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Die Gartenlaube (1887)/Heft 21

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 21.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Götzendienst.

Roman von Alexander Baron v. Roberts.
(Fortsetzung.)


12. Zwölfhundertfünfundneunzig.

Eff und Melitta waren die vier Stock hoch zu der Wohnung des Oberstlieutenants hinangestiegen. Sie machten Verlobungsbesuche; doch in aller Stille geschah es und nur die nächsten Freunde wurden damit bedacht. Eine dumpfe Stimmung brütete über dem Belzig’schen Hause, und auch das junge Glück der beiden Verlobten mußte vorsichtig den Athem anhalten, daß es nicht zu laut wurde. Aber es entschädigte sich auf den Gängen und Ausfahrten.

Was war denn geschehen? Lolo war noch rechtzeitig aus einer unheildrohenden Verbindung erlöst worden, und ihre Briefe aus Erfurt, wo sie von Eff’s Verwandten gefeiert und verhätschelt wurde, waren voll naiver, kindlicher Freude über die Erlösung. Nein, sie hätte „ihn“ nie lieben können – und wenn Mamas Kummer nicht wäre, und wenn nicht solche Entlobung einen so häßlichen Schatten würfe, so könnte sie aufjubeln – sie hätte sich nie so frei gefühlt – sie würde überhaupt wohl nie einen Mann lieben! setzte sie wie ein altkluger Backfisch hinzu.

Uebrigens war der Schatten dieser Entlobung schon im Erblassen. Das Unselige, das Mühüller angekündigt, war nicht eingetroffen. Die beiden Mädchen hatten überhaupt davon nichts erfahren. Frau Belzig beharrte auf ihrem Hohn, der Jenem einfach nicht die Kourage zutraute, sich totzuschießen. „Und wenn! – Es ist das Beste, was er thun kann!“ Jedenfalls war der dreitägige Verlobte Lolo’s gänzlich verschwunden. Die Belzigs begannen aufzuathmen – gottlob! der Skandal war noch nicht das Aeußerste; man war noch einmal mit einem freilich sehr tüchtigen blauen Auge davon gekommen. Was bedeutete das aber der unzerreißbaren Firma, die unter einem Goldregen stand! Auch Eff war zuletzt geneigt, Mühüller’s und seiner Schwiegermutter Meinung betreffs der Kourage des Grafen beizustimmen. Und wenn er daran dachte, wie er in jener Nacht gesorgt und gelaufen, um den Schuß aufzuhalten während Jener vielleicht ganz friedlich in irgend einer Ecke eines Kafés seinen Rausch ausschlummerte!

O, es war also kein Grund, auch außerhalb des Hauses den Athem anzuhalten. Langsam, ganz langsam waren die Beiden die Treppe hinangestiegen; mit jedem der höheren Flurfenster wurde die Aussicht über die weite Flucht der Gärten, die sich mit blendendem Glanz in ihrem von der Mittagssonne beschienenen Schneeschmuck ausbreiteten, immer verlockender. Und sie standen in dem freudigen Scheine, Eines ans Andere gelehnt, selige Minuten lang; dann stiegen sie höher; es gab an den Thüren so viel Schilder und Visitenkarten, die Melitta’s Muthwille studiren mußte, und sie hatte solche Freude an dem lauten Hall ihres silbernen Lachens in dem kahlen Treppenhause.

Endlich waren sie oben. Auf dem ungleichen und blasigen Anstrich des einen Thürflügels prangte eine ungeheuerliche Porcellanplatte mit dem pompösen Namen „Freiherr Trutz von Gamlingen zu Trachenberg“. Die Geschichte des Schildes bildete eine Art Ergänzung zu dem, was das

Das Haydn-Denkmal in Wien.

[338] Belzig’sche Firmenschild aus des Freiherrn Leben zu beachten hatte. Die Schrift hatte einen altfränkischen Zug, ein feiner Haarriß ging mitten durch das Porcellan. Der Uebermuth des jungen Husarenlieutenants, für den nichts extravagant genug war, hatte das Schild des Scherzes wegen in diesem auffallenden Format einer Frühstücksschüssel bestellt. Manche Tollheit der ersten Brausejahre hatte es wie ein Kampfschild decken müssen; dann hatte es die stille Seligkeit des jungen Familienglückes gehütet, und die Knaben hatten, wenn sie aus der Schule kamen, laut buchstabirend ihre Lesefertigkeit an den Verschlingungen des Namens geübt. Es hatte Vieles erlebt, Freudiges und Trauriges; es hatte die zarten, duftigen, wie von einer Wolke von Tüll und Spitzen eingehüllten Packete der Täuflinge von robusten Ammen zur Taufe tragen sehen und dreimal das Aechzen der Treppe unter den schweren feierlichen Lasten von Särgen vernommen, zweier kleiner und eines großen – ah, sein braves Weib! seine beiden süßen Lieblinge! Es war von fröhlichen Augen angelacht worden und seine Buchstaben hatten geschwankt unter thränenumflorten Blicken. Es war viel hin- und hergewandert und hatte an mancher Thür Wache gehalten, aber die Thüren waren immer schmaler und niedriger geworden, und es hatte sich allmählich an den Anblick schlechtverputzter, schmutziger Treppenwände und an die Nachbarschaft gänzlich schildloser Thüren gewöhnt. Es war gestiegen von Stock zu Stock, jedenfalls war es viel zu arrogant für das vierte Stockwerk eines Hinterhauses, man hätte es längst herabnehmen und durch ein bescheideneres ersetzen sollen. Nun mußte es schon aushalten – bald, wer weiß wie bald, ist von dem hochtönenden Namen Nichts mehr übrig als ein Stück Porcellan, das bei dem ersten Zufall in Scherben bricht …

Auf das Klingeln war nicht gleich geöffnet worden. Nun warteten sie, nach dem Inneren hinhorchend und das Schild anblickend. Ja, es war nicht leicht, die Augen davon zu wenden: so bannte es die Blicke. Melitta hatte es doch schon oft gesehen, aber noch nie hatte sie es in solcher Bedeutung betrachtet:

Wenn man es nähme! – einfach danach griffe! Es ist ja zu haben!

Viel später erinnerte sie sich, wie diese Begehrlichkeit sie wider Willen plötzlich anflog, hier vor dem Schilde. Aber sofort schämte sie sich solcher fast sündhaft häßlichen Regung, sie wandte ihre Augen von dem Namen weg auf ihren Bräutigam, und das Rosa ihres Antlitzes wie das Lächeln ihrer Lippen nahm dabei um eine Nüance zu.

Auch er erinnerte sich viel später, wie Mühüller’s Ausruf: „Ein verteufelt guter Name!“ ihm plötzlich vor den Ohren gesummt, und wie im Bann dieses Schildes die Frage vor ihm stand, ob es denn wirklich ein Zeichen niedriger Denkart sei, wenn man die Hand nach dem Namen ausstrecke …

Da traf ihn der Blick seiner Braut. Ihre Augen glitzerten von der seltsamen Erregung. Und er erschrak wie in einer Ahnung, als ob allerlei Umstände, Gründe, Entschuldigungen, ja das Glück seines Bräutchens und ihr gemeinsames Glück es doch eines Tages fertig brächten, daß die Ungeheuerlichkeit begangen und sein Buchstabe von Namen gegen den pompösen Paradenamen vertauscht würde. Nein, nein, nein … es soll und darf dennoch nicht geschehen!

Endlich ließen sich kurze, trippelnde Schritte hinter der Thür hören.

„N’Tag, Olga!“

Das kleine Freifräulein stand dort in krêmefarbener, ihr Figürchen umhüllender Küchenschürze, die nicht ganz die Spuren ihrer Bestimmung verleugnen konnte. Die Aermel waren bis zum Ellenbogen hochgeschürzt und die Aermchen zeigten eine hübsche Rundung – natürlich werden solche Aermchen vom Romanlesen so rund!

Ei, wie sie zurückfuhr! Die beiden hohen Gestalten dicht vor ihr, glänzend und schimmernd in der sonnigen Helle des kahlen Flurs!

Und nun ein flinkes Hin und Her der Begrüßung, das die Besucher bis ins Zimmer umflatterte; dann waren die Schürze und die aufgestreiften Aermel mit einer Entschuldigung davongehuscht, dem Papa die Fortsetzung der Honneurs überlassend.

Ein so freudig bewegtes Staccato des „Ze … ze … ze …“ Wie es ginge? wie es denn ginge? Welche Freude, daß sie gekommen!

Aber gleich erinnerte sich der Oberstlieutenant an das Unglück der Entlobung, das bei diesem Wiedersehen doch eine Beileidsmiene gebot. Und nach einer kurzen Pause der Verwunderung, daß die Gesichter des Besuches nichts von einem Beileid wissen zu wollen schienen, wagte er die schüchterne gedämpfte Frage:

„Wie geht es Fräulein Lo in Erfurt?“

„Gut! Sehr gut! Ausgezeichnet!“ fuhr Melitta heraus, das Köpfchen emporwerfend. Es klang wie ein Haß gegen Jenen, der den Frieden ihres Elternhauses so brutal zu zerstören versucht, wie ein Trotz, der sich dagegen verwahrte, daß man sich irgend etwas von dieser unerquicklichen Episode zu Herzen genommen hätte.

Doch von dem Thema sprang man sofort zu Gleichgültigerem über. Eff sprach sein Behagen über die heitere Freundlichkeit der Wohnung aus, die er zum ersten Male sah. Die Sonne, nur wenig von den dünnen, an mehreren Stellen geflickten und gestopften Mullgardinen gedämpft, fluthete voll durch das niedere Zimmer, die flachen Schichten des bläulichen Cigarrenqualms mit breiten Lichtbahnen durchbrechend, freilich brachte sie in verrätherischer Weise die Fadenscheinigkeit der Einrichtung zur Geltung, den verschossenen Plüsch der Polster, die verschlissenen Teppiche, die blinden altfränkischen Möbel. Aber überall peinliche Ordnung, weiße Schutzdeckchen und belebende Stickereien, in dem einen Fenster ein Blumentisch mit glänzenden staublosen Blättern; nebenan ein Kanarienvogel mit grellschmetternden Tönen.

„Hoch, sehr hoch,“ erwiederte der Oberstlieutenant auf Eff’s Bemerkung, „die alten Beine fangen doch an, gegen die vier Stock zu revoltiren – ze … ze … ze … Der Widerspruch wird aber nichts helfen – die Wohnungen werden immer theurer.“

Dabei warf er einen seiner hilflosen Blicke nach Olga’s Arbeitstisch am Fenster, wo die Tuschnäpfe wie die Miniaturtellerchen einer Puppenküche aufgestapelt standen. Soll das gute Kind denn noch mehr Stunden ihrer Nächte an diesem Tische opfern? Nein, nein, die alten Beine werden und müssen eben ihren Dienst aushalten!

Jetzt hörte man aus der nahen Küche das Klappern von Deckeln und das Zischen des Dampfes aus einem plötzlich geöffneten Topfe, wenige Minuten darauf erschien Olga, der Schmetterling, der sich aus der einpuppenden Hülle der Küchenschürze befreit hatte.

Mit heiterer Unbefangenheit begrüßte sie das Paar nochmals. „Die Begrüßung vorhin hat doch nicht mir gegolten“ – scherzte sie. „Vorhin war es doch unsere Oberköchin, die Ihnen aufgemacht.“

Wenn Eff und Melitta gewußt hätten, wie viele Rollen sie am Tage zu wechseln hatte und mit welch freudigem Muthe sie die sämmtlichen bis zum letzten Aktschluß tief in der Nacht durchspielte!

Bald aber ward auch sie gewahr, daß ihre Heiterkeit nicht in die Situation paßte. – Lo – die arme Lo! Eine Entlobung – welch entsetzliches Wort! – Etwas wie der Glaube an das Ideal, der plötzlich mit einem Ruck aus dem blutenden Herzen gerissen wird!

O, die Sache brauchte gar nicht so tragisch genommen werden, versicherte Melitta abermals. Lo befände sich überaus wohl. Hier könne man ja offen darüber sprechen. Und die beiden Damen fingen an, näher an einander rückend, ihre Meinungen über das unliebsame Ereigniß auszutauschen.

Eff war aufgestanden, um einige jener bekannten Kupferstiche aus des großen Friedrich’s Leben, vor Allem das seltene lebensgroße Portrait desselben näher in Augenschein zu nehmen. „Ich interessire mich sehr für Kupferstiche; ich fürchte, ich werde noch ein Sammler werden.“

Eine erste Andeutung, die Eff sich selbst machte, daß seine Verhältnisse ihm wohl später den Luxus solcher Liebhaberei gestatten würden.

„Die vollständigste Sammlung, die von diesen Stichen existiren dürfte,“ antwortete der Oberstlieutenant, mit dem kurzen strammen Trippeln seiner Beinchen an Jenen herantretend. „Ein Erbstück der Familie.“

Die Wände waren mit diesen von gelblichem Kirschbraun umrahmten Bildern überdeckt, so daß kaum ein paar Stellen der verschossenen Tapete sichtbar blieben. Die eine Wand aber nahm [339] das riesenmäßige Prunkstück des Stammbaumes ein. Es schien all die andern Bilder mit seiner schwerfälligen Wucht zu erdrücken; es beherrschte gleichsam die ganze Wohnung, und die künstlerische Kostbarkeit des geschnitzten Eichenrahmens stand in auffallendem Gegensatz zu der Einfachheit der übrigen Möbel.

Der elegante, stets vorschriftsmäßig frisirte Kopf des Hauptmanns fuhr an der Wand hin und her und auf und ab, um auch den höher oder tiefer hängenden Bildern einen Blick zu schenken. eine Artigkeit, die er dem Besitzer der Sammlung schuldig zu sein glaubte. „Hochinteressant – sehr werthvoll!“ wiederholte er.

„Ist mir schon viel dafür geboten worden,“ bestätigte der Oberstlieutenant – „wie gesagt, ein Erbstück, und man giebt es nicht gern aus der Hand – freilich …“ Es steht dem Erbstück ja doch über kurz und lang das Schicksal einer Auktion bevor – schien das „freilich“ zu sagen.

Er stutzte und blinzelte lebhaft mit den grauen Augenwimpern. „Hier das Zietenbild – die Sonne blendet etwas sehr – hierher bitte, von dieser Seite!“

„Ah, der Stammbaum!“ sagte Eff.

Es war die große hohe Spiegelfläche des Prunkstückes, die das Gewimmel der Bilder abschnitt. Er trat ein wenig zurück, um das auffallende Kunstwerk in seiner ganzen Ausdehnung mit einem Gesammtblick zu prüfen. Er hatte schon von Melitta über diesen Stammbaum gehört, nun wollte er nicht, ohne ein Wort zu sagen, daran vorübergehen, so sehr er in seiner Peinlichkeit fürchtete, wehmüthige Gedanken in dem letzten Gamlingen zu erwecken. Und wieder näher herantretend: „Ein Meisterstück von einem geschnitzten Rahmen!“

„Ze … ze … ze … hat ein Heidengeld gekostet. Extra in Nürnberg gearbeitet. Eine Leistung von drei Jahren.“

„Glaub’ ich, glaub’ schon! Herrlich! Ganz wunderschön – wie diese Wappen geschnitzt sind! Uebrigens auch die Zeichnung ist eine ausgezeichnete Arbeit. Wir wissen dergleichen zu schätzen wir Kartenfexe.“

Und sich bückend und allmählich wieder aufrichtend, fuhr Eff von der Wurzel des Baumes bis zu den weiten Verzweigungen der Krone in die Höhe und wieder hinab. Zu Füßen des Baumes breitete sich ein heraldisch stilisirtes Gebirge, auf dessen höchstem Gipfel eine Burg thronte. Das Thurmfähnlein trug die Jahreszahl 1295.

Um nicht zu schreiben eintausenddreihundert – hätte Jemand, der die effektvolle Mache bei solchen Stammbäumen kennt, sich sagen müssen. Aber Eff staunte aufrichtig über die ehrwürdige Zahl. „Zwölfhundertfünfundneunzig!“ rief er. „Famos!“ Unwillkürlich fuhren seine Hacken leicht zusammen, und er machte eine Art Verbeugung, um seine Huldigung dem Nachkommen eines so alten Geschlechts darzubringen.

„Ich werde mit Walther zusammen Lo selbst abholen,“ erzählte Melitta. „Ich freue mich kindisch, meine gute Schwiegermama kennen zu lernen. Weißt Du, Olga, daß sie dort in Erfurt, als Walther mit Lo ankam, letztere für sein Bräutchen hielten?“

„Sehr gut!“ lachte Olga laut, es geschah etwas gezwungen; sie lauschte zwischen den Worten ihrer Freundin nach den Herren dort am Stammbaum hinüber.

Auch Melitta hatte die Betonung der Jahreszahl aus ihres Bräutigams Munde vernommen. Sie sah die beiden Herren vor dem Stammbanm verweilen, und wieder kamen die Gedanken, die sie vorhin vor dem Schilde überfallen, herbeigehuscht.

Adoption – es war das Thema, das plötzlich die Luft beherrschte. Die vier Menschen dachten daran, ohne daß das Wort ausgesprochen wurde. Jedes in seiner Art. Vor Eff stapelten sich plötzlich alle die Andeutungen und Redensarten, welche diese Adoption betrafen, wie die Glieder einer wohlgeordneten Disposition mit a und b und c auf. War es wirklich die Absicht des alten Herrn, wie Mühüller behauptet hatte, ihn zu adoptiren? Und wenn man ihm die Adoption formell anböte, würde er sie ausschlagen? Unsinn! Ein Kavalier, bei dem das Kavalierthum nicht nur in den Sporen sitzt, wird dergleichen nicht thun!

„Wir haben ein sehr schönes Quartier in der – in der – nun in der Friedrich-Wilhelmstraße in Aussicht, aber wir wissen noch nicht …“ fuhr Melitta zerstreut in dem Geplauder über ihre Zukunftspläne fort.

„Eine prächtige Lage!“ antwortete Olga eben so zerstreut.

Die Augen der Damen flogen immer wieder nach den beiden Herren hinüber, als wenn dort etwas Wichtiges vor sich ginge.

Eff verfolgte eben das Anwachsen des Stammes und das Ausbreiten der mit namentragenden Wappenschilden bedeckten Aeste. Der Baum hatte ein ungleiches Wachsthum; hier und da war ein Zweig verdorrt, an anderen Stellen war das Laub mit den Namenschilden wie mit großen weißen Blüthen übersäet. Die Reihe für die Nachkommen des Oberstlieutenants war offen geblieben, doch nur zwei der Schilde trugen Namen, als der Stammbaum gefertigt wurde, war ja begründete Hoffnung, daß auch die übrigen Schilde ihre Bezeichnung fänden. Nun war es versäumt worden, diese nachzutragen.

„Fünf Vorderstuben und vier Küchen,“ sagte Melitta, immer noch mit der Beschreibung ihrer zukünftigen Wohnung beschäftigt. Sie hatte sich jedenfalls versprochen und die Hinterstuben gemeint – es es klang lächerlich; aber sie hatte es nicht einmal gemerkt: so sehr war ihre Aufmerksamkeit von dem Stammbaum in Anspruch genommen.

Olga nickte ganz ernst und verständnißvoll. Auch sie hatte die Verwechselung ganz überhört. Horch – war dort drüben nicht das Wort gefallen? Jenes, das in der Luft lag und das die Gedanken der Anwesenden wie gebannt hielt? Melitta zuckte wie mit einem leichten Schauer zusammen.

Aber nur der Stoßseufzer war es, welcher dem alten Herrn in der letzten Zeit öfter über die Lippen ging.

Nein, er hatte nicht den Muth – jetzt nicht! Es war wohl nicht die günstige Gelegenheit; man mußte es wohl auf diskretere Weise anfangen; man mußte wohl den Damen die Angelegenheit überlassen, er ist zu unbeholfen und versteht sich nicht auf diplomatische Künste – und diese leidige Grafenaffaire, die überhaupt wohl Alles verdorben hat!

Aber er vermochte nicht ganz an sich zu halten. Und den großen treuherzig offenen Augen des Hauptmanns ausweichend, mit bebenden Fingern an dem Husarenbärtchen zupfend, stieß er stotternd hervor: „Ze … ze … ze … ich hätte mich längst nach einer Adoption umsehen müssen.“

Bald darauf empfahl sich das Brautpaar. Olga begleitete es bis zur Flurthür; Melitta grüßte noch einmal freundlich empor. Nur ein ganz flüchtiger Seitenblick traf dabei das Schild. Dennoch übergoß eine Röthe ihr Antlitz. Ist denn eine Zauberei im Spiel? Sie fühlte eine seltsame Befangenheit, und es war gut, daß ihr Geplauder so laut zwischen den kahlen Wänden wiederhallte, als sie herabstiegen.

Wie verwundert neugierig die Hinterhausfenster auf die beiden schönen und glänzenden Menschen herniedersahen, die durch die feuchte Kühle des Hofes mit Rauschen und Klirren daherschwebten, einer feenhaften Erscheinung gleich, um da draußen in der unbeschreiblich freudigen Helle des Wintertages zu verschwinden.




13.0 Sonnenflitter.

Vor Melitta’s Augen tanzte ein winziges blinkendes Etwas – es war wohl nur die Wirkung der sonnigen Blendung? Nun glaubte sie ganz deutlich ein niedliches allerliebstes Krönlein flimmern und flittern zu sehen, gar lustig und neckisch vor ihren Blicken. Es war ja fast gespenstisch. Immer schärfer zeichnete sich das lustige Ding – nun meinte sie die sieben Perlen auf den Zackenstengeln zu unterscheiden.

Auch für Eff war das Gespenstische da, jetzt am hellen Mittag. Horch – klang nicht aus dem Getöse der Straßen, durch die das elegante Koupé sie leichtfedernd dahertrug, aus dem Rasseln und Klingeln der Pferdebahnwagen und dem Geräusch der Tritte auf dem Trottoir, immer wieder jene Zahl: zwölfhundertfünfundneunzig? Eine Dummheit – aber man kann den Klang nicht loswerden! Bis vor einer halben Stunde hatte er über den Gedanken dieser Adoption gelächelt, und er hatte gemeint, eine Versuchung, wenn sie jemals an ihn herantreten würde, mit einem mitleidigen Nein! einfach abweisen zu können. Jetzt war er zum ersten Mal in den unmittelbaren Bannkreis jenes Namens getreten. Was ist denn das für ein Dämon, der einen ernsten Mann dazu bringen kann, in der großen Narrethei des Lebens mitzutanzen?

„Was ist Dir, Litta?“ fuhr er plötzlich empor.

[340]

Böse Zungen.
Nach dem Oelgemälde von Claus Meyer.

[341] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [342] Sie hatte mit der Hand vor ihren Augen her durch die Luft gestrichen, wie um ein lästiges Insekt abzuwehren.

„Nichts,“ sagte sie, mit schnell blinzelnden Lidern, „es ist die Sonne, mir schwirrte etwas vor den Augen.“

„Ist Dir nicht wohl, mein Herz?“ fuhr er abermals empor, fast erschreckt. Die Sorge war diesmal eine kleine Uebertreibung, er wollte eine Ablenkung haben von diesen Dummheiten, die ihm schier das Blut stocken ließen!

Sie begann in letzter Zeit über die peinliche, fast pedantische Aengstlichkeit zu lächeln, mit der er ihr Befinden überwachte. Ein unerwartetes Stillsein, eine plötzliche Regung ihres Körpers, irgend ein zufälliges Zucken eines Fältchens in ihrem Antlitz, und sofort war die Frage da: „Was ist Dir? Fehlt Dir etwas, Litta?“ Zuweilen geschah sie mit einer Betroffenheit, die in sein sonst so vornehm gemessenes Wesen nicht hineinpassen wollte, dann wieder von einem sanften Streicheln seiner Hand über die feinen natürlichen Wellen ihres seidenen Braunhaares begleitet. Sie fühlte sich so köstlich geborgen unter dieser stets wachenden Hut seiner Liebe.

„Nichts, aber durchaus nichts, Walther!“ Die Schelmengrübchen in ihren Wangen lachten ihn an und die leicht emporgezogenen Brauen zuckten neckisch unter dem hauchfeinen Schleier.

„Wie besorgt Du bist!“ Sie reichte ihm die schlanke Hand, er faßte begierig danach, und die Hand ruhte dann wie in einer Doppelschale zwischen seinen beiden großen Händen.

„Es tanzte mir vor den Augen. Weißt Du, Walthi, als Kinder riefen wir es absichtlich hervor, schauten in die Sonne, bis uns die Augen übergingen, damit wir so recht lange das Spiel der schönen bunten Kugeln genössen, die vor unseren Augen tanzten.“

Und diesmal führte die Sonnenlaune statt der bunten Kugeln einen Tanz von Freiherrnkrönlein vor ihr auf. Es wirbelten ihrer immer mehr durch einander, sie wollten nicht weichen und erblassen gleich jenen Kugeln. Fort damit! Sie senkte die Wimpern, um der Vision Herr zu werden, und lehnte das Köpfchen gegen die dunkelblaue Seide des Polsters.

„Litta, was hast Du denn?“

„Ich bin glücklich – ich bin so glücklich –“ hauchte es nach einer kurzen Pause aus ihren geöffneten Lippen hervor. Langsam, mit einer sehnsüchtigen Schwere hob sie die Wimpern empor, und es traf ihn ihr langer, voller, liebestrahlender Blick. Bei seinem Ausruf hatte ein so lebendiges Gefühl dieses Glückes sie überwältigt. Und verflogen war all die elende Weltlichkeit, die soeben noch mit Freiherrnkrönlein vor ihren Augen geflimmert.

Ja, sie waren glücklich! Sie durften es sein. Beide jung und prächtig, mit blühendem Leben ausgestattet, eine Erquickung für jedes Auge, wohin sie kamen, und die Herzen im Sturm erobernd. Eine ehrenvolle, vielleicht glänzende Laufbahn, die seiner soliden Tüchtigkeit offen stand, und die Seligkeit ihres zukünftigen Nestes, das aus etwas mehr als ein paar zusammengelesenen Federchen und Strohhalmen zu bestehen schien. Sonne – freudiger Sonnenschein, wohin sie blickten! Was wollte das häßliche Insekt dieses Krönleins? Es wäre doch wohl nicht im Stande, vorüberfliegend den Ausblick in diesen Sonnenschein zu trüben, oder gar anwachsend zu einem Schatten zu werden, der ihnen das Leben verdunkelte?

Man hatte noch einen Besuch in einer Moabiter Villa abzumachen und der Wagen durchkreuzte den Thiergarten. Die feenhafte Herrlichkeit des bereiften Waldes umfing sie, alle Aeste und Zweige mit einem feinen flockigen Federwerk behangen, selbst die winterliche Schwärze der Stämme mit flimmerndem weißen Hauch bedeckt. Alles so leicht und duftig, daß ein leiser Wind die Scenerie sofort wie einen Traum verweht hätte. Aber vollkommene Windstille. Droben zwischen den zartgewölbten schneeigen Wimpeln der Bäume stand in heiterster Ruhe das makellose Himmelsblau; in den Alleen schienen die Bäume und Sträucher, von der Sonne getroffen, wie aus massivem Edelmetall getrieben. Fernhin gegen das Ende der Reitwege verdämmerte die überwältigende Helle in einem zarten Rosaduft, hier und da belebt von dem Glitzern einer vorüberfahrenden Equipage. Auf dem schräg nach dem Brandenburger Thor führenden Promenadenweg eilte es in dunklen Scharen nach dem Eis der Rousseau-Insel, und durch das dumpfe Rollen der Gummiräder hörten die Beiden im Wagen das fröhliche Klirren der Schlittschuhe in den Händen der Eilenden.

Sie saßen noch immer Hand in Hand; Beide des Glückes übervoll; hier und da machte sich dasselbe Luft in einem Ausruf über solche Herrlichkeit da draußen. Ihre Augen lachten vor Freude, während sie sich gemeinsam bald zur Linken, bald zur Rechten hinneigten, um nichts von der köstlichen Dekoration zu versäumen. Ah die Jugend, die Schönheit und der hübsche Eintagstanz der farbenglänzenden Schmetterlinge – Illusionen genannt! Ueber Nacht wird ein Lüftchen sich erheben, und all die Pracht dieser Feerie wird verweht und zerstoben werden, und nur die schwarzen häßlich kahlen Aeste werden zurückbleiben, die in den grauen Winterhimmel hineinstarren …

Auf dem Königsplatz war die Blendung so gewaltig, daß sie kaum hinauszublicken wagten. Da nahte auf dem harten Fahrdamme das scharfe Getön einer eleganten Equipage. Zwei feurige Braune, blitzendes Geschirr, auffallende hellblaue Livrée – sausten am Wagenschlag vorüber.

„Aha,“ rief Eff, „Kehren, unser Kehren.“

Und er nickte verständnißvoll. Es war nicht seine eigene ursprüngliche Meinung, aber bei den Kameraden stand dieser Kehren unter den unerbittlichsten wüthendsten Strebern verzeichnet. Alles – Alles, nur vorwärts! war dessen Parole. Er ließ seinen Namen spielen und funkeln; er hatte eine reiche Frau geheirathet, um zu glänzen, und eine schöne Frau, um zu blenden; er gab die herrlichsten Diners; seine Equipage und seine Livrée waren von raffinirter Eleganz. Er ritt, jagte, tanzte, spielte, aß und trank, arbeitete, war höflich, war grob, lächelte und lachte, war unerschütterlich ernst, jede Bewegung und jeden Gedanken nur auf das eine Ziel hin gerichtet.

„Wer war es? Kennst Du sie, Walther?“

„Kehren, Baron Kehren von uns.“

Sie hatte schon den Namen gehört. „Eine schöne Frau, nicht?“

Er nickte – „sehr reich,“ fügte er hinzu.

„Wo ist sie her? Eine Berlinerin?“

„Eine Sturz, eine von den großen Eisen-Sturz aus Westfalen. Werden übrigens demnächst auch dort unseren Besuch machen müssen.“

Sofort war der Kobold wieder da. Reich und schön … aber das Gemälde käme ohne den glänzenden Rahmen dennoch nicht zur Geltung!

Es befiel sie etwas wie das Gelüst einer jungen Katze, sich auf ein buntes Spielzeug, das davonrollen will, zu stürzen, um es mit scharfen Pfötchen fest, recht fest zu krallen. Ihre Hand zuckte ein wenig in seinen Händen und die Flügel des geraden Näschens zitterten nervös.

„Weißt Du, Walther …“ begann sie. Sie stockte, ihre Stimme kam ihr selbst wie verändert vor.

„Was denn? was ist Dir, Herz?“

Sie hatte sich abgewandt, nach dem Fenster hin. „Ei, wie die Viktoria da oben glänzt,“ sagte sie rasch und ausweichend.

Eine Blutwelle flog über ihr Gesicht. Es giebt Gedanken, die sehr häßlich klingen, wenn sie in dürren Worten ausgesprochen werden …

Und zum zwanzigsten Male ließ sie ihren Enthusiasmus jubeln. „Welch’ ein Tag! Nein, welch’ ein herrlicher Tag!“

Doch das Kätzchengelüst ließ sie nicht los. Nach einer kurzen Pause begann sie von Neuem, den erregten Athem zur Ruhe zwingend, auf weitem Umwege diesmal. „Ein reizendes Wesen, diese Olga, ein Prachtmädchen, nicht?“

Darüber war man längst einig, darüber gab es nur eine Stimme. Fast hätte er gefragt, wie sie dazu käme – von der ehernen Riesengestalt der Viktoria da droben auf den winzigen Schmetterling jenes Prachtmädchens?

„Sehr nett – ich mag sie ungeheuer gern,“ antwortete er.

„Sie thut mir oft leid – sie hat so wenig von ihrer Jugend gehabt – ich fürchte, sie wird sitzen bleiben.“

Er lachte: es war wohl die Schwäche der meisten Verlobten und Jungvermählten, daß sie überall Glück und Ehe stiften wollen, die auch bei ihr zum Durchbruch kam.

„Welche Sorge! Warum soll sie sitzen bleiben, mein Herz?“

„Wenn sie nicht Einer ihres Namens wegen nimmt …“

Es war heraus – sie athmete hoch auf. Zum ersten Male, daß der Name zwischen ihm und ihr erwähnt wurde.

[343] „Aber, Närrchen, mein süßes Närrchen – was soll der Betreffende mit ihrem Namen anfangen? Nun, ich dächte doch, sie ist tüchtig, sie ist liebenswürdig, sie ist hübsch – bedarf es da noch eines Namens?“

„Was soll sie anfangen, wenn der alte Herr nicht mehr lebt?“

Er hob bedauernd die Schultern.

„Weißt Du, es ist eigentlich schade, daß der hübsche Name so spurlos verschwinden soll.“

Sie kam der Sache näher, mit Anstrengung zwang sie sich, ruhig zu scheinen und Alles so nebenher als eine Bagatelle zu behandeln. „Du weißt doch, daß der Name mit ihm ausstirbt?“ fragte sie zum Ueberfluß, obgleich sie genau wußte, daß ihm das nicht unbekannt war.

„Schade, gewiß sehr schade“, – erwiederte er zerstreut. „Was ist an einem Namen gelegen!“ fuhr er in einer ganz kleinen selbsttäuschenden Anwandlung des Trotzes fort. „Name ist Schall und Rauch – wie heißt es doch gleich?“

Sie erinnerte sich nicht. Es war weder Ebers, noch Dahn, noch Julius Wolff.

„Es müßte Jemand kommen, der den Namen rettete – schade, gewiß sehr schade!“

Sie blies in den Pelzbesatz ihres Aermels und beobachtete genau das Auseinanderstieben der zarten Härchen. „Es thäte Jemand wirklich ein gutes Werk.“

Er horchte verdutzt, noch mit dem Schein eines Lächelns um die Lippen, aber innerlich voller Bestürzung: also so stand es? Sie begehrt das Namensding; der Besitz desselben würde sie glücklich machen – und ein seltsames schier unerklärliches Gefühl überkam ihn, als würde er plötzlich von einer Beklemmung erlöst, die ihn seit dem Besuch befallen.

Nun, immer noch zwischen den Worten in die Härchen des Pelzes blasend, sagte sie langsam, mit emporgezogenen Brauen, ziemlich schelmisch: „Ich wüßte Jemand, den der Name ganz vortrefflich kleidete.“

Sie sah ihn immer noch nicht an. Auf einmal ruckte sie den Kopf empor, und mit ihren klarsten, offensten Augen ihn anstrahlend, fuhr sie gerade heraus:

„Wenn man Dir nun den Namen anböte, sag’, würdest Du – würdest Du ihn nicht ausschlagen?“

„Aber durchaus nicht! Ich würde mit zehn Fingern danach greifen – ich wäre der glücklichste Mensch dieser Erde!“

Sie verstand nicht sofort, auch nicht aus dem herzlichen Lachen, mit dem er seine Worte begleitete, ob es Scherz oder Ernst wäre. Verwirrt vor Ueberraschung starrte sie ihn an.

„Nun natürlich! Sofort!“ spottete er. „Komm her, Du bist einzig! Du bist mein liebes köstliches Närrchen!“ und er umschlang sie stürmisch.

„Mein Hut – Walther, mein Hut!“ Nur ein ganz kurzer Ausbruch des Aergers, daß sie sich hatte gehen lassen. Sofort faßte sie sich und heuchelte einen Scherz.

„Also man möchte gern eine schöne imposante Baronin abgeben, he?“ neckte er, zärtlich von oben herab ihr Gesichtchen suchend, das sich an seiner Schulter geborgen.

„Warum nicht, warum sollte ich nicht eine Baronin … es würde mich wundervoll kleiden –“ sagte sie, in schmollender Koketterie mit dem Kopfe nickend. Dann riß sie sich los, richtete sich auf und blitzte ihn mit ihren Augen herausfordernd an. Sie sah zum Entzücken aus in dieser Erregung.

Ein paar Herzschläge lang maßen sich ihre Augen, eins im anderen spürend; dann brachen sie gleichzeitig in ein Lachen aus. Sie fanden Beide die Idee köstlich. Nein, ein Baron, eine Baronin! Die Vorübergehenden blickten verwundert dem Wagen nach, welch ein fröhliches Vögleinpaar mit so herzlichem Lachen dahergeflogen komme.

Später aber, als sie vom Besuche zurückkehrten, schmiegte Melitta das Köpfchen abermals gegen seine Brust:

„Hast Du mich lieb? Hast Du mich auch noch ganz lieb?“ flüsterte sie zärtlich bittend. Und es zitterte eine Angst durch die Bitte, als wenn der Schatten des Namens erkältend über ihre Liebe dahin gefahren wäre.

„Unaussprechlich!“ hauchte er ihr zu, dicht von Lippe zu Lippe.

„Du lieber, lieber, lieber Mann!“ – flüsterte sie, jedes Wort inniger betonend.

Und wenn jene Frage ihn jetzt überfallen hätte, wäre er wohl im Stande gewesen, „nein!“ zu sagen?

(Fortsetzung folgt.)




Böse Zungen.
(Mit Illustration S. 340 u. 341.)

Böse Zungen – giebt es deren in der That und ist es insbesondere glaublich, daß der Frau, dieser Krone der Schöpfung, etwas eigen sein sollte, was „böse“ wäre?

Könnte die Zunge, die so viel Süßes zu sagen weiß und so glücklich zu machen versteht, auch Wunden schlagen und zwar so gefährliche, als wäre sie mit Widerhaken versehen oder als hätte sie ein Tröpfchen Gift hineingleiten lassen?

Jedenfalls – davon bin ich überzeugt – nicht mit Absicht. Mit so wenig Absicht, wie das Zünglein der Wage, welches die öffentliche Meinung zur Beurtheilung seiner Nebenmenschen in Händen hält. Es schwankt nach der guten und schwankt nach der bösen Seite, erst scheinbar gleich weit über den Balken hinaus, dann immer ein Bischen mehr nach der bösen, bis endlich das Zünglein ganz hinüberschlägt und den Mann in der Wagschale hoch wie leere Spreu in die Luft hebt. Kann das Wagezünglein dafür, daß hier ein Mensch gerichtet wird?

Oder wie das Zünglein des Flämmchens, das unter der Dielritze in Folge eines fortgeworfenen brennenden Spähnchens geboren wird. Es ist so unschuldig, so harmlos; ein Hauch kann es ersticken. Bei Tageslicht ist es gar nicht zu bemerken. Achtlos wirft man Papier und Kleider darüber hin. Aber kaum sieht das Zünglein sich unbeobachtet, so wächst es lustig in die Höhe, leckt und züngelt als verzehrende Flamme an Allem hinauf, was es erreichen kann, und ruht nicht eher, bis Alles der Erde gleich ist. Ist das Zünglein schuld gewesen an der großen Vernichtung?

Diesen Zünglein ähneln jene „bösen Zungen“ oder ähnelten – denn heute wird man sie vergeblich suchen. Unsere Schönen begeistern sich lieber für die großen Fragen der Zeit oder zerbrechen sich ihre Köpfchen über einem sinnreichen Problem der akademischen Zuschneidekunst oder ärgern sich über den unerwarteten Schluß eines Romans, als daß sie sich an die eben so wenig lohnende wie uninteressante Arbeit machen, ihre liebe Nachbarin zu viviseciren. Dazu haben sie gar keine Zeit vor Lyceum, Gesellschaft, Musik und Wirthschaft – dafür haben sie gar keinen Sinn. Der Künstler hat das auch sehr gut gefühlt und uns darum ein solches böse züngelndes Kleeblatt aus dem finstersten Mittelalter zum Besten gegeben.

Mein Gott, was hatten denn damals drei einzelstehende alte Damen Besseres zu thun, als das Bischen Klatschen! Vergnügungslokale wurden nur bei festlichen Gelegenheiten besucht; Bücher gab es wenig, und – ich muß es zur Schande der Damen einräumen – wären welche dagewesen, sie hätten sie nicht lesen können. Und Zeitungen? Nun, die Zeitungen waren sie selbst. Der Raum, in dem sie ohne Zweifel oft und immer hübsch lange zusammen kommen, ist das Redaktionslokal, wo Alles, was in der Stadt vorgeht, hübsch ausgeputzt und sensationell aufgebauscht wird, der Herd, von dem aus es von Zunge zu Zunge „erbaulich weiter klingt“. Hier wird ein Stückchen öffentliche Meinung gemacht, und zwar die Kolportagemeinung, welche die Hintertreppen hinaufschleicht, sich an die Köchin heran macht, von der Köchin zur Zofe, von der Zofe zur Frau, von der Frau zum Herrn und von dem Herrn zum Zunftbruder in der Trinkstube und von der Trinkstube wieder daheim auf die Frauen überspringt, bis es die Sperlinge auf den Dächern pfeifen. Das ist in der That ein Kleeblatt der Nornen; denn hier wird das Schicksal der Nachbarn berathen und bestimmt. Es gleicht dem Hexentrio des Macbeth, welches

„Schwitzend Gift in kalten Stein
In den Topf zuerst hinein“

mischt: wenn es auch nicht hexen kann, so übt es doch auf Manchen eine geheimnißvolle Gewalt aus, gegen die er nicht anzukämpfen vermag, weil er sie nicht sieht. Sie haben auch etwas mit den dunkelen Göttinnen der Griechen, den Parzen, gemein, von denen die eine den Lebensfaden knüpft, die andere ihn fortspinnt, die dritte ihn abschneidet. Sie knüpfen in ihrer regen Phantasie Verhältnisse zwischen Menschen an, die sich fern stehen. Sie spinnen in ihrer Geschwätzigkeit Legenden fort, an denen [344] vielleicht ein Körnchen Wahres ist, wo aber das Meiste ihren beweglichen Zünglein das Dasein dankt. Und sie schneiden unbesorgt – die Ehre ab Denen, die ihnen zwischen die Mahlsteine gerathen.

Die Mahlsteine müssen sich drehen, und die Zünglein müssen züngeln – sonst haben sie ihren Beruf verfehlt, und jemand auf der Welt muß einmal dazu herhalten. Wer ist näher bei der Hand, als der Herr Nachbar und die Frau Nachbarin – warum wohnen sie so, daß man ihnen in die Fenster gucken kann, was sie heut zu Mittag kochen, daß man an die Wand gelehnt hören muß, wenn sich das junge Ehepaar in den Haaren liegt? Gutes zu erzählen von seinen Nebenmenschen – wem liegt daran, das zu hören? Etwas Schlimmes aber findet stets aufmerksame Zuhörer. Ein Bischen Neid und Mißgunst spielt ja doch immerhin eine Rolle, und wer in der Lage ist, etwas von dem glücklicher situirten Nebenan zu wissen, der fühlt sich gewissermaßen entschädigt.

Doch versetzen wir uns – mittels eines Aktes freiwilliger Seelenwanderung in das Mutterkätzchen, welches uns seine Rückseite zuwendet und, während es scheinbar nach den beiden Jungen sieht, welche soeben das Frühstück bekommen haben, die Ohren spitzt, damit ihm kein Wort von dem interessanten Trio entgehe. Aber pardon – das Trio ist noch nicht vollzählig. Frau Martha, eine wohlhabende Jungfrau, die in den schön geschnitzten Truhen manch schönes Stück Linnen und niederländisch Tuch und manchen blanken Thaler liegen hat, sitzt, nachdem sie Tags zuvor zum fünfzehnten Male den Beschluß gefaßt, keinem Liebhaber mehr die Thür zu öffnen (denn sie meinten es alle schlecht und sahen es nur auf ihr Vermögen ab), in ihrem Gemach allein. Sie ist unglücklich und verbittert und wartet voll nervöser Ungeduld zweier älteren Frauen aus der Nachbarschaft, die sich allabendlich mit der Regelmäßigkeit der Sonnenuhr einzustellen pflegen.

„Guck, Guck!“0 Nach dem Oelgemälde von K. Grob.

„Darf ich?“ heißt es jetzt von der eben geöffneten Thür her.

„Immer herein, Base Ursula – es ist heut später als sonst. Setzt Euch!“

„Hat seine Gründe, Jungferchen,“ entgegnet die Kommende mit dem ergebenen Wesen und den stets gefalteten Händen – die Bettelursel heißt sie in der Stadt – und schiebt sich auf den Kasten. „Hat doch der große Kaufherr und Rathmann Melchior Hochstetter seinem Namenstag zu Ehren großen Freitisch gegeben, alle Armen waren durch Herolde mit großen Trompeten geladen – aber du meine Zeit!“

„Habt Ihr mir etwas vom Schmause mitgebracht?“

„Einen leeren Magen, denn ich bin durch die Sache um meine tägliche Klostersuppe gekommen. Der Knicker! Für ein paar Schnapphähne und Bärenhäuter wurde aufgetragen. Was die rechtschaffenen Stadtbettler sind – nicht ein Bissen! Der Prahlhans – ist gar nicht weit her mit dem Handelshaus und will der Welt nur Sand in die Augen streuen, weil seine Tochter Iditha den jungen reichen Paumgartner aus Augsburg heirathen soll –“

„Der in Geschäften hier ist,“ fiel hier Frau Dorothea ein, die an der Thür die letzten Worte vernommen hatte und nun schnell ihren Platz auf einem Sessel nahm. Sie kam in der ganzen Stadt herum, unterhielt in allen Gesindestuben ihre Verbindungen und hatte stets etwas Frisches, Prickelndes zu erzählen, so daß sie eigentlich die Seele des Klatschtrios war. „Das ist längst vorbei, längst vorbei. Herr Hochstetter glaubte den jungen Menschen ja schon im Sacke zu haben. Denn er hatte ihm für sein liederliches Leben, hinter dem Rücken seines Vaters, zweitausend Dukaten aufs Buch vertraut, wenn nicht –“

„Wenn nicht –“

„Wenn es nicht herausgekommen wäre, was herauskommen mußte.“

„Was – was?“ fragen die beiden Andern und beugen sich vor.

„Erinnert Ihr Euch noch des jungen Tommaso, des hübschen schwarzäugigen Malers aus Siena, der das Altarbild arbeitete, welches der Kaufherr Hochstetter in die Nikolaikirche gestiftet hat?“

„Was ist’s mit dem?“ fragen weiter die Beiden, wie aus einem Munde.

„Ihr wißt – rechts knien er und die Frau, links die Kinder. Alle vortrefflich getroffen. Er hat sie alle einzeln im Hause aufgemalt. Man sagt nun – das heißt – ich weiß es von Gertrud, die damals bei Hochstetter’s Flachs gesponnen hat und zufällig in das Gemach trat, als Jungfräulein Iditha und –“

Die drei Frauen steckten ihre Köpfe zusammen. Wir können nichts mehr hören – wir haben auch genug davon. Wir athmen auf, freuen uns, daß „wir doch bessere Menschen“ sind, und danken dem Himmel, daß wir drei Jahrhunderte später zur Welt gekommen sind: denn so etwas kommt bei uns nicht mehr vor. Oskar Justinus.     


[345]
Der Volkspalast im Ostend von London.

Bereits im Jahre 1840 setzte Barber Beaumont, ein bekannter Philantrop in London, eine Summe von nahezu 400 000 Mark für Errichtung und Erhaltung der „Philosophical Institution“ im Ostend von London aus, einer Bildungsstätte, welche den elenden und verkommenen Einwohnern jenes verrufenen Stadttheils eine Reihe von Jahren neben Bibliothek und Lesezimmer auch populäre Vorträge, Koncerte und andere Unterhaltungen unentgeltlich gewährte. Wenn auch dieses Institut in seiner verhältnismäßig begrenzten Sphäre noch so segensreich wirkte, gerieth es doch im Laufe der Zeit mehr und mehr in Verfall. Da erschien im Jahre 1882 Walter Besant’s viel Aufsehen erregender vortrefflicher Roman „All Sorts and Conditions of Men“, der ein treffendes Bild von dem Leben und Treiben im Ostend von London entwirft und zugleich einige werthvolle Fingerzeige enthält, wie dem dort herrschenden Elend abzuhelfen sei.

„Wenn diese junge Erbin ein gutes Werk thun wollte,“ heißt es da in einem Zwiegespräch zwischen dem Helden und der Heldin des Buches, „so sollte sie einen Vergnügungspalast hier errichten.“

Diese Idee wird dann in dem Roman weiter ausgeführt, wo wir lesen: „Der Palast sollte viele Räume enthalten: einer derselben sollte für Koncerte dienen und eine Orgel darin ausgestellt sein; ein anderer für Theater mit einer ordentlichen Bühne darin; ein Raum sollte ein Tanzsaal werden; eine Rollschuhbahn, ein Saal für Vorträge und Deklamationen, eine Gemälde-Ausstellung“: alles das sollte in diesem Palast den in Armuth und Elend lebenden Bewohnern des Ostends unentgeltlich geboten werden.

Die Ausführung von derartigen Entwürfen mag uns auf den ersten Blick als lediglich in den Rahmen eines Phantasiewerkes gehörig erscheinen, wo der Aufbau eines solchen Palastes mit Worten viel billiger zu stehen kommt, als im wirklichen Leben aus Steinen und was sonst an Material dazu gehört. Allein wie dem Verfasser des Romans ohne Zweifel von dem Beaumont’schen Institut die Anregung zu seinen idealen Plänen gekommen war, so waren nun auch ihrerseits wieder die Administratoren der Beaumont’schen Hinterlassenschaft von den erweiternden Ausführungen der ursprünglichen Idee eingenommen und mit ihnen ganz England, das den Roman gelesen hatte. Es währte denn auch nicht lange, so tagte im Mansion House, dem officiellen Wohnsitz des Lord Mayor, unter persönlichem Vorsitz Seiner Lordschaft eine Kommission, an deren Berathungen auch Männer wie Professor Huxley und Dr. Göschen, der gegenwärtige Finanzminister, auf das Lebhafteste sich betheiligten und welche die in dem Besant’schen Roman gemachten Vorschläge mit geringen Aenderungen acceptirten. Sie verbanden aber zugleich mit dem Angenehmen das Nützliche und erweiterten das Projekt dahin, daß in dem Palast Kunst- und Gewerbeschulen errichtet, eine Turnhalle und auch einige große Schwimmhallen für beiderlei Geschlechter, Parkanlagen und Spielplätze angelegt werden sollten.

Uns Deutschen dürfte es zur besonderen Genugthuung gereichen, daß in dem von der Kommission aufgesetzten Entwürfe hervorgehoben wird, ein wünschenswerthes Zubehör zu dem Palast würde auch ein Koncertgarten bilden „in der Art eines deutschen Koncertgartens, wie der Palmengarten in Frankfurt am Main,“ und hinsichtlich der Turnvorrichtungen wird wieder empfohlen: „ein Gymnasium, wie eine deutsche Turnhalle erster Art“.

Indem man so den Palast mit allen möglichen Annehmlichkeiten, mit allen möglichen Mitteln unschuldiger, wohlthätiger Zerstreuung und Unterhaltung ausstatten wollte, rechnete man wohl nicht mit Unrecht darauf, daß die verwahrlosten Bewohner des Ostends zu Tausenden aus ihren schmutzigen, ungesunden Schlupfwinkeln hervorkommen und einen Sonnenstrahl reiner Freuden in der dunklen Nacht ihres Elends genießen würden. Der Aufenthalt an solcher Stätte kann aber nicht verfehlen, selbst auf Diejenigen, die nur um der Unterhaltung willen sich einstellen, einen civilisirenden Einfluß auszuüben, der gerade hier um so wünschenswerther ist, als der Schulunterricht in England überhaupt und in dieser Gegend von London insbesondere noch recht viel zu wünschen übrig läßt und doch auch nur der aufwachsenden Generation zugute kommt. Unterricht soll ja überdies auch gerade im People’s Palace geboten werden, Unterricht insonderheit in allem, was das praktische Leben angeht, Unterricht und die angemessenste Gelegenheit zur Selbstbildung. Und das Alles wird auf die bequemste Weise geboten, ohne jedweden Zwang, an einer Vergnügungsstätte, in einem Klub, einem – Palast, wie das Ganze, vielleicht ein wenig phantastisch und doch auch wieder höchst bezeichnender Weise, genannt worden ist.

Traum, ein ideales Werk, das freilich auch materielle Mittel in erheblichem Maße erheischte, um zur Verwirklichung zu gelangen! Aber „die nüchternen Engländer“ schreckten davor nicht zurück.

Die 19 500 Pfund Sterling, die von dem ursprünglichen Begründer des „Philosophischen Instituts“ ausgesetzt waren, reichten allerdings nicht weit. Man rechnete bald aus, daß man wenigstens das Fünffache dieser Summe, zwei Millionen Mark gebrauche, um das Unternehmen in würdiger Weise durchzuführen. Das Interesse für das Unternehmen war aber mittlerweile so rege geworden, daß nun auch freiwillige Subskriptionen von allen Seiten zuflossen. Eine der alten, reichen City-Gilden, The Drapers’ Company, sicherte 20 000 Pfund Sterling behufs Errichtung der Handwerkerschulen zu; Lord Rosebery gab 2500 Pfund Sterling zur Herstellung der Schwimmhallen, und so sind in diesem Augenblicke schon mehr als drei Viertel des erforderlichen Kapitals geliefert.

Bereits am 28. Juni vorigen Jahres wurde daher vom Prinzen und der Prinzessin von Wales der Grundstein zu der großen Queen’s Halle gelegt, die nunmehr vollendet ist und als deren Eröffnungstermin der 14. Mai in Aussicht genommen wurde. Der prächtige Bau kann 4000 Personen fassen und soll zur Abhaltung größerer Koncerte, für gewöhnlich aber als Lesehalle benutzt werden. Unsere Vignette stellt den Palast dar, wie er aussehen wird, wenn das Ganze fertig geworden, oder doch wie derselbe ursprünglich werden sollte; denn der weitere Ausbau wird theilweise noch von der Höhe des Betrags der noch einlaufenden Gelder bedingt.

Zwei höchst wesentliche Punkte in Bezug auf die Leitung des Palastes haben dem für denselben sich interessirenden Publikum Monate lang zu heftigem Streit Anlaß gegeben. Von der weit verbreiteten „Blauband-Armee“ des Enthaltsamkeitsvereins wurde das Verlangen gestellt, es solle von vornherein festgesetzt werden, daß keinerlei Spirituosen jemals im Palast zum Ausschank gelangen sollten. Da nun jener Verein, im Falle diese Bedingung angenommen würde, dem Unternehmen eine wesentliche Unterstützung zusagte und da überdies England reich ist an jenen Leuten, die zwar selbst Port und Porter, Whisky und Champagner vollauf genießen, aber der fürsorglichen Meinung sind, anderen Leuten könnten derlei Getränke, und sei es auch nur ein Glas Bier, leicht schädlich werden, so hat das Komité nach einigem Widerstreben dem Drängen jener Leute leider nachgegeben und in den Kelch ungetrübter Freuden den Wermuthstropfen von Limonaden- und Zuckerwasser-Monopol sich träufeln lassen.

Andererseits verlangte „die Gesellschaft zur Heilighaltung des Sonntags“, der Palast solle am Sonntag geschlossen werden! Was ein solches Unternehmen wohl nützen sollte, wenn das Gebäude gerade an dem Tage, wo die Arbeiterklassen Zeit haben, ihnen nicht offen stände! Das hieße doch geradezu den Palast für Faullenzer und Strolche allein reserviren. Das Komité hatte dieser Gesellschaft gegenüber einen schweren Stand, aber es wurde schließlich der Beschluß gefaßt, der Palast sollte am Sonntag nur „während gewisser Stunden“ geöffnet sein.

Das Ganze ist zunächst nur ein Experiment, ebenso interessant wie es großartig ist. Stellt es sich aber als so erfolgreich heraus, wie sich erwarten läßt, so wird es an Nachahmungen in anderen Stadttheilen von London und anderen Städten Englands nicht fehlen. Wilh. F. Brand.     




Die irrende Justiz und ihre Sühne.

In unserm ersten Artikel über „Die irrende Justiz und ihre Sühne“ (in Nr. 1 des Jahrgangs 1884 der „Gartenlaube“) ist eine Anzahl Fälle zusammengestellt, in denen das richterliche Schuldig über „Verbrecher“ gesprochen wurde, deren Nichtschuld sich später herausstellte. Diese Fälle sind noch keineswegs erschöpft; sie werden auch nie erschöpft werden; denn der urtheilende Mensch bleibt, wie es in jenem Artikel hieß, dem Irrthum unerbittlich unterworfen, so lange er noch unter den Geboten der Erde steht. „Keine Institution wird ihn verbannen, nicht der Fortschritt des Wissens, noch die Klärung des Gedankens, noch die Verfeinerung des Gefühls.“ Die sich daran knüpfende Frage der Entschädigung der unschuldig Verurtheilten ist inzwischen bis an den Reichstag gekommen und hat dort den Wunsch der gesetzlichen Regelung der Entschädigungspflicht zum Beschlusse gereift. Der Bundesrath hat [346] den Erlaß eines desfallsigen Gesetzes zwar abgelehnt, die Entschädigung aber doch als eine moralische Pflicht des Staates und so gewissermaßen im Princip anerkannt.

Unter den neueren dahin einschlagenden Fällen hat die Wiederaufhebung des gegen den Dienstknecht Karl Loth von Synderstedt früher erkannten, aber nicht vollzogenen Todesurteils durch das Schwurgericht in Gera eine ganz besondere Bedeutung erlangt. Diese Bedeutung ist namentlich darin begründet, daß Juristen, Mediciner und Laienrichter (Geschworene) bei der Urtheilsfällung gemeinsam betheiligt waren, daß die klärende Wiederaufnahme des Verfahrens nur dem wunderbaren Walten des Unfalls zu verdanken ist und dabei eine ganz eigentümliche Verwicklung der Umstände zu Tage tritt.

Wir halten dafür, daß eine kurze Darstellung des eigenthümlichen Verlaufs dieses Rechtsfalles auf ganz authentischer Grundlage auch den Leserkreis der „Gartenlaube“ interessiren wird.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Januar 1885 wurde der Bürgermeister des vier Stunden von Weimar und eine Stunde von Blankenhain liegenden weimarischen Dorfes Obersynderstedt nach dem Gehöfte des Gutsbesitzers Konstantin Zorn gerufen, weil dort in der zweiten Morgenstnnde in der in dem oberen Stocke befindlichen Schlafkammer des Gutsherrn Schüsse gefallen waren. Als man in die Stube eintrat, lag der junge, kaum vierundzwanzigjährige Hausherr in einer am Rücken sich ausbreitenden Blutlache in halb sitzender Stellung todt vor seinem Bette. Die rechte Hand war abgeschossen, sie hing nur noch an der Haut. Außerdem befand sich eine Schußwunde auf der linken oberen Brustseite und eine weitere auf der Brust. Die Bettdecke lag am Boden, das Bett selbst machte den Eindruck, als ob Jemand ruhig darin geschlafen hätte. Auf dem Bette, die Mündung nach dem Kopfende zu, lag ein abgeschossenes doppelläufiges Jagdgewehr. Der von Blankenhain herbeigeholte Amtsphysikus glaubte aus dem Befund entnehmen zu können, daß hier ein Verbrechen begangen sei, und veranlaßte das Einschreiten des Gerichts. Die Untersuchung ergab zunächst Folgendes.

Auf dem Gute lebten außer den beiden Zorn'schen Eheleuten noch die Eltern der jungen Frau Zorn, die Eheleute Peter. Der alte greise Vater lebte still und theilnahmlos für sich, dagegen war dessen um zwanzig Jahre jüngere Frau, die früher bei dem Manne in dienender Stellung sich befunden und die er erst in späteren Jahren geheiratet hatte, der eigentlich herrschende Theil im Hause, obwohl das Gut gar nicht von den Peters stammte. Als der Dienstknecht Karl Amandus Loth ins Haus kam, erlangte derselbe gegenüber dem jungen unerfahrenen Dienstherrn in Folge seiner Kenntnisse und energischen Thätigkeit bald eine leitende Stellung in der Wirthschaftsführung. Ihm schloß sich die Frau Peter alsbald an. Beide führten jetzt gemeinsam das Regiment. Der junge Zorn sank immer mehr zu einer wirthschaftlichen Null herab. Er ging auf die Jagd, besuchte viel die Wirtshäuser und kümmerte sich immer weniger um die Wirthschaft. Auch im Verhältnisse zu seiner jungen Frau trat angeblich in Folge einer ihr zugefügten Rohheit eine theilweise Erkältung ein.

Im Dorfe hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Loth, der Knecht, in näheren Beziehungen zu der jungen Frau stehe. Er war mit ihr allein zwei Tage lang auf einem Nachbardorfe zur Kirmse gewesen, und eine Magd wollte bemerkt haben, wie er die junge Frau beim Melken im Kuhstalle geküßt habe. Noch am Nachmittage vor der Mordnacht hatte zwischen ihm und seinem Herrn ein heftiges Zerwürfniß stattgefunden. Der Letztere war von einer Ausfahrt stark angetrunken nach Hause gekommen und hatte allerlei Excesse begangen. Loth war von den Frauen gerufen worden, ihn zur Ruhe zu bringen. Zorn stieß ihn fort; Loth packte ihn, warf ihn zu Boden und würgte ihn heftig am Halse. In Folge dessen hatte Zorn als Dienstherr dem Knechte sofort den Dienst gekündigt. Loth hatte sich auch bereit erklärt, andern Tags fortzugehen. Die Frauen aber, vor Allem Frau Peter, hatten der Entlassung widersprochen.

„Ich,“ hatte diese gesagt, „habe ihn gemietet, er darf nicht fort, schon der Wirthschaft wegen.“

Der Streit wurde durch den Bürgermeister geschlichtet. Loth wollte sich im Wirthshause mit Zorn versöhnen, dieser lehnte es ab und ging später allein dahin. Loth will dann, nachdem er zu Abend gegessen, in der im Parterregeschoß des Hauses liegenden Wohnstube geblieben sein und den Frauen beim Kartoffelreiben geholfen haben, während Zorn nach seiner Rückkehr aus dem Wirthshause sich in unruhigem Halbschlummer auf dem Sofa herumwälzte. Gegen neun Uhr ging Loth in den Pferdestall, welcher in dem Nebengebäude lag und wo er zu nächtigen pflegte. Dort hatte er die Pferde gefüttert und dann sein oben an der Wand befindliches Bett bestiegen

Im Hause war dann außer Zorn und dem alten Peter, der im oberen Stocke schlief, nur noch die Frau desselben geblieben. Die junge Frau hatte sich schon vorher zu dem Nachbar Müller begeben, um die Nacht dort zu verbringen, angeblich, weil ihr Mann Drohungen gegen sie ausgestoßen hatte und sie sich vor ihm fürchtete. Loth will dann fest eingeschlafen sein und von den Schüssen nichts gehört haben. Er ist erst wieder erwacht, als die Frau Peter in den Stall kam und rief: „Karl, Konstant hat sich erschossen in seiner Kammer!“

Für das, was in der Mordstunde geschah, lag nur ein einziges gemeinsames Zeugniß vor, das der in der Nachbarschaft wohnenden Schwarz’schen Eheleute. Der alte Peter, der noch mit im Hause war, lehnte das Zeugniß gegen Frau und Tochter ab, wozu er berechtigt war. Die Schwarz’schen Eheleute schliefen auf dem Heuboden, dort befand sich ein bis auf den Fußboden hinabgehendes Fenster, von welchem aus man in den Zorn’schen Hof sehen konnte. In der Nacht, früh gegen zwei Uhr, hörte der Mann zwei in der Nachbarschaft gefallene Schüsse. Er weckte die Frau mit der Mittheilung. Beide horchten, da fiel etwa acht bis zehn Minuten später ein dritter Schuß. Die Frau vernimmt hierauf innerhalb des Zorn’schen Hauses ein „Heulen“. Gleich darauf wird die Zorn’sche Hausthür geöffnet, und es erscheint ein Lichtschimmer. Da hält's die Frau nicht länger im Bette, sie springt heraus und kauert sich ans Fenster. Da steht sie die Peter auf der nach dem Hofe zu führenden Haustreppe stehen. Von dort geht sie in wimmerndem Tone über den Hof nach dem nahegelegenen Pferdestalle. Dort, in der Nähe des Pferdestalls, ruft sie zweimal: „Komm, Karl, komm!“

In den Pferdestall ist sie nach der Meinung der Zeugin nicht gegangen, da sonst das Licht, das sie trug, verschwunden wäre. Das geschah aber erst, als sie in den Durchgang eintrat, der nach der Straße führte. Von Loth selbst hat die Zeugin nichts bemerkt; auch im Hause keinen Hilferuf gehört. Dann hatte sie kurze Zeit darnach ein Pochen gehört. Das war das Pochen an der Thür des Bürgermeisters, wo, wie festgestellt worden war, die Frau Peter in Begleitung des Loth erschien.

Nach dem Gutachten der beiden Physikatspersonen waren die sämmtlichen drei Schüsse Zorn durch fremde Hand beigebracht. Der Mörder sollte vor dem Bette Zorn's, das eine Bein auf den Bettrand gestützt, gestanden und den ruhig Schlafenden, der gerade den rechten Arm über die Brust gelegt hatte, getroffen und zunächst ihm die Hand zerschossen, mit dem gleich darauf folgenden zweiten Schusse aber ihn in die Seite getroffen haben. Das Gewehr war doppelläufig, die Schüsse waren Schrotschüsse. Schon dieser zweite Schuß sei sofort tödlich gewesen, da er edle Theile getroffen hatte!

Alle Drei, Loth, die Frau Peter und die Wittwe des Gemordeten, standen unter der Anklage des gemeinschaftlich geplanten und verübten Mordes vor dem im Oktober 1885 abgehaltenen Schwurgerichte. Alle Drei stellten ihre Beteiligung an dem Morde in Abrede. Ihrer Ansicht nach hatte Zorn sich selbst getödtet. Nach dem Spruche der Geschworenen wurde hierauf der Knecht Loth des Mordes allein für schuldig erklärt und die Frau Peter nur der Beihilfe dazu. Obwohl im Vorzimmer auf der Diele die blutigen Abdrücke eines mit einem Strumpfe bekleideten Fußes von der ungefähren Größe desjenigen der Peter entdeckt worden waren, traute man ihr als Frau doch nicht zu, daß sie dreimal auf einen Mann geschossen haben könne, um so weniger, als das Gewehr beim Verschlusse einen Defekt hatte, der dessen Handhabung erschwerte. Loth wurde zum Tode, die Frau Peter zu zehnjährigem Zuchthause verurteilt. Auch die Frau Zorn ging nicht straffrei aus. Obwohl sie außer dem Hause geblieben war, nahm man doch an, daß ihr der Mordplan bekannt gewesen sei, und verurteilte sie wegen unterlassener Anzeige desselben zu einer vierjährigen Gefängnißstrafe.

Im Publikum war man mit dem Spruche der Geschworenen nicht ganz zufrieden. Man hielt allgemein die Frau Peter für die Hauptschuldige und konnte sich nicht damit befreunden, daß [347] dieselbe weit besser wegkam, als der ganz unter der Botmäßigkeit ihres Willens stehende Knecht. Die Frau Peter hatte bei der Verhandlung einen höchst ungünstigen Eindruck gemacht. Auf einen solchen Eindruck giebt man im Volk immer viel.

Die Todesstrafe wurde an Loth nicht vollstreckt. Der Großherzog von Weimar, der Landesherr Loth’s, machte von dem ihm zustehenden Rechte der Begnadigung Gebrauch, und Loth wanderte statt aufs Schaffot ins Zuchthaus.

Aber nun brachte das oft im Dienste einer höheren Gerechtigkeit stehende Walten des Zufalls die Wendung.

Zufällig war in der Schwurgerichtsverhandlung ein Geraer Arzt als Zuhörer anwesend, der Dr. med. Erwin Koch. Er hatte die gutachtliche Vernehmung der Physikatspersonen angehört und dabei die Ueberzeugung gewonnen, daß die von ihnen gezogenen Schlüsse wissenschaftlich nicht haltbar und mit dem Sachbefund nicht wohl vereinbar waren. Vielmehr deutete seiner Ueberzeugung nach der letztere darauf hin, daß wenigstens die beiden ersten der abgegebenen Schüsse Selbstmordschüsse waren und nicht von dritter Hand herrühren konnten. Diese Ansicht befestigte sich bei ihm immer mehr, und er suchte dieselbe auch in juristischen Kreisen und vor Allem bei dem Vertheidiger des Verurtheilten in Geltung zu bringen, um eine Wiederaufnahme des Processes herbeizuführen. Nach der Vorschrift des Gesetzes konnte aber eine solche nur eintreten, wenn neue Thatsachen oder Beweismittel beigebracht wurden, welche allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder eine geringere Bestrafung zu begründen geeignet sind. Die bloße gegentheilige Ansicht eines Sachverständigen konnte füglich weder als neue Thatsache, noch als neues Beweismittel gelten. Aber dem Dr. Koch ließ der Gedanke, daß hier ein schwerer Irrthum begangen worden sei, keine Ruhe. Er reiste auf eigene Faust an den Ort der That, um dort vielleicht neues Beweismaterial zu entdecken. Auch hier wurde der Zufall sein Gehilfe.

Schon auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach dem abgelegenen Dorfe erfuhr er von dem Geschirrführer, daß früher an der Decke des Mordgemachs sich ein bei der Untersuchung nicht beachteter, ziemlich großer Blutfleck abseits vom Bette befunden habe, bei welchem Sehnen und Flechsen fest angeklebt waren. Der Fleck war beim Weißen der Decke übertüncht, aber von den Tünchern bemerkt worden. Trotzdem waren die Spuren der Fleischtheile noch zu ermitteln. Es waren offenbar Theile der abgeschossenen Hand. Sie konnten nur durch die Gewalt eines nach der Decke zu gerichteten Schusses so fest an dieser ankleben. Jedenfalls war damit die Annahme zerstört, daß der Schuß gegen den im Bette liegenden Zorn gerichtet gewesen war. Von da aus konnten die Handtheile nicht an die Decke kommen. Dann gelang es auch noch, das blutige Hemd, das Zorn in der Nacht an hatte und das auf eigenthümliche Weise erhalten gebieben war, in Besitz zu bekommen. Man hatte unterlassen, es seiner Zeit mit in Beschlag zu nehmen, und nun ergab sich, daß auch die Schußlöcher im Hemde nicht mit den Annahmen der Sachverständigen stimmten.

Somit waren neue Thatsachen und Beweismittel gewonnen, und der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens konnte begründet werden. Die zuständige Strafkammer des Geraer Landgerichts veranlaßte eine weitere Prüfung des Koch’schen Gutachtens durch den Professor der Medicin und Physikatsarzt Dr. Gärtner in Jena, und diese fiel in der Hauptsache zu Gunsten des erstern aus. Auch der von Professor Gärtner weiter zugezogene Professor der Chirurgie Dr. Braun schloß sich der Ansicht im Wesentlichen an. Nunmehr wurde der ganze Proceß in der dreitägigen Verhandlung vor dem Schwurgerichte zu Gera, die unter dem Vorsitze des Landgerichtsdirektors Dr. Hagen am 31. März, 1. und 2. April stattfand, von Neuem verhandelt. Den Schwerpunkt der Verhandlung bildeten die Ausführungen der drei neuen Sachverständigen Koch, Gärtner und Braun, welche allein einen ganzen Vormittag ausfüllten. Die Untersuchungen in Jena waren mit jener Subtilität und gewissenhaften Vertiefung in das kleinste Detail gemacht worden, wie sie das gewohnte Kennzeichen des deutschen Gelehrtenthums sind. Leichen und Leichentheile waren als Versuchsobjekte benutzt worden, um die Richtungen der einzelnen Schüsse und ihre Wirkungen unter Berücksichtigung eines an Ort und Stelle neu aufgenommenen Befundes festzustellen. Auch lebende Objekte wurden, so weit es anging, zur Verdeutlichung der einzelnen Positionen benutzt.

Wir müssen es uns freilich versagen, näher auf die specielle Beweisführung in dieser Richtung einzugehen, müssen uns vielmehr auf die Wiedergabe der gezogenen Schlüsse beschränken. Danach wurde festgestellt, daß Zorn nicht von einer vor ihm stehenden Person im Bett erschossen worden sein konnte. Als der erste Schuß fiel, mußte er sich bereits in sitzender Stellung außerhalb des Bettes befunden haben. Er erhielt hier zunächst den Schuß in die Seite, der seiner Richtung nach auch nicht von einer fremden Person herrühren konnte, da der Mörder dabei eine geradezu undenkbare Lage hätte einnehmen müssen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieser Schuß ein Selbstmordschuß, welchen Zorn durch Anstemmen des Gewehres auf den Boden und Abdrücken des Hahnes mit dem bloßen Fuße gegen seine Brust gerichtet hatte, der aber beim Abdrücken eine mehr seitliche Richtung nahm. Der Schuß in die Hand war dann unmittelbar darauf, gefolgt als ein Produkt des Zufalls, wobei der Selbstmörder die Hand auf die Mündung des Gewehres gehalten haben mochte. Von ihm rührten die Blutspuren an der Wand und Decke her. Dagegen war der etwa acht bis zehn Minuten darauf abgegebene gerade ins Herz gerichtete Schuß ein von fremder Hand abgegebener Mordschuß. Hier stimmte das neue Gutachten mit dem alten überein. Mit der gänzlich zerschossenen rechten Hand konnte Zorn das Gewehr weder neu laden, noch sich erschießen. Der Schuß war auch auf eine stehende Person abgegeben in der Richtung von unten nach oben. Der erste selbstmörderische Schuß war nicht, wie man früher annahm, sofort tödlich. Der Verletzte konnte noch schreien, also auch noch um Hilfe rufen. Ein solcher Hilferuf war nicht vernommen worden. Der alte Peter, der in der neuen Verhandlung sein Zeugniß nicht mehr ablehnen konnte und dasselbe auch beschwor, hatte zwar die Schüsse, aber sonst nicht einen „Muks“ gehört. Der dritte Schuß war ein sorgfältig gezielter Herzschuß und als solcher sofort und unbedingt tödlich.

Der Selbstmordversuch Zorn’s erhielt auch seine psychologische Motivirung. Zorn hatte sich in der letzten Zeit schon immer mit Selbstmordgedanken getragen und denselben wiederholt anderen Personen gegenüber Ausdruck gegeben. Er hatte unter Anderem gesagt: es sei nicht gut, wenn man sich durch den Kopf schieße, das sähe nicht gut aus. Ein Schuß in die Brust thät’s auch. Noch an dem Abende vor seinem Tode hatte er zu einem Zeugen, mit dem er im Wirthshause saß, geäußert: „Komm, wir wollen eins trinken; wenn’s einmal alle wird, mach’ ich’s wie die Engländer, da erschieß’ ich mich.“ Als der Zeuge darauf entgegnete: das solle doch nicht sein, hatte er erwiedert: „Nun, was ist’s da weiter!“ Er hatte nicht unbedeutende Wirthshausschulden, die ihn drückten, und als er am Nachmittage von seiner Frau Geld verlangte und sie ihm dieses verweigerte, hatte er geäußert: „Erst erschieße ich Dich, dann mich.“ Und nun der Vorfall mit dem Knecht, der ihm die ganze Ohnmacht seiner Stellung im Hause vorspiegelte und ihn moralisch wohl tief niedergedrückt haben mochte.

Mit den neuen Gutachten der Sachverständigen verlor das frühere Urtheil seine Unterlage. Von einem vorher geplanten Morde konnte jetzt nicht mehr die Rede sein. Immerhin aber blieb noch der dritte Schuß, der einen verbrecherischen Charakter in jedem Falle in sich trug. Rührte er von Loth her? Dafür ergaben sich jetzt noch weniger Anhaltspunkte als sonst.

Die belastenden Momente der ersten Verhandlung schwächten sich immer mehr ab. Auch das angenommene, aber von den Betheiligten durchaus bestrittene Verhältniß zwischen Knecht und Dienstherrin verlor den Boden des Thatsächlichen. Selbst der angebliche Kuß im Kuhstalle nahm den Charakter einer bloßen Illusion an. So verdächtig auch der Ruf der Frau Peter: „Karl! komm!“ im Hofe war, der Beweis, daß Loth wirklich im Hause war, wurde auch jetzt nicht erbracht. Dagegen ließen auch nach Annahme der Sachverständigen alle Umstände darauf schließen, daß die Frau Peter den dritten Schuß abgab und zwar jedenfalls mit Zustimmung und auf nähere Anweisung des bereits tödlich verwundeten, aber noch zum Sprechen fähigen Zorn. Sie war jedenfalls nach den beiden ersten Schüssen aus dem Bette gesprungen und in Unterrock und Strümpfen in das obere Stock hinauf geeilt. Daß ihr der Tod Zorn’s ganz willkommen war, ging aus verschiedenen Aeußerungen hervor, welche sie in den [348] letzten Tagen zu dritten Personen gethan hatte. So hatte sie zu einer Nachbarfamilie gesagt: „Was nur mit unserem Konstant ist? Er will sich immer erschießen.“ Auf die Bemerkung, daß er das wohl nicht thun werde, hatte sie in ähnlicher Weise erwiedert: „Immerhin besser, er ist weg, als wir sind in Gefahr. Ich gebe ihm die Flinte und helfe ihm auch losschießen.“

Die Peter selbst war indeß der irdischen Gerechtigkeit entzogen; sie war noch vor Beginn des Aufnahmeverfahrens im Zuchthause gestorben. Auch ein eigenthümlicher Zufall! Sie hatte vor ihrem Tode wohl in der Annahme, daß Loth inzwischen enthauptet sein werde, eine Art von Geständniß gemacht, wonach Loth den Zorn erschossen haben sollte und sie nur dabei zugegen war. Die Sachverständigen erklärten die Angaben als höchst unwahrscheinlich.

Die Geschworenen verneinten diesmal die Schuldfrage; der Gerichtshof hob das frühere Urtheil wieder auf und sprach den Angeklagten frei. Loth begriff den ganzen Ernst der Situation. Er dankte andern Tags persönlich Allen, die zu seiner Rehabilitirung beigetragen hatten. Das Gefühl einer gewissen moralischen Mitschuld am Tode seines Herrn mochte ihm doch wohl nicht fremd sein. Er faßte die verbüßte Strafzeit unter dem Gesichtspunkt einer Buße und als mahnenden Wegweiser für sein ferneres Leben auf. Die Wittwe des Ermordeten ist vor Kurzem begnadigt und aus der Haft entlassen worden.

Es giebt in der Welt keine absolute Wahrheit; war aber der Verlauf der Sache so, wie ihn die letzte Verhandlung herausstellte, so war das Leben dieses armen Dienstknechts einer Tragik verfallen in der Verkettung eigenthümlicher Umstände, wie sie sonst nur die Phantasie des Dichters zu kombiniren vermag. Mehr als irgend ein anderer aber legt dieser Fall Zeugniß ab von der Ohnmacht des menschlichen Urtheils. Fr. Helbig.     




Die Einsame.
Erzählung von S. Kyn.

Du schläfst noch nicht, Tante?“ fragte besorgt ein junges Mädchen, als es in vorgerückter Nachtstunde die Stubenthür hastig hinter sich ins Schloß drückte, um sogleich neben den bequemen Sessel am mächtigen Kachelofen zu treten, in welchem die Greisin saß. „Ich verstehe, alte Erinnerungen wurden wach!“ sprach sie weiter und blickte auf eine altmodische Truhe nieder, welche geöffnet zu deren Füßen stand und als Behältniß für das schimmernde Brautgewand dienen mochte, das auf den Knieen der alten Dame lag. Wie beruhigt wandte sie sich erst dann zur Seite, um den dunklen Mantel von den Schultern zu nehmen, in dem sie augenscheinlich einem dichten Schneegestöber ausgesetzt gewesen sein mußte; denn noch lagen in den Falten desselben Flocken, die alsbald in der warmen Zimmerluft zu schmelzen begannen.

Die großen, ausdruckslosen Augen der weißhaarigen Frau starrten vor sich hin, während der horchende, gespannte Ausdruck der Blinden nicht von dem faltigen Antlitz wich.

„Wie hast Du Dich amüsirt, Kordula?“ fragte sie dann nach einer kurzen Weile des Schweigens die Nichte, welche indessen langsam und sorgfältig die Handschuhe von den Fingern streifte. „Hatte Frau Melly vielleicht heute einmal nicht ihren liebenswürdigen Tag? Du bist wortkarg, mein Kind; fandest Du bisher an einem derartigen Abend Gefallen, so pflegtest Du mittheilsamer zu sein!“

Kordula’s Achseln hoben sich langsam, und der bittere Zug um den Mund, die finster zusammengezogenen Brauen gaben ihr eine seltsame Aehnlichkeit mit dem starren Frauenantlitz, in welches der Finger von Sorge und Gram untilgbare Spuren eingegraben hatte und das sich jetzt in geisterhafter Blässe vom Hintergrund der dunklen Sessellehne abhob. Dann schob sie einen Stuhl neben den Sitz der Tante und ließ sich in müder Haltung nieder.

„Wie es bei Wolfersdorff’s war? Je nun, wie immer, Tante Renate,“ erzählte sie in scheinbar gleichgültigem Tone; „man hat musicirt, soupirt, getanzt, das ist Alles!“

„Das heißt also, Du hast die Sängerinnen auf dem Piano begleitet, im Nothfall die zweite Stimme eines Duettes übernommen, zum Tanz aufgespielt, ist es nicht so?“ fragte die alte Frau hart und schonungslos. „Sage mir, wie kannst Du immer wieder ihre Einladungen annehmen; warum folgst Du nicht meinem Rath, Dich ihnen fernzuhalten? Darf man nur vegetiren, nicht leben, mein Kind, so vollzieht sich das leichter in der Einsamkeit. Auch der trotzigste Geist wird in der Stille zahm und giebt sich drein!“

Kordula warf mit einer eigenthümlichen Gebärde den vorher leicht geneigten Kopf in den Nacken zurück, und ein heißer Strahl brach aus den halb von schweren Lidern bedeckten Augen.

„Ich bin jung, Tante! Melly ist das einzige Band, welches mich noch mit dem Leben außerhalb unserer vier Wände verknüpft!“

„Sind die Feste im Wolfersdorff’schen Hause denn so genußreich, daß sie die Demüthigungen aufwiegen, welche Du in diesem Kreise vom Schicksal begünstigter Menschen zweifellos ertragen mußt? Nein, ich will Dir sagen, was Dich zwingt, Dich ihnen immer von Neuem wieder auszusetzen!“ fuhr die Blinde wie vorhin fort – „Du hoffst dort einen Gatten zu finden! – Träume – Schäume! Wer heirathet heut zu Tage noch ein armes Mädchen! Ja, wärest Du schön, dann vielleicht! Aber Du selbst gestehst es ein, unansehnlich zu sein. Könnte ich Dich noch einmal sehen, Kora,“ fügte sie nach kurzem Sinnen hinzu, und ihre Hand glitt tastend über das Antlitz der Nichte. „Die lieblichen Kinderzüge mögen scharf geworden sein – einen schmallippigen Mund hast Du, ein energisches Kinn. Ach ja, Sorge und Kampf ums Dasein von Kindheit an machen nicht schön, das glaube ich nur zu wohl!“

„Geld, Tante Renate! Gieb mir ein Vermögen, und mich findet Keiner häßlich.“

Die Greisin lachte kurz bei dem leidenschaftlichen Ausruf auf. „Ein flüchtiger Vogel, den Niemand erhascht, es sei denn, er flattere Dir freiwillig in den Schoß.“

Kordula blickte indessen verächtlich an dem schwarzen, vertragenen Seidenkleid nieder, das ihre schlanke, ein wenig vornüber geneigte Gestalt umschloß.

„Wenn ich mich doch ein einziges Mal wie Melly kleiden könnte,“ entschlüpfte es ihr plötzlich. „Ach Tante, liebe Tante, laß mich ein einziges meiner Papiere wechseln – laß mich einen einzigen Winter lang leben –“

„Ein paar Monate leben, um dann ein ganzes Dasein lang dafür zu büßen? Nein – nein – nein, Kordula!“ stieß die Blinde hervor.

In diesem Augenblick glitt der schimmernde Brokat an ihr nieder, und sein Rauschen brachte eine eigene Bewegung in die erstarrten Züge. Wie ein holder Schein einstigen Glückes zog es durch die erstorbenen Augen, und als Tante Renate sich niederbeugte, um das kostbare Gewebe in die Truhe zurück zu legen, strichen ihre Finger fast zärtlich darüber hin.

„Warte geduldig, mein Kind!“ murmelte sie dabei in ungewohnter Milde. „Jedes Dasein hat einen Tag, wenigstens eine Stunde Glück zu verzeichnen, und der Glanz einer solchen Stunde wirft auch in die dunkelste Existenz einen hellen versöhnlichen Schimmer. Warte, Kora, warte!“

Indessen hatte sie die Truhe geschlossen und trug sie vorsichtig in den großen Eichenschrank in der Ecke; nur der feine Lavendelduft, der den ganzen Stoff durchdrungen, zog noch durch das Gemach.

Kordula Adrian verharrte währenddem unbeweglich auf ihrem Platze; nur immer tiefer gruben sich die Falten auf ihrer Stirn ein. Mußte sie um der Tante willen den Schrei ihres Herzens zurückdrängen, ihren Mienen wenigstens brauchte sie keinen Zwang aufzuerlegen, und unablässig nagten die weißen Zähne an der Unterlippe. Ah, dürfte sie es Einem anvertrauen, wie sie litt, was man ihr heute wieder angethan! Und die schmalen Hände ballten sich in ohnmächtigem Zorn zusammen.

Sie war fast seit der Geburt vater- und mutterlose Waise. Die einzige Schwester des Vaters hatte sich ihrer angenommen. Obwohl sie als Hauptmannswittwe auf neunhundert Mark Pension

[349]


     0Frühlingssträußchen.
 Von Viktor Blüthgen.

Lenz zieht auf die grünen Fahnen:
Ich bin da! Mit frohen Sinnen
Sammeln Kinder seine Blumen,
Botenlohn sich zu gewinnen –

5
Lenz will wieder Gäste bitten:

Schüchtern trägt nach langer Pause
Korbweis seine bunten Karten
Kleines Volk von Haus zu Hause.



[350] angewiesen war, so hatte sie es dennoch möglich gemacht, dem Mädchen eine gute Erziehung geben zu lassen. Mit unermüdlichem Fleiß arbeitete Frau von Velsen für Tapisseriegeschäfte, dann, als ihre Augen langsam, aber rettungslos ihre Sehkraft einbüßten, strickte sie für den Verkauf, Tag für Tag, und so gelang es ihr, die wenigen hundert Thaler, welche der Nichte als Erbe geblieben waren, unangegriffen zu erhalten.

Derartige Existenzen finden sich häufiger, als man für gewöhnlich glaubt, doch bleiben sie meistens in ihrer ganzen Dürftigkeit unerkannt, denn es ist der Frauennatur gegeben, immer noch einen Schein von Behaglichkeit und Wohlhabenheit zur Schau zu tragen, welcher den flüchtigen Beobachter leicht täuscht. Frau von Velsen jedoch wies jede Verschleierung ihrer Verhältnisse weit von sich – und warum sollte sie sich auch irgend welchen Zwang auferlegen? Betrat doch außer der alten Aufwärterin, welche neben ihr wohnte, kein Mensch die kleine Wohnung, welche aus dem mäßig großen, zweifenstrigen Wohnzimmer, der kleinen Küche und einer Schlafkammer bestand.

Seit fünfundzwanzig Jahren hatte die Blinde diese Wohnung inne und kannte begreiflicherweise jeden Winkel so genau, daß sie sich völlig selbständig in den Räumen bewegen konnte. Ueber die Schwelle war sie seit ihrer Erblindung nicht mehr geschritten. Die Frühlings- und Sommerluft genoß sie an dem geöffneten Fenster, welches auf ein kleines Hofgärtchen blicken ließ, mit einer alten Linde darin. Fast alljährlich starb einer der starken Aeste des mächtigen Baumes ab, denn immer höher stiegen die Häuser rundum auf, Licht und Luft absperrend, aber das frische Leben in dem markigen Stamm ließ immer neue Zweige sprossen, und so sandte die Linde auch alljährlich, trotz Allem, süßen Blüthenduft bis zu der alten Frau hin. Hoch oben im Gipfel summten dann Tausende von Bienen, und die Blinde lauschte fast andächtig auf den Glockenklang des Sommers, wie sie den Ton nannte. Dann kam auch ein Tag, wo sie zur Nichte sagte: „Es wird Herbst, Kordula,“ und auf das leise Fallen der dürren Blätter horchte. „Ob ich sie im Frühling noch einmal werde rauschen hören, die alte Linde?“

Aber ein lebendes Wesen trat doch noch als Lichtgestalt in die dunkle Behausung, ein Sonnenkind von Freude und Lebenslust, Melanie von Wolfersdorff, Kordula’s einzige Freundin. In einem reichen Hause aufgewachsen, zwischen zärtlichen Eltern und blühenden Geschwistern lernte sie den Geliebten kennen, um ohne Hinderniß nach Jahr und Tag seine Gattin zu werden. Das junge Paar lebte in sorglosem Glück, von einem schönen Knaben umspielt, und war mit sich und der ganzen Welt zufrieden.

Melanie oder Melly, wie man sie nannte, die ihre ganze Schulzeit neben Kordula durchgemacht, hing noch heute mit unveränderter Freundschaft an dem eigenartigen ernsten Mädchen. Von der Kinderzeit her an Kordula’s Heim gewöhnt, empfand sie nicht mehr dessen Dürftigkeit, sie freute sich nur immer an der musterhaften Ordnung und Sauberkeit, welche darin herrschte, und sprach das oft genug in herzlichen Worten aus. Kordula hingegen bewunderte wieder mit ungekünsteltem Enthusiasmus alles Schöne, das ein gütiger Gott ihrer Freundin so reichlich in den Schoß streute, und – Melly ließ sich und ihr Eigenthum so gern bewundern! Sie schwor auch dafür auf die Freundin und schwärmte jedem Bekannten gegenüber von ihrer Kora.

„Ein Charakter, sage ich Ihnen – ein Charakter,“ versicherte sie immer von Neuem, und wenn und wo es sich irgend einrichten ließ, erschien die Freundin in ihrer Begleitung. Melly war auch in heftigem Unwillen erglüht, als sie eines Tages erfuhr, man nenne Kordula Adrian „ihre Folie“. Mein Himmel, wie konnte man sie dafür verantwortlich machen, daß die blasse müde Kora ihr rosiges blondes Köpfchen doppelt hübsch erscheinen ließ, daß deren gedrücktes einsilbiges Wesen ihren sprühenden Uebermuth nur um so reizvoller hervorhob! Sie folgte bei diesem Freundschaftsbündniß ganz allein ihrem guten Herzen und nur ein ganz klein wenig – ihrer Bequemlichkeit, und sie eiferte im hellen Zorn gegen den abscheulichen Spitznamen; dieser Zorn aber stand ihr wieder gar zu reizend! Es war nur natürlich, daß man das auch fand und ihr versicherte.

Die „Folie“ war endlich auch bis zu Kordula’s Ohr gedrungen und zwar durch einen Zufall diesen Abend. In einer Pause, die zwischen dem Tanzen eingetreten war, zu dem natürlich ihre „Goldkora“ aufgespielt, schlüpfte die zierliche Melly mit Wangen, die von der Lust des Abends geröthet waren, an das Piano, die dunkle schlichte Freundin stürmisch zu umschlingen. „Herzensschatz,“ bettelte sie dann heimlich, „sieh doch einmal nach dem Buben. Ich als Wirthin kann mich so schwer losmachen!“ Und dienstfertig, wie immer, erhob sich Kordula, der Bitte sofort nachzukommen. Der Knabe schlief fest und ruhig, und sie durfte sogleich zurückkehren. Als sie das kleine duftende Boudoir der Freundin betrat und ausruhend einen Moment in seinem Dämmerlicht verweilte, hörte sie erst einzelne Worte einer Unterhaltung aus dem Spielzimmer nebenan, dann zusammenhängende Reden, und deutlich unterschied sie die etwas lärmende Stimme eines Rittmeisters, der soeben fragte, warum denn in aller Welt das Tanzen aufgehört habe?

„Ich danke immer Gott, wenn die Weiber auf diese Weise untergebracht sind, da darf man doch in aller Ruhe seine Partie machen! Ich finde, die ‚Folie‘ ist ein ganz vorzügliches Mädchen,“ Kordula hörte zwischen hindurch die Karten fallen, „immer bereit, den Leierkasten zu machen, ich werde meine Frau veranlassen, sie auch in unsere Gesellschaften einzuladen, dann giebt es niemals mehr ein Hinderniß für das Drehvergnügen. Wo wohnt sie denn eigentlich, Wolfersdorff?“

„Auf der Domstraße bei ihrer Tante, Frau von Velsen,“ antwortete sogleich die Stimme des Wirthes. „Sie ist in der That ein nettes gefälliges Ding, die Kleine, ich freue mich aufrichtig dieser Jugendfreundschaft!“

„Das glaube ich,“ rief mit schallendem Lachen der Rittmeister. „Ihr allein danken Sie auch den ewigen Sonnenschein Ihres Hauses. Kriecht der Störenfried jedes ehelichen Glückes, Langeweile genannt, an Ihre kleine Frau heran, flugs wird die Folie geholt und erweist sich als wahrer Schatz von Geduld und Bewunderungsfähigkeit. Welches weibliche Wesen würde da nicht sofort guter Laune!“

„Der Name ‚Folie‘ ist aber ein durchaus unzutreffender!“ mischte sich jetzt ins Gespräch die Stimme des Doktor Kersten, eines angesehenen jungen Arztes. „Lassen Sie die junge Dame einmal gute Toilette machen, und Sie würden sofort die Wahrheit meines Ausspruches empfinden!“

„Der Doktor hat ganz Recht!“ stimmte sofort Wolfersdorff eifrig bei. „Nur ihrem ewigen schwarzseidenen Fähnchen hat sie diesen Namen zu verdanken! Meine Frau versuchte auch schon ihr in Betreff der Kleidersorgen ein wenig unter die Arme zu greifen, aber sie hat einen verteufelten Stolz, an dem jede Andeutung wirkungslos abprallt!“

„Schellen ist Trumpf!“ unterbrach jetzt die ungeduldige Stimme Kersten’s die Unterredung. „Ich denke, wir setzen jetzt endlich unseren Skat fort. Der Rittmeister reizt!“

Athemlos horchte das junge Mädchen. Sie war einen Schein tiefer erblaßt, und ihre Zähne knirschten leise auf einander. Als die Herren verstummten, lachte sie kurz auf.

„Sehr gut – Folie!“ murmelte sie mit zuckenden Lippen. Dann, obwohl ihre Kniee wankten, erhob sie sich und betrat, als sei nichts vorgefallen, den großen Salon, wo man sie stürmisch willkommen hieß.

Sie lächelte ganz eigen vor sich hin, dann ließ sie sich sogleich vor dem Instrument nieder.

„Eine lange Pause, nicht wahr, doch ohne meine Schuld!“ nickte sie einem eleganten Herrn zu, der ihr im Lauf der Zeit etwas nähergetreten war, da er als Vortänzer so mancherlei Anliegen an sie hatte.

„In der That, Fraulein Adrian, Sie haben sich ganz unentbehrlich zu machen verstanden, Sie tyrannisiren uns sogar in gewissem Sinn!“ plauderte er im Ton mitleidiger Freundlichkeit, während die zerstreuten Augen im ganzen Raum umherwanderten. „Jetzt wieder lege ich die Bitte der ganzen Gesellschaft zu Ihren Füßen nieder, uns eine Quadrille à la cour aus Ihrem fast unerschöpflichen Melodienfüllhorn zu spenden.“

„Vortrefflich gesagt, Herr von Stangen!“ Dann schlug sie schnell die einleitenden Takte an, welche das Engagement der Tanzlustigen zur Folge hatten. Ein kurzer düsterer Blick folgte dem eleganten Kavalier, der, sorglos über das spiegelblanke Parquet gleitend, schon im nächsten Augenblick Melly seinen Arm bot, um sie in das ihr zunächst stehende Karré zu führen. Dann musterte sie das duftige weiße Spitzenkleid der Freundin. Hatte der Doktor wirklich Recht mit seiner Behauptung, daß ihr [351] nur der Rahmen fehle, um mit diesem lieblichen Geschöpfchen rivalisiren zu können? Lag es wirklich nur an der Toilette, um ihr die Sicherheit einzuflößen, welche diese vom Glück begünstigten Frauen dort besaßen? Und wie als Antwort klang ein abgerissenes Stück Gespräch zu ihr hin: „Ja ja, Kleider machen Leute!“

Soweit war Kordula in ihren Erinnerungen gerathen, als plötzlich die Tante neben ihr zum Schlafengehen mahnte. Hastig strich sie über die geröthete Stirn, dann zog sie fürsorglich den Arm der Blinden unter den ihren. „Verzeih, Tante!“ bat sie fast zärtlich.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Hermann Heiberg. Von den Autoren, die in jüngster Zeit aufgetaucht sind, hat sich der Schleswiger Hermann Heiberg rasch einen Namen und ein Publikum verschafft. Schon erschienen in der W. Friedrichs’schen Buchhandlung sechs Bände seiner gesammelten „Schriften“; daneben gehen noch verschiedene Erzählungen und Skizzensammlungen ihren eigenen Weg, bis auch diese Nebenflüsse in den Hanptstrom münden werden.

Man mag an einen andern Autor aus dem stammverwandten Schleswig-Holstein denken, an den Holsteiner Wilhelm Jensen, der ja auch auf dem Gebiete der erzählenden Litteratur sich vorzugsweise ausgezeichnet hat, und nach Aehnlichkeiten zwischen den beiden Schriftstellern suchen, die aus demselben Volksstamme hervorgegangen sind. Und in der That wird man manches Gemeinsame finden, das der landschaftlichen Eigenart angehört: Beide schildern mit Vorliebe Strandgegenden mit ihren Dörfern und Städten, und ein frischer Meereshauch durchweht viele ihrer Erzählungen; Beide besitzen das Talent stimmungsvoller Naturmalerei und zeichnen mit Vorliebe Charaktere, welche den kräftig trotzigen Sinn und die unbeugsame Eigenart jenes Volksschlags nicht verleugnen.

Doch größer als die Aehnlichkeit ist die Verschiedenheit der beiden Erzähler.

Bei Wilhelm Jensen herrscht eine träumerische Beleuchtung vor; die Gestalten sind wie in ein magisches Licht getaucht, und der Dichter läßt sein psychologisches Senkblei mit Vorliebe in schwer zu ergründende Seelentiefen fallen. Eben so liebt er es, große Gedankensymphonien in seine Erzählungen zu verweben, ganze Kapitel mit geschichtsphilosophischem Inhalt einzuschieben, geistreich Funkelndes und Tiefsinniges, oft mit einem gewissen priesterlichen und phantastischen Anstrich in seine Werke hineinzugeheimnissen, so daß seinen Tragödien niemals schwunghafte, oft langathmige Chorgesänge fehlen.

Von diesem Allem findet sich nichts in Heiberg’s Schriften; das träumerisch Brütende liegt ihm fern; wenn er auch hin und wieder mit einem kühnen Gedankenblitz in das Stillleben, das er schildert, hineinleuchtet: er trägt kein sterngeschmücktes Magiergewand und hütet keine heiligen Opferflammen an geheimnißvollen Altären: ihm steht in erster Linie das, was der Dichter die gemeine Deutlichkeit der Dinge nennt; er sieht Alles mit voller Klarheit und giebt Alles wieder in scharfen, festen Umrissen; er ist ein feiner Beobachter nicht bloß der äußeren Welt, sondern auch der inneren Vorgänge des Seelenlebens; er ist ein trefflicher Genremaler, dem kein Detail entgeht und der es in feiner Ciselirung in seine Schilderungen hineinarbeitet; er besitzt den Verstand des praktischen Welt- und Lebemannes und wird unsere Phantasie nie in ein Netz unmöglicher Ereignisse einzufangen suchen; er schweift nicht über das Leben der Gegenwart hinaus, versenkt sich nicht in den Geist der vergangenen Zeiten; er ist ein getreuer Photograph, aber er strebt dabei nach künstlerischer Auffassung.

Das erste Werk, durch welches sich Heiberg in die Litteratur einführte, waren die „Plaudereien mit der Herzogin von Seeland“, die jetzt unter dem Titel „Aus den Papieren der Herzogin von Seeland“ neu aufgelegt worden sind. Offen gestanden, uns erschien der erste Titel richtiger und bezeichnender, wenn auch manche Skizze und Novelette nicht gut darunter passen wollte. Das Ganze ist ein Skizzenbuch, doch nicht im Stil Washington Irving’s – dazu fehlt ihm zu sehr die feste Charakterzeichnung, auch nicht im Stile der „Grönländischen Prinzessin“ Jean Paul’s – dazu fehlt ihm die langathmige Satire.

Wenn irgend ein neuer Dichter, so hat Heine bei diesen Skizzen Pathe gestanden, was den kurz angebundenen Ton und die heitere Zwischenrede betrifft; auch verspürt man bisweilen den frischen Hauch der Brise, die in den poetischen „Nordseebildern“ jenes Dichters weht. Es ist eine Sammlung von feinen Skizzen und Humoresken, von Lebensbildern und unausgegohrenen Noveletten; ungleich in Ton und Werth, aber das Sprühfeuer eines liebenswürdigen Geistes. In den Novellen und Geschichten, welche einige Bände der „Schriften“ bilden, ist das Meiste viel ausgearbeiteter und geklärter, und nur hin und wieder herrscht die Kohlenskizzenmanier, welche mit leicht hingeworfenen Umrissen an die Wand zeichnet.

Schärfer prägt sich die Physiognomie des Dichters in den kleinen Romanen aus, welche großentheils der Sammlung seiner Schriften eingereiht sind. Für den bedeutendsten und abgeschlossensten halten wir „Apotheker Heinrich“. Das Charakterbild dieses Apothekers, eines Egoisten von Kopf zu Fuß, ist mit großer Lebenswahrheit entworfen; die kleinsten und feinsten Züge darin sind der Natur abgelauscht. Der Roman schildert eine unglückliche Ehe, und daß diese Ehe unglücklich wird, ohne alle romanhaften Wendungen und Ueberraschungen, nur durch den Charakter des Mannes, der keine Lebensfreude bei der Frau aufkommen läßt: darin liegt eine Moral, die sich gegen die sogenannten Verstandesehen richtet. Der Physikus und seine Frau glaubten ihre Tochter Dora gut untergebracht, als sie dieselbe dem hochachtbaren und vermögenden Apotheker vermählten. Und doch entwickelt sich aus der Unerträglichkeit seines Charakters eine Tragödie, die mit dem Selbstmord Dora’s endet. Das Leben der kleinen Stadt ist dabei mit einer trefflichen Genremalerei geschildert und einzelne Bilder, wie die Hochzeit der Schneiderin mit dem Barbier, erinnern an die kecken kleinbürgerlichen Humoresken von Paul de Kock, wobei natürlich dessen herausfordernde Ungezogenheiten gänzlich aus dem Spiel bleiben.

„Apotheker Heinrich“ ist ein Gemälde im Stil der niederländischen Schule, in welchem das Interieur einer Apotheke mit allen darin befindlichen Geräthschaften, allen darin vorgenommenen Arbeiten einen breiten Raum einnimmt; „Die goldene Schlange“ aber gehört der italienischen Schule an; der Kleinkram des Lebens spielt darin keine Rolle; es ist eine Seelenstudie, knapp gehalten, wie es Heiberg liebt, und drei anmuthige Frauengestalten, von denen Manja, die goldene Schlange, mit dem Pinsel eines Makart portraitirt ist, bestimmen den Verlauf der Handlung. Das Schicksal des Helden, des etwas weichherzigen und schwankenden Grafen Detlef Rauch, wird von diesen drei jugendlichen Nornen gesponnen, die sich abwechselnd an die Spindel setzen. Der Verrath Detlefs und Manja’s an dem gemeinsamen Freunde, der sich bei Beginn des Romans so rasch vollzieht, befremdet einigermaßen, doch fehlt nicht die ausgleichende Gerechtigkeit. „Ein bischen französisch“ ist dieser Roman, mehr als die anderen Heiberg’s.

„Eine vornehme Frau“ fesselt durch scharfe Charakteristik der Hauptfiguren und durch die vortreffliche Darstellung eines bei großem äußeren Luxus ärmlich verfallenen Hausstandes. Der rückenmarkskranke Graf, der sich und die Seinen durch Börsenspiel ruinirt, der treue, verschwiegene Kammerdiener Tibet, der energische Baron Teut interessiren ebenso wie die prächtig ausgeführten Kinderköpfe und Kinderscenen. Praktische Lebenskenntniß, die bis ins Detail der Geldgeschäfte geht, zeigt sich in den eingehenden Schilderungen, wie die verwittwete Gräfin Ange ihre zerrütteten Vermögensverhältnisse arrangirt.

„Ausgetobt“, der vierte größere Roman, ist eine Folge bunter, locker an einander gereihter Reise- und Lebensabenteuer, in allen Tonarten spielende Liebesgeschichten, Vieles mit neckischer Laune ausgeführt.

Der Dichterkopf Hermann Heiberg’s hat freie offene Züge, ein Auge mit scharfem Blick, doch auch sanfte Empfindung wiederspiegelnd, wo es die Schönheit der Natur und das wechselnde Geschick der Menschen gilt. Seine Romane und Erzählungen haben zahlreiche Leser gefunden: ungezwungene Natürlichkeit, schalkhafter Humor und ein anspruchsloser Ton sind ihre anerkennenswerthen Vorzüge. †     

Das Theater und Drama der Chinesen. Eben so eigenartig wie die staatlichen Einrichtungen und Lebensgewohnheiten der Chinesen ist auch die Kunst im Reiche der Mitte. Soweit dieselbe im Dienste des Kunstgewerbes steht, ist sie längst den europäischen Völkern bekannt; aber die reine Kunst, namentlich die Dichtung, vermochte uns bis jetzt kein tieferes Interesse abzugewinnen. Die chinesischen Schauspieler haben noch keinen Manager gefunden, der ein fliegendes chinesisches Theater durch die Großstädte des Abendlandes geführt hätte, und offen gestanden, die bezopfte Truppe würde bei uns ohne Zweifel vor leeren Häusern spielen; denn es fehlt der Schaubühne der Chinesen der Reiz der Ausstattung, welcher die Massen anlockt.

Ihr Theater ist zwar alt und seine Geschichte reicht bis in das 8. Jahrhundert vor Christo zurück; aber der scenische Apparat ist nur wenig entwickelt und erinnert an den „Mann mit Mörtel und Steinen“ und den „Mann mit Laterne und Hund und Dornbusch“ im „Sommernachtstraum“. Ein Schrank genügt zuweilen, um ein Zimmer darzustellen, aus welchem ein Schauspieler zum Vorschein kommt. Wenn ein General den Befehl zu einem Zug in ferne Provinzen erhalten, so schwingt er eine Peitsche oder nimmt in seine Hand den Zügel eines Zaumes, marschirt drei- oder viermal unter einem schrecklichen Lärmen von Gongs, Trommeln und Trompeten rund um die Bühne und macht dann Halt, um dem Publikum mitzutheilen, daß er angekommen ist. Nur in einer Beziehung dürften die chinesischen Vorstellungen mit den europäischen rivalisiren: in dem Glanz der Schauspielerkostüme: seidene Gewänder, mit kunstvollen Stickereien verziert, fehlen selten auf der Bühne, und die Garderobe wird oft gewechselt; denn die Chinesen gehen, was die Treue des Kostüms anbelangt, sehr sorgfältig zu Werk und unterlassen es nicht, es im Text des Stückes anzugeben, wenn eine Standeserhöhung des Helden eine Veränderung seines Kostüms nothwendig macht.

Dem Toilettenluxus fehlt jedoch der Reiz der weiblichen Schönheit, die uns auf europäischen Bühnen so oft blendet. Im chinesischen Theater werden augenblicklich die Frauenrollen nur von Knaben und Jünglingen gespielt. Zur Blüthezeit des chinesischen Dramas unter der Mongolendynastie gab es allerdings auch in China Schauspielerinnen.

Man nannte sie damals in der Volkssprache: Nao-Nao, Affenweibchen, was mehr für ihre Nachahmungskunst als für ihre Tugend spricht. Sie spielten auch im Strafgesetzbuch eine Rolle; denn ein Paragraph desselben verhängt über Civil- und Militärbeamte, welche eine Schauspielerin besuchen, die Strafe von 60 Bambushieben. Trotzdem gab es unter ihnen schöngeistige Frauen, die eine gewisse Bedeutung in der Litteratur gewonnen hatten; eine derselben wurde sogar von Kaiser Khien-long unter seine Nebenfrauen aufgenommen. Diese Standeserhöhnng einer Schauspielerin brachte jedoch dem ganzen Stande den Untergang; denn ihr auf dem Fuße folgte das kaiserliche Verbot, Frauenrollen durch Schauspielerinnen darzustellen.

Die Schauspieler des Reiches der Mitte werden noch heute mit den Sklaven, Lohndienern etc. zur niederen Klasse gerechnet, welche den vier ehrbaren Klassen der Bevölkerung entgegengesetzt wird. Der Grund dieser Mißachtung liegt nicht in dem Beruf des Schauspielers, sondern darin, [352] daß die Direktoren meistens Sklavenkinder aufzukaufen pflegen, um sie zu diesem Berufe auszubilden.

Sind nun die äußeren Verhältnisse des chinesischen Theaters nur wenig anziehend, so erscheint uns die dramatische Dichtung an und für sich viel interessanter. Wir dürfen sie allerdings nicht mit unserem Maßstab messen, sondern müssen sie von dem Standpunkt eines Historikers der Weltlitteratur betrachten. Sie bietet uns alsdann tiefe und belehrende Einblicke in den Einfluß der Religionen, der staatlichen Einrichtungen und socialen Formen auf die Entwickelung der Volksdichtung, und andererseits ist das Drama, der Spiegel seiner Zeit, ein trefflicher Schlüssel zur Enträthselung dunkler, dem Geschichtsforscher noch nicht genügend bekannter Sitten und Gewohnheiten des Volkes. Besser als irgend eine Kulturgeschichte oder Reisebeschreibung illustrirt uns das chinesische Drama die Bewohner des Reiches der Mitte in ihren innersten Regungen, in ihrem ganzen Thun und Treiben; wollen wir den Chinesen kennen lernen, wie er leibt und lebt, so brauchen wir nur seine überaus reichhaltige dramatische Litteratur aufzuschlagen; er steht in ihr vor uns da, von jedem künstlichen Schleier entblößt, mit allen seinen Tugenden und Schwächen.

Ein solches, durchaus eigenartiges Spiegelbild einer der seltsamsten Welten bietet uns ein soeben erschienenes Werk Rudolf von Gottschall’s „Das Theater und Drama der Chinesen“ (Breslau 1887, Verlag von Eduard Trewendt). Es bildet einen werthvollen Beitrag zur Geschichte der Weltlitteratur, um welche sich der Fleiß deutscher Gelehrten so rühmliche Verdienste erworben, und es besitzt außerdem den Vorzug einer populären und fesselnden Darstellungsweise, welche auch dem Laien das Lesen des Werkes genußreich gestaltet. *

Das Haydn-Denkmal in Wien. (Mit Illustration S. 337.) Am 31. Mai dieses Jahres, als dem Gedächtnißtage des Todes Haydn’s, soll auf dem Platze vor der Mariahilfkirche, dicht an der verkehrsreichen Mariahilferstraße, das Denkmal für den unsterblichen Komponisten der „Schöpfung“ und der herrlichen österreichischen Volkshymne enthüllt werden. Die Statue, ein von echt künstlerischem Geiste belebtes Werk des in Wien domicilirenden Tiroler Bildhauers Heinrich Natter, ist 81/2 Wiener Fuß hoch, aus tadellosem Carraramarmor geschaffen und erhebt sich auf einem stattlichen Porphyrsockel. Sie zeigt uns den Vater der Instrumentalmusik aufrecht stehend, das Haupt gehoben und den Blick emporgerichtet. Ueber dem scharfgeschnittenen ausdrucksvollen Gesicht, aus dessen Zügen feierlicher Ernst, aber auch sympathisch anmuthende Milde sprechen, ruht es wie der Hauch einer göttlichen Inspiration. In diesem Augenblicke ist dem Meister wohl eine seiner unsterblichen Melodien zugeflogen. Vielleicht ist es eben die unvergängliche Weise seines „Kaiserliedes“, die er für sein Bestes hielt und wenige Tage vor seinem Tode noch dreimal hinter einander spielte „mit einem Ausdruck, über den er sich selbst wunderte“, wie uns sein Biograph erzählt. Das Antlitz ist treu nach der vorhandenen Todtenmaske Haydn’s, die dessen Famulus Elsler, der Vater der berühmten Tänzerin Fanny Elsler, abnehmen ließ, gebildet. Die rechte Hand des Meisters hält den Griffel, die Linke einige Blätter Papier, auf die Haydn seine musikalischen Inspirationen niederschrieb. Das Kostüm ist selbstverständlich das der Haydn’schen Zeit, der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: tressenbesetzter Frack, reiche lange Weste, aus der das feingefältelte Jabot hervorlugt, enganliegende Kniehosen, Strümpfe und Schnallenschuhe. Ueber die Schultern hängt dem großen Symphoniker, leicht übergeworfen, ein faltenreicher Mantel. Der charakteristische Kopf trägt die übliche wohlfrisirte und in ein zierliches Zöpfchen endigende Perücke.

Unstreitig wäre die Aufstellung des Monuments im Laubgrün des unfernen Eszterhazy-Parks, wo Haydn manche Muse- und Mußestunde verbrachte und wohl auch manche Anregung, manche Weise gefunden hatte, wirkungsvoller gewesen; denn der Schöpfer der „Jahreszeiten“, der Freund der Natur, wie Haydn es immer war, hätte sich gewiß im Reiche der grünen Baumwelt heimischer gefühlt als inmitten des Straßenlärms der Hauptstraße. Das Monument dankt sein Entstehen der Opferwilligkeit kunstsinniger Bürger Gumpendorfs, wo Haydn viele Jahre in dem ihm gehörigen Hause, Steingasse 73, wohnte und auch starb.

Guck, Guck! (Mit Illustration S. 344.) Das sogenannte „dumme“ Vierteljahr ist längst vorüber bei unserem Nesthäkchen. „Fritze“ zählt jetzt volle zehn Monate und fängt an zu bemerken, daß seine Beinchen noch für ganz andere Aufgaben geschaffen sind, als nur die Decke wegzustrampeln. Nun sind auch geistvollere Spiele an der Tagesordnung, vor Allem das köstliche: Gugu – Dada, bei welchem es sehr schwer zu entscheiden ist, wer von den vier Personen sich am besten amüsirt: der kleine Held selbst, die Mutter, die ihn auf dem Arme hält, die Schwester, welche sich immer mit „Gugu“ versteckt und mit „Dada“ lachend finden läßt, oder der Großvater, der, sein Abendpfeifchen schmauchend, von ferne dem lustigen Spiele zusieht.

Muster für weibliche Handarbeiten. Als sehr willkommene Gabe für die arbeitende Frauenwelt dürfte das in Lieferungen erscheinende, sehr geschmackvoll ausgestattete Werk von Emilie Bach „Neue Muster in altem Stil“ (Dornach 1887, Dillmont) begrüßt werden. Die verdiente Verfasserin der Wiener Fachschule für Stickerei, welche schon früher durch ihre „Muster stilvoller Handarbeiten für Schule und Haus“ eine werthvolle Fundgrube für weibliche Kunstfertigkeit geboten, beginnt hier ein verwandtes Unternehmen in größerem Rahmen, indem sie das Gebiet der schönen Arbeiten (Weiß- und Kreuzstichstickerei, Spitzenarbeiten und Seide-Plattstich, Plüschapplikation, Häkel- und Knüpfarbeit, sowie orientalische Stickereien) im ganzen Umfang in Angriff nimmt.

Allerlei Kurzweil.

Räthselhafte Inschrift.

Skat-Aufgabe Nr. 6.
Von Pf. K. in R. b. S.

Die Vorhand spielt auf folgende Karte ein Eichel(tr.)-Solo

(tr. B.) (p. B.) (c. B.) (tr. 8.) (tr. 7.)
(p. As) (p. K.) (c. As) (c. K.) (car. 9.)

und macht bei fehlerlosem Gegenspiel Schwarz, obwohl kein Trumpf und auch keine Augen im Skat liegen.

Wie sitzen die übrigen Karten und wie ist der Gang des Spiels?

Skat-Briefkasten.

Der zweite deutsche Skat-Kongreß wird auf Grund des im vorigen Jahre in Altenburg gefaßten Beschlusses in Leipzig tagen und zwar vom 25. bis 27. Juni d. J. Außer einem großen allgemeinen Skat-Turnier für das praktische Spiel soll diesmal ein Skat-Problem- und Lösungs-Turnier damit verbunden werden.

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 5 auf S. 304.

Es ist zu unterscheiden, ob der Spieler in Vorhand sitzt oder nicht. Würden zu den angegebenen 7 Karten:

gD, gO, g7, rZ, rK, rO, r7

noch g9, g8, r8 hinzukommen, so wäre allerdings Null ouvert (= 40) selbst in der Vorhand unverlierbar. Allein wenn der Spieler in Vorhand sitzt, ist noch ein größeres und gleichfalls unverlierbares Spiel vorhanden, nämlich Grand (3 × 16 = 48), wenn eW, gW, rD hinzukommen, denn der Spieler giebt dann im ungünstigsten Falle nur 2 Stiche mit höchstens 45 Augen ab. Wollte man dagegen zu den übrigen 7 Karten noch die drei ersten Wenzel hinzunehmen, so würde, selbst wenn der Spieler in Vorhand sitzt, sowohl Grand als auch Roth- und Grünsolo z. B. bei folgender Sitzung:

Mittelhand: eD, eZ, eK, eO, e9, sD, sO, s9, s8, s7,
Hinterhand: sW, gZ, gK, g9, g8, rD, r9, r8, sZ, sK

verloren gehen.

Auflösung des Problems: „Der Druidenfuß“ auf S. 320.

Folgt man den Linien des Druidenfußes derart, daß man bei dem linksseitigen Ende desselben beginnt und im Verfolge der Linienwendungen immer den an einer Spitze des Druidenzeichens befindlichen Buchstaben abliest, so erhält man das Wort: „Cagliostro“.

Auflösung der magischen Kugel-Pyramide auf S. 320.

A
AI
MAI
LIMA
MILAN
MANILA
MAILAND

Auflösung des Bilder-Räthsels auf S. 320.
„Ueber Berg und Thal geht der Wasserfall.“
Auflösung des Vorsilben-Räthsels auf S. 336.
– rath. (Verrath, Vorrath, Beirath, Unrath.)

Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Abonnent in Rinteln. Die Stellung des Bettes ist aus mancherlei Gründen nicht ganz gleichgültig für den Schlafenden und kann selbst Ursache der Schlaflosigkeit werden. In der Regel soll das Bett in einer solchen Richtung stehen, daß die Strahlen der aufgehenden Sonne, sowie das Mondlicht nicht unmittelbar auf das Gesicht des Schlafenden fallen können. Es soll, wenn möglich, frei im Schlafgemach, keinenfalls an einer feuchten neugebauten Mauer, überhaupt nicht an der Außenwand stehen. In diesem Fall muß eine trockene Täfelung angebracht werden. Selbst durch scheinbar dichte Außenwände findet nach Pettenkofer immer ein Luftzug statt, der so erheblich werden kann, daß es gelingt, ein innerhalb der Wand befindliches brennendes Licht von außen auszublasen.

Daß man aber am ruhigsten schlafe, wenn man mit den Füßen nach Norden liege, ist eine Hypothese, die, zuerst von einem bayerischen Arzt im Jahre 1823 vorgebracht, aus einer Zeit stammt, in der man eine polarische Einwirkung annahm und alle Vorgänge im Nervenleben als unter dem Einfluß des Magnetismus stehend betrachtete. Die Vorschrift, daß das Fußende des Bettes nach Norden stehen müsse, erweist sich für einen gesunden heilsamen Schlaf somit von geringer Bedeutung. Im Uebrigen wird Dr. Kühner in der demnächst erscheinenden zweiten Auflage seiner Schrift „Ueber den Schlaf und die Verhütung der Schlaflosigkeit“ (vergl. „Gartenlaube“ S. 74 und 88 d. J.) der Schlafstätte und deren Anforderungen eine ausführlichere Betrachtung widmen. –

B. K. in P. Wenn in Ihrer Gegend Nachtigallen sich noch vor einigen Jahren aufgehalten haben, heute aber nicht mehr vorhanden sind, so können Sie annehmen, daß in derselben die natürlichen Bedingungen für den Aufenthalt dieser Meistersänger gegeben sind. Eine Ansiedelung von Nachtigallen ist darum in derselben wohl möglich. Sie ist aber nicht so leicht, wie Sie glauben mögen. Es gehört dazu ein tiefes Verständniß für die Lebensweise dieser Vögel, damit der Versuch von Erfolg gekrönt werde. Mustergültiges hat in dieser Beziehung Theodor Koeppen in Koburg geleistet. Sie finden seine interessanten Beobachtungen und Erfahrungen in dem Werkchen: „Anleitung zur Züchtung und Ansiedelung von Nachtigallen“ von Theodor Koeppen (Berlin, Otto Janke).


Inhalt: Götzendienst. Roman von Alexander Baron v. Roberts (Fortsetzung). S. 337. – Böse Zungen. Von Oskar Justinus. S. 343. Mit Illustration S. 340 und 341. – Der Volkspalast im Ostend von London. Von Wilh. F. Brand. Mit Illustration S. 345. – Die irrende Justiz und ihre Sühne. Von Fr. Helbig. S. 345. – Die Einsame. Erzählung von S. Kyn. S. 348. – Blätter und Blüthen: Hermann Heiberg. S. 351. – Das Theater und Drama der Chinesen. S. 351. – Das Haydn-Denkmal in Wien. S. 352. Mit Illustration. S. 337. – „Guck, Guck!“ S. 351. Mit Illustration S. 344. – Muster für weibliche Handarbeiten. S. 352. – Allerlei Kurzweil: Skat-Aufgabe Nr. 6. S. 352. – Skat-Briefkasten. S. 352. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 5 auf S. 304. S. 352. – Räthselhafte Inschrift. S. 352. – Auflösung des Problems „Der Druidenfuß“ auf S. 320. S. 352. – Auflösung der magischen Kugel-Pyramide auf S. 320. S. 352. – Auflösung des Scherz-Räthsels auf S. 320. S. 352. – Auflösung des Vorsilben-Räthsels auf S. 336. S. 352. – Kleiner Briefkasten. S. 352.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.