Die Gartenlaube (1885)/Heft 17
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No. 17. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Frau mit den Karfunkelsteinen.
In der Schreibstube des Hauses Lamprecht ging während
dem Alles seinen gewohnten Gang. Hätte der junge Chef ahnen
können, daß es fern am Horizont gewitterhaft aufblitze, er würde
sein Augenmerk auf ganz andere Dinge gerichtet haben, als es
die Kleinigkeitskrämerei war, mit der er sich immer noch vorzugsweise
beschäftigte. Mit dem Aufräumen des alten Schlendrian
war er immer noch nicht fertig. Es gab noch da und dort Hinterthüren,
durch welche sich der Unterschleif ermöglichen ließ.
Nicht allein im Hause mußte man jedes Eckchen immer wieder
inspiciren, nein, auch der Hof verlangte wachsame Augen
mit seinem zweiten Ausgang, dem Packhausthor. Da gingen
und kamen die Taglöhnerinnen, da konnten leicht Viktualien und
Holz aus der Küche und Hafer aus den Pferdeställen „weggeschleppt“
werden; deßhalb wurde jeder „Ausguck“ in den
Hof freigelegt, wurden jahrelang verschlossen gewesene Fensterläden
täglich zurückgeschlagen.
Die Nachtheile dieser Observationsposten hatte Bärbe bereits gestern empfunden, als sie mit ihrem Eimer vom Brunnen zurückgekehrt war. Gleich darauf war der junge Herr in die Küche gekommen, hatte die alte Köchin heftig ausgescholten und sich ein für allemal den „neumodischen Mägdeklatsch“ am Hofbrunnen verbeten.
Heute Nachmittag war auch Margarete von Dambach zurückgekehrt. Sie konnte zufrieden sein mit dem Erfolg ihrer sorgsamen Pflege, dem Großpapa ging es viel besser. Aber der Hausarzt, den der Landrath insgeheim befragt, war der Ansicht gewesen, daß das Uebel in dem allen Stürmen und Wettern preisgegebenen, leichtgebauten Pavillon keinenfalls gänzlich gehoben werden könne; der alte Herr möge doch lieber für die strengste Winterzeit nach der Stadt übersiedeln. Damit hatte sich der Amtsrath einverstanden erklärt, und zwar um so eher deßhalb, weil er nicht in der oberen Etage wohnen sollte. Ein paar gerade über den Lamprecht’schen Wohnräumen gelegene Zimmer der Beletage sollten um des erwärmten Fußbodens willen für ihn eingerichtet werden.
Nun galt es, dem alten Herrn die Wohnung behaglich zu machen, und deßhalb war Margarete in der Stadt. Tante Sophie war glücklich, sie wieder zu haben, wenn auch Bärbe ganz erschrocken meinte, daß das liebe „Gretelgesichtchen“ gar so schmal und vergrämt aussehe. Tante Sophie freute sich aber auch im Stillen, daß der Amtsrath nach der Stadt übersiedeln sollte; da war doch wieder ein männlicher Wille im Hause, eine Stimme, die, wenn sie sich zum Befehl erhob, Furcht und Respekt einflößte. Und das that noth, der kleinen, herrschsüchtigen Frau im zweiten Stock gegenüber, die nun, nachdem sich die Augen des ehemaligen Hausherrn geschlossen, ihre geheime Abneigung gegen „das derbe, unverschämt gerade Frauenzimmer, die Sophie,“ die sich in die Hausangelegenheiten mischte, frei zu Tage treten ließ und an dem Thun
[274] und Lassen der „alten Jungfer“ mäkelte, als sei sie ihr untergeben. Gleich in der ersten Stunde erfuhr Margarete von dem Jammer im Packhause. Tante Sophie und Bärbe beriethen in der Küche, wie sie wohl einige Erfrischungen für die Kranke unbemerkt an den alten Lenz gelangen lassen könnten.
„Ich trage sie hinüber,“ sagte Margarete.
Bärbe schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. Um Gottes willen nicht – das gäbe Mord und Todtschlag! bat und versicherte sie. Der junge Herr lauere an allen Hinterfenstern; die Leute im Packhause seien ihm nun einmal ein Dorn im Auge; er verachte sie noch viel mehr als der selige Herr Kommerzienrath. Ihr, dem alten Dienstboten, habe er gestern Abend den Kopf gewaschen und den Text gelesen, nach Noten, blos weil sie mit der Aufwärterin gesprochen; und wenn nun gar die eigene Schwester sich „so gemein mache“ – nein, den Mordspektakel wolle sie nicht erleben! –
Margarete ließ sich nicht beirren. Sie nahm schweigend das Körbchen mit den Geléebüchsen und ging in die Hofstube. Dort hüllte sie sich in einen weiten, weißen Burnuß von flockigem Wollstoff und trat ihren Gang an.
Aber sie traf es schlecht. In dem Augenblicke, wo sie die Stufen nach dem Hausflur hinunterschritt, kam die Großmama im eleganten, pelzbesetzten Sammetmantel die große Treppe herab. Sie war offenbar im Begriffe, einen Besuch in der Stadt zu machen.
„Was, schneeweiß inmitten der tiefsten Trauer, Gretchen?“ rief sie. „Du wirst Dich doch hoffentlich nicht so in der Stadt sehen lassen?“
„Nein. Ich gehe ins Packhaus,“ sagte Margarete fest, warf aber doch einen scheuen Blick nach dem Komptoir, wo das Fenster klirrte.
„Ins Packhaus?“ wiederholte die Frau Amtsräthin und trippelte doppelt geschwind die letzten Stufen herab. „Da muß ich denn doch erst ein Wörtchen mit Dir reden.“
„Ich auch!“ rief Reinhold herüber und schlug das Fenster wieder zu. Gleich darauf trat er in den Hausflur.
„Gehen wir in die Wohnstube!“ sagte die Großmama. Sie warf ihren Schleier zurück und ging voran, und Margarete mußte wohl oder übel folgen, denn Reinhold schritt dicht hinter ihr wie ein eskortirender Gendarm.
Kaum in das Zimmer eingetreten, griff er ungenirt nach Margaretens Mantel und schob ihn von dem Körbchen an ihrem Arme weg. „Himbeergelée, Aprikosengelée“ – las er von den Etiketten der Glasbüchsen ab – „lauter gute Sachen aus unserem Keller. … Und die soll der Mosje Kurrendeschüler drüben essen, Grete?“
„Der nicht!“ sagte Margarete ruhig. „Du wirst wohl wissen, daß Frau Lenz schwerkrank ist, daß sie einen Schlaganfall gehabt hat.“
„Nein, das weiß ich nicht. Mir kommen solche Dinge nicht zu Ohren, weil ich nie mit unseren Leuten klatsche. Ich halte es genau wie der Papa, der nie darnach gefragt hat, ob die Leute im Packhause leben oder sterben.“
„Und das ist die richtige Art,“ bestätigte die Großmama. „Strenge Zurückhaltung muß der Fabrikherr beobachten – wo käme er sonst hin, seinen Hunderten von Arbeitern gegenüber! – Aber sage mir nur ums Himmelswillen, Grete, was Dir einfällt, am helllichten Tage den Theatermantel da umzuhängen?“ Ihr Blick glitt mit scharfer Mißbilligung über die weiße Umhüllung.
„Ich wollte nicht so unheimlich dunkel an das Bett der Kranken treten –“
„Was? Um dieser Frau willen unterbrichst Du die Trauer für Deinen Vater?“ rief die alte Dame erbittert.
„Er wird es mir verzeihen –“
„Der Papa?“ lachte Reinhold kurz und hart auf. „Sprich doch nicht Dinge, an die Du selbst nicht glaubst, Grete! Damals, wo Du auch, vor unser Aller Augen, die barmherzige Schwester im Packhause spielen wolltest, da hat er Dir streng ein für allemal den Besuch verboten, ‚weil ein solches Hinüber und Herüber nie Brauch im Hause gewesen sei‘. Und daß es bei seinem Wunsch und Willen bleibt, dafür werde ich sorgen. … Ist es nicht schon an und für sich eine unverzeihliche Taktlosigkeit von Dir, zu dem Menschen zu gehen, den wir wegen notorischer Faulheit entlassen mußten?“
„Der Mann ist halb erblindet –“
„So, weißt Du das auch schon? Nun ja, er sucht sich damit zu entschuldigen, aber es ist nicht so schlimm. Uebrigens ist er bei Weitem nicht lange genug im Geschäft, als daß wir – selbst diese fingirte Erblindung angenommen – verpflichtet wären, uns um ihn und seine Familie zu kümmern. Frage den Buchhalter, der wird Dir sagen, daß ich ganz korrekt handle! – Lege nur Deinen Theatermantel ab! Du wirst einsehen, daß Du Dich nachgerade lächerlich machst mit Deinen unverlangten Samariterdiensten!“
„Nein, Reinhold, das kann ich nicht einsehen,“ entgegnete sie sanft, aber fest; „so wenig wie ich glaube, auch hart und unbarmherzig sein zu müssen, weil Du es bist. Ich widerspreche Dir ungern, weil ich weiß, daß Dich jeder Widerspruch aufregt; aber bei dem Wunsche, Dir jeden Aerger zu ersparen, darf ich nicht andere Pflichten verletzen.“
„Dummheit, Grete! Was geht Dich die Malersfrau an?“
„Sie hat Anspruch auf Hilfe und Beistand ihrer Mitmenschen wie jeder andere Kranke auch, und deßhalb sei gut, Reinhold, und hindere mich nicht, das zu thun, was ich für gut und recht halte!“
„Und wenn ich Dir es trotzdem verbiete?“
„Verbieten?“ wiederholte sie erregt. „Dazu hast Du nicht das Recht, Reinhold!“
Er fuhr auf sie hinein, und seine bläuliche Gesichtsfarbe verdunkelte sich unheimlich.
Die Frau Amtsräthin ergriff beschwichtigend seine Hand. „Wie magst Du ihm nur so schroff entgegentreten, Grete!“ zürnte sie. „Allerdings steht ihm bereits ein gewisses Recht zu. In Kurzem wird er unumschränkter Herr hier sein; denn soviel wirst Du doch wissen, daß mit der Firma das alte Erbhaus der Lamprechts an den einzigen männlichen Träger des Namens zu fallen hat –“
„Der Tochter wird dann einfach ihr Antheil hinausgezahlt, und sie hat auf dem Grund und Boden nichts mehr zu sagen und zu suchen, und wenn es zehnmal ihr Geburtshaus ist!“ fiel Reinhold mit seiner hämischen, knabenhaften Stimme so hastig ein, als habe er schon längst auf die Gelegenheit gelauert, der Schwester diese Eröffnung zu machen.
„Ich weiß das, Reinhold!“ sagte sie traurig, mit umflortem Blicke, und der gramvolle Zug um ihren Mund vertiefte sich. „Ich weiß, daß ich mit dem Papa auch das alte, liebe Heim verloren habe. Aber noch bist Du nicht der Herr hier, der mich ausweisen darf, wenn ich mich nicht in Allem widerspruchslos unterwerfe –“
„Und deßhalb wirst Du für die paar Wochen auch noch der Dickkopf bleiben, der Du immer gewesen bist, und à tout prix ins Packhaus gehen, gelt, Grete?“ unterbrach Reinhold sie mit boshaften Augen. Er schob in fingirtem Gleichmuthe nach gewohnter Art die Hände in die Taschen, obwohl er vor Aerger bebte. „Nun meinetwegen,“ fügte er achselzuckend hinzu, „wenn Du denn durchaus nicht auf mich hören willst, so soll Dir Onkel Herbert den Kopf zurechtsetzen!“
„Den lasse aus dem Spiele, Reinhold,“ wehrte die Großmama lebhaft ab; „der wird sich schwerlich hineinmischen! Hat er es doch auch entschieden abgelehnt, Grete’s Vormund zu werden – nun, was siehst Du mich denn so sonderbar erschrocken an, Grete? Mein Gott, was für Augen! … Du wunderst Dich, daß ein Mann wie er sich hütet, einen Mädchenkopf in Zucht zu nehmen, der so voll Eigenwillen steckt wie der Deine? Nun, mein Kind, wer Dich kennt, wird schwerlich in eine solche Beziehung zu Dir treten – denke nur an Dein unverzeihliches Verhalten in Bezug auf die Partie, die wir Alle so sehr für Dich wünschen! Doch das gehört nicht hierher! Ich habe Eile; mein Krankenbesuch bei der Geheimräthin Sommer fällt sonst in unschickliche Zeit, und deßhalb will ich Dir kurz sagen, daß Du Dir selbst einen Schlag ins Gesicht versetzest, wenn Du zu den Leuten ins Packhaus gehst. … In der allernächsten Zeit werden Dir Dinge zu Ohren kommen, haarsträubende Dinge, die Dich möglicher Weise ein schönes Stück Geld kosten können. Willst [275] Du aber trotzdem Deinen Kopf behaupten, so verbiete ich Dir hiermit, als Deine Großmutter, ein- für allemal den Besuch und hoffe den Gehorsam zu finden, der sich ziemt!“
Sie nahm ihren Muff vom Tische, zog den Schleier über das Gesicht und wollte sich entfernen; aber Reinhold hielt sie zurück. „Du sprachst von Geld, Großmama?“ fragte er in athemloser Spannung. „Ich will doch nicht hoffen, daß der Mensch da drüben die Unverschämtheit hat, Nachforderungen an unser Haus zu stellen? – Er hat sich wohl gar an Onkel Herbert gewendet?“
„Echauffire Dich nicht, Reinhold!“ beschwichtigte die alte Dame. „Die Sache schwebt sehr in der Luft; wer weiß, ob sie je Grund und Boden findet. Auf alle Fälle aber wissen wir, daß diese Lenzens Schlimmes im Schilde führen – deßhalb kein Mitleid, sage ich! Man verschwendet nicht Wohlthaten an seine notorischen Feinde!“
Sie verließ das Zimmer. Reinhold aber nahm das Körbchen mit den Einmachbüchsen, das Margarete auf den Tisch gestellt hatte, und rief nach Tante Sophie. Sie kam aus der Küche, und er forderte ihr den Kellerschlüssel ab.
„I Gott bewahre! Den bekommst Du nicht – in meinem Einmachkeller hast Du absolut nichts zu suchen!“ erklärte Tante Sophie entschieden. „Bist ja ein gräulicher Topfgucker! … Und den Korb lasse Du nur ruhig stehen – Du hast kein Recht an den Sachen! Das ist Obst aus meinem Garten, das ich jedes Jahr für arme Kranke einkoche.“
Er stellte den Korb schleunigst auf den Tisch zurück; denn das wußte er von Kindesbeinen an, die Tante war die lautere Wahrheit selbst, da gab es für ihn keinen Zweifel. „Nun ja, dann habe ich freilich nichts damit zu schaffen,“ gab er zu, „und Du kannst mit Deinem Obst thun, was Dir beliebt. Nur ins Packhaus darfst Du nichts schicken – das leide ich nicht!“
„So – das leidest Du nicht? Hör’ mal, der Kopf da“ – sie tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn – „der hat seit vierzig Jahren – denn so lange sind meine guten Eltern todt – für sich allein, schnurstracks nach seinem guten Glauben gehandelt und sich nicht drehen und wenden lassen, wie es anderen Leuten gerade paßte, und jetzt will solch ein ‚Kiekindiewelt‘ kommen und mir Vorschriften machen? Das hat selbst Dein seliger Vater nicht gethan!“
„O, der wäre noch ganz anders aufgetreten, wenn er gewußt hätte, daß dieser Mosje Lenz sein Feind im Stillen gewesen ist! Ich habe der Gesellschaft im Packhause nie getraut; ihr scheinheiliges, stilles Gethue ist mir von kleinauf zuwider gewesen. Nun, da der Papa die Augen zugethan hat, nun weisen sie die Zähne – die reine Jesuitengesellschaft! … Von der Großmama aber ist es unverantwortlich, uns solch beunruhigende Nachricht mit ungewissen Andeutungen zuzuraunen – ich hätte auf volle Offenheit bestehen sollen! Aber ich weiß schon, es ist mit ihr nichts anzufangen, wenn sie in ihrem Visitenmantel steckt; da brennt ihr der Boden unter den Füßen, und sie thut, als hinge das Wohl der ganzen Stadt von ihren Besuchen ab. … Na, endlich wirst Du vernünftig, Grete! Recht so, trage Deinen weißen Mantel wieder in den Schrank! Aber denke ja nicht, daß ich dabei an Deine vollständige Bekehrung glaube! Ich werde ein scharfes Auge auf den Hof und das Packhaus haben, darauf verlasse Dich.“
Mit dieser Drohung verließ er die Wohnstube, während Margarete den Mantel über den Arm hing, um ihn fortzutragen.
„Aber sage mir nur, Gretel, was sind denn das für kuriose Geschichten? Was ist’s mit den alten Lenzens?“ rief Tante Sophie, nachdem sich die Thür hinter dem Fortgehenden geschlossen hatte.
„Sie sollen unsere Feinde sein,“ antwortete das junge Mädchen bitter lächelnd.
„Unsinn! Was wird noch Alles in dem oberen Stocke ausgeheckt werden!“ zürnte die Tante. „Wenn der alte Mann mit seinem guten, treuherzigen Gesichte falsch und hinterrücks ist, da kann man nur getrost da zuschließen“ – sie zeigte nach ihrem Herzen – „denn dann taugt die ganze Menschheit nichts und ist nicht werth, daß man sich um ihr Schicksal kümmert! … Aber die Geschichte ist nicht wahr, da will ich gleich meinen kleinen Finger verwetten!“
„Ich glaube so wenig daran wie Du, und alle Andeutungen und Drohungen würden mich nicht abhalten, zu der kranken Frau zu gehen,“ sagte Margarete. „Aber um Reinhold’s willen darf ich nicht. Er wird bei der geringsten Aufregung so blau im Gesicht, und das ängstigt mich unbeschreiblich, Tante! Sein Zustand hat sich offenbar verschlimmert, wenn auch der Arzt es nicht zugeben will. Wie dürfte ich da Etwas thun, das ihn reizt und ärgert? Wir müssen auf andere Mittel und Wege sinnen, der Kranken ein wenig zu Hilfe zu kommen.“
Ein wenig später ging sie hinauf in die Beletage; sie hatte die für den Großpapa bestimmten Zimmer vorläufig lüften und heizen lassen. Die im Oktober beabsichtigte Renovirung der Beletage war bis jetzt selbstverständlich unterblieben; noch standen die Bilder und Spiegel im Gange des spukhaften Seitenflügels.
Nun sollte wieder einiges Leben in die verwaisten Räume kommen, ein Wärmehauch in die eisige Luft des mächtigen Flursaales, von welcher die junge Verwaiste heute meinte, sie halte noch das ganze Wehe der unglückseligen Katastrophe in ihrer Erstarrung gefangen … Hier, wo alle Fenster nach Norden gingen, herrschte ein winterlich trübes Licht, und draußen auf der weiten Schneelandschaft, die sich jenseit der Stadt hinbreitete und fern, fern an den wolkenlos blauen Himmel stieß, glitzerte auch nur der bleichgelbe Schein der späten Nachmittagssonne, Alles so kalt und ohne Leben, so trostlos, als könne es dort nie wieder grün oder in goldenen Halmen aus der Erde steigen, als würden die dürr und schwarz in den Himmel starrenden Aeste der Obstbäume sich nie mehr mit Blüthen bedecken.
Margarete trat in das letzte Fenster des Flursaales. Hier hatte sie die Stimme ihres Vaters zum letzten Mal für dieses Leben gehört, und hier in die tiefe, dunkle Nische war sie nach fünfjähriger Abwesenheit in jugendlichem Uebermuth geschlüpft, um „das neue Lustspiel“ im väterlichen Hause unbemerkt mit anzusehen … Ja, und da war auch der ehemalige Student als erster Beamter der Stadt zu ihr getreten, und sie hatte sich über den „Herrn Landrath“ lustig gemacht und ihn innerlich verspottet … O, daß sie mit all ihrer gerühmten Kraft, ihrem Eigenwillen diesen Standpunkt nicht wieder zu erringen vermochte! Ihre Hand ballte sich unwillkürlich, und ihr Blick fuhr in ohnmächtiger Erbitterung über die weite Welt draußen hin. Aber in diesem Moment erschrak sie und fuhr heftig zurück – der Landrath kam über den Hof, vom Packhausthor her. Er hatte möglicher Weise ihre Zorngeberde beobachtet, denn er lächelte und grüßte herauf, und da floh sie in das für den Großpapa bestimmte Wohnzimmer, den rothen Salon.
Aber ihr schleuniges Zurückziehen half ihr nichts; wenige Augenblicke nachher stand Herbert vor ihr … Er war fast jeden Tag nach Dambach gekommen, um seines Vaters willen, und doch reichte er ihr jetzt so froh die Hand hin, als habe er sie seit lange nicht gesehen.
„Es ist gut, daß Du wieder da bist!“ sagte er. „Nun wollen wir unsern Patienten zusammen pflegen. Aber auch für Dich selbst war es an der Zeit, in dieses Haus mit seinen hohen, luftigen Räumen zurückzukehren – der Aufenthalt in der engen, dumpfen Pavillonstube hat Dir nicht gut gethan, Du bist so blaß geworden.“
Er suchte mit einem sarkastischen Lächeln und doch auch besorgt ihre Augen, aber sie sah weg, und da fuhr er fort: „Das bleiche Mädchengesicht am Fenster hat mich ein wenig erschreckt, als ich aus dem Packhaus trat –“
„Aus dem Packhause?“ fragte sie ungläubig.
„Nun ja, ich habe nach der armen, schwerkranken Frau gesehen – hast Du etwas dagegen einzuwenden, Margarete?“
„Ich? – Ich sollte es Dir verargen, wenn Du so echt menschlich und barmherzig handelst?“ rief sie feurig. Ihr Blick strahlte auf; sie war in diesem Augenblick vollkommen wieder das enthusiastische Mädchen, dem das warme, edle Empfinden das Blut rascher durch die Adern trieb. „Nein, darin denke ich genau wie Du – Onkel!“
„Nun sieh, da habe ich doch endlich einmal Etwas in Deinem Geist und Sinn gethan – ich höre es an dem Herzenston Deiner Stimme! … Wir empfinden Beide jugendlich warm – dazu paßt aber ein ergrauter, knochensteifer Onkel nicht recht; Du fühlst das auch, denn der ehrwürdige Titel kam Dir eben recht schwer von den Lippen – wollen wir ihn nicht lieber begraben, den alten Onkel?“
[276] Jetzt glitt doch auch ein schwach lächelnder Zug um ihren Mund. Trotzdem sagte sie abweisend: „Nein, es muß dabei bleiben! Was würde auch die Großmama sagen, wenn ich in meine ‚Kinderunart‘ zurückfiele?“
„Das wäre doch am Ende lediglich Deine und meine Sache.“
„O nein, so unbedingt ganz gewiß nicht! Die Großmama wird ihre Obervormundschaft über uns Alle, so lange sie lebt, nicht aus den Händen geben, das weiß ich!“ antwortete sie bitter. „Und Du kannst von Glück sagen, daß sie Deinen Besuch im Packhause nicht bemerkt hat; sie würde sehr böse sein.“
Er lachte. „Und was würde die Strafe für den alten Knaben sein? In der Ecke knieen, oder kein Abendbrot bekommen? Nein, Margarete,“ setzte er ernst hinzu, „so sehr ich auch bestrebt bin, Aergerniß und Verdruß von meiner Mutter fern zu halten und ihr das Leben nach Kräften leicht und angenehm zu machen, so wenig darf ich ihr aber auch entscheidenden Einfluß auf meine Handlungen gestatten. Und deßhalb wirst Du mich noch öfter aus dem Packhaus kommen sehen.“
Sie sah hellen Blickes zu ihm auf. „Hätte sich vorhin ein Zweifel in meine Seele geschlichen, vor Deinem ruhigen Urtheil wäre er geschwunden! Der alte Maler, den ich von meiner Kindheit an lieb gehabt habe, kann nicht unser Feind sein!“
„Wer sagt das?“
„Die Großmama. Ist es wahr, daß er Nachforderungen an uns Geschwister stellt?“
„Ja, Margarete, es ist wahr,“ bestätigte er sehr ernst. „Er hat viel von Euch zu fordern. Würdest Du das ohne Protest über Dich ergehen lassen?“
„Wie könnte ich anders, wenn die Forderung eine gerechte wäre?“ versetzte sie ohne Zögern; aber die Röthe eines plötzlichen Befremdens schlug über ihr Gesicht.
„Auch wenn diese Forderung Dein Erbtheil bedeutend schmälerte?“
Sie lächelte flüchtig. „Es ist bisher immer von Seiten Anderer für mich gesorgt und gezahlt worden; ich kann deßhalb den eigentlichen Werth des Geldbesitzes nicht beurtheilen; darin aber bin ich meiner selbst gewiß, daß ich tausendmal lieber mein Brot mit Nähen verdienen, als auch nur einen Groschen haben möchte, der mir nicht zukäme … Ich weiß ja auch, daß Du nichts Unbilliges unterstützen würdest, und deßhalb bin ich zu jedem Opfer bereit!“
„Kleine Tapfere, die den Fuß sofort im Bügel hat, wenn es gilt, eine brave That auszuführen!“
Ihr Gesicht verfinsterte sich.
„Ein schlechtgewähltes Bild für mich, die ich nicht reiten kann,“ warf sie herb und achselzuckend hin. „Die vornehme Welt spielt in alle Deine Gedanken hinein, Onkel!“
Er verbiß ein Lächeln. „Was willst Du? Dem Bann der Sphäre, in der man viel lebt, entzieht sich so leicht Keiner. Wärst Du die Freiheitsdurstige, die glühende Verfechterin eines stolzen, starken Bürgerthums geworden, wenn Du nicht im Hause des Onkels Theobald gelebt hättest? Ich glaube schwerlich.“
„Du irrst! Das ist nicht angeflogen, nicht eingeimpft, das ist mit mir geboren. Es wäre Eigenthum meines Blutes, meiner Seele gewesen, auch ohne den erweckenden äußeren Einfluß, ohngefähr so wie man sagt –“ ein Zug ihres ehemaligen Muthwillens umspielte ihren Mund – „daß Raphael ein großer Maler gewesen wäre, auch wenn er ohne Hände das Licht der Welt erblickt hätte.“ Sie wurde aber sofort wieder ernst und kam auf Herbert’s Mittheilung zurück. „Auf welches Recht stützt der alte Lenz seine Ansprüche?“ fragte sie unumwunden. „Inwiefern ist er unser Gläubiger?“
„Du wirst kurze Zeit Geduld haben müssen,“ antwortete er zögernd, und seine Augen streiften prüfend ihr Gesicht, als schwanke er, ob er jetzt schon sprechen solle oder nicht.
„Ach, das ist wohl eigentlich Sache meines Vormundes?“ fragte sie scheinbar gleichgültig, aber ihre Wangen färbten sich, und die Stimme klang geschärft.
„Noch hast Du keinen Vormund,“ entgegnete er leise lächelnd.
„Allerdings vorderhand nicht – Du hast es ja nicht werden wollen.“
„Ah, ist Dir das auch schon hinterbracht worden? – Nun ja, ich habe es entschieden abgelehnt, weil mir alles Zwecklose in der Seele zuwider ist.“
„Zwecklos? – Ach so, dann hat ja die Großmama Recht, wenn sie sagt, Du bedanktest Dich für diesen Posten, weil mit meinem bodenlosen Eigenwillen doch nichts auszurichten sei.“
„Nun, stichhaltig wäre diese Begründung in der That – böse genug bist Du ja!“ Er sah sie schalkhaft von der Seite an. „Indeß, ich würde mich nicht fürchten; ich würde mit diesem ‚bodenlosen Eigenwillen‘ schon fertig werden. Aber ich habe einen anderen Grund, und den sollst Du in der allernächsten Zeit erfahren.“
Sie wurden unterbrochen; ein Tapezierer trat herein. Der Landrath wollte neue Fußteppiche für seinen Vater legen lassen. Nun kam der Mann, um den Fußboden der Zimmer auszumessen, und während Herbert mit ihm verhandelte, schlüpfte Margarete hinaus.
„Ja, Recht hast Du, Jette, ’s ist ein wahres Elend!“ sagte Bärbe seufzend zu dem Hausmädchen in dem Augenblick, als Margarete drunten an der offenen Küchenthür vorüber nach der Hofstube ging. Die alte Köchin rollte Teig auf dem Nudelbrett aus. „Ja, Sünd’ und Schande ist’s, daß der Mensch hier im Hause nicht einen Finger rühren darf, um den armen Leuten drüben beizuspringen!“ ereiferte sie sich. „Was wär’s denn nun weiter, wenn ich einen Topf voll Nudelsuppe ’nübertrüge für den alten Mann und das Kind? Aber – daß Gott erbarm! – das wollt’ ich nicht probieren! Der in der Schreibstube thät’ Einem ja den Kopf abreißen!“ Sie streute zornig eine Hand voll Mehl über die breite Teigfläche. „Ja, und es muß schlecht stehen um die alte Frau, die Aufwärterin hat in aller Frühe wieder Eis vom Brunnen geholt, und den Doktor hab’ ich heute schon zweimal kommen sehen – paß auf, Jette, die Frau stirbt! Sie stirbt! Meine Kochtöpfe haben nicht für die liebe, lange Weile den ganzen Vormittag im Ofen gesungen, das bedeutet allemal Tod im Hause, allemal!“
Am anderen Tage herrschte viel Rumor in der Beletage. Tapezierer, Tüncher und Ofenputzer kamen und gingen, und Margarete war von früh an viel in Anspruch genommen. Und das war gut; es blieb ihr nicht viel Zeit zum Nachgrübeln, das ihr ohnehin die Nachtruhe geraubt – sie hatte fast die ganze Nacht mit offenen Augen gelegen, und heftige Stürme waren ihr durch Kopf und Herz gegangen.
In dem rothen Salon sollten die Bilder an ihren alten Platz gehängt werden … Zum erstenmal wieder, seitdem die Todtenkerzen im Flursaal gebrannt hatten, schloß Tante Sophie den Gang hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer auf, und Margarete folgte ihr mit Wischtuch und Federstäuber; sie wollte das Reinigen der Bilder selbst besorgen.
Ein Grauen überlief sie beim Betreten des düsteren Ganges – er war ihr unheimlich, ja, fürchterlich geworden. Das geheimnißvolle Gebahren ihres Vaters an jenem Nachmittage, da er sich in das Zimmer der schönen Dore eingeschlossen, seine räthselhaften Andeutungen in der Sturmnacht – von welcher er gesagt, daß auch sie, nicht die Sonne allein, Verborgenes an den Tag bringe – und der grauenhafte Weg, der sie selbst über diese alten, ächzenden Dielen und den Bodenraum des Packhauses hinweg an die Leiche des so jäh Hingerafften geführt hatte, dies Alles beklemmte und erschütterte sie von Neuem.
Sie trat so scheu und zaghaft auf, als müsse das Geräusch ihrer Schritte die an den Wänden hingereihten Gestalten erwecken und beleben, und alle Geheimnisse des alten Hauses, die sie ins Grab mitgenommen, würden plötzlich mit ihnen laut werden.
Noch lehnte das Bild der schönen Dore abgewendet in der Schrankecke, wie der Verstorbene es damals hingeschleudert, der Sturm hatte nicht daran gerührt … Doppelt erschütternd und herzbezwingend trat ihr beim Umwenden das schöne Weib aus dem Rahmen entgegen, nachdem sie von so manchem ausdruckslosen, alltäglichen Frauengesicht den Staub weggewischt hatte. Sie kniete vor dem Bilde noch einige Augenblicke und sann, was wohl diese mächtigen Augen, der lieblich lächelnde, rothe Mund verschuldet haben mochten, um noch nach hundert Jahren eine solche Erbitterung hervorzurufen, wie sie der Verstorbene in jenem unheimlichen Moment an den Tag gelegt hatte …
Drunten aber sagte Friedrich, der Hausknecht, der aus dem rothen Salon gekommen war und einen scheuen Blick in den offenen Gang geworfen hatte: „Unser Fräulein kniet jetzt gar vor
[277][278] ‚der mit den Karfunkelsteinen‘! Wenn sie nur wüßte, was ich weiß! Die Frau muß bei Lebzeiten ein wahrer Satan gewesen sein, daß sie nicht einmal in ihrem Rahmen Ruhe hat. Das gottheillose Bild gehört von Rechtswegen auf den Boden, hinter den Schlot, sag’ ich – da kann sie meinetwegen ohne Rahmen ’rumspazieren!“
Aber das Bild kam nicht auf den Hausboden. Margarete hängte es selbst mit Hilfe des Tapezierers an seinen alten Platz. Dann ging sie hinunter in ihre stille Hofstube, um sich ein wenig zu erwärmen.
Sie setzte sich an das Fenster und sah in den beschneiten Hof hinaus. Die Temperatur war etwas milder geworden, hier und da sank ein gelöstes Schneebällchen von den Lindenästen; Finken, Meisen und Spatzen tummelten sich auf den für sie hergerichteten Futterplätzen, und auch die Haustauben kamen herab und halfen die reichlich gestreuten Körner aufpicken.
Aber plötzlich flog die ganze Vogelgesellschaft lärmend auf – es mußte Jemand in den Hof, vom Packhause herkommen. Margarete bog sich über die Brüstung, und da sah sie den kleinen Max, wie er, die ängstlich suchenden Augen auf die Küchenfenster geheftet, direkt auf das Vorderhaus zu, durch den Schnee stampfte.
Die junge Dame erschrak. Wenn Reinhold den Knaben bemerkte, dann gab es einen Sturm … Sie öffnete das Fenster und rief das Kind mit halbunterdrückter Stimme zu sich. Es kam sofort herüber und zog sein Mützchen, und da sah sie Thränen in den trotzigen Augen.
„Die Großmama will umgebettet sein, und der Großpapa kann sie nicht allein heben,“ sagte er hastig. „Die Aufwärterin ist fortgegangen; ich habe sie überall gesucht und bin in der Stadt herumgelaufen, aber ich kann sie nicht finden. Nun haben wir Niemand! Ach, das ist zu schlimm! Und da wollte ich zu der guten Bärbe –“
„Gehe nur und sage dem Großpapa, es würde sofort Hilfe kommen!“ raunte Margarete hinab und schloß eilig das Fenster.
Der Kleine lief spornstreichs heim, und Margarete griff nach ihrem weißen Burnuß und ging nach der Wohnstube.
Tante Sophie war eben im Begriff auszugehen.
Das junge Mädchen theilte ihr im Fluge mit, daß augenblickliche Hilfe im Packhause nöthig sei, und schließlich sagte sie: „Ich weiß jetzt, wie ich unbemerkt hinüber kommen kann – durch den Gang und über den Bodenraum des Packhauses! Hast Du den Schlüssel zu der Dachkammer in Verwahrung?“
Die Tante reichte ihr einen neuen Schlüssel vom Haken. „Da Gretel, gehe Du in Gottes Namen!“
Margarete flog die Treppe hinauf, nicht ohne einen ängstlichen Seitenblick nach dem Komptoirfenster zu werfen; aber der Vorhang hing unbeweglich hinter den Scheiben; es war still und menschenleer in dem Hausflur, wie sich vorhin auch kein Gesicht an den Fenstern nach dem Hofe gezeigt hatte, und droben im rothen Salon waren nur noch die Tapezierer beschäftigt, den Teppich zu legen.
Sie huschte durch den Flursaal und die noch zurückgeschlagene Thür des Ganges; das neue Schloß der Dachkammerthür war schnell geöffnet, und auf dem ganzen Bodenraum trat ihr kein Hinderniß in den Weg, alle Thüren standen offen, auch die nach der Treppe führende war unverschlossen.
Der Stil in der Wohnung.
Nach langer Zeit kraftlos magerer Blässe zeigen unsere Wohnungen wieder Form und Farbe, und die Sonne des Schönen blickt wieder freundlicher in unser Heim. Das danken wir der Renaissance. Aber sn dem Versuch, mit ihr ein unserer Zeit Neues wenig vermittelt einzuführen, lag eine Gefahr. Von tieferem Verständniß des Geistes der alten Kunst kann nur bei
Wenigen die Rede sein. Verhehlen wir’s uns nicht: sie ist gar oft zur platten Mode geworden. Daß aber was in die Mode gekommen, auch wieder aus der Mode kommt, ist ein alter wahrer Satz.
Heut seien der Umschau darnach, was im zeitgenössischen Geschmack Mode ist und was mehr, einige ruhige Betrachtungen gewidmet. Man spricht jetzt aller Enden von „Stil“ – möge uns der Begriff des Stils Führer bei dem Folgenden sein!
Zunächst aber fragen wir uns einmal ganz allgemein und scheinbar ohne Beziehung darauf: wie soll eine Wohnung beschaffen sein?
Zweckmäßig! Das ist die Hauptsache, denn entspricht sie dem Zwecke nicht, bewohnt zu werden, so ist sie eben keine Wohnung, und entspricht sie ihm schlecht, so ist sie eine schlechte. Zur guten gehört, daß sie gesund sei. Sie braucht Wärme, Licht, Luft, nicht zu viel und nicht zu wenig, sondern angemessen dem Ort, auf dem sie steht, den Bewohnern, die drin hausen, und ihren Bedürfnissen. Eine luftige Säulenhalle, die der Sonne Hitze mildern soll, kann zweckmäßig im Süden und unzweckmäßig im Norden sein. Die Wohnung soll auch den geistigen Verhältnissen genügen, unter denen wir leben, unsern Sitten und Anschauungen – auch das gehört zur Zweckmäßigkeit! Ein Römerhaus, das weltabgeschlossen in sich hineinsieht, können wir nicht brauchen, denn unsere heutige Häuslichkeit trennt sich minder vom Leben draußen. Manch Material früherer Zeiten entspricht heute seinem Zwecke schlecht, weil es zu theuer geworden – das giebt uns ein Minus in der Rechnung. Die moderne Technik, die modernen Verkehrsmittel setzen ihm ein gewaltiges Plus entgegen, das zu Gunsten eines alten Stils zu ignoriren das Pfund vergraben hieße, mst dem wir wuchern sollten.
Nun aber kommen wir weiter: die Zweckmäßigkeit thut’s nicht allein. Nur Aermlichkeit – materielle oder geistige – begnügt sich damit, Stühle zu haben, auf denen sich sitzen, Tische, auf denen sich schreiben läßt, wie sie sonst auch sein mögen, kurz, mit jenem bloßen „Praktisch-Sein“, das doch ein Geräth nie und nimmer entbehren darf. Und daß wir uns nicht damit begnügen, hat einen in unserem Innersten wurzelnden Grund: den Drang des Menschen, Alles, was er sieht, zu beleben.
Der Wilde legt in die todte und grünende Natur überallhin Seele: seine Religion und sein Aberglauben, seine Märchen und Sagen, seine Gebräuche sind Zeugen dafür. Aber auch der höher Entwickelte läßt sich von Wald und Flur anheimeln und anfremden, und nicht minder von Haus und Hof, Geschirr und Geräth, wenn er künstlerisch empfindet, und bewußt oder unbewußt dichtet auch er Seele in Alles, was ihn umgiebt. Indem er bildet, kann er das auf zweierlei Art. Entweder er wandelt den Stoff, um ein draußen oder im eigenen Kopfe Erschautes ohne anderen Zweck darzustellen, als den, eben ein Bild zu schaffen. Oder er formt aus dem Stoffe einen Gegenstand heraus, der einem bestimmten Gebrauche dienen soll, und sucht ihn so zu gestalten, daß er eben dies Dienen in seiner Form ausspricht. Im ersteren Falle – beim Werke der reinen Kunst – vermittelt der Stoff nur Schauen, Fühlen und Denken des Künstlers; im zweiten – beim Produkt des Gewerbes – soll der Gegenstand von sich selber sprechen und in seiner Erscheinung sagen: aus diesem Stoffe besteh’ ich und diesem Zwecke dien’ ich.
Ein Geräth aber, das unserem Auge sagt, was es ist und was es soll, hat Seele, Leben und Sinn – hat Stil!
Wir wollen beim Metallgefäß die Eigenschaften des Metalls aus der Form erkennen, seine Kraft, Härte, Zähigkeit, beim Glasgebilde die Sprödigkeit, doch auch die schmiegsame Grazie und Dehnbarkeit und Durchsichtigkeit des Glases. So darf die Form nicht wider die Natur des Stoffes sein: ein Dreifuß von Erz mag seine Füße biegen, ein Stuhl massiven Holzes darf es nicht, denn dessen Faserung läuft gerade, ein Stuhl aus Zweigen darf es, denn Zweige biegen sich. Ein Stuhl soll ferner sich behaglich öffnen, als lüd’ er uns ein zum Niedersitzen, denn dann spricht seine Form den Zweck aus; ein Tisch soll auf festen Füßen stehen, als sag’ er uns: belaste mich nur, ich breche nicht, ein Schrank sich kraftvoll verschließen, als wollt’ er sagen: vertrau’ mir Dein Gut, ich berg’ es sicher. Das Faß soll uns in seiner Formerscheinung schon andeuten, daß es seinen Inhalt nur [279] aufbewahrt, die Kanne, daß sie ihn ausgießen will, das Weinglas, daß es dem Schlürfen des Rebensaftes, das Bierglas, daß es dem reichlichern Trinken derberen Stoffes, dient.
Thun sie das, so sind diese Dinge stilgemäß, und was ihre Form sagt, ist wahr.
Stillos dagegen ist das Gefäß, das aus Thon besteht und doch in seiner Form den Charakter des Glases zeigt, oder aus Glas und doch die Form nachahmt, die der Natur des Thons entspricht. Stillos ist eine Porcellanschale, die nach Form und Farbe Holz nachmacht oder Korbgeflecht, stillos ein goldenes Armband, das einem in Gold verzauberten Lederriemen gleicht. Alle solche Dinge geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind – sie lügen. Am läppischsten aber lügen im Kunstgewerbe jene Produkte, deren Schöpfer sich womöglich einbilden, es am wenigsten zu thun: die sogenannten „naturalistischen“. Da sehen wir eine Schale aus Porcellan – aber nein, es ist ein riesiges Baumblatt, auf jedes Ritzchen und Riefchen genau nachgebildet. Aber das Ding soll doch nun einmal nicht die Nachbildung eines Blattes sein, sondern eine, zum bestimmten Gebrauch, dienende, Schale. Es als solche auszubilden, forderte deßhalb gerade die Natur der Sache, nicht aber über der Nachahmung eines fremden das eigene Wesen des Gegenstandes zu vergessen.
Doch nicht nur das Ganze soll sagen, was es ist und will, auch seine Theile sollen es. Haben wir eine Lampe vor uns, so wollen wir nicht nur aus ihrer Form als Ganzem ersehen, daß sie eine Lampe ist, nicht etwa – wie das freilich noch immer bei den meisten der Fall scheint – eine zum Brennen zugerichtete Vase oder gar einen Krug. Wir wollen auch deutlich den Fuß als fest zum Stehen bestimmten Fuß erkennen, den Griff als Griff, den Ballon als Ballon, den Brenner als Brenner.
Und auch der Schmuck muß unserer Forderung genügen, um wahrhaft stil- und somit sinngemäß zu werden. Ein Tischfuß, der als Kopf geschnitzt, ist ein Unsinn, denn auf dem Kopf steht nur der Narr. Ein Bild, das einen Teller ununterbrochen überzieht, ist stillos, weil es die Bedeutung des Randes am Geschirr verwischt; ein Ornament, das eben diesen Rand begleitet, stilrein, weil es ihn hervorhebt als den Theil, der von der Speise freibleiben soll. Nie darf dabei vergessen werden, welches unser Material. Soll Schmuck und Geschmücktes zur Einheit verschmelzen, so muß auch der Schmuck mit des Gefäßes Stoff verwandt erscheinen. Was bietet uns zum Ornament reichere und schönere Vorbilder, als Pflanzen- und Thierwelt? Aber nur so dürfen wir sie verwenden, daß wir den Typus, der in ihnen liegt, vom Stoff der Natur auf unsern Stoff übertragen, indem wir z. B. dem Typus des in Gold übertragenen Pflanzenbildes den Charakter zu geben suchen, der dem goldenen Metalle eigen. Auch dieses „Stilisiren der Natur“ ist nur eine Forderung innerer Wahrheit.
Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt kann zwar in einigen Fällen künstlerisch berechtigt sein: dänn, wenn er witzig ist. Aber alsdann will er auch, nicht lügen; im Kontraste tritt er vielmehr gerade scharf hervor und weist darauf hin – und darin liegt ja eben der Witz – daß er nicht das ist, was er zu sein vorgiebt. Für witzig in solcher Art mögen zur Noth die jetzt so beliebten Bierkrüge in Gestalt eines Mönchs hingehen, aus dessen Schmeerbauch man trinkt; wenngleich der „Witz“ dabei jedenfalls weder fein noch geistreich ist. Ist’s aber witzig, wenn ein Aschenbecher die Gestalt eines Menschengesichts in vertiefter Arbeit zeigt? Und doch kenn’ ich einen, der nicht etwa eine architektonische Maske, der ein leibhaftig ähnliches Portrait eines berühmten Mannes darstellt, dem sein Verehrer vermittelst Abstäubens der Cigarre aufs Angesicht seine Huldigung darzubringen glaubt. Ist das viel besser, als die schönen Taschentücher von ehedem, mit welchen sich der patriotische Bürger ehrfurchtsvoll in seines Landesherrn aufgedrucktes Bildniß schnäuzte? Doch selbst ein Gefäß, das eine wirklich witzige Idee zum Ausdruck bringt, erregt durch den häufigen Anblick im täglichen Gebrauche leicht Ueberdruß. Wir werden eben schließlich auch des guten Witzes satt, wird er durch stetes Wiedererzählen abgehetzt.
Mit unseren Betrachtungen über den Stil haben wir schon einige Blicke ins Mode-Unglück geworfen. Der antike, gothische, Renaissance-, der „altdeutsche“ Stil spukt jetzt in allen Gesprächen – vom Stil schlechthin wissen die Wenigsten etwas. Und doch kommt alles in erster Linie auf ihn an, denn der Stil schuf sich die Stile. Und das ging so zu.
Die Verhältnisse, die über einem Volk in bestimmtem Zeitalter walten, gestalten sich ihre eigene Formensprache nicht minder, als ihre eigesie Wortsprache. Die Durchgeistigung eines Gegenstandes, daß er zu uns von seinem Sein und Sollen spricht – der Stil im allgemeinen Sinne – ward von allen natürlich empfindenden Künstvölkern aller Zeiten erstrebt, aber jedes wollte ihn zu sich sprechen sehen in der gerade ihm vertrauten Formensprache. Die antike Welt mit ihrem Schönheitssinn, mit ihrer heitern Vielgötterei, mit ihrem ganz andersartigen Leben als dem unseren, lehrte die kleine Welt ihrer Umgebung so zu reden, wie sie am liebsten sie sprechen hörte; das gothische Mittelalter, dessen ganzes Sein unter dem Banne kirchlicher Frömmigkeit athmete, wollte in seiner Formensprache auch dann religiöse Anklänge nicht missen, wenn nur vom Leben der Häuslichkeit zu erzählen war; die Renaissance mit ihrer Schönheitsfreude, ihrem versteckten Heidenthum, ihrer glühenden Bewunderung der Alten ließ wiederum Alles, was sie beseelte, in ihrem eigenen, durch alles das beeinflußten Idiome reden. Aber immer, wo wir echten Stil finden, war nur die Sprache verschieden, in der gesprochen wurde, nur die Formen des Ausdrucks wechselten nach dem Geiste der Zeit: das, was ein Geräth sagte, war stets dasselbe: dies bin ich und dies soll ich!
So liegt denn dort die Achillesferse unseres heutigen Kunstgewerbes, wo es dies Allgemeine vergißt, wo es die historischen Stile pflegt, ohne den großen einen Stil, wo es die Söhne verhimmelt, ohne sich viel um den Vater zu kümmern.
„Die Gesellschaft der Waisenfreunde.“
Am 15. März 1884 wurde in Leipzig der Verein gegründet, welcher den obigen Namen annahm und dessen Programm wir in demselben Jahrgang der „Gartenlaube“ S. 323 unseren Lesern mitgetheilt haben.
Der Gedanke, welcher die Gründung dieser Gesellschaft ins Leben rief, spricht von selbst zum Herzen jedes Kinder- und jedes Volksfreundes, und wir haben in dem Vertrauen auf die Wirksamkeit desselben uns nicht getäuscht; dennoch aber halten wir, nach den in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen, die erneute Erinnerung an das Unternehmen und eine lebhaftere Nachhilfe für dasselbe durch die Presse für nothwendig und verbinden diese heute mit der Einladung zur ersten Generalversammlung des Vereins.[1]
Der Gedanke brachte nichts Neues auf die Welt; für die Annahme an Kindesstatt (Adoption) bestehen längst gesetzliche Bestimmungen. Was neu an der Sache ist, gehört dem Bestreben der Gegenwart an: Denn, was früher vereinzelt geschah, durch gesellschaftliche Thätigkeit größere Verbreitung zu verschaffen. – Unsere Zeit hat neben ihrem strahlenden Licht auch die entsprechenden Schatten, und hier nimmt die Verrohung, welche man in gewissen Schichten der Bevölkerung zu beklagen hat, eine wichtige Stelle ein. Sie lenkt von selbst den Blick auf die Kinder der Armuth und wirft die Frage auf: Wie ist da zu helfen? Die Wahrnehmung ist so allgemein, daß sie längst die öffentliche Sorge in Anspruch nimmt und daß die verschiedensten Mittel angewandt werden, dem Unheil Einhalt zu thun und für seine Beseitigung zu wirken. Auch das Bestreben der „Waisenfreunde“ will nicht mehr und nicht weniger, als dazu ein Mittel in kräftigere Thätigkeit versetzen, als bisher geschah, ausgehend von der Ueberzeugung, daß durch Aufnahme in wohlhabende Familien Tausende von armen, verlassenen Kindern vor dem Versinken in Verkommenheit und Entartung gerettet werden könnten.
Man wird uns einwenden, daß vom Staat und von den Gemeinden durch Waisenhäuser für den beklagenswerthesten Theil der Kinder gesorgt werde. Wir wollen kein Wort gegen das Walten guter Waisenhäuser einwenden, obwohl wir die Erziehung [280] eines Kindes in einer guten Familie der im besten Waisenhause vorziehen. Wo aber keine Waisenhäuser bestehen? Da kommen die armen Waisen freilich auch in die Familien, aber wie? In einem sächsischen Blatte lasen wir folgende dorfobrigkeitliche Anzeige: „Nächstkommenden Sonntag Nachmittags drei Uhr sollen im Erbgericht zwei elternlose Kinder, ein Knabe von sieben und ein Mädchen von zehn Jahren, nach Mindestforderung in Erziehung gegeben werden.“ Die Redaktion der betreffenden Zeitung machte die Bemerkung dazu: „Welche Eindrücke muß dadurch die Seele dieser Kinder für das spätere Leben davontragen?“
Die Gleichgültigkeit, mit welcher man schon halbverkommene Bettelkinder an sich vorüberlaufen läßt, rächt sich durch die gesteigerten Gefahren, die aus der Entsittlichung der Armuth erwachsen. – Davor kann nur wahre, das heißt werkthätige Menschenliebe uns retten. Und wie leicht und rasch wäre geholfen, wenn es recht viele solcher Mütter gäbe, wie ich eine gekannt und von der ich das Folgende erzählen will.
In einem thüringischen Städtchen sah man vor dem Hause einer wohlhabenden Familie täglich ein armes Kind, einen Knaben von etwa vier Jahren, betteln. Er kam bei jeder Witterung, in Sturm und Regen wie im Sonnenschein. An einem Spätherbst-Nachmittag jammerte der Kleine ganz erbärmlich: er habe noch nichts erbettelt und er bekomme Schläge, wenn er nichts heimbringe. Da ließ die Frau des Hauses den Knaben vor sich führen. Sie hatte just ihre fünf Kinder gebadet, das Kleinste war eben aus der Wanne gehoben. Der arme Junge starrte vor Schmutz an den Kleidern wie an Händen und Gesicht und bot einen widerlichen Anblick. Das ging der Frau erst recht zu Herzen. Rasch ließ sie ihn entkleiden und steckte ihn in die Wanne, während alte Kleider von ihrem gleichaltrigen Söhnchen zusammen gesucht wurden, denn die Kleiderfetzen des Jungen mußte man auf den Düngerhaufen werfen. Und als er nun von der Kruste von Schmutz befreit und frisch angekleidet war, stand ein wunderhübsches Bübchen da! Mit Staunen und Jauchzen begrüßten die Kinder das neue Brüderle, zogen es sofort in ihren Kreis, theilten mit ihm ihr Vesperbrot und ihr Spielzeug, und alle waren glücklich, am glücklichsten der Knabe, der zum ersten Male in seinem Leben fühlte, wie Liebe thut. Als aber der Abend kam und das gute „Brüderle“ heimgehen sollte, brach ein allgemeiner Jammer los. Das arme Kind schluchzte: „Wenn ich heim komme, nehmen sie mir die schönen Kleider, ich muß meine alten wieder holen, und Hiebe krieg’ ich doch.“ Was war da zu machen? Der Knabe blieb, – und seine Eltern gaben das gern zu; „hätten sie doch so einen Fresser weniger,“ sagten sie.
Das ist ein Beispiel von dem Glücke eines Kindes der Armuth. Giebt es nicht Hunderttausende von Familien, die wohl noch leichter, als diese Mutter, ein armes Kind zu sich nehmen könnten? Mit jedem geretteten Kinde würde für die menschliche Gesellschaft und das Gedeihen des Vaterlandes eine Gefahr beseitigt und eine Hilfe gewonnen sein.
Unser Verein wendet seine Bitten aber vorzugsweise an kinderlose Ehepaare und beschränkt seine Sorge auf die elternlosen Kinder, auf die Waisen. – Wenn wir nun die Wahrnehmung machen, daß von den vielen kinderlosen Ehegatten verhältnißmäßig doch nur eine geringe Zahl sich zur Annahme einer Waise an Kindesstatt entschließt, so dürfen wir dies nicht dem Mangel an gutem Willen zur Last legen. Die Hauptursache ist, daß sie den Werth eines Kindes nicht zu schätzen wissen. Gegen diese Ursache können uns aber nur die glücklichen Mütter zu Hilfe kommen; nur sie sind im Stande, kinderlosen Frauen die rechte Schilderung zu geben von den tausend Freuden, welche das aufblühende Leben eines Kindes in unserm Herzen erweckt. Und wenn es der Mutterliebe naturgemäß auch leichter wird, die vielen Mühen der Pflege zu tragen, als dem Weibe einem angenommenen Kinde gegenüber, so haben wir doch Beispiele zu verzeichnen, wo edle Frauen Kinder im Alter von wenigen Monaten an sich nahmen und in kurzer Zeit sich so innig an das junge hilflose Wesen gefesselt fühlten, daß sie bei dem ersten Lallen, dem ersten Lächeln, dem ersten Aufbrechen der Knospe des Geistes im Kinde alle Mühen vergaßen und alle schlaflosen Nächte, daß sie glücklich wurden in dem Besitze eines Kindes. – Und daß diese Liebe echt sein kann, daß sie zu wahrer Elternliebe sich ausbildet, das haben wir auch an einem Trauerfall erfahren: wir hatten zwei Todesfälle zu beklagen, zwei schon ältere der angenommenen Waisen starben, die Briefe der Pflege-Eltern drückten einen so tiefen Schmerz aus, wie er beim Verluste leiblicher Kinder nicht bitterer empfunden werden kann. Auch sie gehörten zu Denen, welche den Werth eines Kindes erkannt hatten.
Was unsere Gesellschaft auf dem Gebiet der Waisenversorgung bisher geleistet, darüber werden in der Generalversammlung, deren Ort und Zeit oben angegeben ist, unser Geschäftsführer, Herr Schuldirektor Karl Otto Mehner in Burgstädt bei Chemnitz, und unser Kassirer, Herr Direktor emeritus K. Glob. Dießner (bei welchem gegen Einzahlung von drei Mark die Mitgliedskarten des Vereins zu beziehen sind) Bericht erstatten. Einen Erfolg der Gründung unserer Gesellschaft darf ich jedoch nicht verschweigen.
Aus Wien erhielt ich Programm und Statuten eines Vereines zugesandt, dessen „Bitte zum Beitritt“ Folgendes ausspricht:
„In Leipzig hat sich jüngst – veranlaßt durch ein Gedicht in der ‚Gartenlaube‘ des Inhalts, wie traurig Weihnachten, wo kein Kind im Haus – eine Gesellschaft von Waisenfreunden gebildet, die den Zweck hat, Waisenkinder zunächst in kinderlosen Familien unterzubringen. Ein solcher Verein ist hiermit auch in Wien und zwar mit dem Rechte der Ausbreitung auf ganz Oesterreich ins Leben getreten. Die Begründer desselben sind sich im Vorhinein bewußt, damit einen neuen Baustein in das sociale Gebäude der allgemeinen Wohlfahrt einzufügen und der Zustimmung aller Wohldenkenden gewiß zu sein.“
Diese Schwesterstiftung der unsrigen nennt sich „Kinderasylverein ‚Waisenhort‘“ und der Präsident ihres Vorstandes ist Herr Engelbert Keßler, Vorstand für Spar-, Vorschuß- und Genossenschaftswesen des I. allgemeinen Beamtenvereins, in Wien IX., Kolingasse 15.
Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, über diese Wiener Stiftung uns nur zu freuen. In der Annahme, daß von den zahlreichen Freunden und Lesern der „Gartenlaube“ in Oesterreich doch manchem die Schriftstücke des „Kinderasylvereins“ noch nicht zugegangen, theilen wir das Wesentlichste für die Verbreitung desselben mit. Außer der Versorgung von Waisen aller Stände in dazu befähigten Familien, namentlich den kinderlosen, bezweckt der Verein die Gründung von Waisenasylen zum Behuf der Versorgung von Waisenkindern in eigener Regie, sowie die Bildung eines Hilfsfonds zur Unterstützung unbemittelter Waisen von Fall zu Fall. Das Wirkungsgebiet desselben sind die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, ohne Rücksicht auf die Konfession. Die Verpflichtung der Mitglieder des Vereins ist dieselbe wie bei den unsrigen: Aufsuchung von verlassenen Waisen und von Familien, welche sich derselben annehmen wollen, und Meldung darüber an den Vorstand. Eigenthümlich und praktisch ist die Bestimmung über die Beiträge zu den Vereinsmitteln. Sie zerfallen in vier Klassen: 1) Beitrag als Stifter: 50 Gulden ein für allemal oder 5 Gulden jährlich, 2) Beitrag als Mitglied: 50 Kreuzer jährlich, 3) Unterstützendes Mitglied: Zahlung nach Belieben, 4) Spenden, einmalige Gaben. Die drei letzteren Beitragsarten sind, nach der Absicht der Gründer, besonders geeignet, die Theilnahme am Verein in der Masse der Bevölkerung Wurzel schlagen zu lassen. Die Sendungen geschehen an die Adresse, die wir deßhalb oben angegeben haben.
Auch die mahnende Bitte des Kinderasylvereins-Vorstandes an seine Landsleute dürfen wir an die unseren richten: „Der Fortschritt der Menschheit erfordert es, daß die Gesellschaft nicht stehen bleibe in ihrer Entwickelung und in Zeiten der Noth und des Kummers vor allem ihren Nachwuchs nicht verkümmern lasse. Sache des Staats und der Gemeinde mag es sein, das Werk der humanen Pflege kraft ihrer Mittel zu vollenden, wozu die Gesellschaft in richtiger Erkenntniß des Bedürfnisses durch humanitäre Selbsthilfe pionierartig die Wege gezeichnet, auf denen eine Besserung der allgemeinen Verhältnisse und Zustände angebahnt werden kann und muß. Niemand entschlage sich dieser Mitwirkung, es ist ein Gebot der Nächstenliebe, eine Ehrenpflicht der Menschlichkeit, mitzuthun an dem täglichen Erlösungswerke Aller!“
Möge diese Bitte von dem Volke in Deutschland wie in Oesterreich, mit welchem wir doch in Allem, was deutsch und brav ist, treu zusammenstehen, recht warm beherzigt werden! Es giebt nichts Lohnenderes auf Erden, als aus verlassenen Kindern gute Menschen zu erziehen. Friedrich Hofmann.
[281]
Es war am Nachmittage des folgenden Tages, als in der
Arbeitsstube des Bürgermeisters dieser und der alte Külwetter
zusammen saßen. Sie hatten Geschäfte verhandelt, denn Herr
Peter Külwetter hatte eine Lieferung leichten scharlachenen Tuches
zum Ausschlagen der Gerüste für die Stadtmusici neben der
Ehrenpforte in der Schloßgasse. Die Sache ging eigentlich
das Oberhaupt der Bürgerschaft nichts an, sondern gehörte
in den amtlichen Bereich des Stadtkämmerers. Aber Herr
Külwetter nahm durchaus keinen Anstand, auf die Verwandtschaft
pochend, seinen Herrn Vetter, den Bürgermeister
selber, mit allen Einzelheiten des Geschäftes zu behelligen,
weil er natürlich für den ausbedungenen Preis sich nicht wehe
thun, sondern möglichst leichte Waare liefern wollte.
Das Geschäft war beendet; Doktor Tiedemars hatte mit seinem feinen Lächeln dem Gevatter noch zu guter Letzt anempfohlen, daß das Tuch aber wenigstens von Mittag bis Abend halten müsse, und Peter Külwetter den bürgermeisterlichen Witz gebührend belacht. Er war aufgestanden und am Hinausgehen, da wendete er sich noch einmal um und sagte, auch mit seinem trockenen, meckernden Lachen:
„Was ich noch sagen wollte – es hat da zwischen dem Georg und der Rosine, dem Gänselchen und dem Gänser, gestern einen kleinen Spahn gesetzt. Weßhalb? Je nun, Euer Leichtfuß scheint am unrechten Orte seine Weide gesucht zu haben, und die Rosine ist dahinter gekommen. Pah, nicht der Rede werth – unsereins ist ja auch kein Mönch gewesen, nicht wahr? Nun, mein Mädchen ist auch vernünftig und will ihm nichts nachtragen. Aber wär’s nicht doch gut, wir machten nun bald die Sache fest? Gleich nach dem Einzug, nicht wahr? Dann hört das Herumvigiliren des Burschen, was Euch ja auch nur Euer gutes Geld kostet, von selber auf.“
„Ich werde heute noch mit dem Georg reden,“ sagte Doktor
Tiedemars gehalten; die Nachricht über seinen Sohn schien ihm
nicht sonderlich gefallen zu haben. „Und dann – laßt mir nur
Zeit bis nach dem Einzug, Gevatter, dann mögen Verspruch und
Hochzeit so nahe, wie es nur statthaft ist, auf einander folgen.
Die Weiber sind ja ohnedies mit Allem längst bereit.“
Herr Peter empfahl sich und rieb sich draußen zufrieden die Hände. „Wo steckt denn der Georg, Frau Gevatterin? Daß man den doch einmal zu sehen kriegte, wenn man hier ins Haus kommt!“ rief er, als er an der Küche vorüberkam, der drinnen wirthschaftenden Bürgermeisterin zu. Der sitze heute den ganzen Tag in seiner Stube über den Büchern, rief ihm die Frau hinaus.
„Ueber den Büchern? den ganzen Tag? so?“ meckerte der Alte vor sich hin. „Nun, ich lasse ihm meine Empfehlung machen, dem jungen Herrn!“ damit trollte er sich nickend und die Hände reibend hinaus.
Der Bürgermeister hatte sich nach dem Weggange des Gevatters wieder an die Amtsgeschäfte begeben, aber es war eine leichte Wolke auf seiner Stirn geblieben, und als gegen Abend Georg bei ihm eintrat, blickte er dem Sohne mit einer gewissen Zufriedenheit zwar, daß jene Angelegenheit nunmehr zur Erledigung kommen sollte, aber doch etwas ernster als sonst entgegen.
„Habt Ihr Muße mich anzuhören, Vater, in einer Sache, deren Aufschub ich nicht länger auf mich nehmen möchte?“ begann Georg.
Der Alte neigte langsam das große Haupt, und deutete, indem er seinen Sessel etwas vom Schreibtisch fortrückte, auf den noch in der Nähe stehenden Stuhl, auf welchem vorhin Herr Külwetter gesessen hatte ... „Es trifft sich, daß auch ich etwas mit Dir zu besprechen habe ... ich wollte Dich gerade rufen lassen,“ sagte er dabei.
Georg blickte rasch auf, in einiger Betroffenheit über den Ton des Vaters, und suchte dabei in dem klugen Gesicht desselben zu lesen. „Der alte Külwetter war hier, Vater ... hatte er ein besonderes Anliegen an Euch?“
„Ja,“ sagte der Bürgermeister trocken. „Er beklagte sich über Dich und bat mich, den Termin Euerer, das heißt Deiner und Rosinens, Hochzeit zu beschleunigen, was ich ihm auch zugesagt habe.“
Es ging wie eine Flamme über das Gesicht des jungen Mannes, aber er schwieg noch, preßte sogar die Lippen fester auf [282] einander, während er die Arme über der Brust kreuzte. Der Sturm war also im Anzuge, mochte er kommen ... jetzt hieß es, ihm die Stirn bieten.
Der Bürgermeister betrachtete seinen Sohn aufmerksam und begann dann in einem Tone, der viel milder war, als ihn Georg zu hören erwartet hatte:
„Ich gedenke Dir hier keine Lektion, wie einem Schulknaben, zu lesen, Georg. Aber eines will ich Dir nicht verhalten. Gerade weil Du nun drei Jahre hindurch Deine volle Freiheit gehabt hast, hätte ich nimmermehr zu hören erwartet, daß Du Dir hier in Deiner Vaterstadt, in der Du nun bald als einer der ersten Bürger sitzen sollst, noch jetzt einen übeln Leumund machen werdest und dem armen Ding, der Rosine, Grund zur Klage geben!“
Es blieb nicht unbemerkt von dem Doktor, daß bei den Worten, mit denen er Rosinens erwähnte, ein verächtlicher Zug um die Lippen seines Sohnes zuckte.
„Sprich,“ sagte er jetzt, um einen Schatten weniger gelassen, als er es bisher war, „ist es eine Kinderei von dem Mädchen, oder hast Du ihr in der That ein Recht gegeben, eifersüchtig zu sein?“
„Ja, Vater, allerdings: das beste Recht, den besten Grund von der Welt,“ war die Erwiderung des Sohnes, indem er die Augen zu dem Alten erhob und ihn fest ansah.
Der Doktor fuhr nun doch in die Höhe. Die Armlehnen seines Sessels mit beiden Händen haltend beugte er sich vor. „Was steckt hinter dieser wunderlichen Antwort, Georg? Beliebt es zu reden?“ rief er scharf.
Die Bürgermeisterin, die in der Nebenstube das Abendbrot herzutrug, hatte sich schon eine Weile geängstigt, was die Beiden nun wieder hinter verschlossenen Thüren zu stecken hätten. Sie ging öfter an dieser Thür vorbei, als eben nöthig gewesen wäre, und ärgerte sich, daß hinter den dicken Eichenholzpanelen derselben bis jetzt nur ein undeutliches Stimmengemurmel hervordrang. Jetzt aber fuhr sie ordentlich zusammen. Sie hatte einen zornigen Ausruf ihres Mannes gehört und zugleich ein Geräusch, als wenn einer der massiven Stühle drinnen heftig zur Seite geschleudert würde. Das war in dem Augenblicke gewesen, als drinnen über die Lippen Georg’s zum ersten Male der Name der Tochter des Lukas Vanderport gegangen war.
Der Doktor war aufgefahren, wie es dem Manne von erprobter Selbstbeherrschung selten begegnete. „Nun bei Gott!“ rief er, „einen schlimmeren Streich hätte uns Dein vermessener Leichtsinn nicht spielen können. Ich ebne den Leuten hier die Wege, wo und wie ich nur kann ... sie blicken auf mich als ihren stärksten Beistand – durch mich sind sie hergekommen, ich bin dem Landgrafen für sie verantwortlich ... und nun wird dem Hause des Mannes, dem die ganze Gemeinde anhängt, die schnödeste Unbill zugefügt ... und durch wen – durch mein eigen Fleisch und Blut, durch den Sohn des Bürgermeisters selber!“
Wie um seiner Erregung Herr zu werden, war der Doktor heftig im Gemache auf und abgeschritten; er blieb stehen, als Georg begann:
„Ihr irrt, Vater. Noch ist die Ehre der Weberstochter durch mich nicht gekränkt ... die ist bei ihr selber in guter Hut. Ich denke ehrlich um sie zu werben ... lassen kann ich nicht von ihr, noch sie von mir, und sie wird mein Weib – sie oder keine.“
Diesmal erfolgte kein lauter Zornesausbruch des Bürgermeisters, aber das volle, scharfe Gesicht veränderte die Farbe und gewann einen Ausdruck, wie ihn Georg noch nie gesehen hatte. „Ich glaube, Du träumst, Bursch!“ sagte der alte Herr eiskalt. „Seit Jahren haben die Külwetters unser Wort, und wie ich Dir vorhin sagte: sobald der Einzug der Herrschaft und die Festlichkeiten vorüber sind, wird zwischen Euch Verspruch und Hochzeit gehalten.“
Auch Georg war scheinbar ruhig geblieben, nur daß er die Arme fest über der arbeitenden Brust kreuzte. „So glaubt Ihr mich zwingen zu können, Vater?“ sagte er, „zwingen, ein Wort einzulösen, welches ohne mich gegeben wurde, dem ich als gedankenloser, keines bindenden Entschlnsses fähiger Knabe mich anbequemt haben mag, und welches auch von Euch, je nach Eurer Laune, einmal ernst genommen zu werden schien, dann aber auch wieder leicht, wie ein kindischer Scherz! Ich aber sage Euch, mit allem schuldigen Respekt, Vater, doch kraft der festen Entschließung des Mannes, zu der ich, bei Gott, jetzt ein Recht habe: jenes Mädchen, die Rosine Külwetter, heirath’ ich nimmermehr!“ –
„Georg! ...“ die Stimme des Alten donnerte durch das Gemach, so daß die Bürgermeisterin in der Nebenstube zusammenfuhr und sich dann kopfschüttelnd auf den nächsten Stuhl sinken ließ. Auch der Sohn war bleich geworden, aber dem scharfen Blick des Bürgermeisters entging nicht, daß er keineswegs nachgiebig aussah, vielmehr saß ihm zwischen den Brauen jene Falte eines hartnäckigen Entschlusses, welche man schon dann und wann an dem Knaben gesehen hatte, und welche dann immer als Vorzeichen einer Niederlage derer, die anders wollten, als er, gelten konnte.
Der Bürgermeister hatte viel vom Diplomaten; er erwog gedankenschnell, daß es nicht gerathen sein würde, den starren Willen in dem jungen Kopf da gegen sich zu waffnen. Weit ruhiger, als man nach seinem letzten Ausruf hätte erwarten sollen, begann er nach kurzer Pause:
„Du warest im Irrthum, mein Sohn, wenn Du jenes Uebereinkommen zwischen den Külwetters und uns, nach welchem die beiden Häuser sich durch Euch verschwägern sollten, allzu leicht genommen hast. Muß ich Dich daran erinnern: demselben wohnt jene bindende Kraft bei, die dem Worte eines Ehrenmannes in der gesitteten Gemeinschaft eigen ist und ihm den Werth eines Eides verleiht! Willst Du mich vor meinen Mitbürgern zum wortbrüchigen Lügner machen?“
Der kluge Herr war in ein gewisses Pathos verfallen, welches bei ihm nur sehr selten zur Anwendung kam. Aber er überschoß das Ziel; er vergaß, daß er in seinem Sohne ebenfalls einen Juristen vor sich hatte. „Da sei Gott vor,“ erwiderte Georg auf jene letzten Worte ziemlich kühl. „Aber es bleibt ein Ausweg, lieber Vater: beide Theile können von einem eingegangenen Vertrag zugleich und freiwillig zurücktreten. Der alte Külwetter kann, wenn er Alles erfährt, nicht umhin, Dir gegenüber von seinem Worte zurückzutreten.“
Der Doktor biß sich auf die Lippen ... „Er wird sich schwer dazu verstehen, Georg,“ sagte er und fuhr dann mit einem Anflug von Wärme fort: „Sie hängen an Dir, wie ich und Deine Mutter uns an das Mädchen wie an eine Tochter gewöhnt haben. Hör auf die Stimme der Erfahrung, der Klugheit, Georg ... beschwöre keine endlose Reihe von Widerwärtigkeiten über uns alle herauf durch eine flüchtige Laune! Rosine ist ein Mädchen wie für Dich geschaffen ... den Augen wohlgefällig, nicht klüger als nöthig ... und daß sie Geld und Gut mitbringt, ist wahrlich nicht zu unterschätzen ... auch sichert es ihr, wie es Dir zu Statten kommt, das nöthige Ansehen in der Stadt sowohl wie auch im eignen Hause –“
„Um Gottes willen, Vater!“ rief Georg schmerzlich aus, als der Bürgermeister sich hier unterbrach – „redet mir nicht länger von Rosinen! Was sie ist, was sich unter dem Taubengefieder verbirgt, das hab’ ich jüngst erfahren ... aber gleichviel, preist sie mit Menschen- und mit Engelzungen denen, die nach ihr und nach ihren Truhen fragen! Muß ich es wiederholen? für mich giebt es nur noch ein Weib ... sie, die ich Euch nannte, die Tochter des Mannes, dem auch Ihr Eure Achtung nicht versagt ...“
Er war mit einem Male ganz nahe an den Vater herangetreten, und dieser blickte nunmehr betroffen in das Gesicht des Sohnes und hörte auf das Beben tiefster Erregung in der unterdrückten Stimme, mit der jetzt die Worte kamen: „ich liebe Hilden Vanderport ... hört Ihr, Vater, ich liebe sie und will und kann nicht ohne sie leben. Vielleicht wißt Ihr nicht, was das heißt, denn ich selber habe es vor wenigen Wochen noch nicht gewußt.“
Der alte Herr hatte inzwischen seine Ueberraschung schon bemeistert, und als er jetzt sprach, war es in seinem trockensten, kältesten Tone.
„Das nimmt mich Wunder ... ich dächte, der Herr Sohn hätte eben jene Studia unter den Weibern in Padua und Bologna sehr eifrig betrieben und sei in der ars amandi kein solcher Neuliug mehr.“
Georg war blaß geworden, und der Alte sah einem heftigen Ausbruch entgegen. Aber er irrte sich; der Sohn wendete sich schweigend nach der Thür. „Wohin, Georg?“ rief der Doktor mit starker Stimme. „Gehst Du so von Deinem Vater?“
[283] „Es ist besser, Ihr laßt mich gehen, Vater,“ sagte Georg. „Jedes Wort, welches ich in dieser Sache noch redete, wäre zu viel.“
„Oho ... und darf man fragen, was Du zu thun gedenkst?“
Die beiden Männer standen einander gegenüber und maßen sich Sekunden lang wie Gegner mit den Blicken. „Du lebst unter meinem Dache, vergiß das nicht,“ stieß der Alte hervor.
Georg lächelte bitter. „Heute noch – ja. Das Haus aber, welches meine Braut, mein Weib nicht aufnimmt, ist meine Heimath nicht lange mehr.“
Eine Todtenstille folgte den Worten, und nun ging Georg langsam nach der Thür. Währenddeß aber war mit dem Bürgermeister eine Veränderung vorgegangen ... er schien zu einem Entschlusse gekommen zu sein. Welcher Art derselbe war, hätte man auf seinem undurchdringlichen Angesicht jedoch vergebens zu lesen versucht. Er ging jetzt rasch dem Sohne nach und legte ihm die Hand auf den Arm.
„Sei kein Narr, Görg,“ sagte er kurz, „und wirf Deinem alten Vater nicht gleich den Bettel vor die Thür. Setz Dich hierher und erzähle mir genau, was zwischen Dir und der Weberstochter vorgegangen ist.“
Georg sah den alten Herrn forschend an, fast als traue er dem Sühneversuche des klugen Gegners nicht recht. Und als er sprach, geschah es mit einem Zwang und einer Zurückhaltung, die nach dem, was vorhergegangen, wohl begreiflich war. Aber gegen seinen Willen brach nach und nach die Wärme durch, und auch bei dem Doktor kam, da er sich durch den Bericht in einem Punkte sehr erleichtert fühlte, eine aufrichtigere Theilnahme zum Vorschein, als er vielleicht selber beabsichtigte.
Als der Sohn geredet hatte, wiegte der Alte den Kopf hin und her. „Das scheint allerdings etwas Besonderes zu sein. Schade daß sie nicht wenigstens eine Bürgerstochter ist. Denn leider muß ich in der Hauptsache auf meiner Ansicht verharren. Das Mädchen zu Deiner Frau zu machen, wäre, um das Geringste zu sagen, eine Seltsamkeit, die in unserer verantwortlichen Stellung nicht zu statuiren ist. Du mußt begreifen, daß der Stand Verpflichtungen auferlegt, und daß es dem bessern Bürger, ja dem ersten Bürger eines Gemeinwesens, eben so wenig vergönnt ist, in diesen Dingen ungezügelter Neigung zu folgen, wie einem Fürsten ...“
Er hielt inne und sah den Sohn an, als erwarte er eine Antwort. „Nun?“ fragte er, da jener schwieg, endlich mit scharfer Stimme.
„Eure Gründe mögen an sich Gewicht haben, Vater,“ sagte Georg kalt, mit der Ruhe des unerschütterten Entschlusses. „Für mich aber sind sie hinfällig, denn – Ihr kennt Hilden nicht. Sie hat nicht ihres Gleichen, ist mit dem gewöhnlichen Maße nicht zu messen. Wir vermögen sie nicht einmal zu erheben – sie selber adelt das Haus, in welches sie eintritt.“
Gut, daß Georg den wunderlich faunischen Zug nicht wahrnahnn, der bei diesen Worten über das kluge Gesicht des Doktors glitt. Nach einer Pause begann dieser wieder: „So müßten wir uns also noch der Ehre bedanken, die uns die Weberstochter anthäte, wenn sie Dich nähme. Eine absonderliche Zumuthung, das wird der Herr Sohn vielleicht zugeben. Uebrigens – laß Dir noch etwas sagen, Georg, und expecto crede Ruperto! Es ist schon manch einem klugen Manne mehr als fraglich erschienen, ob ein Ehegespons von besondern Gaben des Leibes oder des Geistes für ein wirkliches Glück im Hause zu halten sei. Sieh Deine Mutter an: am Kochherd und in der Vorrathskammer, da füllt sie ihren Platz und da sucht sie ihres Gleichen. Außerdem aber hat sie mir nichts drein zu reden ... früher versuchte sie es wohl einmal, das Handwerk habe ich ihr aber aus dem Grunde gelegt. So hatte ich freie Hand für meine Geschäfte, und, glaube mir, ich wäre der Mann nicht geworden, der ich bin, hätte ich es in meinem Hause nicht so gehalten. Aber ich sehe, ich predige tauben Ohren –“ unterbrach er sich nach einem Blick auf das Gesicht seines Sohnes. „Enden wir also ...“ Er hatte sich erhoben und trat auf Georg zu. „Du siehst, ich habe mit mir redeu lassen ... dafür aber verlauge ich auch von Dir jetzt ein Versprechen ...“
„Welches, Vater?“ fragte Georg, und wieder maßen sich die beiden Männer wie zwei vorsichtige Gegner, während sie auf Augenblicke die Klingen senken.
„Du unterlässest jeden Schritt in dieser Sache, bis der Einzug und das Fest des Landgrafen vorüber sind. Unsere Entschließung, wie sie nun auch ausfalle, erfordert eine reiflichere Ueberlegung, als ich sie jetzt, bei der Unruhe, die uns bevorsteht, darauf zu verwenden vermag. Ich verlange nur wenige Wochen Geduld von Dir –“
„Und dann, wenn die Frist, die Ihr stellt, verstrichen ist, glaubt Ihr mich etwa andern Sinnes zu finden?“ fragte Georg mit finsterem Lächeln.
„Ich glaube gar nichts ... ich stelle eine Forderung an Dich, die Du nicht weigern kannst, ohne wie ein unbändiger Knabe zu erscheinen. Her Deine Hand – versprich mir, die Sache zu lassen, wie sie jetzt ist ... es kann das Euch Beiden wenig ausmachen! Ueberdies haben die Dirnen jetzt während des Festes sich zu putzen, zu gaffen, da wird sie Dich nicht vermissen.“
„Halt, Vater,“ rief Georg, die Hand, die der Bürgermeister ergriffen hatte, hastig zurückziehend. „Verlangt Ihr von mir ein Versprechen, Hilden während dieser ganzen Zeit nicht zu sehen, sie ohne jede Nachricht zu lassen? Das weigre ich ... Sie soll wissen, was wir zu hoffen oder zu fürchten haben, soll wissen, daß sie mein ist und bleibt –“ fügte er leise hinzu – „und das durch mich.“
Der Alte strich sich überlegend das Kinn, wie ein Schachspieler, dem ein Zug durchkreuzt worden ist. Endlich hob er den Kopf, auch hier war ein Ausweg gefunden. „Wie ich den Meister Lukas kenne,“ sagte er, „öffnet er sein Haus nur dem ehrlichen Werber. Als solcher aber jetzt schon zu kommen, verbietet Dir der Pakt, den wir eben gemacht haben. Das magst Du die Jungfrau und ihren Vater wissen lassen, magst es ihnen selber sagen, daß ich meine Entscheidung einstweilen noch hinausschiebe; ich habe nichts dagegen.“
„Gut,“ sagte Georg nach einer Weile gepreßt.
Der Alte hob leicht warnend den Finger. „Nun aber ruhig Blut, Georg, keine Gewaltstreiche, keine Thorheiten ... ein Mann ein Wort ...“
„An mir zweifelt nicht; was ich versprochen habe, das halte ich!“ sagte Georg stolz, „Euch, mir und Anderen.“
Der Alte nickte und der Sohn ging. Die Unterredung war beendet.
Als der Bürgermeister allein war, lehnte er sich aufathmend in seinen Stuhl zurück ... „Zeit gewonnen, Alles gewonnen,“ murmelte er dabei, „und, Herr Landgraf, hab’ ich Euch geholfen, so müßt Ihr mir wieder helfen.“ Als er sich eine Weile darauf im Familiengemach einfand, war auf dem behaglichen, meist lebhaft gerötheten Angesicht mit den scharfen Augen von einer ungewöhnlichen Erregung nichts mehr wahrzunehmen.
Die nächsten Tage waren die unrunhigsten, die das Bürgermeisterhaus vielleicht je gesehem hatte. Das war ein beständiges Gehen und Kommen, ein Fragen und Schicken ohne Ende. Wer den Herrn nicht auf dem Rathhause antraf, der suchte ihn hier, oder ging auf Anweisung der Bürgermeisterin, um ihn an irgend einem Punkte der Stadt, wo der Rath sich vielleicht gerade zusammengefunden hatte, um die Ausschmückung eines Platzes an Ort und Stelle zu berathen, noch anzutreffen. Der Doktor hatte vom frühen Morgen bis zum späten Abend kaum einen Augenblick Ruhe, daher denn ganz von selber etwaige häusliche Angelegenheiten, die nicht in die Stimmung dieser Tage paßten, in den Hintergrund gedrängt wurden.
Seit Menschengedenken hatte kein Bürgermeister der Hauptstadt mit dem landgräflichen Herrn so gut gestanden und dabei jeden gerechten Vortheil der ihm anvertrauten Stadt so klug zu wahren gewußt, wie Doktor Tiedemars. Man wußte, daß gerade in Sachen der nun vor sich gehenden Vermählung das diplomatische Geschick des Bürgermeisters und freilich zugleich seine Vertrauensstellung bei dem fürstlichen Herrn diesem wesentliche Dienste geleistet hatte. Doktor Tiedemars konnte die glänzende Verbindung zu einem gewissen Theile mit als sein Werk betrachten, kein Wunder daher, daß sein kluges Gesicht jetzt den Ausdruck einer eignen Genugthuung trug, kein Wunder auch, daß unter seinen Anordnungen und seinem Einfluß die Vorbereitungen der Stadt für den Einzug und das fürstliche Beilager einen ganz unerhörten Umfang annahmen.
Franz Defregger.
Von Fr. Pecht.
Der Künstler wird immer am volksthümlichsten sein, dem es gelingt, das innerste Wesen, die tiefste Eigenthümlichkeit der eigenen Nation in seinen Gebilden zu verkörpern. Weil er das wie kaum ein zweiter verstand, hat sich seit dem Tage, da Franz Defregger mit seinem Verwundeten Wildschützen vor zwanzig Jahren an die Oeffentlichkeit trat, die Liebe des Volkes in immer steigendem Maße ihm und seinen Schöpfungen zugewendet. Ja diese letzteren haben eine wahrhaft unermeßliche Popularität errungen und, was mehr ist, auch verdient. Denn so wie er die ganze Art und Empfindungsweise unseres Volkes mit seiner Liebe und seinem Haß, mit seinen Freuden und Leiden auszusprecheu, uns nicht nur seine schalkhafte und lustige, sondern auch die mannhafte, ja heroische Seite desselben darzustellen gewußt hat, so ist es noch keinem deutschen Künstler vor ihm gelungen.
Aber auch keiner malte so das eigene tiefe Gemüth in seine Bilder hinein, bei keinem sind die Kunstwerke so ganz und gar er selber. Ebenso ist kein zweiter so durchaus naiv und gläubig in dem, was er macht, gehört so ganz und gar zum Volk selber, das er schildert. Es ist aber nicht nur die Liebe, die er zu seiner schönen Heimath und ihren so biederen als kräftigen Bewohnern hat, sondern vor allem die Reinheit des eigenen Gemüths, die anspruchslose Liebenswürdigkeit der Betrachtung bei allem fröhlichen Humor, die uns so magisch in den engen Kreis bannen, den er mit seinen Darstellungen umfaßt und zu einer eben so reichen als harmonischen Welt auszuweiten gewußt hat. Die weise Selbstbeschränkung auf einen Lebenskreis, den er ganz und vollständig beherrscht, sie ist das Geheimniß von Defregger’s Erfolg, genau wie sie es bei Jeremias Gotthelf, Auerbach, Fritz Reuter war, bei Gottfried Keller und Viktor Scheffel noch ist. Auf die Schilderung der eigenen Heimath, des deutschen Volksstammes, dem sie selber angehören, und seines Zusammenhangs mit der Landschaft sich beschränkend, haben sie Alle es gerade dadurch zu vollendeten Schöpfungen, zur Allgemeingültigkeit gebracht.
Wie klein nun auch der Landstrich sei, der sich von den Dolomitriesen und Gletschern des Pusterthals bis hinab nach Brixen und Bozen, dann hinüber nach Meran und von dort wieder hinauf ins wilde Passeyer zieht, so ist es doch der an Naturreizen reichste, ja durch seine ganz eigenthümliche Mischung vom Erhabenen und Lieblichen berauschendste, den wir auf deutscher Erde überhaupt besitzen. Ebenso ist der herrliche gothische Volksstamm, der ihn bewohnt, wohl der schönste im Vaterland. Er hat sich unter der wärmeren Sonne des Südens, inmitten seiner Weinlauben und Kastanienhaine, aber auch im beständigen Kampf mit den tückischen Gewalten dieser oft eben so wilden als zauberisch reichen Natur zu einer Mannhaftigkeit, Kraft und Schönheit entwickelt wie kaum ein anderer. Defregger selber aber hängt nicht nur mit allen Fasern seines Herzens an dieser schönen Heimath, sondern er ist selber auch eines ihrer echtesten Erzeugnisse. Selbst heute noch, wo er ein halbes Jahrhundert voll von rastloser Arbeit hinter sich hat, noch immer ein auffallend schöner Mann, war er vor fünfundzwanzig Jahren, als ich ihn noch in seinen Lederhosen und der grauen Joppe zuerst im Piloty’schen Atelier arbeiten sah, ein wahres Urbild eines prächtigen Tirolers, der übrigens mit Albrecht Dürer’s Selbstbildnissen die auffallendste Ähnlichkeit hat. Wer ihn aber näher kennt, weiß auch, daß das Innere dem Aeußeren vollkommen entspricht. Gerade diese wohlthuende Uebereinstimmung des Meisters mit seinen Werken ist es ja, die uns Alle so tief an dieselben fesselt, so unbedingt an sie glauben läßt, die ihnen in San Francisko wie in Petersburg, in Paris wie in London oder Berlin dieselbe sympathische Aufnahme gesichert hat. Denn es sind Schilderungen der einfachsten rein menschlichen Verhältnisse, wie sie sich ähnlich auf der ganzen Welt wiederholen und darum auch überall verstanden werden, die aber durch den entschiedenen Erdgeschmack, die starke Lokalfarbe, welche sie haben, nur um so glaubwürdiger werden. Anscheinend örtlich und zeitlich so eng begrenzt, ist es doch eine völlig ideale Welt, in die uns der Meister führt. Denn von ihm gilt genau wie von Schiller:
„Und hinter ihm in wesenlosem Scheine,
Liegt was uns Alle fesselt – das Gemeine.“
Daß dieses trotz aller außerordentlichen Wahrheit der einzelnen Figuren absolut keinen Platz hat auf seinen Bildern, das giebt ihnen die ungewöhnliche Anziehungskraft, jene kristallhelle Reinheit und Frische, wie sie die Quellen haben, die aus den Granitfelsen seiner Berge hervorsprudeln. Findet man sich doch in seinen Sennhütten und rauchigen Bauernstuben in viel besserer Gesellschaft als in gar vielen Palästen! Darum däucht es uns auch ganz natürlich, daß derselbe Maler, der uns noch eben die kernfrischen Dirnen über den Salontiroler lachend oder zum Tanze antretend gezeigt, auch dicht daneben die Himmelskönigin mit dem göttlichen Knaben am Arme aus den Wolken heraustreten läßt, wie er es eben jetzt thut. Denn kein anderer Künstler hat das Göttliche und Ewigschöne in der Menschennatur tiefer empfunden als unser Meister. War denn Maria etwas Anderes als eine arme Handwerkersfrau? Hier bei ihm ist sie eine wirkliche Mutter der Gnaden und der kleine Christus auf ihrem Arme ist ebenso ein ganz frischer geistvoller Knabe, wie sie die Verkörperung der Seelenreinheit und des Mutterglücks. Schon jetzt, wo das Bild kaum halb fertig ist, hat es bereits jene Ueberzeugungskraft, jene unbedingte Glaubwürdigkeit, die neben der Schönheit der Empfindung den Hauptreiz der Defregger’schen Bilder ausmacht und wie sie besonders jener früheren Madonna, die er für die Kirche seiner Heimath Dölsach als Altarbild gestiftet, eine wahrhaft unermeßliche Verbreitung durch Lichtdruck und Holzschnitt verschafft hat.
Diese Vereinigung von tiefer behaglicher Gemüthlichkeit und einem fast unmerkbar darüber gebreiteten idealen Hauche, der aber doch Alles adelt, was von Defregger ausgeht, überrascht uns schon gleich, sobald man nur seine Villa unter den prachtvollen Baumgruppen von fern blinken sieht, welche die zu ihr führende Königinstraße zur Rechten begrenzen. Ein Werk seines Freundes und Landsmannes, des Architekten Hauberisser, ist sie in ihrer Verbindung deutscher mit specifisch wälschtirolischen Stilformen, mit ihrem weit vorspringenden Dache, den behaglichen Erkern, Doppelfenstern und Freitreppen, der Blumenfülle und dem üppigen Grün rundherum, die entsprechendste Behausung gerade für diesen Künstler. Hinter ihr dehnt sich dann der weite Garten, in welchem wir die köstlich frischen Kinder des Meisters spielen sehen, während ihnen die anmuthige Mutter zusieht, oder uns in das weiter zurück isolirt liegende Atelier weist, das unter Epheu und Geißblatt fast versteckt steht. Neben dem mit altdeutschen Bildern und Schnitzereien wie köstlichen Meubeln ganz gefüllten eigentlichen Malraum genießt man da den Blick in die reizendste tiroler Bauernstube dahinter. – Im Atelier sehen wir außer der Himmelskönigin gegenwärtig nur wenig andere Bilder auf den Staffeleien stehen. So eine als Subporte für die eigene Wohnung lebensgroß gemalte Gruppe von einigen eng zusammengedrängten Tirolerburschen und Mädchen, die den Eintretenden fröhlich zu begrüßen scheinen, und ein paar Wiederholungen früherer beliebter Kompositionen, mit denen der Meister von den ihn belagernden Kunsthändlern beständig geplagt wird. – Jetzt richtete er sich überdies gerade darauf ein, die Osterferien mit seinem ältesten Sohne in der schönen Heimath zu Bozen zu feiern, wo er schon seit mehreren Jahren eine Villa besitzt, und hatte darum nichts Neues angefangen.
Leider versetzte, als ich das lieblichste aller Künstlerheime, die wir in München besitzen, kaum einige Tage verlassen, der Tod ihres einzigen achtjährigen Töchterchens nach nur kurzer Krankheit die Eltern in ungeahnt großen Jammer und erfüllte diesen anscheinenden Sitz des reinsten Glücks mit tiefer Trauer. Man muß es selber schon gesehen haben, wie der so gemüthvolle Defregger an seinen Kindern hängt, um die ganze Schwere dieses Verlustes für ihn und die Mutter zu ermessen, wenn ihnen auch noch drei köstlich frische Knaben geblieben sind. So nahe liegt oft neben dem hellsten glänzendsten Sonnenschein tiefes Dunkel, bricht aus dem kleinsten Wölkchen am blauen Himmel der vernichtende Blitz! Ich mußte bei der Nachricht von dem Unglücke, das ihn betroffen, unwillkürlich an Defregger’s erstes Bild denken, wo er eine junge Mutter voller Glück ihr Kind baden läßt, während hinten bereits zwei Kameraden ihren zum Wildern ausgezogenen Mann tödlich verwundet bringen. Diese in seiner Heimath so häufigen jähen Schicksalswechsel, wo so oft nach kurzem Gewitter mitten in die blumigen Matten und Weinberge der tobende Wildbach bricht, alles, was fröhlich blühte und grünte, mit
[285][286] Schutt und Geröll überdeckend und in eine Wüste verwandelnd, sie sind dem Meister auch früher nicht unbekannt geblieben und haben seinen Charakter gefestet. Ward er doch gleich nach seinen ersten glänzenden Triumphen durch einen Gelenkrheumatismus, der sich in den Fuß gesetzt, so gelähmt, daß er zwei Jahre lang nur auf dem Sopha liegend malen konnte.
Damals hatte Defregger, gerade wie jetzt, eine Madonna angefangen – die oben erwähnte – und durch das Auf- und Absteigen vom Gerüst das Uebelweh recht verschlimmert, sodaß er sie erst in Bozen, wohin er sich, vom milden Klima Heilung hoffend, hatte bringen lassen, noch liegend fertig malen mußte. Dennoch arbeitete er mit so festem Gottvertrauen, daß uns jetzt aus dem seelenvollen Antlitz der himmlischen Mutter ein Ausdruck von so überirdischer Milde beseligend und tröstend entgegenkommt, um gerade dies in der Zeit seiner schwersten Noth gemalte Bild als seine höchste Leistung betrachten zu lassen. Das Uebel aber wich kurz darauf, nachdem die Kunst der berühmtesten Aerzte es nicht zu beseitigen vermocht, den Rathschlägen eines Bauern seiner Bekanntschaft. Diese glückliche Heilung veranlaßte ihn damals, noch zwei Jahre in der Stadt am Eisack zu bleiben, und im Jubel der wiedererlangten Gesundheit eine ganze Reihe seiner herrlichsten Bilder zu malen. So jenes berühmte „letzte Aufgebot“, das, die ganze Schwere eines Volkskrieges mit furchtbarem Ernst versinnlichend, seinen Ruhm erst recht in alle Welt trug und jetzt eine Zierde des Wiener Belvedere geworden. Darin eben unterscheidet sich Defregger gründlich von allen übrigen Bauern- und Sittenbildmalern, daß der starke heroische Zug seines Stammes, jedes Aufflammen der höchsten Vaterlandsliebe und des entschlossensten Opfermuthes in ihm einen ebenso glühenden und verständnißvollen Darsteller gefunden haben, wie die heitere idyllische Seite dieses tiroler Bauernlebens. Und so wollen wir denn auch jetzt hoffen, daß der schwere Schicksalsschlag, der den Meister getroffen, ihn auch diesmal wieder nach Art aller echten Talente zu erneuter Vertiefung seines Schaffens anrege!
Auf der Höhe des Lebens und des Ruhmes wie der produktiven Kraft angelangt, wird Defregger uns hoffentlich noch viele ebenso schöne Kunstwerke schenken, wie er sie schon in fast unübersehbarer Masse geschaffen. Wer vermöchte es aber vorauszusehen, welche unerwartete Seiten seines reichen Talentes er noch entfalten wird? – Die schaffende Kraft des Malers bat sonst erfahrungsgemäß ungefähr dieselben Grenzen wie die des lyrischen oder dramatischen Dichters, beide erfinden nach den Fünfzigern nur in selteneren Fällen eigentlich Neues mehr, und selbst ein Shakespeare hat in seinen letzten Lebensjahren nur mehr die alten Aufgaben in veränderter Form, allerdings auch mit vertieftem Inhalte gelöst. Indeß hat uns der Meister bis jetzt noch immer mit neuen Wendungen seines Talents überrascht, wenn man ihn schon am Ende angelangt glaubte. Aber selbst wenn das nicht mehr geschähe, wo wäre außer Hans Makart in Deutschland ein Künstler zu finden, der in kaum zwanzig Jahren eine solche unübersehbare Fülle köstlicher Werke von ewiger Dauer seinem Volke geschenkt, als dieser Homer des deutschen Bauernstandes?
Der Eschepeter.
Ob „der Eschepeter“, jener wackere „Schwager“, dem Ludwig Knaus dadurch die Unsterblichkeit sicherte, daß er ihn als Lenker der fürstlichen Karosse auf seinem Gemälde „Der Empfang des Fürsten im Dorfe“ darstellte, auch Viktor von Scheffel zu seinem Gedichte „Der letzte Postillion“ Modell gestanden, vermögen wir zwar nicht anzugeben, möchten es aber fast annehmen, denn so oft wir Scheffel’s Verse lesen, vermeinen wir den leibhaften Eschepeter, jenes Original aus einer vor kaum zwei Jahrzehnten dahingeschwundenen Epoche unserer deutschen Postgeschichte, an unserem geistigen Auge vorübergleiten zu sehen:
„Der Schimmel trabt, die Peitsche schwirrt,
Laut schmettert Posthornton,
Als Geist kommt durch die Luft kutschirt
Ein greiser Postillion.
Fahl glänzt am gelben Sperlingsfrack
Thurn-Taxis’ Wappenknopf.
Er raucht uralten Rauchtabak
Aus seinem Ulmerkopf.
Er raucht und spricht: O Erdenball,
Wie anders schau’st du drein,
Seit ich mit Sang und Peitschenknall
Reichspostdienst that am Rhein!“
Heller noch als seine Gala-Uniform leuchtete des Eschepeter’s rothe Nase. Er war eine der populärsten Persönlichkeiten der vormaligen Residenzstadt Wiesbaden und des ganzen nassauischen Ländchens, das kostbarste Inventarienstück der Post und des Gasthauses zum „Adler“ und Herr und Meister unter den Postillionen. Kind und Kegel in Nah und Fern kannte den Eschepeter, den spiritus familiaris des weiland nassauischen Postenlaufs, das fahrende Genie, dem Nichts gleich kam, sobald es, die Zügel in der Hand, auf dem Bocke thronte und Horn und Peitsche führte. Wollte der Posthalter, Herr Schlichter, einem Extrapostreisenden von hohem Stande eine besondere Ehre erweisen, so kommandirte er den Eschepeter zum Kutschiren. Der Eschepeter war es denn auch, der im Jahre 1864 Louis Napoleon’s Gemahlin, die Kaiserin Eugenie von Frankreich, nach Schwalbach fuhr und – wenn auch nach allen Regeln der Kunst – doch in solcher Karrière dahinjagte, daß von der Ehreneskorte ein Leibgendarm nach dem andern zurückblieb und nachseufzte: „Eschepeter, ich kann nicht mehr!“ Aber auch die Glanzperiode der Postillione ging vorüber.
Nassaus und Thurn-Taxis’ Postherrlichkeit sah er in Trümmer sinken und auf den Ruinen die schwarz-weiß-rothe Postflagge des Norddeutschen Bundes gar lustig flattern.
„Es hatt’ der Siebentagekrieg
Dem Bau den Hals gebrochen,
Und König Wilhelm hatt’ das Wort
Mit Vollmacht ausgesprochen:
‚Dem Fürst Thurn-Taxis thun Wir kund:
Jetzo hat der Norddeutsche Bund
Sein Postregal alleine!‘“ –
Immer mehr pfiff dem Postinstitut der Dampf
„Mit Wunderkraft dazwischen,
Die Eisenbahnen hin und her
Erhielten den Engros-Verkehr
Mit ihrer Windesschnelle.“
Den Zusammenbruch des fränkischen Kaiserthrones und das Erbleichen des Ruhmesschimmers jener Potentatin, deren Gefährt er vordem einmal so meisterhaft nach Schwalbach geleitet, erlebte der alte Rosselenker allerdings nicht mehr, und nicht
„.... den deutschen Riesenkampf
Mit diesen Herrn Franzosen,
Da ernteten viel Ruhm und Ehr
Feldposten, die famosen,
Die brachten Muttergroschen viel
Und allerlei ans rechte Ziel,
Auch Tabak zum Verrauchen.“
Schon vor Ausbruch jener welterschütternden Ereignisse, im Jahre 1868, hatte Eschepeter die Fahrt zur Jenseitsstation, von welcher Niemand zurückkehrt, angetreten, aber Eins hatte der alte würdige Repräsentant seiner Species bei jenen Wandlungen, die er noch miterlebte, bestimmt gefühlt, nämlich daß die Glanzperiode der Schnell- und Extraposten dahin sei, da noch
„Der schmucke, blanke Postillion
Rief mit des Posthorns Zauberton
Zusamm’n die Passagiere.“
Der Rhabarber.
Diese höchst interessante und sehr nützliche Pflanze wird entweder zur Zierde im Parkgarten oder als Gemüse im Küchengarten oder wegen ihrer als Heilmittel unentbehrlichen Wurzel auf dem Felde gezogen. Sie ist vieljährig oder ausdauernd und durchaus winterhart, besitzt einen herrlichen gelblichweißen Blüthenstand, mächtig große Blätter und einen starken Wurzelstock, der einen gelben Farbstoff enthält; das Ganze bildet im Sommer bis zum Abschlusse des Wachsthums eine wahrhaft imponirende Pyramide.
Der Name Rhabarber (Rheum L.) wird von dem des Flusses Rha (die Wolga) abgeleitet, an dessen Ufern der sogenannte pontische Rhabarber (Rh. rhaponticum L.) häufig wildwachsend vorkommt, oder auch von dem asiatischen Worte Rha, das die Wurzel gewisser Knöterichgewächse (Polygonum L.) bezeichnet, die dem Rhabarber botanisch sehr nahe stehen. – Das Vaterland der Pflanze ist, je nach der Art, das Himalayagebirge, China, das Tafelland der Tatarei (Rh. Emodi Wall.), oder das südöstliche Europa, die Strände der Wolga am pontischen Meer, oder der nördliche Abhang der Tibeter Alpen in der Provinz Kansu (Rh. tanguticum E. Rgl.).
Als den wirklichen und allein echten medicinischen Rhabarber hat man bis vor Kurzem den bereits genannten Emodi- oder Nepal-Rhabarber angesehen, der nach dem Deutschen Calau, welcher lange Zeit der „Rhabarberbracke“ in Kiachta vorgestanden hat, vorzüglich aus der Provinz Gansul, zwischen dem 35. und 40. Grad nördlicher Breite kommen sollte. Nach den langwierigen und mühsamen Untersuchungen, welche die verflossene Ostindische Kompagnie und auch die Kaiserin Katharina von Rußland anstellen ließen, und besonders nach Dr. Wallich, dem Direktor des botanischen Gartens in Kalkutta, war er die Mutterpflanze der allein echten und besten russischen Rhabarberwurzel (Radix rhei moscoviti), deren Vaterland absichtlich von den Bucharen verheimlicht wurde. Man gräbt dort im April und Mai die Wurzeln der vier- bis sechsjährigen Pflanzen aus, schält sie und hängt sie in zerschnittenen, etwa faustgroßen Stücken zum Trocknen auf, weil sie sonst leicht faulen würden. Die verhältnißmäßig leichte Wurzel riecht eigenthümlich, schmeckt widrig-bitter und etwas zusammenziehend, knirscht beim Kauen zwischen den Zähnen wegen der kleesauren Kalkerde, welche sie enthält, und färbt den Speichel safrangelb.
Die Regierungen Rußlands und Chinas hatten gewisse Verträge für den Handel mit Rhabarberwurzeln abgeschlossen, denen sich die beiderseitigen Kaufleute unbedingt unterwerfen mußten, und wir erhielten die Wurzeln entweder zur See von Kanton aus, den sogenannten chinesischen oder indischen Rhabarber, oder durch die Russen, denen sie durch die Bucharen über Kiachta in Sibirien gebracht wurden; kaiserliche Kommissarien mußten sie untersnchen und ließen fehlerhafte Waare verbrennen. – Uebrigens ist die Rhabarberwurzel, die den Arabern schon länger als Heilmittel bekannt war, erst vor etwa 275 Jahren durch einen gewissen Adolph Occa in unseren Apotheken eingeführt worden.
Aber vor ungefähr 10 Jahren gelang es dem berühmten Reisenden Oberst Przewalski, in der Provinz Kansu die echte Rhabarberpflanze zu entdecken, von ihr Samen zu sammeln und dem kaiserlichen botanischen Garten in Petersburg beziehungsweise dessen Direktor Wirklichen Geheimrath Dr. E. von Regel einzusenden. Hier hat sich nach dem Anbau des Samens und der Kultur der Pflanze bis zur Blüthe herausgestellt, daß dies Rheum palmatum L. var. tanguticum E. Rgl., eine Varietät des palmenartigen Rhabarbers sei. Diese Varietät allein liefert die wirksamen Stoffe: Chrysophansäure und Emodin, von denen die bisher als officinell geltenden Arten Rh. Emodi Wall. und australe Don nicht mehr als die Hälfte enthalten, wie das durch die Untersuchungen der Professoren Beilstein und Dr. von Mercklin in Petersburg bewiesen wurde.
Was uns aber nach dieser Entdeckung am meisten interessirt, ist die Thatsache, daß dieser Rhabarber auch bei uns auf dem Felde gezogen werden kann, wenn man einen trocken gelegten (drainirten) Moorboden auf Sand zur Verfügung hat. Beide Erdschichten sind dann beim Tiefgraben (Rigolen) zu vermischen und mit etwas Rosenlehm und Dünger zu überziehen. Ein solcher sonst wenig brauchbarer Boden läßt sich durch den Anbau von Rhabarber zu einem hohe Zinsen tragenden Kapital verwandeln. Die Pflanzen zieht man aus Samen, der u. A. bei Haage und Schmidt in Erfurt vorräthig ist.
Der Rhabarber ist auch eine ausgezeichnete Pflanze des Küchengartens, deren Blätter im gebleichten Zustande als Salat verwendet und deren Blattstiele, die Apfelsäure enthalten, im Frühjahr ein wohlschmeckendes Kompot geben, das in England, Dänemark, Schweden, Nordamerika etc. mehr als in Deutschland in allen Kreisen der Bevölkerung gern gegessen wird. In London und New-York kommen ganze Wagenladungen von Blattstielen auf den Markt. Der Blüthenstand wird im Sommer, noch ehe er sich voll entwickelt hat, mit dem etwa 25 Centimeter hoch gewordenen Stengel abgeschnitten, zubereitet und als Blumenkohl gegessen. Darüber wird jedoch wohl jedes Kochbuch nähere Auskunft geben. Was aber von unseren Kochbüchern nur wenige zu wissen scheinen, das ist die Bereitung des Saftes aus den Blattstielen mit Hilfe von Wasser, Zucker und etwas Traubenwein zu einem berauschenden „Champagner“ oder zu einem angenehmen Tischwein. Für Letzteren nimmt man zu je zwei Kilo dünngeschnittener Blattstiele zwei Liter Wasser, bringt die Mischung in ein reines Holzgefäß, das man bedeckt, und rührt sie während einer Woche täglich dreimal mit einem reinen Holzstab um. Nach dieser Zeit läßt man die Flüssigkeit durch ein großmaschiges Sieb gehen und setzt zu je drei Litern zwei Kilo weißen Zucker, den Saft von zwei Citronen und die auf Zucker abgeriebene Schale einer Citrone hinzu; in einem Fasse, das durch Auffüllen von Zuckerwasser voll erhalten wird, läßt man die Flüssigkeit gähren, klärt und füllt sie in Flaschen. Heinrich Semler in San Francisko behauptet in seinem ausgezeichneten Buche „Obstverwerthung und Obstbau“, daß von den zahlreichen Abarten des kultivirten Rhabarbers die „Victoria“ genannte die beste sei zu dieser Art von Weinbereitung, die auch nach folgender Vorschrift erfolgen kann: Man zerschneidet die Blattstengel fein, preßt sie durch eine Handpresse aus, giebt dem Saft das gleiche Maß weiches Wasser und auf vier Liter Saft 31/2 Kilo braunen Zucker bei und läßt ihn gähren, wie oben gesagt wurde.
Ein delikates Gelee erhält man, wenn die Blattstiele des Rhabarbers in Stücke geschnitten, mit spärlichem Wasserüberguß schnell gekocht und ausgepreßt werden, wonach man jedem Liter des Breis 1/2 Kilo Zucker zusetzt, wobei zu bemerken, daß nach langsamem Kochen das Produkt trübe wird. Eine erfrischende Limonade erhält man, wenn sechs fein zerschnittene Blattstiele vom Rhabarber zugleich mit einem Kilo Zucker und 30 Gramm gestoßenem Ingwer in zwei Liter Wasser eine Stunde lang gekocht werden, denen man nach und nach noch ein Liter Wasser zugießt. Nun läßt man die Flüssigkeit stehen, bis sie die Temperatur kuhwarmer Milch hat, seiht sie dann durch Filtrirpapier, rührt sie zu Schaum und füllt sie in Flaschen, in denen sie sich mehrere Tage hält. Die Rhabarberstengel können auch zu künftigem Gebrauch wie das Obst gedörrt werden, wozu die dem „Alden-Apparat“ nachgebildeten deutschen Einrichtungen besonders zu empfehlen sind.
Der Rhabarber ist, wie oben bereits angedeutet wurde, eine Dekorations-Blattpflanze ersten Ranges, die, einzeln oder zu dreien auf dem Rasen des Parkgartens stehend, von keiner andern übertroffen wird; doch muß man die Blüthe mit dem Stengel abschneiden, ehe der Same sich bildet; wenn dieser erscheint, werden beinahe immer die Blätter unscheinbar. Als Ziergewächse werden gewöhnlich die Arten Rh. Collinianum Baillou, Emodi Wall. und Officinale Baillou gebraucht, und namentlich Emodi zeichnet sich dadurch aus, daß die Blätter in der ersten Jugend kupferroth sind; Officinale und Officinale tanguticum haben ganz besonders große Blätter.
Aber seit wenigen Jahren sind im botanischen Garten der medicinischen Fakultät in Paris durch künstliche Befruchtung zwischen Collinianum und Officinale oder umgekehrt verschiedene Blendlinge entstanden, von denen drei so außergewöhnlich schön sind, daß sie auch hier erwähnt werden müssen, nämlich Florentin, Faguet und Carrière. Die erstere Varietät hat Blätter von einem Meter Durchmesser, der Blüthenschaft wird drei Meter hoch; die Blumen hängen elegant über und zeigen ein wunderschönes Karminroth, zwischen dem sich die viel dunkleren Knospen ganz wunderschön hervorheben. Faguet entwickelt Blätter von riesiger Ausdehnung; der Blattstiel wird 0,80 bis 1,0 Meter lang und das Blatt selbst größer als einen Meter im Durchmesser; die sehr schöne rosenrothe Blumenrispe erhebt sich beinahe drei Meter hoch und reicht mit den purpurrothen Samen selbst noch höher. Carrière, die dritte Varietät, hat 50 Centimeter lange Blattstiele und Blätter von 1,2 Meter Durchmesser; die beinahe aufrechtstehende Blüthenrispe hat eine schöne rosenrothe Fleischfarbe, die bei den Samen in Purpurroth übergeht. Sämmtliche drei Varietäten sind außerordentlich zierend und entwickeln sich auf dem Rasen um so vollkommener, je nahrhafter man ihnen den Boden bereitet, der aber keinenfalls trocken sein darf. Die Anzucht geschieht in bekannter Weise aus Samen, der aber vor nächstem Jahre in Deutschland, wie es scheint, „im Handel“ nicht vorräthig sein wird. O. Hüttig.
Blätter und Blüthen.
Reiherbeize. (Mit Illustration S. 277.) Mittelasien war von jeher die Heimstätte der Falkenjagd, die dort im großartigsten Maßstabe betrieben wurde. In den Berichten Marco Polo’s aus dem Jahre 1290 lesen wir, daß Kublai Chan im Monat März mit 10000 Falknern und Vogelstellern, auf einem Elefanten reitend, große Jagdzüge durch das unermeßliche Gebiet seines Reiches zu unternehmen pflegte, und aus späteren Jahrhunderten wird von dem „König von Persien“ berichtet, daß er sich über 800 Falken gehalten hätte, wovon die einen auf wilde Schweine, wilde Esel, Antilopen und Füchse, die anderen auf Kraniche, Reiher, Gänse und Feldhühner abgetragen waren. Solche Ausdehnung hat die Falkenjagd in Europa niemals erlangt, aber lange Zeit hindurch bildete sie an den Höfen der Großen die beliebteste Jagdart, an der, wie heute an den Parforcejagden, auch die Damenwelt sich gern betheiligte. Unter den deutschen Kaisern giebt es eine lange Reihe passionirter Falkenjäger, und Kaiser Friedrich II., der geschickteste und leidenschaftlichste Falkner seiner Zeit, schrieb sogar ein Buch „Ueber die Kunst des Jagens mit Vögeln“ („De arte venandi cum avibus“), welches im Jahre 1596 gedruckt wurde und bis heute in der Jagdlitteratur eine hervorragende Stelle einnimmt.
Vierfüßler jagte man in Europa mit Falken seltener, denn nur auf weiten Steppengebieten kann eine derartige Beize sich interessant entfalten. Unseren Vorfahren erschien mit Recht das Reich der Lüfte als die vornehmste Domaine des Edelfalken. Hoch über den Wipfeln der Bäume sollte der kühne Vogel seine Beute aufsuchen, sollte in der schwindelnden Höhe, bis zu welcher kein Bogenpfeil emporschnellen konnte, allein den Kampf bestehen und durch seine Gewandtheit das Jägerauge erfreuen. Auf schwache Rebhühner und furchtsame Tauben wurden nur junge, noch nicht abgerichtete Falken geworfen, die alten, welche die Schule bereits durchgemacht hatten, mußten einen würdigeren Gegner aufsuchen, und sie fanden ihn in den schlanken Bewohnern unserer Gewässer, in Reihern und Kranichen.
Und wahrlich bot die Reiherbeize, wie sie in Jagdwerken früherer Zeit beschrieben wird, ein prachtvolles Bild, dessen wechselnden Gang der Jäger mit Spannung und pochendem Herzen verfolgte. Da schwebt der Reiher hoch über der Ebene, dem blauen Himmelszelt entgegeneilend, aber rascher schwingt sich der Falke empor, er sucht ihm die Höhe abzugewinnen und von Augenblick zu Augenblick wird sein Vortheil sicherer und sicherer. Nun hat er den nöthigen Vorsprung gewonnen und schwebt über der Beute, um den entscheidenden Stoß auszuführen. Der kritische Augenblick ist da. Der Verfolgte streckt blitzschnell dem auf ihn Herabstoßenden den spitzen Schnabel entgegen, die fürchterliche Waffe, die ihn so oft gerettet.
In wirrem Knäuel stürzen die Vögel herab, und donnernd sprengen die Rosse der Jäger über die Haide nach der Stelle, wo die Kämpfer niedergefallen. Ein Jubelruf erschallt, der Edelfalk hat den Sieg davongetragen, auf dem Rücken des Reihers sitzend, würgt er den Gegner am Halse. Nun wird der Besiegte so schnell wie möglich befreit und, wenn seine Verletzungen nicht gefährlich sind, wieder freigelassen, nachdem er die schönsten Federn, namentlich aber seinen Hauptschmuck als Jägertrophäe hergegeben. Ein metallener Ring wird ihm um den Fuß gelegt. Die Jahreszahl und der Ort des Fanges sind auf ihm eingegraben, und er muß ihn tragen, als Zeichen seiner Niederlage. Und der Falke? Er fliegt zurück auf die mit dickem Lederhandschuh geschützte Hand der Dame, die ihn auf den Reiher geworfen, und empfängt den wohlverdienten Lohn: reichlichen guten Fraß.
Die Zeiten sind dahin, wo man in Deutschland solche Jagdbilder schauen konnte, wie sie uns die Meisterhand W. Räuber’s vorzaubert. Hier und dort werden noch in Europa schwache Versuche unternommen, um Sinn und Lust an der Falkenjagd zu wecken. Viele Nachahmer finden jedoch die modernen Falkner nicht, die Zeit dieser hohen Jagd scheint für immer vorüber zu sein. Blei und Pulver erreichen auch hoch in den Lüften ihre Beute. –i.
Zum Gedächtniß Franz Abt’s. Mit dem letzten Tage des März ist Franz Abt, einer der volksthümlichsten deutschen Liederkomponisten, in Wiesbaden aus diesem Leben geschieden. Wie sehr der Verstorbene im Herzen seines Volkes lebte, das haben am Karfreitage, dem Begräbnißtage, Hunderte von Kränzen, Widmungen, Telegrammen, Briefen und Deputationen feierlich bestätigt. Die umflorten Fahnen der vielen Wiesbadener Vereine, die Trauerklänge der Militärkapelle, die am Grabe gesungenen Chöre: „Ueber allen Wipfeln ist Ruh“ und „Stumm schläft der Sänger“, der von vier schwarz behangenen Pferden gezogene Leichenwagen – das Alles sagte der nach Tausenden zählenden Menge: hier wird einem Lieblinge des deutschen Volkes das letzte Ehrengeleit gegeben.
Am offenen Grabe schilderte Pfarrer Bickel und nach ihm des Entschlafenen ältester Freund, Oberregisseur Schultes das Wesen und die Bedeutung Abt’s: seine echte Künstlerschaft, seine nie ermattende Schaffenslust, die ihn noch kurz vor seinem Tode nicht verlassen hatte, seinen biederen, schlichten Sinn, und dann – die Krone aller wahren Künstlerschaft: seine nie sich verleugnende Bescheidenheit. „Sein ganzes Leben war auf einen wunderbaren Dreiklang gestimmt: Liebe zur Kunst und zum Vaterlande, rastlose Arbeit und neidlose Bescheidenheit.“
Franz Abt ist am 21. December 1819 als der Sohn eines Pfarrers geboren, besuchte die Thomasschule zu Leipzig und studirte eine Zeitlang Rechtswissenschaft. Wie er zum Musiker wurde, wie er als solcher zu kämpfen und zu ringen hatte, bis er endlich Anerkennung und eine gesicherte Stellung als Hofkapellmeister in Braunschweig fand, das haben wir den Lesern der „Gartenlaube“ im Jahrgang 1867 (S. 325) ausführlich erzählt. Nach seiner Pensionirung im Jahre 1881 hatte er sich nach Wiesbaden zurückgezogen, wo er nun auch seine letzte Ruhestätte auf der Höhe des schönen, rings von dem bewaldeten Taunusgebirge umgebenen Friedhofes gefunden hat. Ein Aufruf an die deutschen Gesangvereine, welche dem Talente des Entschlafenen so viele ihrer schönsten und sangbarsten Lieder verdanken, soll die Mittel beschaffen, um ihm dort ein würdiges Denkmal zu setzen. Das schönste Denkmal hat er sich aber selbst im Herzen des deutschen Volkes gesetzt, in welchem die Lieder und Weisen von Franz Abt noch lange, lange fortklingen werden.
Ein Buch für Fortbildungsschüler. Als eine segenbringende Einrichtung der Neuzeit muß die Fortbildungsschule begrüßt werden, die sich die Aufgabe stellt, die weitere Ausbildung der Lehrlinge zu fördern, namentlich aber für die Befestigung derjenigen Kenntnisse und Fertigkeiten, die für den Beruf nothwendig sind, Sorge zu tragen. Für diese Anstalten empfehlen wir angelegentlich das „Lehr- und Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen von Ernst Stötzner“ (Leipzig, Julius Klinkhardt). In den drei Hauptabschnitten dieses Buches – Lehr-, Wander- und Meisterjahre – werden alle Beziehungen eines Gewerbetreibenden berücksichtigt. Die trefflich ausgewählten Lehrstücke sind den Werken unserer besten Schriftsteller entnommen und neben der realen Seite des Lebens kommt auch die ideale zur vollen Geltung. In dem Buche wird die Charakterbildung ins Auge gefaßt, auf das Vorbildliche besonders Gewicht gelegt und der Weg vorgezeichnet, den der Jüngling zu gehen hat, um nicht nur ein Meister in seinem Fache, sondern auch ein Meister in der schweren Kunst eines gesitteten Lebens zu werden. Da sich hier Belehrung und Unterhaltung in schönster Weise vereinigen, so ist dies Werkchen zugleich auch als Volks- und Prämienbuch zu empfehlen. Dasselbe Lob müssen wir auch dem in demselben Verlage erschienenen „Lehrbuch für ländliche Fortbildungsschulen von Hugo Weber“ spenden, in dem, im Gegensatz zur Stadt, die Verhältnisse der Landbevölkerung berücksichtigt werden. E.
General Vogel von Falckenstein †. Am 6. April starb im 89. Lebensjahre einer jener Feldherren, denen es beschieden war, in der entwickelnden Vorgeschichte des Deutschen Reiches eine hervorragende Rolle zu spielen, der General Vogel von Falckenstein. Unvergessen sind seine Verdienste, die er sich als Generalgouverneur sämmtlicher deutscher Küstenlande im Kriege 1870 bis 1871 erwarb. Seiner Thatkraft und Umsicht hatten die deutschen Ostseeküsten es zu verdanken, wenn sie von französischer Invasion verschont blieben, seinen Maßregeln gegenüber machte die französische Flotte nicht einmal den Versuch einer Landung. Seit dem Jahre 1873 in Ruhestand getreten, verlebte er seine letzten Jahre auf seinem Schlosse Dolzig in der Nähe von Sorau in Schlesien. Ausführliches über das Leben und die Laufbahn des verdienstvollen Heerführers haben wir in den Jahrgängen 1866 und 1871 gebracht. –r.
Kleiner Briefkasten.
R. W., Pensa, „Glück auf!“, E. H. in Berlin, B. z. M., H. H. in B., Josefus. Ungeeignet.
W. E. in Schandau. Der betreffende „Rathgeber“ ist ein Schwindel, vor dem wir Sie warnen.
Inhalt: Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman von E. Marlitt (Fortsetzung). S. 273. – Der Stil in der Wohnung. Von Ferdinand Avenarius. S. 278. – „Die Gesellschaft der Waisenfreunde“. Von Friedrich Hofmann. S. 279. – Unter der Ehrenpforte. Von Sophie Junghans (Fortsetzung). Mit Illustration S. 281. – Franz Defregger. Zum 50. Geburtstage des Meisters, am 30. April. Von Fr. Pecht. S. 284. Mit Illustrationen S. 284 und 286. – Der Eschepeter. Von Emil K . . . g. S 286. – Der Rhabarber. Von O. Hüttig. Mit Abbildung S. 287. – Blätter und Blüthen: Reiherbeize S. 288. Mit Illustration S. 277. – Zum Gedächtniß Franz Abt’s. – Ein Buch für Fortbildungsschüler. – General Vogel von Falckenstein. – Schach. Problem Nr. 2. Von Otto Fuß. – Kleiner Briefkasten. S. 288.
- ↑ Dieselbe soll am 10.Mai 11 Uhr im Saale der Loge „Apollo“ zu Leipzig stattfinden.