kopf und lauschte den dumpfen, schwebenden Glockenklängen, welche die Scheiben der Fenster erbeben machten.

„Ich weiß net, Karli – aber das kann doch kein Kircheng’läut’ net sein? Das is ja g’rad, wie wenn a ’Gräbniß wär’?“

„Ja – a ’Gräbniß – ja freilich a ’Gräbniß.

„Ja mein Gott, wer is denn g’storben?“

„Wer – wer g’storben is? Der alte Häusler – weißt, der Pechlernaz’ – ja – der allweil so viel krank g’wesen is.“

„Geh’! Aber ich mein’ doch, es hätt’ mir d’ Frau Lehrer vor acht Tag’ schon g’sagt –“

„Na – ah na – das kann net sein! Selbigs Mal – g’wiß wahr – da is er erst versehen worden. G’storben – richtig g’storben is er erst vor zwei Tag’!“

„Der arme Hascher, der! Aber schau – dem hat ja der liebe Herrgott ’s Sterben als a Verlösung g’schickt. Und er wird ihn auch gnädig halten in der himmlischen Ruh’.“

„Ja – ja, Sanni, in Ewigkeit, Am’!“

Die Glocken setzten aus, und man hörte vom nahen Kirchhofe herüber den verlöschenden Hall einer einzelnen Stimme. Es war die Stimme des Pfarrers, der die Leichenrede sprach. Das währte eine Weile – dann war ein wirres Gemurmel zu vernehmen.

„Geh’, Karli – geh’ – laß uns auch a Vaterunser beten für sein’ arme Seel’.“

Ihre Hände verschlangen sich, und ihre Stimmen flossen in einander zu leisem Gebete.

Vom Kirchhof herüber tönte ein schwermüthig getragener Gesang, und wieder huben die Glocken ihr schwebendes Läuten an.

(Schluß folgt.)


[878]

Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen.0 Von R. Artaria.
XIV. (Schluß.)

 Meine theuerste Marie!

Wenige Tage noch, und Du stehst im Myrthenkranz an Deines Richard Seite in der alten Nikolaikirche und sitzest dann glückselig mit ihm an der Ehrentafel, während man sich von allen Seiten mit Glückwünschen um Euch drängt und die Champagnergläser dazu klingen. Hier aber in dem fernen stillen Stübchen sitzt Eine, die vor einem Jahr kaum geglaubt hätte, es verwinden zu können, daß sie nicht dabei sein solle, und denkt nicht ans Reisen, sondern geht alle Augenblicke einmal zu einem blauverhangenen Wiegenkorb, um den Schleier zu lüften und das süße Gesichtchen zu betrachten, an dem sie sich, trotz vierwöchigen Anschauens, noch nicht satt gesehen hat. Aber im innersten Herzen fühlt sie ihre eigene Seligkeit zugleich als innigsten Wunsch für Dich, meine geliebteste Marie. Möchtest Du so glücklich werden, wie ich es bin! Mehr kann ich Dir nicht wünschen; denn ein größeres Glück giebt es nicht, das weiß ich gewiß.

Vorhin habe ich die letzten Stiche an der Decke gemacht, die hier beiliegt und Dich stets an mich erinnern soll. Könnte sie erzählen, wie viel würde sie Dir berichten von thörichten schweren Gedanken, die ich hineingestickt, von mancher Thräne, die darauf gefallen, wenn ich immer wieder das Bild sah, von dem ich einmal geträumt: wie Hugo mit dem Kind zu Allerseelen an meinem Grabe steht! Darüber wollte mir beinahe das Herz brechen. Saß er aber dann bei mir, während ich arbeitete, dann führten wir die süßen, lächerlichen Elterngespräche, wo wir uns die ganze Zukunft ausmalten, wie Alles mit dem Jungen werden solle. Nur über seinen Beruf konnten wir uns nicht einigen, weil ich durchaus einen Künstler haben wollte und Hugo ihm für diesen Fall mit Enterbung drohte. Jurist sollte er aber auch nicht werden, a!so was dann? Da war manchmal guter Rath theuer, zum Schlusse sagte Hugo regelmäßig: „Nun, vorläufig können wir’s ja noch abwarten.“

Als dann aber aus dem Spaß plötzlich Ernst wurde und angstvolle Stunden hereinbrachen, da sah ich ihn todtenbleich neben mir stehen und suchte nur fortwährend muthig zu sein, um ihn nicht so arg leiden zu sehen. Und als dann auf einmal ein niegehörtes kleines Stimmchen sich ganz sonderbar und meckernd vernehmen ließ und unser Junge – ein kleines, kleines Mädchen geworden war, da machte Hugo ein so völlig konsternirtes Gesicht, daß ich trotz der schwierigen Situation nicht anders konnte, als hell auflachen.

Das war eine Ueberraschung; denn an diesen Fall hatten wir ja vorher gar nicht gedacht! Und so war für das kleine Mädel nicht einmal ein Name vorhanden. Aber ich kann heute wirklich gar nicht mehr begreifen, wie wir so albern sein konnten – ein Mädelchen ist ja hundertmal reizender als so ein plumper Junge; es ist ein reines Vorurtheil, sich immer den zuerst zu wünschen. Aber die Menschen sind nun einmal so. Als des andern Morgens der Doktor kam, dem Hugo mittelst einer Karte das glückliche Ereigniß angezeigt hatte, da sagte er schon an der Thür mit seinem malitiösen Lächeln: „Gratulire zur Tochter!“

„Woher wissen Sie das?“ rief ich.

„Ei,“ erwiederte er, „wenn es ein Sohn gewesen wäre, hätte er auch auf der Karte gestanden. Das kennt man schon.“

Ich ärgerte mich doch unsagbar über den spöttischen Menschen, der sich da mit seinen drei Jungens groß that. Aber wenn auch damals eine kleine Enttäuschung dabei war – heute gäbe ich mein Mädelchen nicht um drei Dutzend Jungens, ja nicht um alle Schätze der Welt hin. Ich hatte mich ja immer auf das Kind gefreut, aber doch nicht recht gewußt, wie man es mache, um so ein kleines Hilfloses so furchtbar lieb zu gewinnen. Und dann waren die Neugeborenen, die ich bis dahin gesehen, alle so häßlich wie kleine Aeffchen.

Aber als nun der Morgen kam, als ich nach einem süßen Schlummer die Augen öffnete und man mir das kleine, gar nicht häßliche, sondern wundernette Geschöpfchen frisch gebadet und in einem gestickten Tragdeckchen aufs Bett legte und ich voll Staunen und Neugier seine zarten Gliederchen betrachtete und die großen schlehblauen Augen – da fühlte ich auf einmal aus dem innersten Herzen heraus einen ganz neuen, heißen Strom von Zärtlichkeit brechen und mit einem nie gekannten Glücksgefühl hieß ich das Kind, mein Kind, im Leben willkommen. Hugo knieete neben meinem Bett und hatte den Arm um uns Beide geschlungen und wir waren unbeschreiblich selig. Was unser einfaches Zimmer umschloß, das, fühlten wir Beide gleich tief, war das Höchste, was Menschenherzen erleben können!

Ach, und dann die glücklichen Rekonvalescententage, wenn gegen Abend Alle kamen, sich um meinen Divan zu versammeln und das Kindchen zu bewundern, das mir im Arme lag! Die beiden Großmütter, deren Namen Johanna Elisabeth es tragen soll; Hugo, der mit unglaublicher Schnelligkeit vom Bureau heim eilte, um seine Tochter wiederzusehen und alle Tage neue Ähnlichkeiten zu entdecken; Klara kam dann auch dazu, mit ein paar späten Rosen oder Reseden in der Hand; Brandt, welcher es augenscheinlich vermied, mit ihr zu kommen, erschien aber dann so häufig „zufällig“ eine Viertelstunde später, daß ich anfing, mir meine stillen Gedanken darüber zu machen, und mich sehr freute.

Du glaubst es nicht, wie dieser querköpfige Weltverächter sich zu seinem Vortheil verändert hat. Das Leben draußen in dem großen Betrieb, wo er gehörig arbeiten muß und gar keine Zeit hat, über sein werthes Ich nachzudenken, der Umgang mit dem klugen, tüchtigen alten Reichert und – die gute pekuniäre Lage, welche offenbar auf den Pessimismus sehr besänftigend wirkt: alles Das zusammen hat diesem jungen Herrn neue Züge ins Gesicht gemalt, die ihm sehr gut stehen. Er trägt jetzt Wasserstiefeln und eine Lodenjoppe; der Sammetrock ist verschwunden; aber offenbar hat er dadurch in Klara’s Augen Nichts verloren. Sie lesen Abends Shakespeare zusammen, erzählte sie mir neulich; der Papa schlafe freilich öfters dabei ein, aber Herr Brandt lese so wundervoll und –
den 26., früh. 

O, das ist köstlich, das muß ich Dir gleich schreiben! Gestern unterbrach mich ein Besuch, fast zu gleicher Zeit trat auch Klara ein; ich sah es ihr auf den ersten Blick an, daß sie lebhaft erregt war. Sie mußte sich doch ein halbes Stündchen beherrschen; aber kaum war die Dame fort, so flog sie mir an den Hals und rief: „Denken Sie nur, Frau Assessor, heute Morgen habe ich den neunundneunzigsten Schimmel gesehen und vorhin – als ich hier ins Haus trat – begegnete mir – ein Kaminfeger!!“

„Ein Gott, sollte man denken nach Deinem verzückten Aussehen,“ neckte ich. „Klara, Klara!“

Aber sie ließ sich nicht irremachen. In einem Strom von hastigen, glückseligen Worten kam es heraus, „wie jetzt Alles anders sei bei ihnen draußen, der Papa so zufrieden, und wie er den Herrn Doktor lobe und immer sage, so ein Mann habe ihm gerade gefehlt, und wie Brandt selbst so gut sei und so ganz anders als früher, und wie sie manchmal glaube, er habe sie wirklich gerne, obgleich sie ja gar nicht ‚bedeutend‘ sei, und …“ da schellte es draußen und wir Beide kannten den Riß. Einen Augenblick später trat Brandt selbst ins Zimmer, begrüßte mich, und nun kam der große Moment, wo vor meinen Augen der geheimnißvolle Schicksalsknoten eines Händedrucks nach neunundneunzig Schimmeln und einem Kaminfeger geschlungen wurde! Klara war blaß geworden bis in die Lippen, als sie ihre Hand in die seine legte; dann sah sie mich tief aufathmend an, während eine langsam aufsteigende Röthe ihr hübsches Gesichtchen übergoß. Sie befand sich in einer solchen Verwirrung, daß Brandt sie erstaunt ansah, und darauf ergriff sie den nächsten Vorwand, um zu entschlüpfen.

Er sah ihr schweigend einige Augenblicke nach, ging dann ein paarmal im Zimmer auf und ab und sagte endlich, vor mir stehen bleibend: „Würden Sie es sehr lächerlich finden, wenn ich Ihnen bekennte, daß ich dieses Mädchen in seiner frischen Natürlichkeit und Güte von Herzen lieb habe?“

„Nicht im mindesten,“ sagte ich ruhig; „ich fände es im Gegentheil unbegreiflich, wenn es nicht so wäre.“

„Ja aber –“ er fuhr sich wieder mit seinem alten Verzweiflungsstrich durch die Haare – „was soll, was kann daraus werden?“

„Ein glückliches Paar, hoffentlich. Sprechen Sie offen und ehrlich mit dem Vater! So viel ich weiß, ist er Ihnen gewogen. Wenn er Vertrauen auf Ihren Charakter hat – die Geldfrage wird wohl kein Hinderniß sein.“

Wir sprachen noch ein Weilchen weiter.

„Sie haben Recht,“ rief er endlich erleichtert, „von der Seite habe ich es noch nicht angesehen.“

Er griff hastig nach seinem Filz, stammelte noch einige Entschuldigungen, und draußen war er.

Heute früh nun, vor elf Uhr schon, ließ er mich um eine kurze Unterredung bitten und erzählte mir freudestrahlend, daß ihn der alte Herr nicht abgewiesen habe. Eine Probefrist von einem Jahr freilich wurde ihm gesetzt und von Verlobung darf jetzt noch keine Rede sein; aber das ist ihnen Beiden gesund, und daß sie sich schließlich bekommen, darüber ist Klara beruhigt – dafür lassen wir die Schimmel und den Kaminfeger sorgen!

Nun ich diesen Brief schließen will, kommt es mir so recht lebhaft zu Sinn, wie ich Dir voriges Jahr um diese Zeit, wo eben so die Flocken vor dem Fenster tanzten, meine ersten Haushaltskalamitäten erzählte. Damals war ich ein kindisches, verzogenes Ding voll Egoismus und Empfindlichkeit; aber Eines war echt und stark in mir, die Liebe zu meinem Mann, und sie hat mich Alles gelehrt, schaffen und überwinden und allmählich eine Andere werden. Ich weiß es jetzt, daß man unermüdlich jeden Tag an seinem Glück bauen muß und daß es heißt, Liebe säen, um Liebe zu ernten. Voriges Jahr im ersten Uebermuth stellte ich Dir mein „Programm“ auf und dachte mir es kinderleicht, das zu erreichen. Nun, wenn heute auch noch Manches zu verbessern ist, so kann ich doch voll froher Empfindung sagen, daß ich den sicheren Weg vor mir sehe und nicht mehr im Zweifel bin, daß es der rechte ist. Hugo’s Mutter sieht jetzt voll freundlicher Billigung auf meine häuslichen Bestrebungen und lobt mich als gute Hausfrau; er selbst sagte neulich: „Weißt Du noch, Emmy, wie Du mir vorigen Winter versprachst, ich solle über Jahr und Tag der beneidenswertheste Mann im deutschen Reich sein? Es ist doch hübsch, wenn man sein Wort recht pünktlich hält!“

Mama sitzt heute und garnirt ein pompöses Taufkissen; sie ist glücklich über ihr Enkel-Pathchen und versichert, es werde einmal eine Schönheit werden. Das steht nun freilich dahin; aber ein braves Menschenkind soll es werden. Ich wende jetzt meinen ganzen Ehrgeiz vom genialen Sohn auf eine ganz prachtvoll erzogene Tochter und denke mir, auch diese kann die Welt einmal gut gebrauchen!

Nun zum Schluß, meine theuerste Marie, fasse ich Dich nochmals ans Herz und wiederhole meine ersten Wünsche. Bleibe fest in Deiner Liebe, dann überwindest Du alles Andere und siehst nach einem Jahr und nach vielen Jahren so froh ins Leben, wie heute
Deine glückliche Emmy. 




[879]

Blätter und Blüthen.

Genie und Irrsinn. Unter diesem Titel hat ein italienischer Professor C. Lambroso eine Schrift verfaßt,[1] in welcher er die Verwandtschaft des ersteren mit dem Wahnsinn untersucht und die Beziehung beider zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte aus einander setzt. Es wird viele Leser ganz sonderbar gemahnen, wenn sie die höchste Begabung des Menschengeistes mit seinen größten Verirrungen zusammengestellt sehen: und doch ist dies nicht etwas so Neues, daß es Befremden erregen könnte; man denke nur an das Wort des großen Shakespeare:

„Des Dichters Aug’, in schönem Wahnsinn rollend.“

Schon der Vater aller Denker, Aristoteles, meinte, daß viele Menschen in Folge heftigen Zuströmens des Blutes nach dem Kopfe zu Dichtern, Propheten und Sibyllen werden, wie Markus von Syrakus, der in Anfällen des Wahnsinns schöne Verse verfaßte, bei ruhigem Geiste aber ohne jede dichterische Begabung war. Platen nennt das in einem reinen und kindlichen Gemüth entzündete Feuer, „in schöner Dichtung die Thaten der Helden zu besingen“, eine Art von Irrsinn; Paskal erklärte, daß die höchste Stufe des Genies dem Wahnsinn nahe liege. In der That gaben sich mehrere hochbegabte Männer Hallucinationen hin und verfielen auf lange Zeit dem Wahnsinn. Neuere Gelehrte suchten darzuthun, daß der Genius ein Nervenzustand sei, der nicht selten mit demjenigen der Irrsinnigen übereinstimme. Verschiedene geniale Menschen, die durch fortgesetzte Selbstbeobachtung bestrebt waren, ihr Inneres zu erforschen, haben die dichterische Begeisterung als ein sanftes Fieber beschrieben, dem unwillkürlich und schnell die Gedanken entspringen, von dem die Funken sprühen, wie von einem brennenden Holzscheite, das man schüttelt.

Ueberaus zahlreich sind die Sonderbarkeiten, die geniale Menschen dann, wenn sie mitten in ihrer schöpferischen Thätigkeit waren, an den Tag legten. Viele haben im Traume gedichtet, Entwürfe abgefaßt, Verse gemacht. „Alle Handlungen des Genies,“ sagt Voltaire, „sind Werke des Instinkts.“ Corneille schrieb die Scene der Horatier „wie ein Vogel sein Nest baut.“ Tasso glich einem Besessenen, wenn er dichtete; Milton vergrub sein Haupt in die Sofakissen; Bossuet pflegte sich in ein kaltes Zimmer zurückzuziehen, nachdem er sich den Kopf mit warmen Tüchern umwickelt hatte; Rossini komponirte im Bette, Rousseau ordnete seine Gedanken, wenn er unbedeckten Hauptes in der heißen Mittagssonne spazieren ging.

Die Leidenschaften aller genialen Menschen sind heftig, ihre Empfindsamkeit ist oft bis zum Krankhaften gesteigert: das ist derselbe Boden, auf welchem der Irrsinn erwächst. Geniale Gelehrte sind oft einseitig: sie haben sich oft ihr Lebenlang mit einem beschränkten Zweige des menschlichen Wissens beschäftigt; eine Aehnlichkeit mit der „Monomanie“, den Irren, die ganz von einer fixen Idee beherrscht werden. Darum fällt es gleich schwer, Geisteskranke wie hochbegabte Männer von einmal gefaßten Vorsätzen oder Anschauungen abzubringen.

Eine andere sonderbare, aber nichts desto weniger feststehende Thatsache ist diejenige, daß viele Wahnsinnige in verwandtschaftlichen Beziehungen zu genialen Menschen stehen und daß umgekehrt viele hochbegabte Männer Verwandte und Kinder hatten, die an Fallsucht, Blödsinn und Irrsinn litten. Richelieu’s Schwester bildete sich ein, ihr Rücken sei von Krystall, und die Schwester Hegel’s glaubte sich in ein Postpacket verwandelt. Die Schwester Niccolini’s glaubte, wegen der Ketzereien ihres Bruders das eigene Seelenheil verlieren zu müssen und machte wiederholt den Versuch, ihn, der ihr eingebildetes Seelenunglück verschuldet habe, zu tödten. Die Schwester Lamb’s tödtete in einem Anfalle von Wahnsinn ihre eigene Mutter; die Mutter Karl’s V. war Johanna die Wahnsinnige. Beethoven’s Vater war ein Trinker; Byron’s Mutter geistesschwach. Sein Vater führte ein ausschweifendes Leben und hatte einen frechen, schamlosen Charakter; auch sagte Byron von sich selbst: „Wenn es einen Fall giebt, in welchem ein excentrischer Charakter zu entschuldigen ist, so trifft dieser Fall bei mir ein, der ich von einer Familie abstamme, deren Charakterbeschaffenheit mich zu allem Anderen, nur nicht zur Harmonie des Gemüths führen und zum häuslichen Frieden befähigen konnte.“ Der Vater Schopenhauer’s war ein Mann von absonderlichem Charakter und endete durch Selbstmord; eine Tante und ein Großvater des Philosophen waren wahnsinnig. Die Kinder Mercadante’s, Donizetti’s, Volta’s, Manzoni’s fielen dem Wahnsinn zum Opfer, eben so Villemain’s Vater und Bruder und Kant’s Schwester.

Zahlreich ist das Verzeichniß geisteskranker Genies, welches sich in der Schrift von Lambroso findet; man wird darunter allerdings viele Männer antreffen, deren Lebensbeschreibungen, wie sie die Konversationslexika bieten, wenig oder gar nichts von geistigen Störungen enthalten; doch ein genaues Studium ihrer Lebensläufe zeigt, daß sie in einzelnen Epochen unter der Herrschaft des Irrsinns standen und daß viele ihrer Sonderbarkeiten keine andere Erklärung zulassen, als daß sie durch geistige Störung veranlaßt wurden. Wer über höchst merkwürdige und abenteuerliche Fälle von Seelenstörung und über verschiedene Arten des Wahnsinns Näheres erfahren will, der lese die überaus stoff- und inhaltsreiche Schrift von Lambroso. Auch auf das Wesen des künstlerischen Genies läßt sie manche neue und überraschende Lichtblicke fallen. †      

Die Pleißenburg und ein Stück vom alten Leipzig. (Mit Illustration S. 877.) Es hat sich in Leipzig, das als Sitz des Handels und der Wissenschaft unter Deutschlands Städten seit Jahrhunderten einen hohen Rang behauptete, manches historisch denkwürdige Gebäude erhalten. Unter diesen Bauwerken nimmt die Pleißenburg durch Größe, Ausdehnung und geschichtliche Bedeutung die erste Stelle ein. Sie war eine der drei Zwingburgen, welche Markgraf Dietrich, den die Geschichte als „den Bedrängten“ bezeichnet, der aber richtiger „der Bedränger“ genannt werden müßte, im Jahre 1217 gegen die seiner Willkür und Habsucht entgegentretende Bürgerschaft errichtete. Während zwei dieser Zwingburgen bald nachher den Klosterbauten der Dominikaner und Franziskaner weichen mußten, blieb die dritte, zum besseren Schutze der Stadt, bestehen und galt Jahrhunderte hindurch für eine der stärksten Festungen des Landes.

Während des Zeitraumes von der Gründung der Pleißenburg bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts ist nur eine Belagerung derselben vorgekommen, wie denn überhaupt Leipzig im Mittelalter wenig von kriegerischen Ereignissen heimgesucht wurde. Als die Pleißenburg im Jahre 1547, bei der Belagerung durch Johann Friedrich den Großmüthigen, sammt den Festungswerken der Stadt, arg geschädigt worden war, ließ Kurfürst Moritz ein neues Schloß, nach dem Plane der Citadelle von Mailand und dem 1530 von Tartaglia zuerst in Anwendung gebrachten neuen Fortifikationssysteme, errichten. Der Baumeister war der berühmte Architekt Hieronymus Lotter, Bürgermeister zu Leipzig. Das Schloß erhielt eine Bastion nach außen und zwei halbe Bastionen nach der Stadtseite, wie sie der Unterbau der Pleißenburg in ihrer ursprünglichen Gestalt noch jetzt zeigt. Auf dem hohen, starken Thurme, welcher muthmaßlich noch vom alten Baue herstammt, befanden sich fünf Böden mit Geschützen, und nicht minder waren auch die Bastionen mit Kartaunen und Feuermörsern wohl armirt. Zwei viereckige Thürme, die jetzt bis zu geringer Höhe abgebrochen sind, und die Gewölbe des nach der Stadt gerichteten „Trotzers“ waren einst so gefürchtet wie die Jupen von Rochlitz und die Kerker und Folterkammern von Stolpen und Hohnstein. Im Dreißigjährigen Kriege galt die Pleißenburg für eine Hauptfestung, und es haben blutige Kämpfe und mehrfache Belagerungen derselben um ihren Besitz stattgefunden.

Als aber aus der Blutsaat dieses scheußlichsten aller Kriege friedliche Zeiten erwachsen waren, verlor die Pleißenburg ihren Werth. Im Siebenjährigen Kriege galt sie schon nicht mehr als Festung. Alsbald nach dessen Beendigung kam der Gedanke zum Ausdruck, daß eine den Künsten und Wissenschaften, dem Handel und Gewerbe geweihte Stadt, wie Leipzig, sich nicht zu einer Festung eigne und was sie noch als solche erscheinen ließ, Graben, Wälle und Bastionen, allmählich verschwinden müßten, um anderen Zwecken Raum zu geben. Den Anfang hierzu machte 1766 die Erbauung eines Stadttheaters auf der Ranstädter Bastion, und bald traf die umgestaltende Hand des Friedens auch die Pleißenburg. Der Thurm wurde zur Sternwarte eingerichtet, und in die Wohnungen der Besatzung und die fürstlichen Gemächer verlegte man landesherrliche Magazine, die Maler- und Bau-Akademie, das chemische Laboratorium und ein Gerichtsamt. Seit 1830 dient die theilweise umgebaute Pleißenburg als Kaserne. Zugleich mit dem Neubaue des Schlosses Pleißenburg hatte Kurfürst Moritz auch der Stadt neue Befestigungen gegeben, deren Ueberbleibsel ihr manche pittoreske Ansicht verliehen. Namentlich war es der südliche Theil der Stadt, von der Pleißenburg bis zu dem sogenannten Moritzdamme, wo noch die alte Wallmauer, das Petersthor, die steinerne Bogenbrücke am Petersthore, mit ihren zwei Riesenpappeln, der als Obstplantage benutzte Stadtgraben und das gewaltige Magazingebäude, mit den angrenzenden niedlichen Zwingerwohnungen und dem Peterskirchlein, ein anmuthiges Erinnerungsbild der einstmaligen Festung boten. Es erhielt sich bis zum Jahre 1857, wo die in Leipzig erwachte Baulust ihr Augenmerk auch hierher richtete. Nach kurzer Zeit waren nur noch die Pleißenburg und die Peterskirche erhalten. Alles Uebrige hatte prächtigen Promenadenanlagen und einer der schönsten Straßen der Stadt, der Schiller-Straße, Platz gemacht. Das Peterskirchlein ist Anfang 1886 ebenfalls verschwunden und an dessen Stelle ist das Gebäude der Reichsbank getreten. So blieb von Allem nur die finstere Trotzburg Markgraf Dietrich’s übrig, als einziger Zeuge einer langen denkwürdigen Vergangenheit, in der sie ihre einst so stolze Bedeutung verlor, während die Jahrhunderte von ihr beherrschte Stadt zu Macht und Größe emporstieg. Otto Moser.     

Ein beachtenswerthes Schatzkästlein. „Welcher Beruf paßt für Dich? Wie hilft man dem Zucken der Gasflamme ab? Darf man den Gelüsten eines Fiebernden nachgeben? Wie wird ein Tisch gedeckt? Wie adressirt man einen Brief an den Rektor der Universität? Wie heilt man einen kranken Hund? Welche Obstsorten gedeihen bei uns am besten? Wer grüßt zuerst? Wie macht man ein Testament? Bei solchen und tausend ähnlichen Fragen des täglichen Lebens suche im ‚Schatzkästlein‘ eine Antwort, und ich denke, sie wird nicht fehlen.“ Diese Worte hat der Stuttgarter Buchhändler W. Spemann auf das Titelblatt des von ihm herausgegebenen „Schatzkästlein des guten Raths“ drucken lassen, und er hat damit in deutlichster Weise gesagt, welchen Zwecken sein eigenartiges Buch dienen soll. Es ist ein Konversationslexikon des täglichen Lebens; die verschiedenartigsten Fragen, welche die Gesundheit, die Haushaltung, die gute Lebensart, die Berufswahl, die Frauenarbeiten, die Spiele etc. betreffen, werden hier, systematisch geordnet, in bündigster Kürze beantwortet. Auf etwa 800 Seiten finden wir 2133 bald umfangreichere, bald kürzere Artikel, aus welchen wir erfahren, wie ein Haus gebaut werden soll oder wie ein Ei „mit vieler Geschicklichkeit und anmuthiger Fertigkeit geöffnet und verzehrt werden“ kann. Ernst und Scherz des Lebens sind hier gleichmäßig berücksichtigt; auf den ersten Blick mag es uns sonderbar berühren, wenn wir neben trefflichen Belehrungen über die Pflege der Säuglinge und die Jagd- und Reiseapotheke auch Notizen über Gesellschaftsspiele wie „Gesichterschneiden“, „Sackhüpfen“ oder „der geneckte Frosch“ finden: aber das tägliche Leben macht selbst derartige wunderbare Sprünge; es ist ein Drama und eine Posse zugleich, und so muß auch ein Schatzkästlein, wie das vorliegende, neben echten Perlen bunten Tand, Kotillonorden etc. enthalten. Ob die Menschheit ein solches Büchlein braucht, möchte man fragen. Unzähligen wird es gute Dienste leisten, können wir aus Erfahrung [880] antworten. Täglich werden wir von unseren Lesern um Beantwortung derartiger Fragen ersucht und sogar als Schiedsrichter von Parteien angerufen, welche sich darüber nicht einigen können, wer auf der Straße die rechte Seite einnehmen soll, was die „Götterblume“ in der Blumensprache bedeutet, oder welche Regeln beim Sechsundsechzigspiel maßgebend sind – das Spemann’sche „Schatzkästlein“ giebt darüber gründliche Auskunft, und wir möchten ihm die weiteste Verbreitung wünschen. Dann hätten ja die Wettenden den Schiedsrichter im Hause und brauchten nicht die oft hundert Meilen entfernte Redaktion mit umständlichen Briefen und bequemen Postkarten zu bombardiren! *      

Geschenklitteratur. In einer Prachtausgabe erscheint Friedrich Rückert’s „Liebesfrühling“ (J. D. Sauerländer’s Verlag, Frankfurt). Einer der schönsten Gedichtcyklen unserer Litteratur, das Weihevollste und Stimmungsvollste, was Rückert geschaffen, in anmuthigem Fluß, ohne all das Spröde, das seiner Dichtweise bisweilen anhaftet, liegt hier in einer einfach vornehmen Ausstattung vor. Meister Hermann Kaulbach hatte die künstlerische Ausführung übernommen; die Titelblätter der einzelnen Sträuße, auch die Initialen rühren von ihm her. Bei den 80 Textillustrationen, die neben seinen vier Vollbildern in Lichtdruck das Werk schmücken, standen ihm Künstler wie Grundherr, Klimsch u. A. zur Seite.

Eigenartig sind die „Mythologischen Landschaften“, Lichtdrucke nach Gemälden von Professor Edmund Kanoldt, die in prächtiger Ausstattung im Verlag von C. F. Amelang in Leipzig erschienen sind: wir werden an die Gemälde von Poussin und Claude Lorrain erinnert. Das Verdienst derartiger Bilder, auf denen die Helden und Heldinnen der Mythe und zum Theil des Trauerspiels nur die Staffage bilden, besteht in dem Stimmungsvollen der Landschaft, welche wie ein großartiger Kommentar der Natur das sagenhafte Menschengeschick umgiebt. Wie erhaben feierlich ist die Scenerie, in deren Mitte Iphigenie steht, das Land der Griechen mit der Seele suchend; wie ahnungsvoll düster die Waldeinsamkeit der Kassandra, zu welchen prächtigen Meerbildern giebt der Tod einer Sappho und Hero Anlaß! Und so ist’s auch mit den anderen Stoffen: Antigone, Psyche, Dido und Aeneas, Achilles und Thetis. Den sagengeschichtlichen Inhalt erläutert A. Leschivo in sinnigen Versen.

„Stille Winkel“ von Hermine Schmidt von Preuschen (A. Hofmann u. Komp., Berlin) enthält zehn Stillleben, in denen in phantasievoller, oft phantastischer Weise die Eigenart einiger namhaften Dichter: Theodor Storm, Paul Heyse, Ibsen, Ebers, Geibel, der Maler Boecklin, Lenbach und Menzel, der Komponisten Wagner und Liszt mit dem Griffel und dem Pinsel charakterisirt wird. Die Bilder sind originell und stimmungsvoll, in der Ausführung oft farbenbunt. Ihre Bedeutung ist eine symbolische: wenn man ein solches Bild ansieht, soll man durch seine Attribute und seine Stimmung den Gesammteindruck der dichterischen Persönlichkeit erhalten, der diese malerischen Votivtafeln gewidmet sind.

„Parzival“, den letzten Opernstoff von Richard Wagner, hat als das Lied von Parzival und Gral Emil Engelmann nach der Quelle des Wolfram von Eschenbach und des Christian von Troies[WS 1] für das deutsche Haus bearbeitet (Stuttgart, Paul Neff). Die Engelmann’schen Nach- und Neudichtungen mittelalterlicher Epen sind ja bekannt; sie streben mit Erfolg nach Volksthümlichkeit und allgemeiner Verständlichkeit. Die Ausstattung ist sehr elegant: 6 Lichtdruckbilder und 67 Illustrationen im Text von Th. Hofmann, E. von Wörndle u. A. erläutern die Dichtung.

Zuletzt machen wir noch auf ein zierliches Büchlein aufmerksam: H. Villinger, „Aus meiner Heimath“ (Stuttgart, Spemann). Es sind Skizzen, Idyllen, Genrebilder aus dem Süden Deutschlands, durchweg anheimelnd, gemüthvoll, oft von humoristischer Färbung. †      

Ein Buch gegen Zahnweh. Das Zahnweh ist schlimm, das wissen wir Alle und unterschreiben ohne Zaudern des Dichters Worte:

„Denn noch bis heut’ gab’s keinen Philosophen,
Der mit Geduld das Zahnweh konnt’ ertragen.“

Mittel gegen dasselbe sind sehr gesucht, und namentlich die Geheimmittelschwindler bieten recht viele und schädliche an, wobei sie trotzdem glänzende Geschäfte machen. Ich glaube allen Leidensgenossen ein besseres Mittel empfehlen zu können: ein Büchlein, das eben auf meinem Tische liegt. Es ist kein spannender Roman, in dessen Lektüre man sich derart vertiefen kann, daß man selbst die Zahnschmerzen auf kurze Zeit vergißt; eine solche betäubende Wirkung übt das Büchlein nicht, wohl aber eine aufklärende, indem es uns lehrt, wie wir die Zähne gesund erhalten und der beginnenden Verderbniß derselben Einhalt gebieten können. „Anleitung zur Pflege der Zähne und des Mundes“ (Leipzig, Ernst Keil’s Nachfolger) lautet dessen Titel und der Verfasser ist Dr. Wilhelm Süersen sen., Geheimer Hofrath und Hofzahnarzt in Berlin, der aus den früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ unseren Lesern wohlbekannt ist. Das äußerst nützliche Büchlein hat schon viel Ehren erfahren. Gleich bei seiner Geburt gab ihm der „Centralverein deutscher Zahnärzte“ das beste Zeugniß auf den Weg, indem er es als „gekrönte Preisschrift“ herausgab. Es wurde, so viel wir wissen, bis jetzt in zehn fremde Sprachen übersetzt, und soeben erlebt das deutsche Original auch die zehnte, neu durchgesehene Auflage. Ein volksthümliches Buch, welches derart eingeführt ist, braucht man nicht zu empfehlen; man bringt es nur in Erinnerung. Es hat Nutzen gestiftet und wird weiter nützen. Ein findiger Amerikaner hat einmal prophezeit, daß in dreitausend Jahren die Menschen nicht etwa zu den „zahnarmen“, sondern gar zu den „zahnlosen“ Geschöpfen zählen würden. Solche Befürchtungen konnte man in grauer Vorzeit hegen, wo die Zahnärzte sich nur auf das Reißen der Zähne verstanden; jetzt aber, wo die wissenschaftlich fortgeschrittene Zahnheilkunde die Zähne zu erhalten weiß und durch treffliche populäre Darstellung zum allgemeinen Gut wird, brauchen wir nicht besorgt zu sein: die Menschheit wird auch fernerhin bissig bleiben, wie sie es seit jeher gewesen. *     

Einbanddecke zur „Gartenlaube“. Auch zum laufenden Jahrgang der „Gartenlaube“ hat die Verlagsbuchhandlung Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig wieder neue, geschmackvolle Leinwanddecken nach einer Zeichnung von Prof. Fr. Wanderer herstellen lassen. Die Decken sind von olivenbrauner Farbe mit reichem Gold- und Schwarzdruck und können durch alle Buchhandlungen, welche die „Gartenlaube“ liefern, zum Preise von 1 Mark 25 Pfennig bezogen werden.


Skat-Aufgabe Nr. 17.
Von K. Buhle.

Die Mittelhand gewinnt auf folgende Karte:

(car. As) (car. Z.) (car. D) (car. 8.) (car. 7.) (tr. As.) (tr. 8.) (p. As) (c. As) (c. 8.)

Schellen ((car.)-Solo mit Schneider; denn die Gegner erhalten nur 29 Augen, obwohl keine Zehn blank sitzt, auch nur zwei Sieben im Skat liegen.

Wie sitzen die Karten und wie ist der Gang des Spiels?


Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 16 auf S. 772:

Bei genauer Prüfung der ersten vier Stiche ergiebt sich, daß die Mittelhand der Spieler nicht sein kann, weil die Spielführung bei Grand oder Solo ganz unverständlich wäre, und weiter folgt daraus, daß es sich nur um ein Null handeln kann. Die Vorhand hat auf:

eK, e8, gD, gK, gO, g9, g8, g7, r8, s7

Null angesagt und in kühner Weise, um die Gegner zu täuschen, vom König ab gespielt; sie gewinnt bei folgender Kartenverteilung: Skat: eW, rO.

Mittelhand: eD, eO, e9, gU, rU, r7, sK, sO, s9, s8;
Hinterhand: eZ, e7, gZ, rD, rK, rZ, r9, sU, sZ, sD.


Auflösung des Bilder-Räthsels auf S. 840.
Wer den Kern will, muß die Nuß beißen.



Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Für Freunde der Kynologie! Im Mai nächsten Jahres werden es 10 Jahre sein, daß in Frankfurt am Main seitens mehrerer Jagd- und Thierfreunde die erste Hunde-Ausstellung Deutschlands stattgefunden hat. Dies veranlaßt den „Verein zur Züchtung reiner Hunderacen“ in Frankfurt am Main in den Tagen vom 10. bis 13. Mai 1888 eine große internationale Ausstellung von Jagd- und Luxushunden zu veranstalten. Wir wünschen dem Unternehmen Erfolg und theilen allen Betheiligten mit, daß Herr Max Liebmann in Frankfurt am Main, Bockenheimer Anlage 1, auf alle diesbezüglichen Anfragen Auskunft ertheilt.

R. K. in Erfurt. Wollen Sie einige schlagkräftige Sentenzen und Kernsprüche Lessing’s gesammelt finden, so empfehlen wir Ihnen: „Lessing-Perlen von S. Blumenau“ (Bielefeld, August Helmich).

K. in N. Die Adresse der Vorsteherin des deutschen Gouvernantenvereins in London ist die folgende: Fräulein Adelmann, Secretary Association of German Governesses, 16 Wyndham Place Bryanston Square London W.


Inhalt: Jascha. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 861. – Ein Hasenduell. Illustration. S. 861. – Die Dresdener Oper. Von Franz Koppel-Ellfeld. S. 867. Mit Portraits S. 864 und 865. – Drahtbinder. Illustration. S. 869. – Der erste Generalpostmeister des Deutschen Reichs (Schluß). S. 870. – Die Martinswand in Tirol. Von J. C. Maurer. S. 872. Mit Illustrationen S. 872 und 873. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 874. – Daß erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. XIV. (Schluß). S. 878. – Blätter und Blüthen: Genie und Irrsinn. S. 879. – Die Pleißenburg und ein Stück vom alten Leipzig. Von Otto Moser. S. 879. Mit Illustration S. 877. – Ein beachtenswerthes Schatzkästlein. S. 879. – Geschenklitteratur. S. 880. – Ein Buch gegen Zahnweh. S. 880. – Einbanddecke zur „Gartenlaube“. S. 880. – Skat-Aufgabe Nr. 17. Von K. Buhle. S. 880. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 16 auf S. 772. S. 880. – Auflösung des Bilder-Räthsels auf S. 840. S. 880. – Kleiner Briefkasten. S. 880.



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

manicula Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.
Die Verlagshandlung. 0

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Mit Bewilligung des Verfassers nach der 4. Auflage des italienischen Originaltextes übersetzt von A. Courth (Leipzig, Reclam).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Troiec