Die Gartenlaube (1887)/Heft 14
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No. 14. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Götzendienst.
„Warum nicht, Herr Lieutenant? Warum sollten Sie sich nicht adoptiren lassen? Sie bekämen einen liebenswürdigen Papa und Herr Oberstlieutenant bekämen einen gewiß recht liebenswürdigen Sohn.“
Die Wirthin des Hauses, die „imposante“ Frau Belzig, begleitete diese Bemerkung mit einem feierlichen Neigen des geräuschvollen Schildpattfächers nach den betreffenden beiden Herren hin. Ihre Stimme klang sonor und voll, ein Lächeln glitt über das immer noch hübsche, doch zu massive und stark zur Rundung neigende Gesicht, ihr schwarzes, etwas kleinstädtisch glatt angestrichenes Haar zeigte lebhaften Seidenglanz; dabei funkelten die braunen Augen, und leuchtete das hohe Rosa der vollblütigen Wangen.
„Ich weiß nicht,“ sagte Lieutenant Eff, aus Artigkeit wie die Wirthin lächelnd, gegen die kleine, untersetzte Figur des Pensionärs gewandt, der mit seinen blinzelnden, wasserblauen Aeuglein Frau Belzig bei ihren Aeußerungen stumm anstaunte, „ich weiß nicht, ob Herr Oberstlieutenant viel Freude an mir erleben würden; ich bin ein Streber, und Streber purzeln leicht.“
„Sie und purzeln? Famos!“ rief Lieutenant Mühüller, sich mit fast klownartiger Schnelligkeit plötzlich herumwendend, von der anderen der beiden Gruppen aus, in die sich die kleine Gesellschaft nach dem Diner getheilt. Lieutenant Mühüller von der Centralturnanstalt war stets überall und machte Alles mit, natürlich nahm er gleichzeitig an der Unterhaltung der beiden Gruppen Theil, so sehr auch die Sterne des Hauses, die beiden „bildschönen“ Töchter Lolo und Melitta, die über jener Gruppe strahlten, ihn zu fesseln schienen.
„Jedenfalls sind Sie nicht einer von den Strebern, Herr Lieutenant, die über hundert Leichen ihrer Vordermänner hinwegspringen, wie es bei Ihren Kameraden heißt,“ warf Perkisch hin.
Wer war Perkisch? Die Officiere, die im Hause verkehrten, nahmen ihn mit einer gewissen Vorsicht. Frau Belzig hatte ihn wegen seiner Toaste, die er als Virtuose betrieb und um deretwillen er zu den Diners wie ein Künstler zu einer Aufführung engagirt wurde, früher nur mit einigem Widerstreben geduldet, in letzter Zeit zeigte sie ihm ein nervös freundliches Gesicht.
[218] Ein ehemaliger buchhalterischer Kompagnon ihres Mannes – doch wollte sie einfach nicht wissen, wie klein und von welchem Winkel aus die Beiden eigentlich begonnen. Später hatte sich Belzig aufgezwungen und sich durch seine Specialitäten, seine Bilderbogen, Etiketten und besonders seine unzerreißbaren Kinderbücher Namen und Vermögen erworben, während Perkisch nach wie vor in nicht ganz hellen Gewässern umherglitt. Man wußte nicht, was er außer seinen Toasten betrieb, er schrieb effektvolle Reclameartikel, und man sagte, er habe sich der „unzerreißbaren Firma“ dadurch unentbehrlich zu machen gewußt; er hatte sich in allerlei Kommissions- und Hintertreppengeschäften versucht und eine Zeit lang eine sogenannte Professur an einem dunkeln Handelsinstitut bekleidet. Ein mittelgroßer Mann von unbestimmbarem Alter, übertrieben höflich, aalglatt in Wesen und Anzug, mit einem Ausdruck des gänzlich rasirten, gelblichen Gesichtes, der aus einem Prediger und einem Diplomaten gemischt schien; Sprache und Gesten erinnerten an einen Officier.
Sie hatten Beide Recht, Mühüller wie Perkisch. Es sah nicht aus, als könnte Eff’s hohe und kräftige Gestalt, die so sicher ihren Weg dahinschritt, leicht ins Stolpern gerathen, auch hatte der Angeredete sein Kommando zum Generalstab nicht wie manche seiner Kameraden einem heißen und unersättlichen Streberthum zu verdanken. Das männliche, mit einem dichten, normal schönen, hellbraunen Vollbart ausgestattete Gesicht mit den großen offenen Blau-Augen, der energischen Nase und der freien faltenlosen Stirn war die Verkörperung alles Tüchtigen und Zuverlässigen.
„Nun, wie denken Sie darüber, Herr von Gamlingen?“ hob die Hausfrau von Neuem an, zu dem Oberstlieutenant gewandt, diesmal leuchteten auch noch die Meisterstücke ihres prächtigen Gebisses.
Perkisch’s blöde Augen, die stets in scheinheiliger Verlorenheit über eine poetische Wendung nachzusinnen schienen, trotzdem aber sehr scharf beobachteten, schlossen sich bis zur Schmalheit einer Linie – o, er kannte seine Leute! Die Bemerkung war nicht ohne Absicht und nicht bloß als Gesprächsfüllsel von Frau Belzig hingeworfen worden. Die Situation war folgende: Eff liebte Melitta, die Jüngere des Hauses, leidenschaftlich, sie liebte ihn wieder, eben so leidenschaftlich. Der Ehrgeiz der Mutter, der bestrebt war, den Parvenühauch des Hauses durch eine glänzende Heirath ihrer Töchter zu verwischen, schien nicht fanatisch genug, um sich brutal und ohne Besinnen über das Glück ihrer Kinder hinwegzusetzen. Dieser Ehrgeiz befand sich dennoch gerade jetzt in einem gereizten Zustande. Und er selbst, Perkisch, war schuld daran: warum hatte er den Grafen, diesen famosen Grafen Nachewski, in den Salon der Belzig’s eingeschmuggelt! („Wo zum Teufel hat er den Grafen her?“ fragte der schreckliche Mühüller immer wieder.) Natürlich würde man auf den Grafen anbeißen, Melitta ist nicht frei, jedenfalls aber Lolo. Eff ist wohl eine solide Partie; er wird schon Karrière machen, aber sein Name ist hart, ist häßlich, ein abgehackter Namenssplitter, nichts weiter als ein Buchstabe! „Frau Eff“ ist gar nicht zum Anhören! Der gute Eff wird sich also dazu bequemen müssen, seinen Namen tüchtig zu renoviren, oder – oder man muß sich zu einer Gewaltthat aufschwingen und ihm die Tochter, wenn er sie begehrt, rundweg abschlagen! Es ist doch so einfach – eine so hübsche Gelegenheit: es kostet nichts, den alten Oberstlieutenant zu einer Adoption zu bewegen. Und wer würde dumm sein und nicht zugreifen? Freiherr Trutz von Gamlingen zu Trachenberg, klingt das nicht wie eine pompöse Fanfare, die zu einem rauschenden Feste ladet?
„Ze … ze … ze …“
Der alte Herr stieß ein wenig mit der Zunge an, und er schien mit den Fingern seiner kurzen rundlichen Hand, die er jedesmal beim Beginn einer Rede in die Höhe des Schnurrbärtchens emporhob, gleichsam die widerspenstischen Worte hervorzuzupfen.
„Ze … ze … ze … wir würden uns gut zusammen vertragen, nicht wahr, Herr Lieutenant?“
Die Bemerkung kam so spät, als hätte sie all’ die Zeit zum Ausreifen benutzt.
„Zweifle durchaus nicht, Herr Oberstlieutenant,“ antwortete Eff verbindlich, mit einer kurzen Verbeugung und einem leisen Zusammenklappen der Stiefelhacken.
Aber genug des Scherzes! Es war ja doch nur ein Scherz, meinte Eff für sich. Schon der komische Kontrast der beiden Gestalten: hier die Hünenfigur des zu adoptirenden Sohnes, dort, die winzige, fast possirliche Persönlichkeit des Adoptivvaters, dessen ganzes Streben nur darauf hinauszugehen schien, die Erinnerung an seine vor Jahrzehnten abgeschlossene Militärkarrière auch in seiner äußeren Erscheinung festzuhalten – das kurze stramme Trippeln der säbelförmigen Husarenbeinchen, das keck aufwärts gesteifte Schnurrbärtchen, die vorschriftsmäßig über die Schläfen nach vorn gestrichenen silbergrauen Haare, die Nonchalance im Tragen der Civilkleidung, wovon besonders Kravatte und Kragen wahre Musterleistungen phantasievoller Unordnung aufwiesen.
Wie war man doch auf den Scherz verfallen? Nun, es war von der Adoption eines Prinzen durch einen Reichsunmittelbaren die Rede gewesen – ein erlöschendes Geschlecht, das seinen Namen vor dem Untergang zu retten sucht. Und auch hier war es der letzte Sproß eines altehrwürdigen Geschlechtes, der seinen Namen einsam und unbegleitet zu Grabe tragen würde. Schon einmal war den Lippen des alten Herrn in Eff’s Gegenwart ein wehmüthiger Seufzer entschlüpft: „Ich hätte mich längst nach einer Adoption umsehen müssen …“ Und auch Frau Belzig hatte schon einmal im Freundeskreise diese Adoption berührt, freilich nicht so deutlich wie heute. Fast schien es eine Verabredung zwischen ihr und dem Freiherrn. Doch Eff’s gerade und naive Natur sträubte sich gegen die Voraussetzung eines solchen Raffinements.
Ja, genug des Scherzes! Welche moralische Häßlichkeit: ein Mann, der seinen alten ererbten guten Namen mit dem bunten Flittertand eines fremden Namens, um äußerer Vortheile willen aufputzen will – der solide, bescheidene, lakonische Einsilber Eff, der sich von dem arroganten Geschnörkel eines Freiherrn Trutz von Gamlingen verschlingen läßt!
Während der Diener Friedrich mit seiner Geheimrathsmiene den Kaffee offerirte, nahm Eff Gelegenheit, sich zu erheben. Drüben saß sie – und er hatte sich nur durch die Höflichkeit gegen die Hausfrau nach dieser Gruppe verschlagen lassen.
Er ging auf einem Umwege, an einem geöffneten Sammelwerk vorüber, das dort auf einem Tische lag und in das er zwei heuchelnde Blicke warf. Nachdem er sich dann einen Augenblick mit aufrichtigem Wohlgefallen an der malerischen Wirkung der in magischer matter Beleuchtung sich öffnenden Flucht der Prachträume geweidet, trat er hinter Mühüller’s Sitz, die Blicke auf Melitta gerichtet, die mit ihren strahlenden Augen längst sein näheres vis-à-vis herbeigesehnt.
Der „Scherz“ war wie ein Funke auf diese Nachbargruppe übergesprungen und hatte hier gezündet. Der weißlich blonde, glänzend geschniegelte Kopf Mühüller’s wandte sich zu Eff empor.
„Nun, Baronchen?“
Es tönte auffällig durch den weiten Salon. Mühüller hatte wohl nur eine neckische Zuflüsterung beabsichtigt, aber seinem scharfen ostpreußischen Organ geriet kein Flüstern.
„O, ho, ho!“ sagte Eff in jenem Gutturalton, mit dem man wohl ein muthwilliges Pferd beruhigt, und klopfte auf die Epauletten des Kameraden.
„Na, ich weiß nicht,“ fuhr Mühüller empor, und diesmal war auch kein Flüstern beabsichtigt. „Ich kann mir doch wahrhaftig keinen tüchtigeren Baron denken als Sie!“
Er durfte sich das dem Regimentskameraden gegenüber wohl erlauben. Hatte er, Mühüller von der Centralturnanstalt, überhaupt nicht das Privilegium, auch mit seinen Worten und Bemerkungen kühnere Sprünge auszuführen? Er warf einen verschmitzten Seitenblick auf das rosarothe Gesicht des Grafen, das doch, in der Nähe betrachtet, die beginnende Verwitterung nicht verleugnete – „Perkisch’s Graf“ wie Mühüller sagte; in welch verwunderlich müde, abschreckend nichtssagende Pausen verfiel dieser junge Greis doch nach seinem jedesmal losgelassenen Feuerwerk von Späßen und Anekdoten!
„Schon gut, Mühüller! Lassen Sie das!“ sagte Eff in liebenswürdig abwehrender Art. Als er seine Augen zu Melitta hinüberwandte, hauchte eine feine Röthe über deren Antlitz bis zu dem Gekräusel ihres mattbraunen Haares, das so reizvoll das Elfenbeinweiß ihrer Stirn umrahmte. Sie lächelte, wobei sich die köstlichen Grübchen in dem zarten Oval der Wangen zeigten; [219] es war ein eigenthümliches Lächeln lüsterner Verlegenheit: ein Kind, dem eine bunte Kostbarkeit gezeigt wird und das gerne zugreifen möchte.
Nein, nicht das! Eff sah in dieser Röthe und in diesem Lächeln nichts Anderes als Glück, Hoffnung, das Bewußtsein, daß sie Beide zusammengehörten und nicht von einander lassen würden. Seine Augen strahlten.
„Na, ich weiß nicht,“ fuhr das enfant terrible mit bekannter Zähigkeit fort. „Wenn Einer kommt und mir solchen Braten anbietet, ich genire mich nicht, ich greife einfach zu. Mühüller – man hätte in der Wahl seines Namens vorsichtiger sein können – Müh – hüller, ich bitte Sie, meine Herrschaften, nicht Müll – err! ich bitte das nicht zu verwechseln!“ Er rief es gedämpft, im komischen Ausruferton. Dann die Unterarme flach auf die Kniee gelegt, mit gesenktem Kopf vor sich hinmurmelnd: „Ich weiß, es klingt so wie Müller, und es liegt mir nicht viel daran, daß es so klingt. Wenn einer käme und mich gründlich von dieser Müllerei kurirte, ich wäre ihm sehr dankbar.“
„Aber Herr Lieutenant!“ rief Lolo lachend.
„Sie sind ein entsetzlicher Mensch!“ jammerte Frau Belzig gleichfalls lachend, mit dem Fächer einen Schlag durch die Luft nach ihm hinführend.
Natürlich ließ er erst recht nicht nach und sagte noch lauter: „Ich weiß nicht, ob ich nicht die allererste Gelegenheit ergreife und mich auch adoptiren lasse! Wer will mich denn haben? Gesund, immer fidel, springe über vier Kasten, Hechtsprung, Todtensprung, was Sie verlangen – beiße Ihnen ein Stück aus einem Bierseidel oder, wenn Sie’s riskiren wollen, auch die Tischecke da ab -“
Er grinste und wies dabei die großen, breiten, wie aus zwei massiven Elfenbeinstücken geschnitzten Zähne.
„Genug, genug, halten Sie ein!“ wehrten die Damen. Alles lachte. Die alte Tante Mala (nach der Edition Mühüller „Via Mala“ genannt), ein kostbares, nach Gold klingendes Familienstück, übertönte die allgemeine Heiterkeit mit ihren hohen, kreischenden Lachausbrüchen, sie hörte so gut wie nichts, aber Lieutenant „Müller“ (das einfache derbe „Müller“ – und sie blieb dabei) hatte jedenfalls wieder etwas besonders Köstliches losgelassen.
„Na, also der Mü – hü – hüller ist zu haben! (in dem Ton der Jahrmarktsschreier fortfahrend:) Wer, meine Herrschaften, hat Lust? Sie vielleicht, Herr Graf?“
Der Angeredete hob den mit wolligem Flaum bedeckten Kugelkopf, wie aus einem jener müden und stummen Anfälle erwachend, empor. Er schlug mit nervöser Hast ein Bein über das andere und schlenkerte den schmalen, mit einem Lackschuh bekleideten Fuß. Er fühlte sich nicht ganz behaglich unter dieser „Müllerei“.
„Man muß diesen Bajazzo mit in Kauf nehmen: er spielt eine Rolle hier im Hause,“ wollte sein Lächeln sagen; aber er brachte es nicht zu einem solchen. „Es würde mir eine große Ehre sein,“ erwiederte er matt und vornehm abweisend, die langen, überaus zarten und blüthenweißen Finger der Rechten nach der weit ausgezwirbelten Spitze des dunklen Schnurrbartes erhebend, ohne diese zu berühren.
Mühüller enthob ihn der Verlegenheit. „Ah Pardon, Herr Graf, es geht ja nicht – die Frau Gräfin, wenn Sie eine solche haben werden –“ er machte eine bedeutsame Pause, die Augen schelmisch zu Boden geschlagen, beim Aufblicken vermied er Lolo, und dann gedämpfter: „– die Frau Gräfin würde sich schönstens dafür bedanken.“
Eff trachtete vergebens, durch einen strafenden Blick solcher Produktion Mühüller’scher Cirkuskünste Einhalt zu thun.
Und dann, ohne die Wirkung dieses kleinen Ausfalles abzuwarten, schnellte Jener auf dem Sitz herum: „Herr Perkisch, Sie? – Ah Pardon, das lohnt nicht! Für solche Kleinigkeit haben Sie natürlich keine Verwendung!“
„Aber, Herr Belzig, Sie vielleicht?“ Diesmal geschah die Frage mit der leichten Karikatur einer ceremoniösen Verbeugung.
Die hagere Gestalt des Hausherrn erwiederte zerstreut und linkisch schmunzelnd die Verbeugung. „Gern, sehr gern!“ rief er.
Melitta hörte nur mit kurzen gelegentlichen Wendungen des Kopfes und mit einem mechanischen Lächeln nach Mühüller hin. Eff war zu ihr getreten und unterhielt sich mit ihr, den Arm auf die Lehne des Fauteuils gestützt, den Kopf zu ihrem Antlitz herabgebeugt. Anscheinend sprachen sie über Gleichgültiges: über das Theater, über ein Buch, oder was war es doch? – Worte gaben nur die Begleitung, die Hauptmelodie wurde von ihren Augen gespielt. Wie bestrickend, wie zauberisch sie ihnen erklang!
Endlich konnte das kostbare Familienstück dem Gelüste nicht widerstehen, den Grund des eigenen Lachens, unter dem fort und fort die unzähligen Bänderchen ihrer Salonhaube erzitterten, zu erfahren. Das Ungethüm ihres guttapertschauen Hörapparats emporhaltend, geraden Wegs in die Gesellschaft hinein für irgend wen, der ihr antworten wollte, fragte sie: „Wovon ist denn die Rede? Lieutenant Müller ist doch zu drollig!“
Sofort war Mühüller an ihrer Seite, erfaßte mit einer Verbeugung das trompetenartige Rohr und begann laut und accentuirt hineinzurufen: „Man will mich adoptir – enn, mein gnä – di – ges Fräulein! Sie woll – enn mich All – e hab – enn! Ich weiß nicht – wen ich nehm – enn soll!“
Und das Horn immer noch in der Hand haltend, blickte er mit einer köstlich unglücklichen Miene in das begierig horchende Gesicht der alten Dame. Diese nickte überfroh: immerhin hatte sie doch die Worte verstanden, wenn auch der Sinn ihr unverständlich schien.
Wieder allgemeine Heiterkeit. Frau Belzig aber rückte ungeduldig auf ihrem Sitz – es war etwas zu viel! Dieser Müller mit dem H, wie er sich oft in selbstironisirender Weise vorstellte, ist ein guter Bursch und sie möchte einen solchen guten Komiker in ihrem Salon nicht missen – aber zuweilen kann er kein Ende finden. Hat er nicht mit seiner Parodie die ganze Wirkung ihrer Bemerkung über den Haufen geworfen und ins Lächerliche gezogen? Dieser Eff – sie stolperte jedesmal darüber – mein Gott, welch ein Name! Noch nie war dessen nichtssagende Häßlichkeit ihr so aufgefallen! – Dieser Eff schien die ganze Angelegenheit wirklich nur als einen Scherz aufzufassen. Der fascinirende Glanz des anderen Namens schien nicht einmal einen Eindruck auf ihn zu machen. In naivster Sorglosigkeit tändelte er mit Melitta! Ah, entweder – oder!
„Melitta!“ rief sie fast streng.
„Mama!“
Und sofort wandte sich die Gerufene wieder zu Eff zurück. „Ja, Dahn ist mir auch tausendmal lieber als Ebers. Ich liebe Dahn furchtbar. Einiges von Ebers ist ja wundervoll … ich komme gleich, Mama!“
Es war schwer, sich aus solcher „furchtbar“ interessanten literarischen Unterhaltung loszureißen.
„Mein gutes Kind,“ sagte Frau Belzig, und die Maske der erheuchelten Freundlichkeit, die anfangs ihre Verstimmung decken sollte, ging allmählich in eine aufrichtig strahlende Miene über, wie ihre Augen sich an der herrlichen Schlankheit ihrer Jüngsten zu weiden schienen – der Mutterstolz verwischte jede Unmuthsfalte. „Mein gutes Kind, bitte, sorge dafür, daß der Wagen für das Theater rechtzeitig bereit ist. Wir haben ein tüchtiges Stück zu fahren. Auch müssen wir noch eine Droschke dazu haben.“
Melitta nickte, es fiel ihr schwer, ihre freudige Hoffnung zu verbergen: vielleicht bedeutete das Supplement dieser Droschke, das man der eigenen Equipage zufügte, daß Lieutenant Eff mit von der Partie sein werde.
Herr Belzig kam mit drei Cigarrenkisten bepackt herbei, um die Herren zum Rauchen einzuladen: ein anderes Zeichen zum Aufbruch.
„Ich kann Ihnen diese dunkle da empfehlen – früher mein Lieblingskraut. Leider rauche ich selbst nicht mehr. Ich kann es nicht mehr vertragen.“
„O wie schade,“ sagte der Oberstlieutenant, mit seiner leicht bebenden Hand in der Kiste tastend; „ich leiste mir eine am Vormittag, eine am Nachmittag.“
„Ich schösse mich todt, wenn ich nicht den ganzen Tag rauchen sollte wie ein Schornstein! Sie müssen turnen, Herr Belzig,“ meinte Mühüller, griff herzhaft ist die Kiste und prüfte, in den Knieen wippend, die Cigarre mit kurzem dreisten Kennerblick. „Es giebt nichts Gescheiteres als Freiübungen.“
„Ich laufe,“ erwiederte Herr Belzig. „Jeden Morgen noch vor acht Uhr renne ich den Thiergarten ab. Ich trinke Brunnen.“ Es gab wenige Monate des Jahres, wo Herr Belzig nicht Brunnen trank.
[220] „Brrr! im Januar!“ rief Mühüller.
„Perkisch, nimm nur, ich weiß schon, es giebt nirgends –“
„– in Berlin eine bessere Cigarre!“ fiel Perkisch im Ton des Recitativs ein. Er raffte unter dem Deckmantel dieses Duetts, das der pedantische Belzig bei der Cigarre seit Jahren mit ihm intonirte, ein ganzes Päckchen aus den drei Kisten zusammen. Er wußte sich für seine Toaste schadlos zu halten!
Bald, mitten in einer Rossi-Begeisterung, die sich der Gesellschaft bemächtigt hatte, brach man auf.
„Was, Sie haben Rossi noch nicht gesehen, Herr Lieutenant?“ fuhr Melitta in das Gespräch des Generalstäblers mit einer ältlichen Dame, einem gleichgültigen Lückenbüßer der Gesellschaft, herein – „Sie müssen Rossi sehen! Sie können sich nirgends mehr zeigen, ohne ihn gesehen zu haben.“ Sie war ganz Feuer und Begeisterung.
„Ich bin augenblicklich sehr beschäftigt,“ antwortete Eff, mit einem tiefen Athemzug die Schultern hebend. „Ich stecke in einer wichtigen Arbeit, und ich muß sogar die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich hätte Rossi sehr gern gesehen.“
Er fügte das mit Nachdruck hinzu, seine Augen in die ihren versenkend.
„O wie schade!“ sagte Frau Belzig, die Mittheilung aufgreifend; sie war mit einer auffallenden Hast herzugerauscht. „Wir haben einen Platz in unserer Loge frei und hofften, wir würden die Ehre haben, mit Ihnen den Abend zu verbringen.“
Es war die kalte Phrase, mehr eine Abwehr, daß er sich ja nicht in seiner Arbeit stören ließe. Der Platz war ja längst für einen Andern bestimmt.
„Rossi ist einzig! Rossi ist entzückend!“ rief Melitta, und ihre Herzensangst vibrirte durch die Worte. Ihre Augen flehten Eff an – ohne ihn wird Rossi entsetzlich, ganz fürchterlich sein!
Der Lieutenant dankte höflich für die Einladung.
„Ja, diese Herren vom Generalstab! Alle möchten sie natürlich gern Moltkes werden!“
Und Frau Belzig rauschte davon, auf Lolo zu, die sich mit dem Grafen unterhielt. Dieser mochte ein neues, noch nicht gebrauchtes Register seines Unterhaltungsrepertoires aufgezogen haben, wenigstens schien sich seine Zuhörerin köstlich zu amüsiren, und in der glitzernden Lebhaftigkeit ihres frischen Gesichtes, das in seiner Rundlichkeit mehr als das Melitta’s dem der Mutter ähnlich war, sah sie besonders lieb, fast pikant aus. Nein, nein, sie brauchte keine Furcht zu haben, daß Jemand sie nur des Geldes wegen zur Frau begehrte!
Und der Graf, wenn er nicht seine müden, greisenhaften Momente hatte und sich auch körperlich aus einer gewissen Gebeugtheit aufrichtete, war wirklich keine üble Erscheinung. Er hat gelebt, er hat seine Vergangenheit – nun, das giebt die besten Ehemänner. Seine Rosaröthe, sein Lächeln, die naive grelle Bläue seiner vorstehenden Augen: das Alles bürgt dafür, daß ihn diese Vergangenheit nur oberflächlich gestreift. Nein, nein, gewiß, wenn man ihn acceptirt, und er scheint sich ernstlich für Lolo zu interessiren, so geschieht es nicht um das dumme Ding einer neungezackten Krone …
Gleich darauf sah man den Grafen Nachewski ein Kompliment machen, das eine Annahme der nunmehr an ihn gerichteten Einladung bedeuten mußte. Und Lolo erröthete verlegen.
„Bravo, bravo! Nun natürlich!“ erläuterte halb für sich Lieutenant Mühüller, der die Scene verfolgt hatte.
Perkisch schmunzelte, auch das entging Mühüller nicht.
„Na natürlich! Sie beißen auf seinen Grafen an!“
Frau Belzig war ganz glücklich, und die Reflexe und Lichter ihres Gefühles hörten den ganzen Abend hindurch nicht auf von diesem Glück zu erzählen. Von all den Besuchern der heutigen Rossi-Vorstellung leuchtete wohl keinem die Begeisterung für den großen Mimen heller aus dem Antlitz als ihr, deren Loge vorn mit einem leibhaftigen Grafen und zwei „bildschönen“ Töchtern garnirt war. Nach dem ersten Akte waren drei reizende Bouquette, die den süßen Duft der Gardenia verbreiteten, in der Loge abgegeben worden. Von ihm, ihrem erlauchten Gast? Nun, er war doch selbst ein wenig überrascht! Es war ein kleiner hübscher Trumpf, den Perkisch für des Grafen Rechnung ausgespielt. Perkisch ist vorzüglich, er kennt seine Belzigs, und er kennt seinen Grafen, der in seiner unbegreiflichen Sorglosigkeit jedenfalls diese wichtigen Bouquette vergessen hätte.
„Belzig, so applaudire doch!“
Es klang fast, als lüde Frau Belzig ihren Gatten ein, daß er ihr selbst applaudiren möchte. Dieser saß da und brütete jedenfalls, während die italienischen Tiraden Rossi’s sein Ohr betäubten, über einer geschäftlichen Unzerreißbarkeit.
„Ausgezeichnet! Bravo! bravo!“ fuhr er zerstreut empor. Mußte er nicht im Stillen eingestehen, daß nur sie es war, die den Salon Belzig glanzvoll zu dekoriren verstand mit Namen, Titeln und Epauletten, darunter ein paar Generalsepauletten, ja nun gar mit einer Grafenkrone? Ohne ihre rastlosen Bemühungen und ihre fieberhafte Wachsamkeit wäre die „unzerreißbare Firma“ in ihrem Golde erstickt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätten die Thürpfosten ihrer Wohnung nicht ausgereicht für die anlehnende Pose des langweiligen, langmähnigen Litteratenpacks, und er wäre im Stande gewesen, die Mädchen, diese geborenen Prinzessinnen, an einen honorargierigen Belletristen oder an ein übergediegenes Firmenschild mit Kompagnie und dergleichen zu vergeben.
„Applaudiren, Belzig!“
Ja, nun war es genug und völlig abgethan mit jener Redensart, die sie seit zwanzig Jahren stets wie eine Legitimation bei sich getragen. „Bei uns (sie meinte das Haus ihres Vaters, eines Bürgermeisters in einer kleinen niederrheinischen Stadt) verkehrte das ganze …te Husarenregiment, der Kommandeur, ein Graf von Soundso, an der Spitze.“ Bah, sie wollte sich auch nicht mehr darüber ärgern, daß der Lithograph hartnäckig das „van“ in dem „geborene van Schülpchen“ auf ihren Visitenkarten in ein „von“ umwandelte. Wegen eines elenden Vokals!
„Bravo, bravo, bravo!“ rief Belzig, da Rossi eben seinen Abgang hatte, in jenem plärrenden Staccatotempo, das er in einem italienischen Theater gehört.
Die Franzosen in der Schweiz.
Eine jener geschichtlichen Unwahrheiten, wie sie oft von ganzen Völkern geglaubt und als unumstößlich richtig angenommen werden, ist auch die in der Schweiz weitverbreitete Ansicht, als ob die Franzosen mit diesem Lande stets im besten Einvernehmen gestanden, ihm nichts als Gutes und Wohlthätiges erwiesen, so als ob sie ihm eigentlich die vorher abhanden gekommene Freiheit gebracht hätten. Dieser falschen Ansicht gegenüber schlagen wir die Bücher der Geschichte auf und finden darin gar Manches, was geeignet wäre, jene „uneigennützigen Bringer der Freiheit“ in einem wesentlich andern Lichte erscheinen zu lassen, als dem, in welchem sie bei einer Menge wohlmeinender, aber in der Geschichte nicht besonders bewanderter Leute stehen. Daß die verrotteten Verhältnisse der Schweiz, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert bestanden, auch ohne einen Einfall der Franzosen in das Land eine Verbesserung erfahren hätten, und zwar, wenn auch eine langsame, doch eine natürliche, maßvolle, welche spätere Reaktionen erspart hätte, kann jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen.
Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß hierzu die französische Revolution von 1789 einen Anstoß gab, dessen Wirkungen unverkennbar sind, allein von diesem Anstoße bis zu einem Raub- und Mordanfalle, wie er 1798 von einem Nachbarvolke gegen ein anderes verübt wurde, ist noch ein weiter und keineswegs nothwendiger Schritt. Jedenfalls war es ein verhängnißvolles Unternehmen der schweizerischen Emigranten, die Hilfe Frankreichs herbeizurufen.
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[222] Ihre Bemühungen bei dem französischen Direktorium trugen um so mehr Früchte, als ein Mitglied dieser Behörde, der Elsässer Reubel, einst als Advokat einen Proceß in Bern verloren hatte und bei diesem Anlasse auf die gefüllten Schatzkammern der Berner Regierung aufmerksam geworden war. Mit ihm verabredeten zwei Schweizer, der intrigante gewesene Stadtschreiber Ochs aus Basel und der antik-ideal angehauchte Waadtländer Laharpe, vorher russischer Prinzenerzieher, die Invasion ihres Vaterlandes und dessen Verwandelung in die „eine und untheilbare helvetische Republik“: ein Schritt, wie er gegenüber dem ganzen Gange der Geschichte natur- und vernunftwidriger sich nicht denken ließ und daher auch von den Ereignissen und dem Schweizervolke selbst in entschiedenster Weise verurtheilt worden ist.
Den im Frühjahre 1798 von Seite der französischen radikalen gegen die schweizerischen konservativen Republikaner geführten Krieg zu schildern, liegt außerhäln der Aufgabe dieser Zeilen.
Schon gleich nach dem Einzuge der Franzosen in Bern begannen die Schandthaten, welche die sogenannten Befreier des Schweizervolkes in dessen Gedächtniß unsterblich hätten machen müssen, wenn dasselbe nicht zu gutmüthig wäre, um erlittenes Unrecht den Feinden lange nachzutragen.
Das schöne und große Dorf Münsingen zwischen Bern und Thun wurde von den Kämpfern für Freiheit und Gleichheit in Brand gesteckt und die Einwohner von ihren „Befreiern“ mit Säbelhieben vom heimischen Herde weggetrieben. In der nächsten Umgebung Berns waren 500 Familien von den Franzosen aller Habseligkeiten beraubt worden und besaßen weder Geräthschaften, noch Vieh, weder Speisen noch Geld mehr; ihre Wohnungen hatten weder Fenster noch Thüren, ihre Zimmer keine Betten mehr; sie waren dem Hunger und der Kälte preisgegeben und der Verführung ausgesetzt zu Diebstahl und Raub zu greifen. Im „Bremgartenwalde“ bei Bern lag eine Menge unter unsagbaren Umständen gemordeter Frauen! Das eigentliche Ziel des französischen Einbruches war aber der Staatsschatz von Bern. Nachdem man ihn unter Siegel gelegt, sprengte man erst die öffentlichen Kassen, plünderte dann die Zeughäuser, sandte 130 Kanonen und 60000 Flinten nach Frankreich und raubte schließlich den Staatsschatz selbst aus, in dem sich nach der geringsten Angabe 7, nach der höchsten (und zwar einer französischen!) 26 Millionen Livres französischer Währung befanden. Von diesem Gelde wurden etwa 5 Millionen Frankem für die Expedition ausgegeben, welche der aufstrebende korsische Adler noch in demselben Jahre nach dem Lande der Pharaonen führte, und man soll noch lange nachher am Fuße der Pyramiden Berner Thaler und Doublonen getroffen haben. Sogar die drei lebenden Bären, den Stolz Berns, führten die Helden gefangen nach Paris!
Der Haupträuber, Gehilfe des französischen Oberkriegskommissärs in der Schweiz, später Agent der französischen Regierung, war ein gewisser Rapinat, Schwager des Kriegsministers Reubel, und ein gelungenes Witzwort sagte damals von demselben: man wisse nicht, ob Rapinat von rapine (Raub) oder rapine von Rapinat abzuleiten sei. Den Kantonen Bern, Freiburg, Solothurn, Luzern und Zürich wurde eine Kriegssteuer von fünfzehn Millionen, der katholischen Geistlichkeit eine solche von einer Million Franken auferlegt. Erstere Summe sollte binnen drei Monaten von Seiten der früher regierungsberechtigten Familien entrichtet werden, und mehrere Mitglieder derselben wurden als Geiseln nach der französischen Festung Hüningen oder nach Straßburg geschleppt. Alle Kassen der Schweiz wurden geplündert, so daß die neuen „helvetischen“ Behörden nicht wußten, wie sie ihre Pflichten erfüllen sollten. Umsonst suchte Laharpe, der später in das helvetische Direktorium gelangte, seine Unbesonnenheit, mit der er die Franzosen in das Land gerufen, dadurch gut zu machen, daß er gegen jene Erpressungen protestirte und die Schändlichkeiten der Blutsauger unerbittllch aufdeckte. Innerhalb eines Monats erpreßte der General Brune, welcher die Truppen aus dem Waadtlande nach Bern geführt hatte, von den Schweizern etwa 200000 Franken für seine „guten Dienste“, wie er es nannte, und als er dann abberufen wurde, verließ er Bern in einer geraubten Kutsche, die aber wegem Ueberladung mit gestohlenem Gelde auf der Straße zusammenbrach.
Zwei Monate nach dem Falle Berns, zu Ende April 1798, war erst die ebene Schweiz für das künstliche Gebilde der helvetischen Republik gewonnen. Dagegen leistete ihr noch das gesammte Gebirgsland im Innern der Schweiz ernsten Widerstand. Man wollte sich dort, wo es keine Aristokratie gab, die alte Freiheit der Kantone mit ihren echt germanischen Landsgemeinden[1] nicht rauben lassen, und schloß einen Bund der Vertheidigung gegen neumodisch demokratische, in Wirklichkeit bureaukratische und französische Zustände, die den Bürgern wider ihren Willen aufgedrängt werden sollten.
Schwyz stand an der Spitze dieses altschweizerischen Gebirgsbundes und hatte den kühnen Plan, mit seinen Bundesgenossen die Schweiz zurückzuerobern und die alte Eidgenossenschaft, doch ohne Unterthanenlande, wieder herzustellen. Die helvetische Regierung sah sich durch die Umstände gezwungen, die fremden Heere gegen ihre eigenen Landsleute in Anspruch zu nehmen, und ungeachtet eines der alten Schweizer würdigen Heldenmuthes, durch welchen auf dem klassischen Boden von Morgarten unter Anführung des edeln Aloys Reding die Franzosen zurückgeschlagen wurden, siegte doch zuletzt deren gewaltige Uebermacht über die seit langer Zeit krlegsungeübten Gebirgssöhne, und ihr altes freies Land wurde von den fremden Scharen überschwemmt und grauenhaft mißhandelt. An der Stelle der Nachkommen der Männer vom Rütli regierte jetzt der scheußliche Rapinat am wundervollen Vierwaldstättersee. Er und seine Raubgesellen stahlen die Kassen der armen Waldkantone ebenso wie sie das reiche Bern geplündert hatten, und da das Geld ihnen zu wenig war, raubten sie auch die Rüstungen ünd Waffen, mit denen einst die Freiheit erkämpft worden war, aus den Zeughäusern. Was den armen Landleuten noch geblieben, fraßen die französischen Soldaten und ihre Pferde auf, und das die Bewohner nährende Vieh wurde zum Unterhalte der fremden Truppen, die man nicht gerufen hatte, geschlachtet. Um Geld zu erpressen, schossen die Franzosen in die Häuser, verjagten die Einwohner und plünderten dann ihre Habe. Umsonst machte die schwache helvetische Regierung, welche doch selbst die Fremden in das Gebirge gesandt hatte, durch das Elend ihrer Landsleute erschreckt, Vorstellungen in Paris. Das französische Direktorium antwortete höhnend: diese Klagen seien nur Folgen der Intrigen des englischen Gesandten! Umsonst auch bemühte sich der französische General Schauenburg (ein Lothringer), welcher über den Jura her in die Schweiz gezogen war, die Ausschweifungen seiner zuchtlosen Mannschaft zu zügeln.
Edelgesinnte Schweizer, namentlich der aus Preußen eingewanderte, damals hochgeschätzte Schriftsteller Heinrich Zschokke, sammelten im In- und Auslande für die so schwer heimgesuchten Urkantone. In der That kamen aus der ebenen und reicheren Schweiz, aus Deutschland, selbst aus Dänemark, Spanien, Italien und England ansehnliche Unterstützungen – nur Frankreich, welches das Elend angerichtet hatte, verweigerte jede Hilfe.
Es muß indessen zugestanden werden, daß in der nunmehr über die ganze Schweiz (Graubünden einstweilen ausgenommen) ausgebreiteten helvetischen Republik, allerdings durch die modern gesinnten Schweizer, nicht durch die Franzosen, höchst zweckmäßige Verbesserungen eingeführt wurden, deren sich die Schweizer heute noch erfreuen. Die helvetischen Behörden waren, soweit es ihre Schwäche gegenüber den Franzosen gestattete, von den besten Absichten beseelt, und es wurden großartige Ideen ausgesprochen, die heute noch nicht durchgeführt sind, wie z. B Rechtseinheit. Aber was fruchtete dies? Die helvetische Regierung ordnete an; Rapinat aber befahl „im Namen des französischen Direktoriums“, plünderte und raubte nach Belieben, ja setzte sogar eigenmächtig, auf die Bajonette seiner Landsleute gestützt, Regierungsmitglieder ab und ein! Und dabei gab es leider immer noch Schweizer, welche so servil waren, das von den Franzosen Verfügte zu beklatschen!
Die entsetzlichsten Scenen, welche die „Freundschaft“ Frankreichs für die „Schwesterrepublik“ zur Folge hatte, sollten aber erst noch kommen. Am 12. Juli 1798 beschloß die helvetische Regierung unkluger und überflüssiger Weise, von allen Staatsbürgern des Landes einen sogenannten Bürgereid zu verlangen und diejenigen, die denselben verweigern würden, mit dem Verluste des Bürgerrechts zu bestrafen! Wurde nun diese gehässige Maßregel schon in jenen Gegenden, welche sich der neuen Verfassung freiwillig gefügt hatten, mit Mißtrauen, Hohn und [223] Abneigung aufgenommen, so erwachte vollends in den zu der Verfassung durch Waffengewalt gezwungenen Urkantonen der alte Widerstand von neuem. Doch fügten sie sich, im Angesichte drohender neuer Kriegsgräuel, dem Bürgereide bis auf das kleine Nidwalden (den nördlichen Theil des Kantons Unterwalden), welches durch die mannigfachen, den alten Sitten und Zuständen und der alten Religion zugefügten Kränkungen aufs höchste erbittert war.
Es wurde hier wieder eine Landsgemeinde gehalten und eine provisorische Regierung aufgestellt. Zwar trat nachher eine kühlere Ueberlegung und Neigung zum Nachgeben ein, aber als man in Aarau (damals Hauptort der helvetischen Republik) die Auslieferung der aufreizenden Geistlichen und Volksführer verlangte, verstärkte sich die Opposition, und die Landsgemeinde beschloß thörichter Weise geradezu Aufhebung der helvetischen Verfassung.
Nun beging aber die helvetische Regierung, wie man es wohl nennen darf, das Verbrechen, den Einmarsch französischer Truppen, während sie doch einheimische zur Verfügung hatte, in Nidwalden anzuordnen. Das Ländchen war vollständig isolirt; Obwalden hing der neuen Ordnung der Dinge an, und aus Uri und Schwyz erschienen nur kleine Hilfsscharen in Stans, welches über 1540 Mann und acht Kanonen verfügte. Gegen diese Handvoll Leute nun marschirten zu Anfang des September 18000 bis 20000 Mann Franzosen, das heißt mehr als das Doppelte der Gesammtbevölkerung des bedrohten Ländchens! Am 9. September fand der Angriff und der furchtbare Kampf statt, welchem das heldenmüthig ringende Völkchen endlich erlag, nachdem die Franzosen durch die niemals fehlenden Unterwaldner Schützen weit mehr Leute verloren hatten, als ihre Gegner Kämpfer zählten. Aber ihre Rache war schauerlich! Schauenburg hat durch diesen Tag seinen Namen auf ewig gebrandmarkt. Er erzählt in seinem Berichte selbst: „Gegen 6 Uhr Abends waren wir Meister dieser Gegend, die größtentheils verbrannt und verheert ist … mehrere Priester und leider auch eine große Anzahl Weiber sind auf dem Platze geblieben … Alles, was bewaffnet war, wurde niedergemacht.“
Im Kampfe waren nicht hundert Nidwaldner gefallen, aber nach dem theuer erkauften Siege der Eindringlinge wurden, abgesehen von zahlreichen barbarischen Mißhandlungen, Personen, darunter 8 Geistliche, 50 Kinder, viele Greise, Kranke und Frauen wehrlos gemordet, selbst in den Kirchen machten die Scheusale die frommen Beter und Beterinnen, wie auch solche, die sich hinein flüchteten, unter entsetzlichen Nebenumständen nieder. Ja die Franzosen ließen sich von Männern und Frauen mehr oder weniger Geld für die Sicherung ihres Lebens zahlen und – marterten sie dann zu Tode. Neun Kirchen und Kapellen, 316 Häuser und über 300 andere Gebäude wurden niedergebrannt. Alle vorgefundenen Geräthschaften wurden zertrümmert, Speisen ruchlos weggeworfen, wenn die Unholde satt waren; was irgendwie abzulösen war, gestohlen und die armen Leute wurden gefoltert, wenn man meinte, sie besäßen noch etwas. Namentlich wurden die Kirchen auf die empörendste Weise geschändet und geplündert. Von zahl- und namenlosen Verbrechen gegen die Sittlichkeit schweigen wir, auch abgesehen von solchen wurde mit rohester Absichtlichkeit der sittliche und religiöse Sinn des Volkes verletzt und verhöhnt. Zweiundzwanzig überwundene Kämpfer wurden, während noch ihre Wohnungen rauchten, in strömendem Regen gefesselt aus der Heimath nach Schwyz, Aarburg und Basel in entsetzliche Kerker geschleppt und nach langer Haft zu schweren Ehren- und Geldstrafen verurtheilt. Siebenundsiebzig Flüchtlinge verloren Hab und Gut. Die wegen ihrer Abneigung gegen die Franzosen und die „Helvetik“ bekannten Frauen mußten die Straßen und das in eine französische Kaserne umgewandelte Kapuzinerkloster in Stans reinigen.
Diese und ähnliche Schmachthaten dauerten fort, bis die neue Ordnung der Dinge unter französischem Oberbefehl in Nidwalden wieder hergestellt war. Die „Freiheit“ und „Gleichheit“, die als Motto damals überall hingepinselt wurden, waren in dem verwüsteten Ländchen zur Wahrheit geworden; denn das Volk war nun von allen irdischen Gütern frei und in Elend und Noth gleich. Man schätzte den finanziellen Schaden, welchen Nidwalden damals erlitt, auf anderthalb Millionen Gulden. Nach alledem aber beschloß der kriechende helvetische „Senat“: die französische Armee habe sich um das Vaterland verdient gemacht! Freilich ließen die Behörden auch eine Liebessteuer für die Unglücklichen sammeln und verabreichten ihnen selbst einen Beitrag; aber konnten sie damit die Todten auferwecken, die namenlos Gekränkten entschädigen und ihre eigene Schmach auslöschen? Vier Wochen nach dem „schrecklichen Tage“, wie er seitdem mit Recht hieß, schwur das gebeugte Volk des verheerten Nidwalden den Bürgereid.
Die französischen Truppen blieben nach diesen Ereignissen noch über drei Jahre in der Schweiz und zehrten nicht allein alles auf, was im Lande zu finden war, sondern im Jahre 1799 halfen ihnen darin die Oesterreicher und Russen, welche die alten Regierungen wieder zurückzuführen versuchten, aber nach einem blutigen Kriege mit den Franzosen auf Schweizerboden durch die entscheidende Schlacht bei Zürich am 26. September hinausgeworfen wurden. Das Schweizerland war nach diesem Kriege vollends ein Trümmer- und Leichenfeld. Das hielt aber die Franzosen nicht ab, den Schweizern noch den letzten Rest ihrer Habe zu rauben. General Massena, der Sieger von Zürich, erpreßte von dieser Stadt und Basel je 800000, von St. Gallen 400000 Franken. Die Preise der Lebensmittel wuchsen, das Brot stieg bis auf acht Batzen (etwa eine Mark) das Pfund, und die Requisitionen der Truppen waren nicht zu erschwingen. Eine Menge Familien besaß kaum das nackte Leben; von Kleidern, die diesen Namen verdienten, war keine Rede, von Betten vollends gar nicht. Und wenn Jemand es wagte, sein Eigenthum gegen die Räubereien oder weibliche Ehre gegen die Attentate der Franzosen zu schützen, der wurde einfach niedergeschossen. –
Unter diesen Umständen nahm die Sympathie für die helvetische Republik, deren Lenker immer mehr Werkzeuge Frankreichs wurden, stetig ab und Alles sehnte sich nach Herstellung der alten Zustände, freilich vorwiegend mit Verbesserung derselben; nur die Patrizier der Städte blieben unbelehrbar und träumten von vollständiger Reaktion. Als endlich Frankreich an der Spitze der Schweiz, mit Hilfe mehrerer Staatsstreiche, lauter gefügige Leute sah, zog es im Sommer 1802 seine Truppen aus dem ausgesogenen Lande zurück. Kaum war dies geschehen, so brach in den Urkantonen der Aufstand gegen die Einheitsrepublik los und griff, unterstützt von den Sympathien fast der ganzen Schweiz und von – englischen Guineen, rasch weiter um sich. Die helvetische Regierung mußte am 18. September aus Bern, ihrem damaligen Sitze, nach Lausanne fliehen; eine Tagsatzung versammelte sich in Schwyz, und überall begann die alte Schweiz wieder aufzuleben.
Das hatte der „erste Konsul“ Bonaparte erwartet, um die Schweiz, unter dem Scheine, zugleich ihr Wohlthäter zu sein, vollständig an sein Interesse zu fesseln. Er bot sich jetzt der zerrissenen Schweiz als ihr „Vermittler“ an, benahm sich aber in Wahrheit als ihr Beherrscher. Er befahl die einstweilige Wiederherstellung der helvetischen Republik, unterstützte diesen Befehl durch den abermaligen Einmarsch französischer Truppen unter General Ney und ließ durch diese die ganze Schweiz entwaffnen; denn Geld und Lebensmittel waren nicht mehr vorhanden, und etwas mußten doch die Franzosen zu rauben haben. Alle Bewaffnungsstücke, die bis in die entlegensten Hütten zu finden waren, selbst Galanteriedegen und Kinderspielwaffen, wurden weggenommen, und kein früherer Raub hat die Schweizer so sehr erbittert wie dieser. Eine Kriegssteuer von 625000 Schweizerfranken (zu 1,40 franz. Franken) wurde der Schweiz auferlegt und darauf befahl Bonaparte die Abordnung von Gesandten aller Kantone nach Paris. Hier entwarf er mit ihnen die neue Verfassung der Schweiz, welche man die Mediationsakte nannte. Sie stellte die Kantone unter einer machtlosen, jährlich zwischen sechs Städten wechselnden Centralleitung wieder her, schuf aus den ehemaligen „zugewandten Orten“ und Unterthanenlanden sechs neue Kantone und war insofern ein Meisterstück der Diplomatie, als sie der Schweiz Frieden gab und sie doch dem Willen Frankreichs unterwarf, dem sie Truppen stellen mußte, die an allen Feldzügen des Kaiserreichs von Austerlitz bis Moskau theilgenommen haben.
Im März 1803 trat diese kraftlose und friedliche Verfassung in Wirksamkeit, und die Franzosen verließen die Schweiz, welche sie fast fünf Jahre lang geschändet hatten, – für immer! Seither hat die Schweiz mancherlei Schicksalswechsel erfahren, aber keinen, und wird auch hoffentlich keinen mehr erfahren, der ihr so viel und so herbe Wunden schlägt, wie es ihre Besetzung durch die von Unkundigen als Freiheitskämpfer angestaunten Franzosen gethan hat!
Bärenjagden des Prinzen Wilhelm von Preußen.
Allgemeines und besonderes Interesse erregte es vor Jahresfrist, als durch die öffentlichen Blätter die Mittheilung ging, daß Prinz Wilhelm von Preußen einer Einladung des Generaladjutanten des Kaisers, des ritterlichen und in den Kreisen der Berliner Gesellschaft allbekannten Fürsten Anton Radziwill gefolgt sei, um auf dessen weitläufigen Herrschaften in Rußland der Bärenjagd obzuliegen.
Prinz Wilhelm theilt bekanntlich die Neigung seines Freundes, des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich, bezüglich der Jagd und ist, wie Jener, ein außerordentlich tüchtiger Schütze.
Einige Notizen über die Reise des Prinzen werden, wie wir glauben, unsere Leser auch noch nachträglich interessiren, um so mehr, als wir in der Lage sind, dieselben durch die trefflichen, seiner Zeit an Ort und Stelle aufgenommenen Bilder des Malers Falat zu illustriren.
Am 12. Februar Abends bestieg Prinz Wilhelm, begleitet von seinem Gastgeber, dem Fürsten, und seinem Adjutanten, Major von Krosigk, den Warschauer Schnellzug. Nach einem kurzen Aufenthalt in Warschau wurde die Fahrt mit der Warschau-Terespoler Bahn fortgesetzt, und am 14. Februar früh langten der Prinz und seine Begleitung in der Nähe von Nieswiez, dem uralten Schlosse der fürstlichen Familie Radziwill, an, verweilten einige Zeit, um hier ein vom Fürsten angeordnetes Frühstück einzunehmen, und fuhren nun auf russischen Schlitten – ein dem Prinzen Wilhelm bisher ungewohntes Vergnügen – nach dem zu der großen Herrschaft gehörenden Gute Radziwill-Monte (bei Klez). Hier wurde dinirt und Nachtquartier genommen, und am nächsten Morgen begann dann die erste Jagd auf die Bären.
Die Bärenjagd gehört immerhin zu dem gefährlichsten Sport in Europa, und wer sie ausüben will, der muß nicht nur ein geübter Schütze sein, sondern auch über kaltes Blut verfügen. Beim Beginne derselben wird der ganze Distrikt, in welchem man das Lager des Wildes aufgespürt hat, mit einer Kette von Treibern und Wehrleuten umstellt. Innerhalb des Kreises stellen sich auf der einen Seite die Hundeführer auf mit einer Meute von Hatzhunden, die kräftig und schneidig sein müssen. Diesen gegenüber stehen, gleichfalls im Innern des Kreises, die Schützen, aber sie stehen nicht einzeln auf dem Posten, sondern zu Zwei und mehr, damit sie sich im Augenblicke der Gefahr beispringen können. Auch Leute mit geladenen Flinten, sogenannte Sekundanten, werden ihnen oft beigegeben.
Auf ein gegebenes Zeichen beginnt die Treibjagd. Die Hunde werden sofort gelöst, sobald man merkt, daß sie auf frischer Spur sind. Bricht nun der Bär, von jenen und durch das Geschrei der Treiber aufgeschreckt, aus seinem Lager auf, so passirt er zunächst die Jägerlinie. Jetzt gilt es, ihm aus naher Entfernung, aus etwa dreißig bis vierzig Schritt, einen tödlichen Schuß zu geben. Gelingt es aber dem Bären, die Schützenlinie unverletzt zu passiren, so gelangt er an die auf der entgegengesetzten Seite des Kreises aufgestellten Leute, die sogenannte Wehrlinie, und wird von diesen gegen die Schützen zurückgetrieben.
Vom 15. Februar ab wurde auf den Radziwill’schen Gütern die ganze Woche hindurch täglich gejagt, und der Prinz hatte Gelegenheit, die eigenartige, zum Theil wunderbar groteske Landschaft mit ihren großen Wäldern und ausgedehnten Mooren, Alles umhüllt von dem weißen Reif, dem Schnee und dem Eise der Jahreszeit, in Augenschein zu nehmen.
Die fürstliche Familie besitzt hier für ihren Sport ein eigenes Jagdhaus, und zwar in dem Dorfe Dnieskowice. Beim Beginn der Jagd waren bereits acht Bären bestätigt (als aufgespürt gemeldet), worunter sich eine Bärin befand, welche sich schon von dem einjährigen Bären getrennt hatte. Zunächst ward diese mit zwei vorjährigen Bären ins Auge genommen; später folgten die anderen fünf, und der Prinz Wilhelm erlegte von diesen acht die Hälfte, während Major von Krosigk die Bärin niederschoß.
Ein anschauliches Bild der im tiefen Schnee vergrabenen Waldungen mit ihrem ziellosen Wachsthum, mit den sturmverwehten, zerknickten Bäumen und Bäumchen und der wildnißartigen Regellosigkeit geben namentlich zwei der von uns reproducirten Bilder. Auf dem einen wird gerade der Bär für die beginnende Jagd aufgescheucht. Die Meute ist losgelassen und setzt sich mit wüthendem Gebell in Bewegung. Das Thier, von allen Seiten bedroht und ausgehetzt, richtet den riesigen Kopf in die Höhe und erwartet, gleichsam noch unentschlossen, aber mehr gereizt als geängstigt, seine Widersacher. In den Gesichtern der Treiber malt sich Besonnenheit und Entschlossenheit zugleich. Beide sind auch erforderlich, denn in dem hohen und tiefen Schnee, der den Boden bedeckt, ist jede Bewegung beschwerlich und selbst die muthigste Meute unterliegt häufig den furchtbaren Tatzen und Zähnen dieser gewaltigen Thiere.
Das zweite Bild, erfaßt in dem Augenblick, in welchem Prinz Wilhelm nach dem entscheidenden Schuß selbst an den Bären herangeht, zeichnet sich ebenfalls durch frappante Anschaulichkeit aus.
Der kühne Jäger will nicht der Umgebung die Feststellung bezüglich der Wirkung des Schusses überlassen. Er geht mit dem gespannten Revolver in der Hand vorwärts und ist auf eine noch größere, vielleicht sehr große Gefahr vorbereitet. Nur allzu häufig kommt es vor, daß Schüsse nur eine zeitweilige Betäubung hervorrufen, daß ein Bär sich plötzlich wieder aufrichtet und nun mit der Kugel im Eingeweide, durch wahnsinnigen Schmerz aufs Aeußerste gereizt, seinen Verfolger packt, umarmt und zerreißt.
In dem Gesicht des Prinzen Wilhelm drückt sich Entschlossenheit aus; festen Schrittes geht er – obgleich bisher solcher Jagd ungewohnt – vor, und mit gespannter Miene beobachtet seine Umgebung, die Flinten schußgerecht in der Hand, wie sich die Dinge entwickeln werden.
Die Sorge war zum Glück – oder dem kühnen Jäger zum Leidwesen – unnöthig. Der Prinz hatte in diesem Falle so wohlgezielt, daß der Bär augenscheinlich sofort verendet war.
Später gesellte sich den hohen Jagdfreunden noch der Prinz Matthias Radziwill zu (ein Vetter des Fürsten Anton), und überdies nahm auch der Generalbevollmächtigte des Letzteren, Herr von Abolamowicz, welcher sämmtliche Vorbereitungen getroffen hatte und die Jagd leitete, an dem Treiben Theil.
Am 21. Februar kehrte der Prinz, eine Strecke von seinem liebenswürdigen Gastgeber bis an die Hauptbahn begleitet, zurück und trat die Reise nach Berlin wieder an. Eine besondere Freude und Ueberraschung hatte derselbe noch kurz vor seinem Fortgange, indem ihm auf der Schlittenfahrt ein großer, wunderbar schön gewachsener Elch in den Weg kam. Da diese Thiere die Gewohnheit haben, von ihrem Laufe nicht abzubiegen, so flog der Schlitten eine beträchtliche Weile geradlinig hinter dem Flüchtling einher und die günstigere Gelegenheit zum Schuß ward dadurch verwehrt.
Endlich aber gelang es dem Prinzen doch, das von dem Geweih bereits befreite Thier durch einen wohlgezielten Schuß niederzustrecken und somit am Schluß sich nochmals als ausgezeichneter Jäger zu bewähren.
Fürst Anton blieb mit seinem Bruder Wilhelm auf der Herrschaft zurück und setzte 11/2 Woche die Jagd fort, wobei er in den eigenen und angrenzenden fürstlich Wittgenstein’schen Waldungen noch zehn Bären erlegte.
Die Besitzungen des Fürsten Radziwill liegen im südlichen Theile des Gouvernements Minsk und erstrecken sich mit Unterbrechungen vom oberen Memelstrom, einschneidend in die Wittgenstein’schen Forsten, bis an die Wolhynische Grenze.
Auf unseren Bildern sind das Jagdgefolge, die Treiber und die Mitglieder der russischen Polizei wiedergegeben. Auf dem Hauptbilde (S. 228 und 229) steht Prinz Wilhelm neben einem erlegten Bären, ihm zur Rechten der Fürst Anton Radziwill.
Herzenskrisen.
(Fortsetzung.)
Als der Hauptmann das Zimmer Hortense’s verlassen, blieb es
ein Weilchen still zwischen den beiden Freundinnen. Hortense,
die bis dahin scheinbar unbefangen und liebenswürdig geplaudert
hatte, saß jetzt in dem kleinen Sessel, blaß und mit einem herben
Zug um den Mund. Lucie schob ihren Stuhl etwas näher und
bog den blonden Kopf zu ihr herunter.
„Hortense,“ fragte sie, „hattest Du eine Unannehmlichkeit? Wie kamst Du aber auch darauf, die Herren zu empfangen?“
Die junge Frau lachte kurz und hart auf und antwortete nicht. Lucie schwieg erschreckt; sie hatte schon einmal dieses Lachen gehört; es war an jenem Tage, dessen sie nie ohne Schauder gedenken konnte. Sie nahm ein Buch von dem niedrigen Tischchen neben der Chaiselongue. „Darf ich Dir vorlesen?“ fragte sie hastig.
Hortense blieb stumm; sie machte eine Bewegung mit dem Kopfe, als wollte sie sagen: „Lies oder lies nicht – mir ist es gleichgültig.“
Lucie zögerte ein Weilchen, dann las sie, es war eine Novelle von Heyse „David und Jonathan“, die sie gestern Nachmittag begonnen. Sie wußte nicht, ob Hortense zuhörte, sie vergaß während des Lesens die Gegenwart und nahm an dem Geschick des vom Freunde betrogenen Hans so innig Theil, daß ihr die Stimme leicht bebte. Ein leises Rauschen ließ sie einhalten, Hortense war aufgestanden und schickte sich an, hinauszugehen.
„Verzeih, ich habe Kopfschmerz,“ murmelte sie.
„Aber, liebes Herz, dann lese ich nicht, Du brauchst es doch nur auszusprechen,“ sagte Lucie verletzt. „Wenn es Dir unangenehm ist, so gehe ich, ich meinte es ja nur gut.“
„Fräulein,“ rief Frau Rein, die plötzlich in der Thür erschien, „bitte um Tafelgedeck und Silberzeug; die Herren bleiben zum Abendessen.“
Lucie nickte und griff nach dem Schlüsselkorb; Hortense war ohne ein Wort durch die entgegengesetzte Thür hinausgegangen. Das Mädchen wandte sich seufzend um und ging, das Verlangte zu besorgen, Frau Rein folgte ihr.
„Nur für drei Kouverts, bitte,“ sagte sie. „Herr Rostau ist mit dem einen Herrn bereits fortgefahren. Bitte, die Fischgabeln, Fräulein, ich habe Forellen.“
Lucie gab still, was gefordert worden, dann ging sie unruhig durch die Zimmer, Hortense zu suchen, sie ängstigte sich um ihr verstörtes Wesen. Die junge Frau war nirgends zu finden. An dem Wohnzimmer stand sie still und pochte mit leisem Finger:
„Hortense, liebe Hortense, kann ich Dir etwas thun?“
Es blieb still dort drinnen. Durch die offenen Fenster neben ihr klang das Rollen der Kegelkugeln und die Stimmen der Herren. Sie faßte leise, ganz leise den Drücker, die Thür war verschlossen.
Hortense hörte es wohl, aber sie rührte sich nicht. Sie hatte ein Morgenkleid angezogen und lag regungslos auf dem Sofa, zur Decke emporstarrend, die mit geblümtem Stoff zeltartig bekleidet war. Ihr Gesicht glühte fieberheiß; das Herz schlug ihr zum Zerspringen vor Zorn und Weh. War sie denn in alle Ewigkeit dazu verdammt, unter dem Ruf ihres Vaters zu leiden? Mit welchem Rechte durften die Menschen frech und hämisch an sie herantreten und mit plumpem Finger an die wunde Stelle rühren? Sie lachte wieder auf. „Thörin!“ flüsterte sie.
Was hatte sie denn eigentlich gewollt? Wie kam sie dazu, plötzlich nachgiebigere Regungen zu verspüren, ihm mit der Annahme dieses Besuches eine Freude machen zu wollen? Dieses Besuches oder eines anderen! Sie kannte ja die Menschen nicht. Recht so, sie hatte ihren Lohn dafür erhalten!
Die funkelnden Thränen standen ihr in den Augen, während sie über sich selbst lächelnd die Schultern zuckte. Sie konnte es ihm noch nicht einmal klagen, sie konnte nicht bitten: „Beschütze mich, daß mir die Menschen nicht weh thun!“ Sie besaß sein Vertrauen nicht, und er nicht das ihre – und nie würde sie es besitzen; sie hatte es verscherzt; jetzt war es zu spät.
„Zu spät!“ wiederholte sie leise. Sie dachte daran, wie sie am Hochzeitsabend mit sich gekämpft, ob sie ihm sagen sollte: „Ich will Dir etwas erzählen, Du hättest es längst wissen müssen,“ und wie ihr Mund doch stumm blieb. Sie dachte, wie sie an der Seite seiner Mutter gesessen und unter dem milden Frauenblick das Eis an ihrem Herzen zu thauen begann; sie hätte die Arme um die Kniee der alten Frau schlingen mögen und ihr sagen: „Ich bin so namenlos schlecht, Mutter; ich habe Waldemar verschwiegen, daß die Leute mit Fingern auf die Löwens zeigen dürfen; ich habe nicht den Muth gefunden, aus Stolz – aus Furcht, er könne mich lassen.“
Umsonst! Der Bann auf ihren Lippen war auch da nicht gewichen. Sie hatte zum Aufbruch getrieben, gemeint, hier, allein mit ihm in der Stille ihres Hauses, würde es ihr leichter werden; aber sie schwieg auch hier, sie war scheu und absprechend gegen ihn und – allmählich war es zu spät geworden, zu spät!
Anfänglich war sie neben ihm geschritten, dann entfernte sie sich mehr und mehr von ihm und schritt am äußersten Rande des Weges, und jetzt hatte auch er die Mitte verlassen und ging am Rande, aber nicht an dem nämlichen wie sie, am entgegengesetzten. Der breite Weg lag zwischen ihnen; sie konnten sich die Hand nicht mehr herüberreichen, sie konnten nicht lesen, was im Auge des Andern stand, nicht hören, was ihr Mund flüsterte; kein Zweifel – Weber war müde geworden, er liebte sie nicht mehr!
Sie sah empor und preßte die Hände an die Schläfen. Draußen auf dem Korridore klangen wieder leichte Tritte und leises Klingen wie von einem Schlüsselbund. Mit finsterer Miene schaute sie nach der Thür.
Das war sie, die in der Mitte des Weges ging, zwischen ihnen, deren Ohr das Wort, deren Auge die Blicke auffing, die ihr zukamen, die es in alle Ewigkeit unmöglich machen würde, daß sie je wieder Seite an Seite mit ihm weitergehe!
„Hortense!“ rief die weiche liebliche Stimme.
Sie sah die Beiden in diesem Augenblick, wie sie heute früh durch die Allee schritten, eifrig sprechend, nachdem er für sie doch kein Wort gefunden. Da hatte sie sich auf ihr Pferd gesetzt und war stundenlang im Walde umher geritten, kämpfend, ringend, und mit den Regentropfen hatten sich ihre Thränen gemischt. Sie hatte unter einer Eiche gehalten am Waldessaume und in die nasse Landschaft geschaut, das Mittagläuten aus dem Dorfe war just herüber geklungen, als sie die Hände gefaltet und gesprochen: „Es soll anders werden! Ich will versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen, ich will da gehen, wo jetzt Lucie geht, will das thun, was sie vollbringt, die Mühen der Hausfrau auf meine Schultern nehmen! Ich ertrage es nicht, daß –“
Wie war ihr erster Versuch gleich so kläglich gescheitert! Sie fühlte, nun sei es mit ihrer Kraft wieder vorbei auf lange, vielleicht auf immer. Sie würde sich mehr und mehr auf sich selbst zurückziehen, und Lucie – ja, die würde neben dem Schlüsselkorb auch sein Herz eines Tages beherrschen, nicht daß sie betrügen wollte, nein, nein! – aber es würde sich so ganz von selbst machen, so naturgemäß! Und dann –
„Hortense, ich habe eine Bestellung von Deinem Mann; bitte, mach auf!“
Sie sprang empor. Wieder flog das verzerrte Lächeln um ihren Mund. Langsam ging sie hinüber und öffnete.
Luciens Augen hingen besorgt an ihr. „Hortense, Du bist krank, Du hast Dich erkältet heute früh,“ sagte sie ängstlich und legte ihre kleine kühle Hand auf die Stirn der jungen Frau.
Mit einer unwilligen Bewegung wich diese aus und trat zurück.
„Herr Weber läßt Dich fragen, ob es Dir angenehm ist, wenn er mit den Herren allein speist; Du könntest ja eine Unpäßlichkeit vorschützen, meint er.“ Sie sprach es stockend.
„Sehr einsichtsvoll!“ flüsterte Hortense, „natürlich! Mit Vergnügen.“
„Ich lasse unser Abendessen in das grüne Zimmer bringen, und wir speisen einmal wieder allein zusammen, Hortense, wie früher, ja? Willst Du?“
„Wie Du bestimmst.“
„Ich will ihm Antwort sagen lassen, Hortense, und noch einmal die Tafel inspiciren, dann bin ich gleich bei Dir, entschuldige einen Augenblick.“
[227] „O bitte,“ klang es gleichgültig. Die junge Frau wandte sich um und begann langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. Warum kam er nicht selbst? Hatte er wirklich nicht bemerkt, daß man sich unverschämt gegen sie betragen? Zürnte er ihr so bitter, weil sie diesen Besuch empfin? Er hatte sie so finster angesehen, als er sie bei den Gästen fand. Sie fing Alles ungeschickt an, sie konnte es Keinem recht machen. – Wie käme er auch dazu, darauf zu achten, ob man ihr die schuldige Ehrerbietung gewähre oder nicht? Wenn es Lucie gewesen – –.
Sie hielt an vor dem großen Stellspiegel und schaute hinein; ein heißes entstelltes Gesicht blickte ihr entgegen, die Augen verschwollen wie vom Weinen, der Morgenrock saß so nachlässig. Sie verglich sich mit der zierlichen biegsamen Gestalt in dem schwarzen Wollkleide, das weiße gestickte Schürzchen um die Hüften, die Sammetschleife im blonden Haar, das Schlüsselkörbchen am Arm, so schwebend, so frauenhaft mild und lieblich. War sie denn wahnsinnig gewesen, als sie darauf bestand, dieses Mädchen sich zur Seite zu stellen, mitherzunehmen in ihre junge Ehe?
Sie fuhr zusammen, eben trat Lucie herein. Sie trug ein thauig beschlagenes Glas auf dem Präsentirteller, ein paar Citronenscheiben schwammen darin.
„Trink’, Hortense,“ bat sie freundlich, „es ist Limonade. Du bist so heiß, armes Herz.“
„Ich danke,“ stammelte die junge Frau. Es wäre ihr unmöglich gewesenn, das Glas zu berühren.
„Willst Du auch nicht essen?“ fragte das Mädchen.
„Nein!“
„Soll ich Dir Deinen Mann schicken, Hortense? Vielleicht müßte man den Arzt fragen.“
„Ich will nicht, daß Du Waldemar schickst, er wird vielleicht – vielleicht von selbst – –“ Sie sank auf den nächsten Stuhl bei diesen Worten. sie fühlte, es war ihr nicht länger möglich, sich aufrecht zu halten.
„Hortense, komm, ich bringe Dich zu Bette,“ bat Lucie.
„Laß mich allein!“ rief heftig die junge Frau, unfähig sich noch länger zu beherrschen, „ich bitte Dich!“
Lucie stand regungslos; ein unendliches Erschrecken prägte sich auf ihrem Gesichte aus. „Bist Du mir böse? Was that ich Dir?“ fragte sie leise.
„Quäle mich nicht! Thue mir den Gefallen und laß mich allein!“
Still ging das Mädchen hinaus. Auf dem Korridor begegnete ihr die Jungfer; sie schickte sie hinein mit der Weisung, zu fragen, ob die gnädige Frau irgend etwas wünsche.
Ein Weilchen stand Lucie wartend; das Mädchen kam nicht zurück; Hortense hatte ihre Hilfe angenommen. Verständnißlos saß Lucie dann in ihrer Stube und fragte sich vergeblich, was sie Hortense gethan. Sie fand nichts. Eine große Bangigkeit, wie die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks, überkam sie; das Zimmer erschien ihr fremd und unwohnlich in der tiefen Dämmerung; sie zündete die Lampe an und meinte, so trübe habe sie noch nie gebrannt. Aus dem Gartensaal, der sich unter ihrem Zimmer befand, schollen die Stimmen der Tafelnden. Der Hausherr hatte hier serviren lassen, als wollte er die Gäste den Gemächern fern halten, die Hortense bewohnte.
Gegen halb zehn Uhr klopfte es an Luciens Thür; sie saß noch auf demselben Fleck. „Hortense!“ dachte sie und wandte den Kopf, es war Frau Rein.
„Ja ja, Sie sitzen hier und die gnädige Frau liegt drüben, und meine schönen Forellen stehen da unberührt im grünen Zimmer, und vom Rehbraten ist kein Stückchen gegessen.“
„Wie geht es Frau Weber?“ fragte Lucie.
„Sie liegt ganz still und rührt sich nicht. Der Herr war einmal bei ihr, wird aber ebenso wenig eine Antwort erhalten haben wie ich. Es sind lauter Räthsel hier im Hause, Fräulein,“ plauderte die alte Frau weiter und setzte sich behaglich auf einen Stuhl. „Der Officier, der so Hals über Kopf mit Herrn Rostau davon fuhr, ist vorhin allein wiedergekommen, dann ist er mit dem Hauptmann von Röder eine lange Zeit im Garten auf und ab gegangen, und nun wieder fort. – Ich wollte schon, die Herren gingen endlich ihrer Wege; ich habe Angst, die Gnädige ist kränker, als wir denken. Ich faßte einmal ihre Hand; sie war so heiß wie ein Plätteisen.“
Lucie hielt es nicht länger aus; sie schlich hinüber zu dem Schlafzimmer. Die rothe Ampel brannte unter dem Zeltdach; regungslos lag die junge Frau in den weißen Kissen. Leise trat das Mädchen an das Lager und bog sich herab.
„Hortense!“ flüsterte sie angstvoll, „laß mich bei Dir bleiben.“
Eine abwehrende Handbewegung war die einzige Antwort.
„Hortense, erbarme Dich, sage, warum Du mir zürnst! Wenn ich Dich gekränkt habe, will ich Dir abbitten, – Du weißt ja, wir hielten es immer so,“ flehte Lucie mit einer Stimme, die nach verhaltenen Thränen klang.
Hortense führ mit ihrer Hand an die Schläfen; es lag eine so nervöse Ungeduld in dieser Bewegung, daß Lucie sich wandte und ging.
Am anderen Tage saßen Lucie und der junge Hausherr
allein beim Mittagessen einander gegenüber. Hortense war nicht
aufgestanden; sie hatte sich durch Frau Rein Frühstück ans Bette
bringen lassen und dieselbe, so zu sagen, als Krankenwärterin
in Anspruch genommen. Waldemar Weber war den ganzen
Morgen schon mit besorgter Miene zwischen Hortense’s Lager
und seinem Schreibtisch hin und her gewandert. Nun aßen sie
schweigend, das heißt, Lucie nahm ein paar Löffel Suppe; es
ward ihr schwer, zu sprechen; die schlaflose Nacht, die Angst hatte
sie angegriffen. Sie hatte auf einmal das Gefühl verloren, als sei
sie hier daheim, und damit kam die Reue geschlichen über leichtsinnig Verlornes, so stark und weh, wie es noch niemals gewesen.
Sie hatte das Zimmer der jungen Frau nicht mehr betreten; aber sie glaubte doch jeden Augenblick, Waldemar oder die Jungfer oder Frau Rein würde kommen, um sie zu rufen. Vergebens!
„Darf ich bitten, Fräulein Lucie,“ sagte Waldemar am Schluß des Mittagessens, „daß Sie sich in ungefähr einer Stunde in mein Zimmer bemühen? Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen – eine Bitte.“
Sie nickte stumm.
„Ich fahre heute Abend fort und bleibe möglicherweise bis morgen Abend aus, ich habe dort – doch später davon, jetzt muß ich noch Einiges an meinem Schreibtisch besorgen.“ In der Thür wandte er sich noch einmal. „Was haben Sie mit Hortense?“
„Nichts! Ich frage mich vergeblich, was ich ihr gethan.“
„Sie wissen auch nicht, was gestern dieser Herr Rostau zu ihr sprach?“
„Nein, Hortense hat schon lange, lange kein Vertrauen mehr zu mir.“
„O, es ist nichts, wird nichts sein,“ tröstete er zerstreut und verließ das Zimmer.
Lucie machte einen Gang durch den Park. Sie pflegte sonst immer hinauszutreten, um einen Strauß Feld- oder Wiesenblumen für die junge Frau zu pflücken, heute unterließ sie es. Sie setzte sich außerhalb des Parkes auf einem Hügel nieder, an dessen Abhange sich die zum Gute gehörige Kirschplantage hinzog, und blickte in das Land hinein, bis wo die Berge sich dunkelblau am Horizont erhoben. Die Felder vor ihr waren abgeerntet, an den Zweigen der Ebereschen hingen die Beeren in purpurner Röthe, und da flog durch die warme Luft des Septembertages der erste Bote des Herbstes, ein langer silberglänzender Faden.
Sie saß da stundenlang, nur zuweilen den Kopf nach dem Park wendend, durch dessen üppiges Laub das Schlößchen schimmerte. Mitunter machte sie eine Bewegung, als wolle sie aufstehen und zurückkehren, blieb aber, einer andern Regung nachgebend, doch festgebannt an ihrem Platz. Endlich hörte sie Schritte und ging nun rasch dem Parkthore zu.
Hinter ihr kam ein Mann, ein Postbote, die kleine schwarze Mappe in der Hand. Er schritt grüßend an ihr vorüber. Als sie gleich nach ihm den Park betrat, wandte er sich: „Eine Depesche an Fräulein Walter.“
„Bitte, geben Sie.“ Sie bezahlte den Mann und las stehen bleibend:
„Baron gestern Abend Schlaganfall, einseitig gelähmt. Suchen
Sie Hortense schonend zu benachrichtigen.Auch das noch! Wie würde diese Nachricht auf Hortense wirken! Sie ging langsam dem Hause zu.
„Der Herr hat nach Ihnen gefragt, Fräulein,“ scholl Frau Rein’s Stimme aus dem Souterrain.
[228]
Sie hatte es ganz vergessen; nun konnte sie ihm zugleich Mittheilung machen von dem Telegramm; es war doch schließlich
seine Angelegenheit, Hortense vorzubereiten.
Er erwartete sie in seinem Zimmer. Die dunkelgrünen schweren Dekorationen machten es schon dämmerig, obgleich draußen noch das letzte Abendroth am Himmel schwamm; gespensterhaft leuchteten die Gesichter der Reiterinnen und Jäger auf den Gobelins in dem grauen Zwielicht. Der weiche Teppich machte die Schritte des Mannes, der vor dem Kamin auf- und abwandelte, ganz unhörbar. Nun blieb er stehen.
„Ich habe eine Bitte an Sie,“ begann er, „eine große Bitte –“ er sprach langsam, „morgen früh schieße ich mich mit Rostau – und –“
Ein leiser Schreckensruf antwortete ihm.
„Ruhig!“ fuhr er noch leiser fort. „Sie wissen, weßhalb. Ihrer Diskretion bin ich versichert. Hier in meinem Schreibtisch, im Schube rechts, liegt mein Testament und ein Brief an Hortense, für den Fall, daß – Sie verstehen mich wohl. Hier übergebe ich Ihnen den Schlüssel. Ich habe nur noch die innige Bitte an Sie: verlassen Sie das arme Wesen nicht; sie wird Ihrer Freundschaft bedürftiger sein, denn je! Ich habe ihr gesagt, daß ich zu einer Abendgesellschaft geladen bin, an die sich morgen eine Hühnerjagd anschließen wird, habe auch bereits Abschied von ihr genommen. Sie ahnt ja nichts, sie hat mir nicht einmal die Hand gedrückt. In dem Briefe dort –“ er brach ab – „auch Sie, Lucie, sagen Sie es ihr später noch einmal, daß ich sie sehr geliebt habe.“
Er hatte des Mädchens Hand ergriffen und zog sie an seine Lippen.
„Leben Sie wohl, Lucie, vielen Dank! Der Wagen wartet; Gott gebe uns ein Wiedersehen!“
Er ergriff hastig Hut und Ueberzieher und verließ eilends die Stube.
Lucie, die einen Augenblick regungslos gestanden, eilte jetzt zur Thür des Ankleidezimmers hinüber, welches sich neben der Schlafstube befand, sie wußte nun, daß sie Hortense nicht einen Augenblick allein lassen dürfe; alles Andere war vergessen. Betroffen wich sie zurück, hinter den Vorhängen stand – Hortense.
„Ich habe Dich erschreckt?“ fragte die junge Frau unheimlich ruhig. „Verzeih!“
„Einen Augenblick nur, Hortense. Gott sei Dank, daß es Dir besser geht!“
„Komm her,“ sprach die junge Frau und faßte Luciens Hand, „setze Dich da, neben mich –“ sie drückte das bebende Mädchen auf einen Divan. „Ich will Dich um etwas bitten.“
„Bitte, Hortense.“
„Geh fort von hier – wenn es Dich nicht schon zuviel kostet, sonst – will ich es thun,“ stieß sie hervor.
„Ich verstehe Dich nicht, Hortense, bis auf das Eine, daß ich Woltersdorf verlassen soll.“
Die junge Frau in ihrem weißen Morgenkleide bebte an allen Gliedern. „Lucie, Du sagtest immer, Du habest mich lieb. Wäre es wahr gewesen, müßtest Du schon lange –“
„Gegangen sein?“ schrie das Mädchen auf.
„Ja, Du mußtest sehen, wie ich litt.“
„O, war ich denn blind bisher?“ jammerte Lucie. „Hortense, was verbrach ich nur, daß Du mir dies anthust, daß Du mir das Schlechteste zutraust, was man von einem Mädchen glauben kann, daß Du mir nachschleichst, um –“ Sie war plötzlich auf den Füßen. „Leb’ wohl, ich gehe!“
„Bleib’; ich bin noch nicht fertig, Lucie, Du sollst erst wissen –“
„Ich will nichts wissen, Du hast mich auf den Tod beleidigt!“
„Luz! Nein, bei Gott, ich bin Dir nicht nachgeschlichen!“ rief Hortense. „Ich denke nicht schlecht von Dir! Ich wollte Waldemar Adieu sagen; mich trieb es mit sonderbarer Angst zu ihm, und da – o Luz, Du kannst ja nicht dafür, er mußte Dich ja lieb gewinnen, Du bist der Sonnenschein im Hause, das einzig Lichte für ihn. Ich – wenn Du nicht gewesen, wer weiß, ob er es so lange ertragen hätte mit mir!“
[229] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
Sie glitt vor Lucie auf die Erde und umfasste ihre Kniee.
„Lucie, Du mußt es hören, mußt wissen, daß ich ihn liebe, daß
ich ihn Dir nicht gönnen will, nein – ich will, ich kann es
nicht! Sage mir die Wahrheit, was ist hier eben geschehen?
Bin ich ihm gleichgültig geworden? Hat er Dir – gestanden?“
Lucie sprang empor, bebend, glühend. Sie faßte sich an die Stirn und stieß mit der andern Hand die junge Frau zurück, die noch immer auf den Knieen vor ihr lag.
„Sprich, Lucie!“
„Ja!“ sagte das Mädchen mühsam die Worte hervorstoßend, „ich will sprechen – ich breche mein Wort, aber Du, Du bist schuld daran, nicht einen Augenblick darf ich die Rechtfertigung des Mannes aufschieben, der hier eben vor mir gestanden. Er trug mir Grüße auf für Dich, er bat mich, Dir zu sagen, daß er Dich mehr geliebt, als Du je geahnt, er bat mich, Dich nicht zu verlassen, wenn –“ sie stockte.
Hortense verharrte regungslos; ihre weiße Gestalt zeichnete sich deutlich ab gegen den dunklen Teppich, auf dem sie knieete.
„Wenn ihn ein Unglück treffen sollte,“ vollendete Lucie, „er schießt sich mit Rostau Deinetwegen.“ Das Letzte war fast unverständlich.
Hortense gab keinen Laut von sich.
„Steh’ auf!“ sagte Lucie fast rauh. „Dort in dem Schreibtisch liegt sein Abschiedsbrief.“ Und sie faßte den Arm der jungen Frau. „Steh’ auf! Ich konnte Dir diese Stunde nicht ersparen, Deinet- und seinetwegen nicht. Ich will bei Dir bleiben bis morgen, wie ich ihm versprach, und Dir tragen helfen; dann gehe ich. Komm, fasse Dich!“
Hortense richtete sich empor, langsam, als sei sie nicht Herr ihrer Glieder.
„Den Wagen,“ flüsterte sie, „ich will zu ihm; den Wagen!“ Und sie war im nächsten Augenblick an der Thür und drückte den Knopf der elektrischen Klingel.
„Wozu das?“ sagte Lucie, „wir wissen Beide nicht, wohin er gefahren. Sieh ein, daß, selbst wenn Du ihn erreichen könntest, Dein Erscheinen ihm unnütze Aufregung bereiten würde in einem Augenblick, wo er so besonnen wie möglich bleiben muß. Eine Flasche Selterswasser!“ wandte sie sich an den Diener, der eben eingetreten war. Nun trat sie nahe zu der jungen Frau „Fasse Dich, ertragen muß es sein; ich konnte nicht anders handeln!“ Ihre Stimme hatte einen ungewohnten Tonfall, aller Klang schien daraus entschwunden und als sie das Licht auf dem Schreibtisch anzündete, trafen seine Strahlen unheimlich veränderte Züge. Es war das weiche traurige Mädchenantlitz nicht mehr; es war ein hartes Gesicht, dessen Lippen im Schmerz zuckten.
Hortense saß wie vernichtet auf dem kleinen Stuhle, dessen Lehne, aus dem Geweih eines Schauflers hergestellt, ihr kaum eine Stütze bot. Sie hielt die Hände in einander gelegt auf dem Schoß und starrte vor sich hin.
„Trinke,“ bat Lucie und reichte ihr ein Glas Selters, das sie eben eingeschenkt.
Hortense hob den Blick, und die Beiden sahen sich an; in den Augen Luciens lag der Ausdruck, den Hortense schon einmal gesehen, als nach Empfang der Todesnachricht Mathildens das Mädchen vor sie getreten war, drohend und verächtlich.
„Lucie, verlaß mich nicht!“ stotterte sie.
„Ich bleibe bei Dir, bis er wiederkehrt, Hortense.“
„Bis er wiederkehrt! Wird er wiederkehren? Nein, Lucie, ich ertrage die Qual nicht, ich glaube, ich verliere den Verstand!“
Sie schritt im Zimmer auf und ab und blieb vor dem Schreibtisch stehen. „Wo liegt der Brief?“
„In dem oberen Schube, rechts. Hier ist der Schlüssel.“
Hortense nahm mit zitternden Händen das Schreiben von der bezeichneten Stelle, setzte sich an den Tisch und las:
„Wenn Du dieses Blatt Papier in der Hand hältst, so bist Du frei, Hortense, bist Du Wittwe. Fast wünsche ich, daß ich nicht umsonst geschrieben: sehe ich doch, daß Du nicht glücklich neben mir bist; glaub’ ich doch zu wissen, daß Du nie ein Herz zu mir fassen wirst. Ich habe schwerer darunter gelitten, als ich es Dir zeigte. Zürnen darf ich Dir nicht. Du hast mir nie eine Zuneigung
[230] geheuchelt; es war vermessen von mir, zu glauben, daß eine so treue tiefgefühlte Liebe, wie ich sie Dir entgegengebracht, nothwendig früher oder später Erwiederung finden müsse. Ich habe mich geirrt! Das ist meine Schuld! Ich schlage mich mit Rostau, Du wirst das Nähere von Lucie erfahren.
Leb’ wohl, Hortense, hab’ Dank auch für das Wenige, was
Du mir gegeben; mögest Du glücklicher sein in Deinem späteren
Leben! Waldemar.“
Eine dunkle Röthe hatte allmählich ihr Gesicht überzogen; sie breitete die Arme über das Papier und barg ihr Gesicht hinein, ihr Körper bebte. „Er wird sterben, weil ich ihn liebe – um meinetwillen! Und ich kann ihm nicht mehr sagen, daß er mir so theuer ist wie Nichte auf der Welt!“
Wieder sprang sie auf „Rede, weßhalb er Rostau forderte! Bloß weil er sich taktlos benahm? Er hat ja nicht hören können, was dieser Mensch zu mir sprach.“
„Er hat Deinen Vater und Dich beschimpft, Hortense. Erinnere Dich des Briefes, den Peter brachte, als Ihr eben zum Standesamt fahren wolltet! Dein Mann hat sich damals schon vorgenommen, ihn zu fordern, wußte aber nicht mit Bestimmtheit, ob er wirklich der Schreiber sei, und außerdem hielt sich Rostau bis jetzt in Schweden auf.“
„Waldemar wußte von Papa? Wußte –?“
„Alles, Hortense, schon ehe er ein Wort mit Dir gesprochen, ehe er Dich gekannt.“
„Er ist in A., Lucie, ich weiß es!“ rief die junge Frau, „wo sollte er sonst auch sein? Rostau’s Gut liegt in der Nähe. Ich muß ihn sprechen – hörst Du – ich muß! Ich fahre hinüber, hindere mich nicht!“ Abermals klingelte sie, daß es durch das Haus scholl. „Er muß in A. sein, glaubst Du nicht? Lucie, ich bitte Dich, sprich ein Wort! Die Hella vor den kleinen Wagen, und halten Sie sich bereit, mitzufahren!“ befahl sie dem eintretenden Diener.
Stillschweigend trug Lucie Sachen herzu. Tücher und Mäntel, und stumm schwang sie sich neben Hortense auf den hohen Sitz. Und nun sauste das feurige Thier mit dem leichten Gefährt durch die dunklen Alleen des Parkes und flog in das Freie. Der Mond sandte durch Wolken ein schwaches Dämmerlicht, wie ein weißer endloser Streifen lag die Chaussee vor ihnen. Hortense ließ das Thier wie rasend gehen; die ganze große Leidenschaft, deren sie fähig, preßte sich auf ihrem schönen Gesichte aus, das unter dem dunklen Filzhütchen wie Marmor hervorleuchtete. Beide schwiegen.
Sie hatten ein Dorf zu durchfahren, es lag schon im tiefen Schlafe; aus den kleinen Gärten kam der Duft von Reseda, hier und da war noch ein Fenster hell, ein Hund wurde wach und bellte hinter dem Wagen drein. Vor dem Chausseehause am Ende des Dorfes lag der Schlagbaum nieder, Hortense pochte mit dem langen Peitschenstiel an das Fenster. Niemand antwortete. Eine furchtbare Ungeduld malte sich in ihren Zügen.
Plötzlich wandte sie um, fuhr im Trab ein Stück zurück, bog in einen Feldweg und kam jenseit des Chausseehauses durch den nicht allzu tiefen Graben wieder auf die Landstraße. Das Gefährt hatte dabei fast auf der Seite gelegen. Der Diener murmelte etwas zwischen den Zähnen, sie schien es nicht zu bemerken. Lucie hatte sich krampfhaft an die niedrige Sitzlehne gehalten, sie sah noch blasser aus als vorher, aber kein Schreckenslaut war über ihre Lippen gekommen. Hella sprang nach einem Peitschenhieb in Galopp an, der sich in einen schlanken Trab verlor, und da, am Ende des Weges, schimmerten bereits die Thürme der Stadt.
Nach wenig Minuten rasselte der Wagen über das Pflaster der stillen Gassen und hielt vor dem einzigen anständigen Hôtel des Ortes, dem Gasthof zur „Goldenen Forelle“. Das Thier zitterte und war mit Schaumflocken bedeckt, Hortense hatte kein Auge für den sonst so gehätschelten Liebling. Ein Kellner kam schlaftrunken aus dem schwach erleuchteten Thorwege daher, und der Hausknecht läutete die Glocke.
„Ist Herr Weber aus Woltersdorf hier?“
„Nein, gnädige Frau.“
Die Hand mit dem Zügel sank herab. „Nicht hier? Wirklich nicht?“ klang es noch einmal mit versagender Stimme.
„Nein!“
Sie lenkte um. Schritt vor Schritt fuhr sie zurück.
„Gnädige Frau nehmen den falschen Weg. Bis E. kommen wir nicht mehr mit der Hella, es sind über drei Meilen,“ wagte der Diener zu erinnern, als sie vor der Stadt rechts ablenkte.
Sie mochte es einsehen und zog das Thier zurück.
„Sie hinkt stark, gnädige Frau.“
Es war in der That so. „Es sollte nicht sein!“ murmelte sie.
Langsam, wie ein Trauerwagen, fuhren sie durch die kühle Nacht die zwei Meilen zurück. Als sie in Woltersdorf ankamen, lag schon das Morgengrauen über Park und Schlößchen; in den Kastanien lärmten die Sperlinge und auf dem Hofe war es bereits lebendig. Feucht vom Nachtthau und erfroren betraten sie das Haus. Hortense ging wieder in sein Zimmer, Lucie bestellte Thee. Sie trat dann einen Augenblick in ihre Stube, um ein wärmeres Kleid anzuziehen. Da knisterte ein Papier in der Tasche, schreckhaft kam ihr die Erinnerung an den Kranken in Hohenberg; jetzt durfte sie Hortense nichts sagen. Sie setzte eine Depesche auf mit der Anfrage, wie es heute gehe? Herr Weber sei leider abwesend, Hortense nicht wohl, und sie habe deßhalb gezögert, es ihr mitzutheilen, sie bitte um Nachricht.
Sie kam wieder herüber und saß getreulich neben Hortense. Erschöpft und fiebernd lag die junge Frau auf dem Sofa; Frau Rein blickte ab und zu mit besorgter Miene herein.
Kein Wort war noch gewechselt zwischen den Beiden. Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster lugten, griff Hortense nach des Mädchens Hand:
„Bete für mich – ich kann nicht!“
Lucie holte das kleine in schwarzen Sammt gebundene Gebetbuch Hortense’s, in dem für jeden Tag des Jahres ein Bibelspruch verzeichnet war. Sie schlug den 8. September auf: „Sei getreu bis in den Tod,“ las sie. Es war merkwürdigerweise der Trauspruch.
Die junge Frau wandte sich ab, die Hände vor dem Gesicht gefaltet; so blieb sie regungslos. Unheimlich still war es; die Dienerschaft schlich auf den Fußspitzen umher, als sei ein Todter im Hause. Im Eßsaal klirrten leise Teller und Tassen und scheu lugte der Kopf der alten Rein in das Zimmer.
„Fräulein, was auch geschehen sein mag, essen Sie etwas, sorgen Sie, daß auch die Gnädige etwas nimmt! Essen und Trinken muß der Mensch, wie will er sonst Schweres ertragen!“
Lucie trank ein paar Schlückchen Thee, Hortense wies Alles zurück.
Wer weiß genau zu sagen, wie solche Stunden vorüber gehen? Es wurde hoher Morgen, es wurde Mittag, das Bild im Zimmer des Hausherrn war dasselbe noch, zwei schweigende Frauen, auf denen der Bann der Angst lag, die sie so starr machte, als hingen sie an einem Abgrund und die leiseste Bewegung lockerte das Bischen Boden, auf dem ihr Fuß noch schwebte, um mit ihnen hinabzustürzen. Mitunter zuckte Hortense empor, dann schien es ihr, als habe sie einen Wagen gehört.
Lucie schickte Frau Rein endlich nach dem Thurmzimmer, und die Alte stand dort und schaute, die Hand über die Augen gelegt zum Schutz gegen die strahlende goldene Septembersonne, und spähte nach der Anhöhe, über welche die mit Ebereschen besetzte Chaussee lief, und nach dem Wagen ihres Herrn. Lieber Himmel, was mochte dort unten wieder für ein finsteres Stückchen Schicksal durchgekämpft werden? Sie glaubte nicht an das Märchen, das Fräulein Walter ihr vorgesprochen; sie war zu lange schon auf der Welt und hatte Manches erlebt. Hühnerjagd? Ja, ja, sie kannte das, sie hatte es einmal mit angesehen, wie von solcher Jagd Einer starr und leblos hereingetragen worden, „ein unglücklicher Zufall“ hatte es geheißen. „Gott schütze unsern Herrn vor solchem unglücklichen Zufall! Der schlechte Mensch, der Rostau!“
Und endlich kam etwas über den Berg und bewegte sich langsam vorwärts. Die alte Frau hatte scharfe Augen, sie meinte Pferde und Wagen zu erkennen, es machte sie nur irre, daß Johann gar so langsam fuhr, es war seine Art nicht. Sie stand und stand; nun waren es doch die Füchse, die so mager und hungrig aussahen und so rasch laufen konnten. Sie stieg eilig das schmale Treppchen hinab und winkte unter den Thürvorhängen verstohlen Lucie zu.
„Was ist’s?“ fragte Hortense, die gefühlt, daß das Mädchen sich von ihrer Seite erhob, und in ihren Zügen spiegelte sich eine tödliche Angst.
[231] „Ich glaube – der Wagen,“ sagte Lucie, und auch sie fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen drang.
Hortense wollte aufstehen, aber die Füße trugen sie nicht, sie blieb sitzen, den Kopf nach der Thür gewandt. Die dunkelblaue Sammtschleife, die sie um den Hals trug, bebte in raschen Schlagen, ihre Hände stützten sich gegen die Polster der Lehne.
Nun knirschten die Räder auf dem Kies und verstummten. Und nach einem Weilchen kamen Schritte die Treppe empor.
Die junge Frau stand plötzlich auf den Füßen und eilte zur Thür hinüber, draußen war seine Stimme erklungen: „Ein kleines Malheur, beste Frau Rein weiter nichts – wo ist meine Frau?“
Hinter Lucie fielen im selben Augenblick die Vorhänge zu; sie schritt eilig durch das Eßzimmer in ihre Stube, ein erlösender schluchzender Schrei hallte ihr nach: „Waldemar! Ach, Waldemar!“ wie ihn nur Der ausrufen kann, der dem Tod noch eben ins Auge blickte und nun plötzlich in lachendes Leben schaut.
Sie stand vorerst wie betäubt in dem trauten rosengeschmückten Stübchen, dann riegelte sie die Thür hinter sich zu. So hatte sich denn erfüllt, was ihr Alle prophezeit: Hortense wendete sich von ihr. Was sollte nun werden? Sie begann alles Mögliche aus den Schubkästen zu nehmen, sie holte ihre Kleider aus dem Wandschrank und warf sie auf einen Stuhl – man würde ihr das ja nachschicken können, nur fort, so bald wie möglich!
„Fräulein, ich bitte,“ rief Frau Rein, „der Herr Doktor gebraucht alte weiche Leinewand.“
Sie stand einen Augenblick zögernd, dann kam sie mit den Schlüsseln heraus.
„Sie wissen, Frau Rein, wo sie liegt. Ich –“
„Sie sehen ja entsetzlich aus!“ rief die kleine alterirte Frau, „legen Sie sich schlafen auf ein Stündchen. Sie wissen doch, der Herr hat einen Schuß durch den Arm? Nicht gefährlich, aber schmerzhaft, ein ‚unglücklicher Zufall auf der Jagd‘! Na, es passirt so, und man kann Gott danken, wenn das ‚Hühnerschrot‘ keinen größeren Schaden thut.“ Sie war bei diesen Worten schon am Ende des Ganges und verschwand in einer Thür.
Lucie überlegte weiter, während sie sich das Nöthigste für die Reise zurecht legte, ihr Haar flocht und das Gesicht mit kaltem Wasser wusch. Ihr war so unheimlich nüchtern, so kühl zu Muthe, als sei da innen in ihrer Brust Alles todt und still. Zu Georg? Wenigstens vorläufig. Wenn er sie nicht aufnahm, dann – sie hatte eine Schulfreundin im Dorfe, die seit Kurzem verheirathet war, ein Unterkommen von ein paar Tagen würde man ihr ja gewähren.
Frau Rein brachte die Schlüssel wieder. Lucie legte sie in den Korb, die Wirthschaftsbücher rechnete sie nach, und die kleine Geldwanne nahm sie aus dem Mittelfach, sie setzte sich dann an den Tisch, um ein paar Worte an Hortense zu schreiben. Der Zug, den sie benutzen konnte, fuhr erst gegen Abend, sie wollte bis zur Haltestelle gehen; diese mochte kaum eine halbe Stunde entfernt sein. Abschied zu nehmen würde ihr unmöglich sein. Auch war es Nachmittag geworden, Niemand hatte bisher nach ihr gefragt –.
Sie räumte die Sachen alle wieder fort, nur der Regenmantel, die kleine Reisetasche und der Schirm lagen bereit. Dann saß sie müßig am Fenster und blickte mit brennenden Augen auf den plätschernden krystallklaren Wasserstrahl, der aus der umgestürzten Amphore des ziegenhujigen Fauns sprudelte, welcher mit verschmitztem Gesicht inmitten der Nymphenschar stand.
Allmählich wurde es auch wohl Zeit zum Gehen.
Sie trat vor den Spiegel und setzte das Hütchen auf die blonden Flechten; da öffnete sich die Thür hinter ihr, und in dem Glas sah sie Hortense’s Gesicht, blaß, mit großen erschreckten Augen.
„Was willst Du thun, Luz?“ und ihre Blicke flogen über die kleinen Reisevorbereitungen.
Das Mädchen hatte sich gewandt. „Gehen will ich, wie ich Dir versprach.“
„Lucie!“ rief die junge Frau schmerzlich, „wiegt denn ein Wort, in der Verzweiflung gesprochen, so schwer, daß Du nicht verzeihen kannst?“ Und sie schlang, in Thränen ausbrechend, die Arme um den Hals des stillen Mädchens. „Bleib’ bei uns, wir haben Dich Beide so herzlich lieb! Ich war wahnsinuig, als ich glaubte, er habe sich von mir gewandt, ich weiß es ja so genau seit ein paar Stunden, seit dieser Nacht schon, daß ich nicht einen Augenblick aus seinem Herzen verdrängt bin! Verzeihe mir und laß mich gut machen, was ich Dir gethan –“
„Nein, Hortense, es ist besser so, und am besten – wir machen rasch ein Ende.“
„Ich will nicht, Luz! Stoße mich nicht zurück; ich habe Dir so unendlich viel abzubitten. Sei nicht so furchtbar hart!“
Sie drängte das Mädchen zu dem kleinen Sofa hinüber. „Ich will Dich für Alles um Verzeihung bitten in dieser Stunde,“ fuhr sie fort, „nichts will ich beschönigen! Ich habe Dich gelehrt, unzufrieden sein mit dem bescheidenen Lose, das Du erwählt; ich habe Dich umhergezerrt in der Welt und Dich gehindert, Deine Pflicht zu thun bei Deiner sterbenden Schwester. – Vergieb, Lucie, ich wußte bis jetzt nicht, was es bedeutet: Liebe! Friede!“ Sie preßte die kleine kalte Hand demüthig an ihren Mund und blickte sie mit überströmenden Augen an. „Vergieb mir und beweise, daß Du mir verziehen, indem Du bei uns bleibst!“
„Ich habe Dir nichts zu vergeben, Hortense; beschäme mich nicht, indem Du mich als ein völlig willensschwaches Geschöpf hinstellst! Ich war kein Kind mehr; was ich gethan und gefehlt – ich allein trage die Schuld – Und nimm auch Dank von mir,“ fuhr sie fort, als Hortense sprechen wollte; „Du hast mich viel Schönes und Herrliches kennen gelehrt, die Erinnerung daran und an Dich wird mich immer sehr beglücken. Laß mich aufstehen, Hortense, ich will! Ich muß!“
„Der Herr läßt bitten, die Damen möchten einmal hinüber kommen,“ bestellte der Diener, vor der Thür sprechend.
Lucie nahm die Handschuhe. Sie sah an Hortense vorüber. „Komm,“ sagte sie, „ich will auch Deinem Mann noch danken.“
Er lag auf dem Sofa in seinem Zimmer, den Arm verbunden. Ein Tischchen mit Wasserkaraffe, Eisstückchen und allem Möglichen, was man bei solcher Gelegenheit braucht, neben sich. Still schritt Hortense zu ihm hinüber, und vor dem Lager niederknieend, sagte sie weinend: „Sie will fort, Waldemar, sie läßt sich nicht versöhnen.“
Er hatte dem Mädchen ernst die Hand entgegengestreckt, die ein Blatt Papier hielt. „Lesen Sie, Fräulein Walter, eben kam das Telegramm.“
Lucie erschrak. „Mein Gott, ich hatte gestern nicht den Muth, davon zu sprechen. Haben Sie Nachricht? Wie geht es dem Baron?“
Hortense sah fragend von Einem zum Andern.
„Dein Großpapa ist unpaß; es ist nicht gefährlich, er hat eine kleine Lähmung,“ erklärte er ihr und strich leise und zärtlich über ihre blassen Wangen. „Und nun will er Dir Lucie wegkapern. Mademoiselle steht händeringend, sie möge kommen; es sei mit dem alten Herrn, dem es sonst nicht schlechter geht, kaum zum Fertigwerden.“ Und zu dem Mädchen gewendet fragte er: „Wollen Sie es thun, Lucie?“
Sie stand und sah mit den müden Augen durch das Fenster. Es war ja am Ende so grenzenlos gleichgültig, wo sie ihre Tage verbrachte. Einen flüchtigen Moment durchzuckte sie der Gedanke an Adler; aber was hatte sie mit ihm noch zu thun? „O gewiß, gern, wenn ich nützen kann,“ sprach sie tonlos.
„Luz, bleibe hier!“ schluchzte Hortense. „Luz, ich bitte Dich –“
Sie blickte auf die junge Frau, die noch immer neben ihrem Mann knieete, von seinem gesunden Arm fest umschlungen. Was sollte sie hier? Leise schüttelte sie den Kopf. „Laß mich gehen, es ist –“
„Wenn Sie lieber hier sind, Lucie –“ begann er herzlich. „Glauben Sie, Sie sind uns stets eine liebe Hausgenossin; Großpapa findet wohl eine andere Pflegerin.“
„Nein, nein, ich danke, ich gehe nach Hohenberg.“
„Eigentlich müßte ich zürnen mit Ihnen,“ sprach er freundlich ernst, „wie haben Sie die arme kleine Frau in Angst versetzt! Es soll Ihnen aber verziehen sein, Lucie; denn ohne diese Angst wüßte ich vielleicht noch zur Stunde nicht, wie sehr ich geliebt bin.“
Sie nahm die dargebotene Hand. „Ich konnte nicht anders,“ sagte sie, und eine tiefe Röthe stieg in ihr Gesicht. „Leben Sie wohl, Herr Weber, werden Sie bald gesund! Hortense, ich will nun gehen. Lebt wohl!“
„Gehen?“ rief er, „das fehlte noch; bitte, klingele, Hortense.“
[232]
[233] Die junge Frau trat mit unsicheren Schritten zur Glocke; dann folgte sie stumm dem Mädchen in ihr Zimmer. „Ich komme mir so schlecht, so grenzenlos schlecht vor,“ flüsterte sie.
„Warum, Hortense? Sieh, ich könnte ja hier bleiben. Ihr habt es mir so freundlich angeboten! Daß ich gehe, ist mein freier Entschluß. Lebe wohl!“ Sie schluckte herzhaft die Thränen hinunter. „Die Sachen – Du läßt sie mir wohl nachschicken? Werde nicht krank, Hortense, Du siehst so blaß aus. Wenn Du mich einmal brauchst – es kann ja sein – Du weißt, ich komme. Hier, ich hätte es fast vergessen, die Schlüssel, Deine Schlüssel. Kannst Du mir verzeihen, daß ich – es war nur das Verlangen, Dir nützlich zu sein.“
Sie war die Treppe hinunter geschritten; der Wagen hielt vor dem Portal, derselbe, der sie einst hierher gebracht.
Hortense sprach nicht mehr; sie mußte die Lippen zusammenpressen, um nicht vor den Dienstleuten laut aufzuschluchzen.
„Ich werde Deinen Großpapa gut pflegen,“ sagte Lucie und ihr blasses Gesichtchen bog sich noch einmal aus dem Wagen zu ihr hinunter; noch einmal drückten sich Mund auf Mund, Hand in Hand; dann zogen die Pferde an und der Wagen rollte durch den Park.
Hortense wandte sich und flog die Treppe hinauf und weinte am Halse ihres Mannes; es war als könne sie nicht aufhören. Es weint sich so süß ein Kummer aus, wenn man ein sicheres großes Glück besitzt.
Lucie weinte nicht, während sie in den sinkenden Abend hineinfuhr. Auf der ganzen weiten Welt hätte sie kein einziges Herz gewußt, bei dem sie sich ausweinen durfte, keines.
Im Lenz.
Die Höhen umwebt ein blauer Duft,
Die Thäler durchfächelt mild die Luft;
Es knospet und treibt mit stiller Macht –
Der Lenz ist gekommen über Nacht:
Es flüstert im Walde, es blüht im Hag,
Und Glocken verkünden den Ostertag.
Das Dörfchen ruht noch wie im Traum,
Doch ringsum grünt es an Strauch und Baum,
Und die Zweige klopfen ans Fensterlein
Und nicken in dumpfe Stuben hinein:
Und Menschenherzen, auf, erwacht,
Die Lerche singt, die Sonne lacht!
Die Blumen sind da und das Osterfest!
Verjaget die Sorgen und vergeßt
Des Lebens Mühe, des Winters Qual!
Das predigt der Frühling im blühenden Thal
Und hat seine Kirche sich gebaut,
So weit nur immer das Auge schaut.
Da drängen die Kinder zuerst hinaus
Aus engem, winterlichem Haus;
Sie springen so fröhlich im luft’gen Gewand
Und reichen dem Lenze die kleine Hand;
Sie pflücken Blüthen im Sonnenschein
Und schauen so hell in die Welt hinein.
O folge still deines Kindes Spur
Und schmiege dich fromm ans Herz der Natur!
Was dich auch quält, verzage nicht,
Thu’ auf deine Seele dem Sonnenlicht!
Dann fühlst du in blühender Lenzeszeit
Des Kindes Osterseligkeit. Anton Ohorn.
Allerlei Nahrung.
Könige reisen nur selten ohne Gefolge und auch nur dann, wenn sie in Folge von Niederlagen und Revolutionen froh sein müssen, mit heiler Haut davonzukommen. Königinnen haben wenigstens eine treue Kammerfrau mit sich, welche bei strengster Wahrung des Inkognito mit einem Billett zweiter Klasse reist, während die Herrin in einem Koupé erster Klasse Platz nimmt.
Die Auster ist die Königin unter den Muschelthieren, wenn es sich um materielle Genüsse handelt, die Miesmuschel ist die plebejische Kammerfrau, die ihre Herrin in zweiter Klasse begleitet. Sie kommt nicht so weit wie die Auster, wird weniger gern und nur in ganz besonderer Toilette zu festlichen Tafeln beigezogen, behauptet aber ihren Rang an dem Tische des zweiten und dritten Standes, ganz besonders in ihrem heimathlichen Gebiete.
Die Miesmuschel ist nicht sehr wählerisch in Bezug auf ihren Wohnsitz. Sie steigt aus dem Meere in das Brackwasser, ja in fast ganz süßes Wasser hinan: sie siedelt sich sogar über der Grenze der Ebbe an, so daß sie täglich mehrere Stunden auf dem Trockenen liegt, und kümmert sich wenig um Sand, Schlamm und Schlick, obgleich sie reines und ganz besonders bewegtes Wasser vorzieht. Mit ihren Byssusfäden, die sie aus einer Drüse neben dem Fuße spinnt, legt sich die Miesmuschel förmlich vor Anker und bietet den heftigsten Strömungen Trotz. An den Küsten des Kanals wie an denen Schottlands und Norwegens kann man Stellen genug finden, wo bei dem Anprallen der Fluthwellen wie bei dem Rückzüge der Ebbe die Gewässer sich tosend zwischen Felsen durchdrängen, die über und über mit Miesmuscheln bedeckt sind. An vielen Küsten sieht man bei Ebbe meilenweit einen dunklen violetten Saum sich erstrecken: es sind dicht zusammengedrängte Miesmuscheln, die sich unmittelbar unter der Fluthgrenze angesiedelt haben; bei Bergen in Norwegen sah ich seichte Uferbecken, welche bei der Fluth sich mit Meerwasser, bei der Ebbe mit süßem Wasser füllten und deren Boden mit Miesmuscheln gepflastert war.
Ueberall, von Inverneß in Schottland und Ellerbeck in der Kieler Bucht bis nach Otranto und Triest sehen wir dieselben Einrichtungen zum Fange und zur Züchtung der Miesmuscheln, deren man sowohl zur Nahrung, als auch zu Ködern für den Fischfang benöthigt. Seebarsche, Knurrhähne und Schellfische beißen am liebsten an Angeln, welche mit den orangegelben Körpern der Miesmuscheln angeködert sind. Die Küstenbewohner haben ihre Züchtungsmethode der Thatsache abgesehen, daß die Miesmuscheln sich überall ansetzen, an Felsen wie an Holzpflöcke, ja selbst an schwimmendes Holz, an Landungsbrücken, Dammverschalungen und Flöße. Die „Muschler“ rammen Pfähle ein, die sie mit Reisig bekleiden, oder Bäume mit Aesten und Zweigen, verbinden dieselben wohl auch, wie bei Otranto, mit Seilen aus Spart gedreht und warten ruhig drei bis vier Jahre, bevor sie diese so einfachen Fangmaschinen ausziehen und ablesen. Die schwimmenden Larven der Miesmuscheln setzen sich an diese Fänge, wachsen und gedeihen, bis sie marktfähig sind. Die ganze Arbeit der Miesmuschelfischer beschränkt sich also auf das Einrammen und Ausziehen ihrer Faschinenpfähle – alles Uebrige wird der Natur überlassen. Der Austernzüchter hat dagegen beständig mit Reinigen, Umlegen und Bewirthschaftung seiner Parks zu thun; der Auster haftet demnach, abgesehen von ihrer inneren Vortrefflichkeit, ein gewisses Quantum menschlicher Arbeit an, das in dem Preise seinen Entgelt finden muß. Dagegen stellt sich die Miesmuschel in Beziehung auf den Transport weit vortheilhafter; ihre Schalen, die eben so werthlos sind wie die Austernschalen, sind weit dünner und leichter als diese. In einem Centner Miesmuscheln findet sich gewiß doppelt so viel lebende Substanz, wie im gleichen Gewichte Austern.
Ich wüßte nicht, daß die Miesmuscheln so wie die Austern lebendig ohne weitere Zubereitung verzehrt würden. Bei meinen vielfachen Exkursionen im Mittelmeere, an den Küsten des Oceans, des Kanales und der Nordsee schlürften meine Matrosen behaglich die Felsenaustern oder boten sie mir als Leckerbissen an, aber die Miesmuscheln sammelten sie nur, um sie nach Hause zu bringen und dort zubereiten zu lassen. Selbst in Otranto, wo die „Cozze nere“ genannten Muscheln einen Hauptbestandtheil der Volksnahrung ausmachen, werden sie nicht roh verspeist. Dagegen finden sie massenhafte Verwendung entweder in selbständiger Zubereitung, geschmort und lebhaft gewürzt mit Zwiebeln und spanischem Pfeffer oder als Zuthaten bei gewissen Gerichten. Eine „Sole normande au gratin“, der Triumph der Zubereitung einer Seezunge, ist ohne reichliche Beigabe von Moules fast undenkbar. Die Miesmuschel verleiht dem ganzen Gerichte einen feinen, würzigen Duft, der sich weder durch Austern, noch durch Crevetten ersetzen läßt, so anerkennenswerth diese auch sonst sein mögen. Schade, daß die Miesmuschel zuweilen ein gefährliches Gift beherbergt, dessen Wirkungen man wohl kennt, dessen Natur aber noch nicht enträthselt ist. Das Gift entwickelt sich nicht erst nach dem Tode; es steckt in der anscheinend ganz gesunden und lebensfrischen Muschel. Eine todte, verdorbene Auster, die ihre Schalen geöffnet hat, ist das Schrecklichste, was der Mensch in den Mund bekommen kann; sie macht Ekel, Erbrechen, vergiftet aber nicht und verräth sich augenblicklich durch Geruch und Geschmack. Die giftige Miesmuschel riecht und schmeckt wie die andern; sie verräth sich erst, wenn es zu spät ist, durch ihre Wirkung, die ich an mir selbst kennen gelernt habe.
[234] Ich hatte den Sommer mit meiner Familie in Roscoff, einem kleinen Küstenstädtchen der Bretagne, zugebracht, und wir hatten uns dort öfter an einer Schüssel Miesmuscheln ersättigt, die unsere Wirthin ausgezeichnet zuzubereiten wußte. Niemals hatten weder wir noch unsere Gäste den mindesten Nachtheil von selbst reichlichem Genusse der Muscheln verspürt. Man kann wohl annehmen, daß eine Person bei einem solchen Mahle fünfzig Stück der vor dem Kochen entbarteten Muschelthiere zu sich nimmt. Ich war also ziemlich ungläubig gegenüber den Erzählungen von zum Theil schweren Erkrankungen, die nach Genuß von Miesmuscheln eingetreten sein sollten. Ich sollte bald eines Anderen belehrt werden.
Bei der Rückkehr nach Genf hielt ich mich einige Tage in Paris auf und frühstückte einmal bei einem befreundeten Arzte in Gesellschaft von einem halben Dutzend medicinischer Kollegen. Wir sprachen Alle einer Sole au gratin in der Weise zu, wie es vernünftige Esser thun, die sehr wohl wissen, daß einem solchen Vorgerichte andere gute Schüsseln zu folgen pflegen, denen keine Ehre anthun zu können man später bereuen würde. Wir waren unter lebhaftem, heiterem Gespräche am Dessert und beim Käse angelangt, als ich plötzlich einen solchen Schwindelanfall bekam, daß ich fast vom Stuhle gefallen wäre. Uebelkeit, Erbrechen, Durchfall folgen bei andauerndem Schwindel. Man streckt mich auf ein Ruhebett, der Hausherr ruft nach sehr starkem Kaffee gegen den Schüttelfrost, der sich einstellt. Die Kollegen diskutiren und stellen die Diagnose: Indigestion. Schwindel und Frost lassen nach reichlichem Genusse von stärkstem Kaffee und Kamillenthee nach. Der Hausherr, der Erfahrenste von Allen, befragt die Köchin.
„Waren Miesmuscheln an der Sole?“
„Versteht sich!“
„Da haben wir’s! Der Professor hat wahrscheinlich eine giftige Muschel bekommen, die einzige, die in dem Gerichte war; denn wir haben die Schüssel gänzlich aufgegessen und sind Alle kernwohl. Nun, die Nesselsucht wird nicht ausbleiben! Jetzt duselt er, in einer Stunde wird er schon aufwachen.“
In der That wache ich nach einer Stunde etwa auf, zappelig wie ein Mehlwurm, roth wie ein Krebs, mit unsäglichem Brennen und Prickeln auf der Haut, krampfhaften Zuckungen in allen Gliedern, während der Kopf brennt wie Feuer. Limonade mit Eis. Gegen Abend lassen alle Erscheinungen so vollkommen nach, daß ich mich in eine Sitzung der anthropologischen Gesellschaft begeben kann, in der ich aber nur kurze Zeit aushalten konnte; denn ich war noch am folgenden Tage wie gerädert und meine Haut marmorirt mit röthlichen Flecken.
Die akute Nesselsucht ist nicht ganz charakteristisch für die Muschelkrankheit; denn sie befällt auch manche Personen nach dem Genusse von Krebsen oder Erdbeeren. Aber die Muschelkrankheit ist nicht immer so harmlos; Freunde von mir waren wie an einem Ausschlagstyphus daran erkrankt und erlitten noch während Jahren Rückfälle bei Gelegenheiten, wo Andere einen Schnupfen davontrugen. Vor einiger Zeit hat man von einer wahren Epidemie gelesen, die unter Arbeitern in Wilhelmshafen ausbrach, wo nach reichlichem Genusse von Miesmuscheln etwa 30 Personen schwer erkrankten und einige starben. Bei genauerer Untersuchung dieses Vorfalles hat sich herausgestellt, daß alle im inneren Becken von Wilhelmshaven befindlichen und offenbar durch die eingehenden Schiffe eingeschleppten Miesmuscheln giftig sind, wie Versuche an Thieren erwiesen haben. Bei längerem Aufenthalt im äußeren Becken verlieren sie ihre Giftigkeit und werden wieder genießbar. Aber das Gift selbst hat man noch nicht isoliren und namentlich nicht erhärten können, ob Mikroben dabei im Spiele sind. Kehren wir zu meinem Falle zurück.
Ich hatte mit der Portion Sole, die mir zufiel, gewiß höchstens ein halbes Dutzend Muscheln verzehrt, und man kann weder annehmen, daß ich eine besondere Idiosynkrasie dagegen hatte, da ich ja den ganzen Sommer hindurch solche Muscheln ohne Unbehagen verzehrt hatte, noch kann man glauben, daß die mir zugetheilten Muscheln alle giftig gewesen seien, die der anderen Gäste aber nicht. Es war wohl nur eine Muschel – aber die von ihr bewirkten Erscheinungen waren heftig genug, um, wie man zu sagen pflegt, zur Vorsicht zu mahnen. Schade nur, daß man nicht weiß, wie man diese Vorsicht üben soll; denn wir wissen absolut nicht, wie wir eine giftige Muschel von einer unschuldigen unterscheiden können. Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt ein Sprichwort – ich esse keine Miesmuscheln mehr und schiebe sie bei der Sole normande auf die Seite, indem ich mir aus der obigen Geschichte wenigstens den Schluß gezogen habe, daß das Gift in dem Muschelleibe festsitzt und sich der Brühe nicht mittheilt. Der Kochhitze hält es leider Stand, dagegen soll es, nach den in Folge der Wilhelmshavener Vergiftung angestellten Versuchen, durch Kochen mit etwas Soda vernichtet werden.
Während die Miesmuschel überall, wo sie nur vorkommen mag, zuweilen auftretender giftiger Tücke angeklagt wird, beschuldigt man andere Muscheln, welche strenger lokalisirt sind, nur hier und da ähnlicher Eigenschaften. Neapel steht hier voran. Man muß hier, wie überhaupt im südlichen Italien, eher fragen, was der Küstenbewohner nicht ißt, als was er von „frutti di mare“, von Meeresfrüchten verzehrt. Wer auf Santa Lucia spaziert, sieht in den Körben der Verkäufer fast die ganze Muschel- und Schneckenfauna des benachbarten Meeres den Eßlustigen feilgeboten. Aerzte und nicht eingeborene Einwohner warnen vor allen diesen Meerfrüchten, die Austern mit eingeschlossen. Jetzt, wo überall Mikroben herum bummeln, sollen diese Muscheln und Schnecken mit dem Schlamme und Unrathe, der sich in die Bucht von Neapel ergießt, auch die Mikroben in sich aufnehmen, sie dann beim Genusse in dem Körper des Menschen absetzen und so Typhus, Malaria und Fieber aller Art erzeugen.
Ich glaube nicht an diese Theorie. Ich halte nicht dafür, daß Austern, Mies- und Herzmuscheln, Messerscheiden (Solen) und wie die Dinge alle heißen mögen, gewissermaßen Magazine sein sollen, in welchen gesundheitschädliche Mikroben aufgespeichert werden zu beliebigem Gebrauche. Man bekommt Malariafieber in Neapel eben so gut durch eine Erkältung, wie durch eine Indigestion; man bekommt es fast unausbleiblich, wenn man an einem Ort wohnt, wo der Boden aufgerissen und umgewühlt wird, geschehe dies nun oben oder unten, in den sogenannten gesunden Lagen der Corsi Vittorio Emmanuele und Principe Amadea, oder unten an der Chiaja. Neapel ist ein Ort für Bildung von Legenden, und diese ist eine der abenteuerlichsten; denn kein Mensch hat noch Fiebermikroben in den unschuldigen Muschelthieren finden können.
In den „Clovisses“, wie an den südafrikanischen Küsten einige Arten von Herz- und Tellermuscheln genannt werden, dürfte man vergebens nach Mikroben suchen. Wie nett sind diese verschieden gezeichneten und gefärbten Muscheln von der Größe eines Zweimarkstückes, die aus der einen Schalenöffnung die zierlich gefransten, kurzen Athemröhren, aus der andern den röthlichen Fuß hervorstrecken, wie sauber ihr weißer Mantel, wie fest und schmackhaft ihr Fleisch, das man einem Nußkerne vergleichen möchte! In der Umgebung der großen Etangs, welche den norddeutschen Haffen entsprechen, ersetzen die Clovisses förmlich die Austern und werden in großen Mengen verspeist; aber sie dringen nicht weit vor in das Innere des Landes; Nimes und Toulouse dürften die Grenzen ihres Verbreitungsbezirkes bezeichnen.
In Venedig genießen die Steindatteln (Lithodomus) eines vielleicht zu hoch gespannten Rufes. Die Muschel gleicht in der That mit ihren langen, braungrünen Schalen nicht übel einer getrockneten Dattel, deren Größe sie auch besitzt; ihr Hauptverdienst dürfte aber nicht in ihrer Seltenheit, sondern vielmehr in der Schwierigkeit bestehen, sie in marktfähiger Menge zu beschaffen. Die Muschel bohrt sich in festen Thonboden, am liebsten aber in etwas mürbe Kalksteine so tief ein, daß sie nur durch einen Röhrengang, in welchem durch die Athemröhren ein ein- und ausströmender Wasserstrom erzeugt wird, mit der Außenwelt in Verbindung steht. Die bröcklichen Kalksteine des Lido vor Venedig sind ein Lieblingswohnort der Steindattel. Man muß die Bruchstücke, welche von Wind und Wellen abgelöst werden, aus einiger Tiefe hervorholen und zertrümmern, um der Muschel habhaft zu werden. Die Steindattel hat einen eigenthümlichen Geschmack, als wenn zu Atomen zerstoßener Pfeffer in geringer Menge in ihrem Gewebe zerstreut wäre. Vielleicht rührt dieser Geschmack auch von einer Säure her, welche das Thier absondert und die ihm dazu dient, den Kalkstein aufzulösen, zu dessen mechanischer Anbohrung oder Abfeilung das Thier keine Werkzeuge besitzt. Der Preis der Steindatteln ist ein ganz willkürlicher, stets aber bedeutend höher als derjenige der Austern, die ich unbedingt vorziehe.
Ich ziehe die Auster auch der großen dornigen Herzmuschel (Cardium echinatum) vor, die in Torquay unter dem Namen „Rednose“, mit spanischem Pfeffer und andern Gewürzen geschmort, als Leckerbissen gilt. Für indische Gaumen! Die kleine glatte Herzmuschel (Cardium edule) dagegen hat an den Felsenküsten der Hebriden und Nordschottlands denselben Geschmack und dieselbe Wichtigkeit für die Anwohner, wie die Clovisses in Südfrankreich, während sie in dem Schlamm der Bucht von Torquay auch Schlammgeschmack hat.
Deutscher Bürgersinn. Illustrationen S. 217 und 235.) Zahlreich sind in deutschen Städten Beweise des Wohlthätigkeitssinnes, indem reiche Mitbürger den städtischen Anstalten, sei es bei Lebzeiten oder testamentarisch, bedeutende Summen zugeeignet haben. Ueber solche großartige Schenkungen haben erst vor Kurzem die Blätter aus Dresden und Berlin berichten können. Auch in Leipzig hat es zu keiner Zeit an derartigen Spenden der Wohlthätigkeit gefehlt. Doch abgesehen davon darf Leipzig sich mehr als jede andere Stadt rühmen, daß der Gemeinsinn vieler Bürger sich nicht bloß dem unmittelbar Nützlichen zugewendet, sondern es auch als Ehrensache betrachtet hat, für die Verschönerung der Vaterstadt Sorge zu tragen und bedeutende Mittel für diesen Zweck zu bestimmen.
Der größte Platz Leipzigs, der Augustusplatz, geschmückt durch das Neue Theater, die Universität und das Postgebäude, hat in solcher Weise neue Zierden erhalten. Der Mende-Brunnen und das großartig ausgebaute Museum, das jetzt dem Neuen Theater, in durchaus entsprechender Weise den großen Raum abschließend, gegenübersteht, verdanken den Vermächtnissen von Privatleuten Entstehung und Neugestaltung. Pauline Mende, geborene Thiriot, die am 25. Oktober 1881 verstorben war, hatte testamentarisch der Stadt ein Kapital von 150 000 Mark zugewandt zum Bau eines Brunnens von monumentaler Architektur, vielleicht zwischen dem Museum und dem Neuen Theater. Nachdem die ausgeschriebenen Konkurrenzen nicht das gewünschte Resultat gehabt, wurde der Direktor der Nürnberger Kunstgewerbeschule, Gnauth, mit der Ausführung eines Entwurfs beauftragt, der den Wünschen des Rathes und der Sachverständigen entsprach. Das Modell, das dieser in Gemeinschaft mit dem Münchener Bildhauer Ungerer herstellte, erhielt die Zustimmung des Rathes.
So ist Leipzig um einen großen stilvollen Brunnen reicher geworden, um welchen die Stadt von den anderen norddeutschen Städten beneidet werden darf; denn diese sind arm an solchen monumentalen Zierden und nur in manchen mittelalterlichen Reichsstädten des deutschen Südens finden sich jene in nächtiger Stille so märchenhaft plaudernden Brunnen, um welche ein solcher poetischer Zauber webt, der Mende-Brunnen erinnert [235] an die Brunnen Roms, besonders an den Obeliskenbrunnen Bernini’s auf der Piazza Navona. Und damit ihm ein Dichterwort nicht fehle, trägt er in vergoldeter Inschrift die sinnvollen Verse Paul Heyse’s:
„Zum Himmel streben
In frischer Kraft,
Der Erde geben,
Was Segen schafft,
In lauterer Quelle
Lehrt es die Welle.“
Der Brunnen macht in der That, wie auch unser Bild beweist, einen stattlichen und imposanten Eindruck. Im zweiten Granitbecken, welches das erstere wesentlich überhöht, erhebt sich auf einem Unterbau aus natürlichem Felsen der aus Einem Stücke gehauene Obelisk. Der Wasserguß selbst ist reichgegliedert durch den in farbigem Bronzeguß ausgeführten Figurenschmuck, der dem Brunnen nach allen Seiten hin ein scharf sich abzeichnendes Profil giebt. An den vier vorspringenden Ecken des inneren Brunnens zeigen sich je zwei wasserspeiende Bronzedelphine; zu beiden Seiten des Brunnenstockes erheben sich aus dem Wasserspiegel hoch sich bäumende „Hippokampen“, fabelhafte Seethiere mit Pferdeköpfen und Fischschwänzen, gezügelt von kräftigen Tritonen von doppelter Lebensgröße, die aus Muscheln Wasserstrahlen hervorsprudeln, während die Seeungeheuer aus Mund und Nüstern die Fluthen in weitem Bogen ergießen. An den vier untersten Ecken des Sockelaufbaues zeigen sich auf granitnen Konsolen fischschwänzige Nereïden, deren zierliche Leiber mit Fischen, Korallen, Schnecken, Ruder und Dreizack ausgestattet sind, während sich aus daneben befindlichen Muscheln das Wasser über sie ergießt.
Ein noch bei weitem größeres Geschenk war der Stadt Leipzig schon früher zugefallen. Der am 14. November 1880 gestorbene Rentier Franz Dominic Grassi hatte in seinem Testament die Stadt Leipzig zur Erbin seines nach Abzug einer Anzahl Legate verbleibenden Vermögens mit der Bestimmung gemacht, „daß dieses Vermögen nicht auf Gegenstände des Bedarfs, zu welchen die Kommune die Mittel aufzubringen hat, sondern auf Annehmlichkeiten und Verschönerungen der Stadt zu verwenden sei.“ Das Vermögen belief sich auf 2 327 423 Mark; der Rath verfügte darüber zu Gunsten des Orchesterpensionsfonds, des neu zu erbauenden Koncerthauses und der Gründung eines Museums Grassi für Völkerkunde und Kunstgewerbe; er glaubte ferner im Sinne des Erblassers zu handeln, wenn er das Neue Museum, die Hauptstätte der bildenden Kunst in Leipzig, umbaute und verschönerte. Das alte Museum, ein Werk Ludwig Lange’s in München, war am 18. December 1858 eingeweiht worden; den Erweiterungsbau, der in einer Anfügung zweier Flügel bestehen sollte, leitete der Rathsbaudirektor Hugo Licht.
Das Werk ist in hohem Maße gelungen; die Heimstätte der bildenden Kunst tritt derjenigen der darstellenden, dichtenden, tonschöpferischen jetzt ebenbürtig gegenüber. Die Hauptfaçade ist reich gegliedert; vor dem Mitteltrakte befindet sich eine Terrasse, zu der in der Mitte eine breite Freitreppe von 14 Stufen emporführt. Souterrain und erstes Geschoß sind durchweg im Rustikastil gehalten; die beiden Flügelbauten haben je einen einfensterigen Vorsprung (Risalit) in der Mitte, dessen Ecken mit Säulen eingefaßt sind. Sie haben im oberen Geschosse drei große Rundbogenfenster; das mittlere ist von einem dreieckiger Giebel gekrönt, während die Mittelachse des Gebäudes einen runden zerschnittenen Giebel zeigt, auf dessen Sims die von Ungerer modellirten Allegorien der Plastik und Malerei liegen. Eine Dachbalustrade läuft über das ganze Gebäude mit allegorischen Dachfiguren und Obelisken. Die Rückseite, die schmälere Ost- und Westseite sind weniger betont: in den Nischen der Ostfront sind die von Werner Stein modellirten Statuen von Rafael und Michel Angelo, in den Nischen der Westfront die von Rubens und Rembrandt aufgestellt, welche Professor zur Straßen geschaffen. Im Innern ist das Vestibül, in edlem römischen Renaissancestil gehalten, wesentlich verbreitert; vornehm und großartig ist das Treppenhaus; der hellrothe Marmor der Balustraden und Pfeiler, der mosaikartige Fußboden, die Buntfarbigkeit der Wände machen den Gesammteindruck würdigster Ausschmückung, der durch die Malereien in den Deckgewölben erhöht wird. Jeder der beiden Anbauten enthält als Mittelpunkt einen großartigen, in der Höhe sich durch beide Geschosse erstreckenden Oberlichtsaal, um welchen die übrigen Räume sich in Umgängen gruppiren.
Es ist hier nicht der Ort, in allem Detail die Vorzüge und Schönheiten des Neubaues und seinen künstlerischen Schmuck zu schildern oder die Namen all der Künstler zu nennen, die sich um denselben verdient gemacht haben. Uns kommt es darauf an, dem Spender der reichen Gabe, die solchen Bau ermöglichte, als Vertreter echten, nachahmungswerthen Bürgersinns, der neben dem Guten auch das Schöne pflegt, dem Leipziger Dominic Grassi, einen kleinen Denkstein zu setzen, der seinem Namen, weit über das Weichbild seiner Vaterstadt hinaus, guten Klang verschafft. †
Deutsche Kochkunst im 16. Jahrhundert. Daß man nach Erfindung des Drucks alsbald beflissen war, auch die Theorie der Kochkunst schriftstellerisch auszubauen und zu vervielfältigen, ist natürlich, und mehr als zuvor beeinflußt von nun an der französische Geschmack deutsche Art und deutschen Brauch, keineswegs indessen zum Nachtheil des deutschen Gaumens. In eines dieser ältesten Kochbücher einen Einblick zu gewinnen, ist vielleicht für unsere Leserinnen nicht ohne Interesse. Die Verfasserin, Frau Anna Weckerin, ist jedenfalls eine der ersten Vorläuferinnen der Frau Davidis und Frau Allerstein und theilt auf alle Fälle mit ihnen das Fragwürdige sehr vieler ihrer Recepte. Sie datirt ihr Büchlein aus dem Jahre 1596, also aus ferner, ferner Zeit, und widmet es ihrer „gnädigsten Churfürstin und Frawen, der durchlauchtigsten, Hochgebornen Fürstin und Frawen, Frawen Loysae Julianae, Pfalzgräfin bei Rhein u. s. w. Churfürstin, gewesenen Princeßin von Oranien, Gräfin zu Nassaw, Katzenelnbogen u. s. w.“ unter dem Titel:
„New, köstlich vnd nutzliches Kochbuch. In welchen kurtzlichen begriffen, wie allerhand künstliche Speisen, sowol von zahmen als wilden Thieren: Vögel und Federwildprät, grünen vnd gedörrtem Fischwerck: Wie auch allerley gebachens, als Darten, Marcipanen-Pasteten vnd dergleichen. Beneben von viel vnd mancherley Obs, von Gemüß, für Gesunde u. Kranke, in allerley Beschwärungen vnd Geprästen, auch für Kindbettherinnen, Altbetagte schwache Personen, kunst- vnd nutzlich in der eyl, vnd mit geringem kosten zubereiten und zuzurichten.“
Die Speisezettel selbst erweisen sich den früheren mittelalterlichen gegenüber bereits kultivirt: die damals üblichen Krähen, Raben, Störche, Reiher sind geschwunden. Nur „ein Essen von einem Rindsmagen für ein Fürsten“ erregt noch einiges Befremden, und auch das Recept: „Holderblütmuß zu Feigenmuß zu machen“, weckt wenig Vertrauen. Dagegen ist ein anderes: „Einen grünen oder eyngesaltzenen Biberschwantz gut zu machen“ wohl durchdacht, gründlich ausgearbeitet und löblich instruktiv. Es lautet folgendermaßen und soll auch für „Bärenklawen“ Gültigkeit haben: „Nimm den Biberschwantz vnd die Klawen, welches beydes Fischart ist, den schwantz lege auff einen Rost, vnd laß ihn wol erwarmen, so geht ihm die schwartze Haut ab; die Klawen aber brühe mit siedendem Wasser, biß die ober Haut abgehet, seude die Klawen, vnd den Schwantz in Wasser, vngefehr zwey stunde, denn so küle ihn auß, mache ihn vollend rein, schneide ihn zu Stücken, lege ihn in ein Töpfflin oder ander Gefesse, geuß ein meßlin Wein daran, thue ein wenig geriebnen Pfefferkuchen, geschnittene Mandelnkerne, grosse oder kleine Rosinen darzu, vnd laß darmit sieden, denn geuß noch ein Gläßlein Essig darein, saltze es recht, mache es mit Zucker oder Honig ein wenig süsse, würtze es mit Ingwer, Pfeffer, Zimmet, Saffran vnd Nägelin, wann es nun mit der Würtz eine weile gesotten hat, so richte den Fisch (sic) mit der Brühe an, es ist recht vnd gut. Also kan man auch die Bärenklawen zurichten.“
Nicht weniger liebevoll behandelt die Autorin das anziehende Problem, „Schnepffen gut zu braten“.
Der Suppenkatalog der Frau Anna Weckerin ist einigermaßen beschränkt, doch weist er immerhin verlockende Nummern auf wie: „Ein Reinfallsuppe. Ein guldenesuppe. Ein vast nutzliche Supp für schwache Leuth, panabra auff welsch genannt. Ein kräftig kelt Süplin. Ein Suppe, so gut als ein Mandelsuppen. Ein Supp wie ein Hafermuß. Ein Monsupp zum schlaffen“ etc. Ich indessen entscheide mich für ihre „kräfftige Kapaunen- oder Hüner-Suppe.“
Damit aber unsere schönen Leserinnen in der Lage seien, ein vollständiges historisches Diner im Genre des 16. Jahrhunderts herzurichten, so empfehle ich ihnen zum Schluß aus der reichen Receptsammlung der Frau Weckerin für Mehlspeisen ganz besonders das folgende für „Gefüllte Oblaten mit Latwergen oder Säfften“: „Nimm eine gute Latwerge oder Safft vnd weich’s in gutem Wein. Dann thu’ ein wenig Kirschmuß oder Safft daran, auch Zucker, Zimmet vnd Ingwer, vnd wanns gesotten ist, so streich’s auff die Oblaten, und eines darüber, vnd tuncke es in ein gelbes Teiglin, oder weiß, druck es allweg an orten zu mit Wasser, ehe [236] man es in das Teiglin tuncket, und backe es rösch ab: so ist es recht.“ So wäre denn ein artiges Menü zusammengestellt: Kapaunensuppe, Biberschwanz, gebratene Schnepfen, gefüllte Oblaten, und dies Menü wurde gewiß seiner Zeit mit bestem Appetit verzehrt.
Osterbrauch in Kärnthen. (Mit Illustration S. 224.) Im Jaunthal in Kärnthen, bei dem Dörflein Jaunstein, soll nach der Sage des Volkes zur Zeit der Heiden der Tempel einer Göttin gestanden haben. Jedenfalls glauben wir, daß die Fackelzüge, die dort alljährlich am Ostersamstage stattfinden, nicht erst in christlicher Zeit von den römisch-katholischen Priestern eingeführt worden sind, sondern noch aus der Zeit des römischen Götterkultus herstammen, den die Priester zur Verherrlichung ihres Osterfestes in ihr Programm aufgenommen haben. Wenigstens ist sonst ein Fackelzug um die Kirche in Kärnthen nirgends üblich. Ferner herrscht dabei eine ernste feierliche Stimmung und große Ordnung, während bei den weitverbreiteten heidnisch-germanischen Osterbräuchen, z. B. beim Feuerspringen und „Feuerradlwerfen“ nur Heiterkeit und Uebermuth walten. Die Römer aber verstanden es, auch ihren heitersten Aufzügen ein großartiges Gepräge zu geben.
Nach dem Gebetläuten versammeln sich die Fackelträger, Burschen, Männer und Greise, vor dem Dorfe und entzünden an einem großen Feuer ihre Fackeln, die aus langen Stangen bestehen, an deren dickeren Enden Bündel aus „Kienholz“ auf allerlei Weise befestigt sind. Dann schreiten sie paarweise in langem Zuge langsamen Schrittes der Kirche zu und singen in wendischer Sprache das Auferstehungslied, dessen Melodie dem Texte so schlecht angepaßt ist, daß wir meinen, einen Grabgesang zu hören, und nicht das freudige Siegeslied der erlösten Menschenseelen.
In größter Andacht, unter eifrigem Beten folgen die Frauen und Kinder den frommen baarhäuptigen Männern zur Kirche, um deren Mauern die Fackelträger ununterbrochen singend dreimal herumgehen. Dann aber stellen sich diese in Form eines Kreuzes auf und singen das vielstrophige Lied zu Ende; hierauf zerstreut sich die Menge ohne allen Lärm.
Unser Bild vergegenwärtigt den Augenblick, in dem sich der Feuerkreis löst, um in die Kreuzesform überzugehen. Einen herrlichen Anblick gewährt dabei die nächtliche Gebirgslandschaft, die Bäume voll Blüthenschnee und zarten Blätterschmucks – Alles magisch beleuchtet vom rothen Fackellichte … weiterhin die alte Kirche, ganz im Hintergrunde beschneite Bergesriesen, und darüber das leuchtende Sternenzelt.
Dramatische Preisausschreibungen. Der deutsche Bühnenkartellverein, der Verein der Intendanten und Direktoren, hat bei seiner letzten Sitzung einen Preis für das beste Lustspiel oder Schauspiel ausgeschrieben, welcher darin bestehen soll, daß alle Bühnen des Vereins verpflichtet sind, das preisgekrönte Stück aufzuführen. Hierin liegt ein offenbarer Fortschritt gegenüber den Bestimmungen bei früheren Preisvertheilungen, welche meistens nur die Ohnmacht der Preisrichter und ihre Unfähigkeit an den Tag legten, irgend einen Einfluß auf das Theater der Gegenwart auszuüben, da die Bühnen die durch solchen Richterspruch ausgezeichneten Stücke einfach nicht aufführten.
Es ist viel über derartige Preisausschreibungen und zwar für und wider gesprochen worden: einer der eifrigsten Gegner war Karl Gutzkow. Besonders als der Berliner Schiller-Preis für das beste in den letzten drei Jahren veröffentlichte dramatische Werk festgesetzt wurde, erhob er seine warnende Stimme: er protestirte dagegen, daß man widerwillig vor Gericht geschleppt und abgeurtheilt werden solle. Bei den anderen Preisausschreibungen handelte es sich um eingesandte Stücke, von denen das beste gekrönt wurde: das kann jeder Dichter ignoriren und seine eigenen Wege gehen; er brauchte ja bloß kein Stück einzusenden. Doch beim Berliner Schiller-Preise gab es kein Entrinnen; hatte man in den letzten drei Jahren ein Stück zur Aufführung gebracht oder im Buchhandel erscheinen lassen, so war man dem Gericht verfallen. Ein solcher Preis erinnerte an den Primus in der Elementarschule, der beim Examen die große Bretzel erhält. Gutzkow sprach von irgend einem Alfred Timpe, dem obskuren gekrönten Dichter der Zukunft; und der erste an Albert Lindner für sein Römerdrama „Brutus und Collatinus“ ertheilte Preis schien ihm Recht zu geben; denn Lindner war damals ein gänzlich unbekannter Poet in den thüringischen Bergen.
Im Uebrigen haben die Berliner Preisrichter durchaus nicht nach etwa verborgenen Schätzen gegraben: sie krönten zumeist namhafte Dichter, anfangs wegen einzelner Stücke, später wegen ihrer Gesammtleistungen, wozu ihnen ein Paragraph der Statuten das Recht gab: so erhielten Hebbel, Geibel, Wilbrandt, Heyse, Wildenbruch nach einander den Schiller-Preis. Einzelne gekrönte Stücke, wie Geibel’s „Sophonisbe“, Nissel’s „Agnes von Meran“ wurden von zwei oder drei Bühnen aufgeführt, von den anderen ad acta gelegt.
Daneben hatten einzelne Theater, die Hoftheater von Wien und München, die Stadttheater von Frankfurt am Main und Mannheim, gelegentlich Preisausschreibungen veranstaltet, auch die besten eingesandten Stücke gekrönt; doch abgesehen von Hippolyt Schauffert’s „Schach dem König“, welches an der Burg und in Folge der dortigen erfolgreichen Aufführung an vielen Bühnen gegeben wurde, waren die übrigen Preisvertheilungen ein Schlag ins Wasser. Selbst der Hauptpreisträger der westdeutschen Konkurrenzen, Richard Voß, sah nur seine „Patricierin“ an mehreren Bühnen ersten Ranges aufgeführt; seine „Luigia Sanfelice“ blieb ein todtgeborenes Kind.
Diese ablehnende Haltung der deutschen Bühnen machte die Entscheidungen der Preisrichter wirkungslos; selbst das von der preußischen Regierung eingesetzte Schiller-Komité war vollkommen machtlos, und Herr von Hülsen, einer der Preisrichter, führte mehrere preisgekrönte Stücke an seinem eignen Hoftheater nicht auf. Dergleichen wäre in Frankreich unmöglich, wo die akademischen Auszeichnungen hohen Werth haben. Was nützt es aber einem deutschen Dramatiker, wenn er sein Preisdiplom in der Tasche hat und von allen Theatern bei Seite geschoben wird?
Das haben die Direktoren jetzt selbst eingesehen: daher die Verpflichtung zur Aufführung des vom Bühnenkartellverein preisgekrönten Stückes für alle Mitglieder desselben. Erleichtert wird dies dadurch, daß es sich um ein Lustspiel oder Schauspiel handelt; denn ein Trauerspiel wäre doch für die kleineren Direktoren eine zu harte Nuß. †
Allerlei Kurzweil.
Nachdem die Vorhand das Spiel bis Grün(p.)-Solo noch behalten hatte, meldet die Mittelhand auf folgende Karte:
Eichel(tr.)-Solo, verliert aber, obwohl noch ein Trumpf im Skat liegt, mit Schneider, denn die Gegner erhalten in den ersten 5 Stichen 96 Augen.
Wie sitzen die Karten und wie ist der Gang des Spiels?
Der Spieler wird bei folgender Sitzung: Skat: rO, s7.
- Vorhand: gD, gZ, gK, gO, g9, r9, r8, r7, sD, s8
- Hinterhand: rK, sZ, sK, sO, s9, eD, eK, e9, e8, e7
sein Eichel-Solo verlieren, denn es folgt:
- 1. gD, g7, rK (−15)
- 2. gZ, g8, sZ (−20)
- 3. gK, eO?[3] s9 (+7)
- 4. eW, e8, r7 (+2)
- 5. rD! sO!![4] r8 (+14)
- 6. rZ, sK!! r9 (+14)
und nun muß der Spieler noch einen Stich: eZ, eD, sD (−32) abgeben, womit die Gegner 67 Augen erhalten. Der Spieler würde dagegen gewinnen, wenn er anstatt eZ nur die e7 hätte, denn solchenfalls würden, wie der Augenschein lehrt, die Gegner höchstens 57 Augen erhalten.
L… in Klappendorf. Ihre Lösung der 2. Skataufgabe auf andere Weise ist nicht richtig, denn die Gegner kommen bei Ihrer Kartenvertheilung aus dem Schneider bei richtiger Spielweise: 1. g8, gD, gK (−15) 2. r7, eK, rK (+8) 3. gW, eW, eZ (−14), 4. g7, e9, gZ (−10). Sie behaupten, die 3. Aufgabe sei leicht und auf verschiedene Art zu lösen, haben es aber unterlassen, eine Lösung beizufügen. Sollten Sie sich nicht irren? Von den eingesandten Aufgaben ist das Null ouvert bereits anderwärts veröffentlicht; von der anderen Aufgabe machen wir vielleicht gelegentlich Gebrauch.
H. B. in Königsberg. Der Artikel über den Ursprung der Zeitungsenten hat Sie lebhaft interessirt; wir sind in der Lage, ihm hier einige Ergänzungen folgen zu lassen. Es wird uns mit Bezug auf diesen kleinen Aufsatz in den „Blättern und Blüthen“ von Nr. 4 mitgetheilt, daß die Erzählung von den Vögeln, welche auf Bäumen wachsen, sich schon hundert Jahre früher, als dort angegeben ist, findet, und zwar in der „Kosmographie“ von Sebastian Münster (†1552), nur werden die Vögel dort nicht Enten genannt. Es heißt dort im II. Buch Kapitel 9: „In Schottland findt man Bäume, die bringen laubechtig knöpff, und wenn es Zeit ist, daß sie herabfallen und kommen in das Wasser, werden lebendige Vogel darauß, die man Baumgänß nennt. Man findt ihr Gewechß oder Zucht auch in der Insel Pomonia, nicht fern von Schottlandt gegen Mittnacht im Meere gelegen. Es schreiben die alten Cosmographen, also namentlich Saxo Gramatikus, auch von diesen Baumgänsen.“ Auch die Abbildung des Baumes mit den Früchten und den daraus entsprungenen Vögeln findet sich schon bei Münster und die andere im „Kräuterbuch“ ist wohl nur Nachbildung.
Dr. G. J. in Leipzig. In Folge Ihrer freundlichen Zeilen kommen wir noch einmal auf „den Streit um des Kaisers Bart“ zurück. Sie geben zu, daß die von uns in den „Blättern und Blüthen“ vor Kurzem mitgetheilten Zeugnisse es außer Zweifel setzen, daß der lange graue Bart Karl’s des Großen unhistorisch ist. Somit sind Sie ja mit uns einverstanden. Was Sie indeß hinzufügen, wollen wir unsern Lesern nicht vorenthalten. „Daß der lange graue Bart Kaiser Karl’s aber im Volksbewußtsein existirt, erklärt sich daraus, daß Karl der Große als christlicher Heros in den heidnischen Mythenkreis Wotan’s eingetreten ist, ähnlich wie Kaiser Friedrich der Hohenstaufe in den Donar’s. Der im Berge sitzende Kaiser ist bekanntlich der rothbärtige Donnergott, welcher noch immer der Stunde harrt, daß die aus der Edda genugsam bekannten Raben Odhin’s, Hugin und Munin, ihn wieder zum Rathe berufen, daß heißt, daß der alte verdrängte Volksglaube wieder erstarke.“
F. in Lübbenau. Wir danken Ihnen für Ihre freundliche Mittheilung, die sich auf unsern Artikel „Ein Zeuge der Urwälder Deutschlands“ (S. 115) bezieht, und theilen aus derselben Folgendes unseren Lesern mit: „Der Spreewald birgt heute noch einen Baumriesen, und zwar einen lebenden, der den in der Elbe aufgefundenen an Umfang übertrifft. Dieser letztere, die sogenannte Florentinen-Eiche auf dem Büttner bei Straupitz, dem Grafen von Houwald gehörig, hat einen geringsten Umfang von 9 und einen weitesten von 10 Metern. Leider haben Blitze oder Orkane während des mindestens tausendjährigen Lebens des Baumes seine Krone wiederholt vernichtet, so daß die Höhe im Verhältniß zur Stärke niedrig geblieben ist. Doch die noch vorhandenen seitlichen Aeste sind so gewaltig, daß sie allein betrachtet für Riesenbäume gehalten werden würden. Staunen und Bewunderung erfaßt den Beschauer dieser erhabenen Waldesmajestät, die in ihrer Jugend auf den blutigen Völkerkampf zwischen Deutschen und Wenden, zwischen Christen und Heiden niedergeschaut.“
Inhalt: Götzendienst. Roman von Alexander Baron v. Roberts. S. 217. – Die Franzosen in der Schweiz. Eine historische Erinnerung aus der Zeit der großen Revolution. Von O. Henne am Rhyn. S. 220. – Das Hasengärtchen. Illustration. S. 221. – Bärenjagden des Prinzen Wilhelm von Preußen. S. 225. Mit Illustrationen S. 225, 228, 229 und 232. – Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 226. – Im Lenz. Gedicht von Anton Ohorn. Zur Kunstbeilage dieser Nummer. S. 223. – Allerlei Nahrung. Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt. III. Muschelthiere. S. 233. – Blätter und Blüthen: Deutscher Bürgersinn. S. 234. Mit Illustrationen S. 217 und 235. – Deutsche Kochkunst im 16. Jahrhundert. S. 235. – Osterbrauch in Kärnthen. S. 236. Mit Illustration S. 224. – Dramatische Preisausschreibungen. S. 236. – Allerlei Kurzweil: Skat-Aufgabe Nr. 4. Von B. v. P. S. 236. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 3 auf S. 132. S. 236. – Skat-Briefkasten. S. 236. – Kleiner Briefkasten. S. 236.
- ↑ Siehe von dem Verfasser dieses Artikels „Die Landsgemeinde von Appenzell-Innerroden“ im Jahrgang 1868 (S. 393) und „Die Landsgemeinde von Uri“ im Jahrgang 1882 (S. 434) der „Gartenlaube“.
- ↑ Vergl. Jahrgang 1886 der „Gartenlaube“, S. 350 und 364.
- ↑ Wenn Spieler mit eZ sticht, so gewinnen die Gegner sofort mit 60 Augen, da Hinterhand mit eD übernimmt.
- ↑ Die Hinterhand darf jetzt noch nicht einstechen, weil der Partner klein r haben muß und daher nicht wimmeln kann, während ihr die eZ des Spielers außerdem doch nicht entgehen kann und hierbei sicher auf eine Wimmelung zu rechnen ist.