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Die Gartenlaube (1885)/Heft 16

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 16.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


21.

Die Testamentseröffnung war vorüber und hatte so manchem der plötzlich entlassenen mißliebigen Fabrikarbeiter die bitterste Enttäuschung gebracht. Das Schriftstück war alten Datums gewesen. Wenige Jahre nach seiner Verheirathung war der Kommerzienrath mit dem Pferde gestürzt; die Aerzte hatten ihm und den Seinen nicht verhehlen können, daß Lebensgefahr vorhanden sei, und da hatte er eine letztwillige Verfügung getroffen. Dieses Dokument war sehr kurz und knapp abgefaßt gewesen, wie sich bei der heutigen Eröffnung herausstellt. Die verstorbene Frau Fanny war zur Universalerbin ernannt; auch war verfügt, daß das Geschäft verkauft werden solle, weil damals noch kein männlicher Erbe existirt hatte – Reinhold war erst ein Jahr später geboren. – Dieser letzte Wille war mithin nicht mehr rechtskräftig, und die beiden einzigen Erben, Margarete und Reinhold, traten in ihre unverkürzten, natürlichen Rechte.

Margarete war sofort nach dem Schluß des Eröffnungsaktes nach Dambach zurückgekehrt, „weil der Großpapa sie noch brauche.“ Reinhold dagegen hatte sich auf seinen Schreibstuhl gesetzt, hatte die kalten Hände an einander gerieben und dabei streng und finster wie immer die arbeitenden Komptoiristen gemustert. Seine Miene war unverändert – was auch hätte das Testament bringen können, das ihm die bereits ursurpirten Rechte auch nur um ein Titelchen zu kürzen vermochte? ... Und die Leute schielten ängstlich, mit gelindem Grauen nach dem unerbittlichen gespensterhaften Menschen, der den Platz des ehemaligen Chefs nunmehr vollberechtigt einnahm, und welchem sie auf Gnade und Ungnade für immer überantwortet waren. –

Es war in der vierten Nachmittagsstunde desselben Tages. Der Landrath war eben heimgekommen und die Frau Amtsräthin stand im Vorsaal, mit einer Verkäuferin um eine Henne

Stapellauf. 0 Nach dem Oelgemälde von Dieth. Meyer.

[258] feilschend. Da kam der Maler Lenz herein. Schwarz gekleidet vom Kopf bis zu den Füßen, trat er in einer Art von ängstlicher Hast auf die alte Dame zu; sein sonst so friedensvolles, freundliches Gesicht war ungewöhnlich ernst und trug die Spuren innerer Erregung.

Er fragte nach dem Landrath, und die Dame wies ihn kurz nach dessen Arbeitszimmer; aber sie musterte ihn doch prüfenden Blickes, bis er nach einem bescheidenen Anklopfen im Zimmer ihres Sohnes verschwunden war … Der Mann war sichtlich verstört, irgend eine schwere Last lag auf seiner Seele. Sie fertigte die Handelsfrau schleunigst ab und ging in ihr Zimmer. Sie hörte den Mann drüben sprechen; er sprach laut und ununterbrochen, und es klang, als erzähle er einen Vorgang … Der alte Maler war für sie bis auf den heutigen Tag eine abstoßende Persönlichkeit verblieben; sie konnte es ihm nicht vergessen, daß seine Tochter Blanka ihr einst schlaflose Nächte verursacht hatte … Was mochte er wollen? – Sollte der Landrath bei Reinhold ein gutes Wort einlegen, auf daß der Entlassene in Brot und Wohnung verbleiben dürfe? Das durfte nun und nimmer geschehen! –

Die Frau Amtsräthin war eine äußerst feinfühlige, eine hochgebildete Dame, das war männiglich bekannt. Wer behauptet hätte, ihr kleines Ohr unter dem feinen Spitzenhäubchen komme zu Zeiten in nahe Berührung mit der Zimmerthür ihres Sohnes, der wäre als böswilliger Verleumder gebrandmarkt worden. Nun stand sie aber in der That da, auf den Zehen und weit hinübergereckt und horchte, horchte, bis sie plötzlich wie von einem Schuß getroffen zurückfuhr und weiß bis in die Lippen wurde.

Im nächsten Augenblick hatte sie die Thür aufgerissen und stand im Zimmer ihres Sohnes.

„Wollen Sie die Gewogenheit haben, Lenz, das, was Sie soeben behaupteten, auch mir in das Gesicht hinein zu wiederholen?“ herrschte sie gebieterisch, aber sichtlich an allen Gliedern bebend, dem alten Manne zu – alle Sanftheit war wie weggeblasen von dieser schrillen Stimme.

„Gewiß will ich das, Frau Amtsräthin!“ antwortete Lenz sich verbeugend mit bescheidener Festigkeit. „Wort für Wort sollen Sie meine Erklärung noch einmal hören: der verstorbene Herr Kommerzienrath Lamprecht war mein Schwiegersohn – meine Tochter Blanka ist seine rechtlich angetraute Ehefrau gewesen –“

Die alte Dame brach in ein hysterisches Gelächter aus. „Lieber Mann, bis zum Fasching haben wir noch weit – sparen Sie Ihre unfeinen Späße bis dahin auf!“ rief sie mit zermalmendem Hohn und wandte ihm verächtlich den Rücken.

„Mama, ich muß Dich dringend bitten, in Dein Zimmer zurückzukehren!“ sprach der Landrath und reichte ihr den Arm, um sie hinwegzuführen – auch er war bleich wie ein Todter, und in seinen Zügen malte sich eine tiefe, innere Bewegung.

Sie wies ihn unwillig zurück. „Wäre es eine Amtsangelegenheit, um die es sich handelt, dann hättest Du Recht, mich aus Deinem Geschäftszimmer zu weisen; hier aber ist’s ein schlau eingefädeltes Bubenstück, das unsere Familie beschimpfen will –“

„Beschimpfen?“ wiederholte der alte Maler mit einer Stimme, die vor Entrüstung bebte. „Wäre meine Blanka das Kind eines Fälschers, eines Spitzbuben gewesen, dann müßte ich die schwere Beleidigung schweigend hinnehmen; so aber verwahre ich mich entschieden gegen jede derartige Bezeichnung. Ich selbst bin der Sohn eines höheren Regierungsbeamten geachteten Namens; meine Frau stammt aus einer vornehmen, wenn auch verarmten Familie, und wir Beide sind völlig unbescholten durchs Leben gegangen; nicht der geringste Makel haftet an unserem Namen, es sei denn der, daß ich mein Brot als akademisch ausgebildeter Künstler schließlich aus Mangel an Glück in der Fabrik habe suchen müssen … Aber es ist in den bürgerlichen Familien, die zu Reichthum gelangt sind, Mode geworden, auch von Mesalliance zu sprechen, wenn ein armes Mädchen hineinheirathet, und zu thun, als sei das Blut entwürdigt, wie der Adel den bürgerlichen Eindringlingen gegenüber behauptet. Und diesem völlig unmotivirten Vorurtheil hat sich leider auch der Verstorbene gebeugt und damit eine schwere Schuld gegen seinen zärtlich geliebten Sohn auf sich geladen –“

„O, bitte – ich wüßte nicht, daß der Kommerzienrath Lamprecht seinem einzigen Sohn, meinem Enkel Reinhold, gegenüber irgend eine Schuld auf dem Gewissen gehabt hätte!“ warf die Frau Amtsräthin höhnisch, mit verächtlichem Achselzucken ein.

„Ich spreche von Max Lamprecht, meinem Enkel –“

„Unverschämt!“ brauste die alte Dame auf.

Der Landrath trat auf sie zu und verbat sich ernstlich und entschieden jeden ferneren verletzenden Einwurf. Sie solle den Mann ausreden lassen – es werde und müsse sich ja herausstellen, in wie weit seine Ansprüche begründet seien.

Sie trat in das nächste Fenster und wandte den Beiden den Rücken zu. Und nun zog der alte Maler ein großes Briefkouvert hervor.

„Enthält das Papier die gerichtlich beglaubigten Dokumente über die gesetzliche Vollziehung der Ehe?“ fragte der Landrath rasch.

„Nein,“ antwortete Lenz; „es ist ein Brief meiner Tochter aus London, in welchem sie nur ihre Verehelichung mit dem Kommerzienrath Lamprecht anzeigt.“

„Und weiter besitzen Sie keine Papiere?“

„Leider nicht. Der Verstorbene hat nach dem Tode meiner Tochter alle Dokumente an sich genommen.“

Die Frau Amtsräthin stieß ein helles Gelächter aus und fuhr herum. „Hörst Du’s, mein Sohn?“ rief sie triumphirend. „Die Beweise fehlen – selbstverständlich! Diese nichtswürdige Beschuldigung Balduin’s ist ein Erpressungsversuch in optima forma.“ Sie zuckte die Achseln. „Möglich, daß die Verführungskünste der kleinen Kokette, die einst vor unseren Augen auf dem Gang des Packhauses ihr Wesen getrieben hat, nicht ohne Wirkung auch auf ihn geblieben sind; möglich, daß sich darauf hin draußen in der Welt eine intimere Beziehung zwischen ihnen angesponnen hat – das ist ja nichts Seltenes heutzutage, wenn ich auch Balduin einen solchen Liebeshandel nimmermehr zugetraut hätte. Indeß, ich will es zugeben – aber eine Verheirathung? Eher lasse ich mich in Stücke hacken, als daß ich solchen Blödsinn glaube!“

Der alte Maler reichte Herbert den Brief hin. „Bitte, lesen Sie,“ sagte er mit völlig tonloser Stimme, „und bestimmen Sie mir gütigst eine Stunde, zu welcher ich Ihnen morgen auf dem Amte das Weitere vortragen darf! Es ist mir unmöglich, noch länger mein todtes Kind so schmachvoll verlästern zu hören … Nur mit der größten Selbstüberwindung gestatte ich fremden Augen den Einblick in das Schreiben –“ sein schmerzlicher Blick hing wie sehnsüchtig an dem Briefe, den der Landrath an sich genommen hatte. „Es kommt mir vor wie ein Verrath an meiner Tochter, welche die einzige Schuld, die sie je auf ihre Seele genommen hat, in den Zeilen ihren Eltern beichtet. Wir haben keine Ahnung gehabt, daß mein Chef und Brotherr hinter unserem Rücken unser Kind zu einem Liebesverhältniß verleitet hat – auf seinen dringenden Wunsch, sein strenges Gebot hin hat sie uns Alles verschwiegen … Wäre sie kinderlos gestorben, ich hätte die ganze Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Sie ist in fremdem Lande heimgegangen; Niemand in dieser Stadt hier hat um die seltsamen Verhältnisse gewußt, es wäre somit keine Veranlassung dagewesen, für ihre Ehre einzutreten. So aber gilt es, ihrem Sohne zu seinem Rechte zu verhelfen, und das will und werde ich mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen! –“

„Sie hätten das schon bei Lebzeiten meines Schwagers thun müssen!“ unterbrach ihn der Landrath fast heftig, nachdem er in sichtlich großer Aufregung das Zimmer durchmessen.

„Herbert!“ schrie die alte Dame auf. „Ist es möglich, daß Du diesem empörenden Lügengewebe auch nur den allergeringsten Glauben schenkst?“

„Sie haben Recht, ich bin dem herrischen Mann gegenüber allerdings schwach gewesen,“ versetzte Lenz, ohne auf den Ausruf der Amtsräthin zu hören. „Ich durfte mich nicht mit Versprechungen von Zeit zu Zeit hinhalten lassen, wie es leider geschehen ist … Als wir vor einem Jahre unseren Enkel endlich sehen und zu uns nehmen durften, da sagte der Kommerzienrath, daß ihm augenblicklich die Verhältnisse noch nicht gestatteten, mit der öffentlichen Anerkennung seines in zweiter Ehe geborenen Sohnes hervorzutreten. Dagegen werde er schleunigst sein Testament machen, um schlimmsten Falles dem kleinen Max seine Sohnesrechte zu sichern … Nun, er hat sein Versprechen nicht gehalten – im Vollgefühl seiner Kraft mag ihm dieser ‚schlimmste Fall‘, sein plötzlicher Tod, ganz unmöglich erschienen sein … Aber ich verzage nicht – die Legitimationspapiere sind ja da, [259] der Trauschein, das Taufzeugniß meines Enkels, diese Papiere müssen sich im Nachlaß finden. Und deßhalb komme ich zu Ihnen, Herr Landrath – es widerstrebt mir, einen Rechtsanwalt hineinzuziehen. Ich lege die Sache in Ihre Hände.“

„Ich nehme sie an,“ versetzte Herbert. „In diesen Tagen werden die Siegel abgenommen, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Alles geschehen soll, um Licht in die Angelegenheit zu bringen!“

„Ich danke Ihnen innig!“ sagte der alte Mann und reichte ihm die Hand. Dann verbeugte er sich nach der Richtung, wo die Frau Amtsräthin stand, und ging hinaus.

Eine kurze Zeit blieb es still im Zimmer, so bedrückend still, wie es nach dem ersten Windstoß eines heranziehenden Gewitters zu sein pflegt – man hörte nur das Knistern der Papiere, die Herbert aus dem Kouvert nahm und entfaltete, während die Amtsräthin wie geistesabwesend nach der Thür starrte, hinter welcher „der Unglücksmensch“ verschwunden war … Nun aber raffte sie sich auf.

„Herbert,“ rief sie entrüstet ihrem lesenden Sohn zu, „kannst Du wirklich Deine Mutter in ihrer furchtbaren Aufregung und Erbitterung vor Dir stehen sehen, während Du Dich in das lügenhafte Geschreibsel jener erbärmlichen Kokette vertiefst?“

„Es ist kein lügenhaftes Geschreibsel, Mama,“ sagte er aufblickend, sichtlich erschüttert.

„Ah, Du bist gerührt, mein Sohn? … Nun, das Papier ist geduldig, und die schöne Dame wird selbstverständlich alle ihre Schreibekünste aufgeboten haben, um den Eltern gegenüber ihrem Fehltritt ein Mäntelchen umzuhängen … Und ein Mann wie Du läßt sich auch bethören und glaubt darauf hin –“

„Ich habe schon vorher geglaubt, Mama.“

„Lächerlich! – Das Gerede eines alten, halbblöden Mannes –“

„Liebe Mama, gieb es auf, Dich und mich mit falschen Vorspiegelungen beruhigen zu wollen; sieh lieber der Wahrheit gefaßt ins Auge! … Mit den ersten erklärenden Worten des alten Malers war es, als würde mir eine Binde von den Augen gerissen. Balduin’s ganzes räthselhaftes Gebahren während der letzten Jahre, zu welchem wir vergebens den Schlüssel gesucht haben, es liegt entschleiert vor mir! Er hat einen furchtbaren inneren Zwiespalt mit sich herumgetragen. Hätte ihm der Tod nicht diese zweite Frau entrissen, dann wäre es anders gekommen. Das schöne, hochgebildete Weib an seiner Seite, hätte er es wohl über sich vermocht, nach Jahr und Tag mit ihr in die heimischen Verhältnisse zurückzukehren. So aber ist der Zauber gebrochen gewesen. Ihm ist nichts geblieben, als die Thatsache, daß er der Schwiegersohn des alten Lenz sei, und da hat der Feigling in ihm gesiegt – der erbärmliche Feigling!“ zürnte er. „Wie hat er es übers Herz bringen können, den Knaben, diesen prächtigen Jungen, der sein Stolz sein mußte, in seinem eigenen Hause, im Vaterhause des Kindes zu verleugnen? Wie hat er’s ertragen, daß Reinhold’s schielender Neid oft genug den kleinen Bruder tückisch getreten hat? … Armer, kleiner Kerl! Wie er mir am Sarge des Verstorbenen ins Ohr flüsterte: ‚Ich will ihn lieber auf den Mund küssen, er hat mich auch manchmal geküßt, im Thorweg, wo wir ganz allein waren –‘“

„Siehst Du, mein Sohn, das Alles beweist nur, daß ich Recht habe, daß dieser ‚prächtige Junge‘ ein – Bastard ist,“ unterbrach ihn die Amtsräthin. Sie war ganz ruhig geworden; es spielte sogar ein überlegenes Lächeln um ihren Mund. „Den Hauptgrund aber, weßhalb Balduin eine zweite Ehe nicht eingehen konnte und durfte, scheinst Du ganz zu übersehen: sein Gelöbniß, das Fanny mit ins Grab genommen hat –“

„Ja, das ist’s, was ich meiner Schwester nur schwer verzeihen kann!“ sagte Herbert fast heftig. „Es ist eine Grausamkeit, eine Unnatur ohne Gleichen, den Trennungsschmerz eines Zurückbleibenden zu benutzen, um solch einen unglückseligen Mann für Lebenszeit an eine Todtenhand zu schmieden –“

„Nun, darüber wollen wir nicht streiten; ich sehe das mit anderen Augen an und sage mir, daß uns dieser Umstand die beste Gewähr ist und bleibt. Denke an mich, die Papiere werden sich nicht finden – sie haben nie existirt! … Nun, desto besser! Die Sache läßt sich mit Geld abmachen; das Vermögen der beiden rechtmäßigen Erben wird freilich bluten müssen; allein was hilft es? Das kann in aller Stille abgewickelt werden und ist doch dem Skandal, einen Stiefbruder so vulgärer mütterlicher Abkunft zu haben, weit vorzuziehen.“

Ihr Sohn sah ihr starr ins Gesicht. „Sprichst Du im Ernste, Mutter?“ fragte er gepreßt. „Du ziehst es vor, den Verstorbenen mit der Schuld eines ehrlosen Verführers in der Erde belastet zu sehen? Großer Gott, bis zu welcher Unmoralität verirrt sich doch das unselige Standesvorurtheil! … War Fanny nicht auch die Tochter eines Bürgerlichen? Und war ihre eigene Mutter, die erste Frau meines Vaters, nicht auch ein einfaches Mädchen aus dem Volke gewesen?“

„Recht so! Schreie diese Thatsachen in die Welt hinaus, jetzt wo wir im rapiden Steigen begriffen sind!“ zürnte die alte Dame mit unterdrückter Stimme. „Ich begreife Dich nicht, Herbert. Woher auf einmal diese penible Auffassung?“

„Ich habe nie anders gedacht,“ rief er empört.

„Nun, dann ist es Deine Schuld, wenn ich mich irrte. Weiß man doch nie, wie Du denkst. Ein intimeres Aussprechen, wie es sich zwischen Mutter und Sohn eigentlich von selbst versteht, giebt es bei uns nicht – man tappt Dir gegenüber stets im Finstern … Uebrigens denke Du über die Sache, wie Du willst, ich stehe fest auf meinem Standpunkt. Ich ziehe es in der That vor, eine mit Geld aufgewogene, gesühnte und verschwiegene Schuld in der Familie zu wissen, als plötzlich die liebe Muhme oder Base von Krethi und Plethi zu werden … Dann möchte ich aber auch fragen: Hast Du denn gar kein Herz für Fanny’s Kinder? Wenn ein dritter rechtmäßiger Erbe auftritt, so erleiden sie einen ungeheuren Verlust.“

„Es bleibt ihnen immer noch mehr als genug –“

„In Deinen Augen vielleicht; aber nicht in denen der Welt … Gretchen ist eine der ersten Partien im Lande, und wenn sie auch kopflos genug die glänzendsten Aussichten jetzt noch von der Hand weist, so wird und muß doch eine Zeit kommen, wo sie verständig wird und die Dinge ansieht, wie sie sind. Wie es aber um diese ihre brillanten Aussichten stehen würde, wenn ein Drittel des Lamprecht’schen Vermögens einem Nachgeborenen zufiele, darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel.“

„Ein Mädchen wie Margarete wird begehrt werden, auch wenn ihr Vermögen noch so sehr zusammenschmilzt,“ erwiderte Herbert. Er war ans Fenster getreten, wo er abgewendet von seiner Mutter verharrte. „Je weniger, desto besser!“ setzte er fast murmelnd hinzu.

Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Die Grete? Ohne Geld? Was machst Du Dir für Illusionen, Herbert! – Nimm ihr diesen Nimbus, und das schmächtige Ding wird sein wie ein armer Vogel, dem man allen Federschmuck ausgerupft hat! … Nun wahrhaftig, fast möchte ich wünschen, Du kämest nach meinem Tod in die Lage, das Mädchen unter die Haube bringen zu müssen!“

„Das sollte mir nicht schwer werden,“ sagte er mit einem unmerklichen Lächeln.

„Ein klein wenig schwerer denn doch, als wenn Du einen neuen Schreiber anzustellen hättest – das glaube Deiner alten Mutter, mein Sohn!“ entgegnete sie spöttisch. „Aber wozu um des Kaisers Bart streiten!“ schnitt sie kurz den Wortwechsel ab. „Wir sind Beide erregt; ich über die Unverschämtheit des Menschen, der uns eine Bombe ins Haus wirft, welche sich, näher besehen, als ein Schreckschuß erweist, und Du, weil Dir das Seelenbekenntniß einer ehemaligen Flamme zu Gesicht gekommen ist … Wenn wir ruhiger geworden sind, dann wollen wir weiter sprechen … Selbstverständlich bleibt die Angelegenheit vorläufig unser Beider Geheimniß. Die Kinder, Margarete und Reinhold, erfahren es noch zeitig genug, wenn es gilt, die Abfindungssumme aus ihrem Erbe zu entnehmen, um – für die unselige Verirrung ihres Vaters zu büßen – arme Kinder!“

Damit verließ sie das Geschäftszimmer ihres Sohnes.


22.

Heute lag die Sonne breit über der Stadt, eine bleiche, machtlose Wintersonne, die vergeblich an dem frostgehärteten Schneepanzer der Dächer sog und leckte. Wohl rannen einzelne feine Wasserfäden abwärts, allein sie blieben als kleine silberne Franzen an der Dachrinne hängen. Die zarten, sehnsüchtigen Zimmerblumen hinter den Fenstern freuten sich aber trotzalledem [260] des blassen Sonnenlächelns, und Papchen im Salon der Frau Amtsräthin schrie und lärmte, als seien die Goldfunken, die seinem Messingring und den glänzenden Bilderrahmen an den Wänden entsprühten, eitel Sommerglanz, der hinunter ins Grüne des Hofes locke … Papchen war aber auch extra vergnügt. Er hatte seit Langem nicht so viel Kosenamen, soviel Biskuit und Zuckerbrot von seiner Herrin erhalten, als heute. Es war überhaupt, als fliege noch ein besonderer Sonnenschein durch die vornehme obere Etage des Lamprechthauses. Die Bettelkinder bekamen mehr Brot und weniger Strafpredigten als gewöhnlich, die Köchin verließ öfter als billig ihren Kochherd, um den schönen, fast noch neuen Hut immer wieder aufzuprobiren, den ihr die Frau Amtsräthin geschenkt hatte, und das Stubenmädchen überlegte unter lustigem Trällern, wie sich wohl ihr Geschenk, ein Kachemirkleid der alten Dame, am schönsten modernisiren lasse.

Drunten in der Lamprecht’schen Küche sah es anders aus, weil man ja doch ein Herz und keinen Stein in der Brust hatte, wie Bärbe immer sagte. Um das Packhaus hatte man sich freilich nicht zu kümmern, wie es seit Jahren Brauch und Gesetz im Vorderhause war; aber wenn in einer Wohnung, „nur über den Hof ’nüber“ eine Schwerkranke lag, da konnte es doch ein Christenmensch nicht fertig bringen, zu thun, als sei dieses Haus ein bloßer Steinhaufen, in welchem keine menschlichen Herzen lebten, die in Angst und Bedrängniß schlugen. Und deßhalb war man still und gedrückt in der Küche und hantirte unwillkürlich geräuschloser als sonst üblich.

Bärbe hatte gestern gegen Abend Wasser am Hofbrunnen geschöpft, und da war auch die Aufwärterin aus dem Packhause gekommen, um einen frischen Trunk zu holen. Die Frau hatte tief alterirt erzählt, daß Frau Lenz vor einigen Stunden einen Schlaganfall gehabt habe; sie könne nicht sprechen und die linke Seite sei gelähmt – der Doktor, der noch an ihrem Bette sitze, nehme die Sache sehr bedenklich. Und die Thränen waren ihr aus den Augen geschossen bei der Schilderung, wie der alte Herr Lenz todtenblaß im Zimmer auf- und abgehe und die Hände ringe und in seiner Angst und Herzensnoth nicht einmal einen Blick für den kleinen Max habe, der in einer Ecke am Bett der Großmama kauere, ihr immerfort in das entstellte Gesicht sähe und auch nicht den kleinsten Mundbissen zu sich nähme. Und dann hatte sie der alten Köchin weiter ins Ohr geraunt, Frau Lenz habe schon den ganzen Tag über sehr aufgeregt ausgesehen, und Nachmittags sei der alte Herr nach Hause gekommen, ganz weiß im Gesicht und mit einer so heiseren Stimme, als verlechze ihm die Kehle … Sie, die Aufwärterin, sei in die Küche an ihre Aufwaschgelte gegangen; aber gleich darauf habe sie einen dumpfen Fall gehört und das sei drüben im Zimmer die Frau Lenz gewesen, die zu Boden gestürzt sei … Was geschehen sein müsse, worüber sich die arme Frau erschreckt habe, wisse sie nicht, hatte die Aufwärterin gesagt. Aber die Frau Amtsräthin wußte es – der Landrath hatte den alten Lenz auf das Amt kommen lassen, um ihm die unerbittliche Thatsache mitzutheilen, daß sich nichts, auch nicht das kleinste Papierblättchen, nicht die geringste Notiz, weder über den gesetzlichen Ehevollzug des verstorbenen Kommerzienrathes mit seiner zweiten Frau, noch bezüglich des nachgeborenen Sohnes, im Nachlaß gefunden habe. – –

Das Geheimniß, das vom Packhause herüber mit seinen Fäden das stolze Vorderhaus zu umspinnen gedroht hatte, schien somit dem Dunkel verfallen, das so viele ungelöste Räthsel der Welt für alle Zeiten deckt. Noch blieb dem alten Lenz allerdings die persönliche Nachforschung in den Kirchen von London, wo die Trauung seiner Tochter, die Taufe seines Enkels stattgefunden; allein in dem Briefe der jungen Frau war die Kirche nicht genannt, in welcher sie „als glückseliges Weib an seiner Seite gestanden und den Ehering empfangen habe. … Der alte Lenz hatte ferner dem Landrath erzählt, er habe eines Tages von der Pflegerin seiner Tochter, die zugleich ihre Freundin gewesen, die Nachricht erhalten, daß ihm ein Enkel geboren sei, und drei Tage darauf sei ein Telegramm eingelaufen mit der Meldung, daß die junge Frau im Sterben liege. Er habe zwar schleunigst die Reise nach London angetreten, um sein einziges Kind noch einmal zu sehen, sei aber doch zu spät gekommen – die Erde habe sie bereits gedeckt. – Das Heim seiner Tochter, eine wahrhaft fürstlich eingerichtete Wohnung, habe er verlassen gefunden; nur die Pflegerin sei noch dagewesen, um auf Befehl des Kommerzienrathes alles Mobiliar versteigern zu lassen. Sie habe ihm mitgetheilt, daß der Kommerzienrath, nachdem er die letzte Handvoll Erde auf den Sarg der Verstorbenen geworfen, sofort abgereist sei. Er habe sich wie ein Wahnsinniger geberdet, so daß sie ihm meist angstvoll aus dem Wege gegangen. Seinen Knaben habe er nicht einmal angesehen, geschweige denn geliebkost – weil das arme Kind die Veranlassung zu Blanka’s Tode gewesen. Trotzdem habe er den kleinen Neugeborenen sammt der Amme mit sich genommen, denn London wolle er nicht wiedersehen, sollte er gesagt haben. Den ganzen Nachlaß der Verstorbenen an Kleidungsstücken, Leibwäsche und dergleichen habe er ihr für die Pflege geschenkt, hatte die Dame hinzugesetzt, aus dem Schreibtisch aber habe er alle Briefschaften und sonstigen Papiere an sich genommen. Nicht ein beschriebenes Blättchen sei mehr in den Fächern zu finden gewesen, hatte der alte Lenz dem Landrath weiter berichtet, und ein solch schriftliches Andenken von seiner Tochter sei das Einzige gewesen, das er sich gewünscht, auf welches er Anspruch gemacht habe. So sei ihm nichts geblieben, als ihr kleiner Liebling, das Hündchen Philine, das verlassen in einer Zimmerecke gekauert und ihm dankbar die liebkosende Hand geleckt habe … Erst nach Jahresfrist sei damals der Kommerzienrath in seine deutsche Heimath zurückgekehrt, ein völlig verwandelter Mann, dessen Ausbrüche der Verzweiflung die alten Eltern seines heimgegangenen Weibes tief erschüttert und geängstigt hätten … Im Dunkel der Nacht sei er zu ihnen gekommen. Da erst hätten sie erfahren, daß er den kleinen Max nach Paris in die Pflege der Wittwe eines verstorbenen Geschäftsfreundes, einer hochgebildeten, ausgezeichneten Frau, gegeben habe. Das Kind sei damals gut aufgehoben gewesen; der Kommerzienrath habe mit der Dame unausgesetzt korrespondirt und sei stets von Allem genau unterrichtet gewesen, was seinen kleinen Sohn angegangen; dagegen habe er sich nie entschließen können, das Kind selbst wiederzusehen … Nun sei aber vor einem Jahre die Dame in Paris plötzlich gestorben und der Kommerzienrath habe den Entschluß ausgesprochen, den Knaben in einem Institut unterzubringen. Dagegen sei indeß Frau Lenz entschieden aufgetreten: das Kind sei noch zu jung, es brauche nothwendig noch das ruhige, beglückende Leben, die Pflege inmitten der Familie, und nunmehr reklamire sie als Großmutter den Knaben; sie habe lange genug die Sehnsucht nach Blanka’s Kinde unterdrücken müssen; und erschreckt durch ihre Drohung, die Hilfe seiner Verwandten anzurufen, falls er auf seinem Vorhaben bestehe, habe er den kleinen Max eines Tages in die deutsche Heimath, in das großelterliche Haus bringen lassen … Wie ein Wunder habe sich damals eine plötzliche Umwandlung vollzogen; beim Anblick des schönen, intelligenten Knaben sei wie mit einem Schlag die tiefste Vaterzärtlichkeit unwiderstehlich in dem Herzen des finsteren Mannes erwacht. Oft sei er spät Abends ins Packhaus gekommen und habe stundenlang schweigend am Bett des schlafenden Kindes gesessen, sein Händchen in der seinen haltend. Er habe sich auch mit großen Plänen für die Zukunft dieses seines nachgeborenen Sohnes getragen.

Das Alles hatte der alte Maler schlicht und einfach dem Landrath im stillen Amtszimmer mitgetheilt, und wenn noch ein Zweifel in Herbert’s Seele gelebt hätte, vor der schmucklosen Darstellung des tiefbewegten alten Mannes wäre er sofort verflogen. Aber hier entschied nicht die festeste Ueberzeugung, und wäre sie die der ganzen Welt gewesen, sondern der Buchstabe, das „Schwarz auf Weiß“. „Ohne gesetzlich beglaubigte Dokumente schweben alle Ansprüche rechtlos in der Luft, deßhalb reisen Sie!“ hatte Herbert gesagt. „Sie werden auf große Schwierigkeiten stoßen und viel Zeit und Geld brauchen; aber um Ihrer gerechten Sache willen werden Sie die Schwierigkeiten nicht scheuen und Ihre Zeit gern opfern, und das Geld, nun das wird sich schon zur rechten Zeit finden, darum sorgen Sie sich nicht!“ Das war wenigstens ein schwacher Trost, ein Strohhalm gewesen, an den man sich in der Bedrängniß klammern konnte; aber diesen Trost hätte der alte Mann seiner Frau nicht einmal geben können – schon bei seinen ersten Worten war sie vor seinen Augen zusammengebrochen …

(Fortsetzung folgt.)

[261]

Charitas.
Nach dem Oelgemälde von W. Bouguereau.
Photogravure von Goupil u. Comp. (Boussod, Baladon u. Comp.) Berlin und Paris.

[262]

Die Fettleibigkeit und ihre Folgen.

Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.

Welch unerwarteter Schicksalsschlag! Ein so kräftig und wohl aussehender Mann im besten Lebensalter!“ So mag wohl schon mancher Leser ausgerufen haben, wenn ihm die Traueranzeige geworden, daß der Tod plötzlich einen seiner Bekannten hingerafft hat, welcher, auf der Höhe des Lebens stehend, sich eines ungetrübten Wohlbefindens zu erfreuen schien und an dem Nichts auffiel, als daß er seit Jahren sehr – stark fettleibig geworden. Ist doch der Laie gewohnt, Fettleibigkeit für ein Zeichen von Gesundheitsfülle anzusehen, und freut sich mancher Mann, der sich im Laufe der Jahre ein Fettbäuchlein angemästet hat, wie stattlich wohl er nun aussehe!

Allerdings, in gewissen Grenzen ist die Ansammlung von Fett im Organismus für diesen von unbestreitbarem Nutzen. Das Fett verleiht dem Körper die nöthige Geschmeidigkeit, es giebt den Formen die den Schönheitsbegriffen entsprechende Füllung und Rundung, es schützt durch seine elastische Beschaffenheit die von ihm umhüllten Organe vor Stoß und Druck von außen; es wahrt endlich als schlechter Wärmeleiter wichtige innere Körpertheile vor Abkühlung. Hat jedoch die Fettansammlung einen die Norm bedeutend überschreitenden Punkt erreicht, dann wird sie zu einem krankhaften Zustande, welcher nicht nur die Schönheit beeinträchtigt, sondern das Leben in mehrfacher Richtung geradezu gefährdet. Dann kommt es nicht selten zu dem oben angedeuteten traurigen Ausgange, wie dies schon vor mehr als 2300 Jahren der berühmteste Arzt des Alterthums Hippokrates in dem Ausspruche betonte: „Hochgradig fettleibige Personen sind mehr geneigt, eines plötzlichen Todes zu sterben.“

Das Fett ist im menschlichen Organismus in den Fettzellen enthalten, welche zwischen dem Bindegewebe abgelagert sind. Jede Fettzelle besteht aus einer äußerst zarten, durchsichtigen Hülle, in der sich das Fetttröpfchen befindet, welches im lebenden Organismus flüssig ist, nach dem Tode aber bei einer Temperatur von 17° R. erstarrt. Nach Liebig hat Menschenfett dieselbe Zusammensetzung wie Olivenöl. Unter normalen Verhältnissen beträgt das Fett bei einem Erwachsenen von mittlerer Größe den zwanzigsten Gewichtstheil des ganzen Körpers. Im Alter von 40 Jahren hat der Mann durchschnittlich ein Gewicht von 64 Kilo und demnach eine normale Fettmenge von 31/5 Kilo. Das weibliche Geschlecht ist selbst im gesunden Zustande zu stärkerer Fettbildung geneigt als das männliche; das Fett beträgt bei jenem den sechzehnten Theil des Körpergewichtes.

Am zahlreichsten und massenhaftesten finden sich die Fettzellen in dem unter der äußeren Haut vorhandenen Bindegewebe, dann zwischen den Därmen am Dünndarmgekröse, im Bindegewebe des Bauchfelles, ferner um die Nieren herum und am Herzbeutel. Diese Stellen, wo sich also normaler Weise viel Fettgewebe findet, sind es auch, an denen sich zuerst die krankhaft gesteigerte Fettzunahme geltend macht und von hier aus über fast alle Körpertheile verbreitet, die Harmonie derselben störend, ihre Funktionen beeinträchtigend.

Die übermäßige Fettleibigkeit erreicht oft sehr hohe Grade, wie ja Jedermann auf den Jahrmärkten sich zu überzeugen Gelegenheit hat, wo es nie an Schaubuden fehlt, in denen „Fettkinder“ zarten Alters mit 200 Pfund Körpergewicht und in Fett schwimmende „Riesendamen“, wie Heine sich ausdrückt: von „kolossaler Weiblichkeit“, dem verehrten Publikum zur zweifelhaften Augenweide vorgeführt werden.

Es ist leicht begreiflich, daß hochgradig Fettleibige schon in ihrem Aeußeren ganz wesentliche Veränderungen bieten. Durch das starke Fettpolster, welches die einzelnen Muskeln schwierig hervortreten läßt, verliert das Gesicht den charakteristischen Ausdruck und erhält durch das Verschwinden der Gesichtsfalten ein verschwommenes Aussehen, sodaß, wie Lichtenberg sagt, fette Gesichter unter dem Specke lachen können, ohne daß man davon Etwas gewahr wird. Die Haut erscheint glatt und von der fettigen Absonderung stark glänzend, dabei leicht zu Transpiration geneigt. Bei der geringsten Anstrengung wird das Gesicht stark geröthet, durch die Fettablagerung am Kinne ist dieses wulstig und reicht bis an den Brustkasten, den Hals fast ganz deckend.

Solche arme unter ihrem Fettgewichte seufzende Personen müssen, um das Gleichgewicht zu erhalten, bedächtig mit auswärts gerichteten Beinen einherschreiten, den Kopf hochhalten und den Körper stramm nach rückwärts ziehen – eine Haltung, welche die Lachmuskeln des unbefangenen Beschauers mächtig anzuregen geeignet ist, wie dies jeder Darsteller des Falstaff auf der Bühne wohl weiß.

Worüber aber nicht zu lachen ist, das sind die ernsten Veränderungen, welche die wichtigsten inneren Organe durch die höheren Grade der Fettleibigkeit erfahren und die unter Anderm dazu führen, daß der Kreislauf des Blutes und die Athmung der Lungen wesentlich beeinträchtigt werden. Die Fettmassen, welche an der Herzoberfläche abgelagert sind, können schon an und für sich die Bewegungsfreiheit des Herzens beengen, sie überwuchern aber im weiteren Verlaufe in das Herzfleisch selbst, zwischen die Muskelfasern und bewirken, daß diese fettig entarten. Während bei geringeren Veränderungen des „Fettherzens“ dieses seine Aufgabe, die Organe mit dem belebenden Blute zu versehen, noch recht gut, wenn auch etwas beschwerlich zu erfüllen vermag, erweist sich das Herz, sobald die Muskulatur desselben fettig entartet ist, als unzulänglich, und die „Herzschwäche“ tritt ein, ein verhängnißvoller Zustand, der sich durch schwachen, unregelmäßigen, leicht aussetzenden Pulsschlag, Stockungen des Blutes im Gefäßsysteme, Schwindelanfälle und jene schweren Athembeklemmungen kund giebt, welche als „Herzasthma“ periodisch, namentlich des Nachts, auftreten. Aufgabe des Arztes ist es darum, bei jedem Fettleibigen den Zustand des Herzens genau zu kontrolliren, um rechtzeitig den Gefahren zu begegnen, welche die „Herzschwäche“ mit sich bringt. Denn diese Gefahren sind groß und für das Leben höchst bedrohlich. Wenn das Herz, von Fett umwuchert und durch Fett in seiner Struktur verändert, geschwächt ist, dann kann durch Ueberanstrengung und Uebermüdung desselben, zuweilen in Folge eines geringen Anlasses, plötzlich Herzlähmung eintreten, ein rascher Tod ohne jeden Kampf und jegliche Qual, wie ihn das Geschick nur wenigen Begünstigten gewährt.

In langsamerer, aber weit qualvollerer Weise wird das Ende in jenen Fällen von Fettsucht herbeigeführt, in denen durch längere Zeit Blutstauungen bestehen, welche mit örtlicher und allgemeiner Wassersucht ihren traurigen Abschluß finden. Am häufigsten ist dies bei Personen der Fall, die dem Alkoholgenusse ergeben sind und dadurch eine starke Neigung zu Erkrankungen der Nieren besitzen.

Was ist denn der Anlaß, daß sich die Fettentwickelung im menschlichen Körper zu so extremen Graden steigert und eine ernste Erkrankung darzubieten vermag? In manchen Fällen – und gerade diese gestalten sich häufig so bedrohlich – besteht eine erbliche Anlage zur Fettleibigkeit, die nicht immer gleich in den ersten Lebensjahren, sondern zuweilen erst in einem bestimmten Alter zu Tage tritt. In gewissen derart „erblich belasteten Familien“, wie der medicinische Ausdruck lautet, werden alle Mitglieder, unbeeinflußt von ihrer Lebensweise, unabhängig von ihrem Aufenthaltsorte, unter allen Umständen abnorm fettleibig, und leider ist hiermit auch oft eine erbliche Anlage zur Kurzlebigkeit oder zu bestimmten Erkrankungen gegeben. Besonders häufig finden sich in solchen Familien Fettsucht und Zuckerharnruhr oder Fettsucht und Gicht innig vergesellschaftet. Gewisse Nationalitäten, so die Orientalen, Ungarn, Rumänen, Süditaliener, Holländer, zeichnen sich durch besondere Neigung zur starken Fettentwickelung aus. Ein Gleiches läßt sich auch von bestimmten körperlichen Konstitutionen annehmen; so sind Menschen von phlegmatischem Temperamente mehr geneigt, recht viel Fett anzusetzen, als reizbare, zu heftiger Erregung geneigte Personen cholerischen Temperamentes. „Diese Beiden fürchte ich nicht, sie sind fettleibig,“ sagte Cäsar, als man ihm Dolabella und Antonius als Verschwörer verdächtigte.

Eine der häufigsten Ursachen der Fettleibigkeit liegt jedoch in ungeeigneter Lebensweise, in der systematischen, wenn auch oft unbewußten Mästung des Fettes durch übermäßige Zufuhr von Nahrungsmitteln, reichlichen Genuß von Spirituosen, ungenügende körperliche Bewegung und beschränkte Aufnahme von Sauerstoff in der Luft.

Was den Einfluß der Nahrungsmittel auf die Fettbildung beim Menschen betrifft, so haben sich die physiologischen Anschauungen [263] in der letzten Zeit wesentlich geändert. Der alte Erfahrungssatz, daß die mit der Nahrung verbundene Aufnahme reichlichen fertigen Fettes größere Fettablagerung im Körper begünstige, ist allerdings auch durch die neueren Versuche bestätigt worden, und es ist unleugbar, daß der Genuß von viel Butter, Oel, Fett, Speck, fettem Fleisch eine bedeutende Fettzunahme verursacht. Allein erst neue Experimente von Voit und Pettenkofer haben die Thatsache festgestellt, daß die Fettbildung auch ohne Einführung von fertigem Fette mit der Nahrung durch reichliche Zufuhr von Eiweiß erfolge, wie dies Liebig früher von den Kohlehydraten (Stärkemehl, Dextrin, Zucker und Gummi-Arten) angenommen hat. Sehr reichliche, übermäßige Ernährung bietet demnach im Allgemeinen einen den Fettansatz im Körper begünstigenden Umstand, der aber noch speciell vermehrt wird, wenn die Ernährung durch Fett, Eiweiß und Kohlehydrate erfolgt und sich hieran noch der Genuß von Alkohol knüpft. Daß der Lebemann, der sich an fettem Fleische, Pasteten und Käse ergötzt, dazu süßen Sekt oder starken Wein trinkt, bald an Embonpoint gewinnt, ist darum ebenso erklärlich, als daß auch der minder Bemittelte sich durch Kartoffeln, Speck und Bier oder Schnaps ein ordentliches Schmeerbäuchlein anmästen kann. Wenn gewisse Gewerbe, so das der Fleischer und Wurstmacher, den zweifelhaften Vorzug genießen, daß sie ihre Leute häufig fett machen, so liegt der Grund für diese Erscheinung nicht, wie man früher annahm, in speciellen thierischen Ausdünstungen, sondern einfach darin, daß jene Gewerbe bekanntlich zu den einträglichsten gehören und es den Meistern gestatten, sehr gut und viel zu essen und zu trinken.

Ebenso wichtig wie die Beschaffenheit der Nahrung sind für die Entwickelung der Fettleibigkeit alle diejenigen Verhältnisse, welche den Stoffwechsel und damit den Fettverbrauch mindern. Das Fett bedarf, damit es im Körper nicht liegen bleibe, sondern zersetzt und schließlich zu Kohlensäure und Wasser verbrannt werde, vorzugsweise des Sauerstoffes, und alle diejenigen Momente, welche den Gaswechsel des Blutes herabsetzen, sind zugleich den Fettansatz begünstigende Bedingungen. Andauernde Ruhe der Muskeln, geringe körperliche Bewegung, steter Aufenthalt in geschlossenen sauerstoffarmen Räumlichkeiten befördern, eine reichliche Ernährung vorausgesetzt, darum die Fettablagerung. Ein Gleiches gilt von der Gewohnheit übermäßig langen Schlafens.

Daß das weibliche Geschlecht im Allgemeinen mehr zur Fettleibigkeit geneigt ist, als das männliche, liegt wohl in der bei Frauen beliebten Ernährung mit süßen Speisen, ebenso wie in ihrer Neigung, Ruhe zu pflegen, oder stundenlang im geschlossenen Raume zu sitzen. Der gleiche Erklärungsgrund mag wohl dafür gelten, daß beschaulich lebende Mönche sich der wunderbarsten Fettbäuche rühmen können.

Aus dem eben Angedeuteten ist auch sehr leicht der Schluß zu ziehen, wie die Fettleibigkeit zu bekämpfen ist, um nicht jenen Grad zu erreichen, bei dem die Hilfe zu spät kommt. Der Fettleibigkeit muß auf diätetischem Wege, durch strenge Regelung der Ernährungs- und Lebensverhältnisse entgegengetreten werden, indem hierdurch eine Aufspeicherung von neuem Fett verhütet und das übermäßig abgelagerte Fett wieder zur Zersetzung gebracht wird. Entsprechend den Ursachen der Fettsucht, ist es darum Hauptaufgabe der Heilung dieses Leidens, den Körper durchaus nicht reichlich zu ernähren, mit den Nahrungsmitteln nur sehr wenig Fett, mittlere Mengen eiweißhaltiger Substanzen, vorwiegend Fleisch, und geringe Mengen Kohlehydrate und Leimstoffe zu verabreichen, dabei die Muskeln in starker Uebung zu halten und für Steigerung der Sauerstoffzufuhr (durch Gebirgs- oder Waldluft) zu sorgen.

Mit wenigen Worten läßt sich darum das Heilverfahren gegen Fettleibigkeit, wenn diese noch nicht sehr vorgeschritten ist, angeben. Es besteht in mäßiger, gemischter, jedoch vorwiegend aus Fleisch bestehender Kost mit möglichster Vermeidung von Fett und Zucker, und fleißiger Bewegung besonders in Wald und Berg.

Jede streng durchgeführte einseitige Ernährungsweise der Fettleibigen, um sie von ihrem Fettbalaste zu befreien, ist darum verwerflich, weil hierdurch die Erhaltung des Organismus wesentlich beeinträchtigt wird. Der Fette wird auf solche Weise zwar mager, aber auch krank. Deßhalb sprechen wir uns gegen die nach dem dicken Engländer Banting benannte Kur aus, welche in ausschließlicher Fleischkost mit vollständiger Vermeidung jeden Fettes besteht und deren dauernde Durchführung mehrfache Gefahren mit sich bringt. Ebenso wenig können wir die von einem belgischen Arzte, Tarnier, angegebene ausschließliche Milchdiät empfehlen. Eine Abmagerung kommt allerdings durch diese Art Hungerkur zu Stande, allein in einer den Organismus schädigenden Weise; es wird dabei eine wässerige Beschaffenheit des Blutes herbeigeführt und jener Zustand von Herzschwäche, über dessen Bedrohlichkeit wir uns bereits geäußert haben. Aus demselben Grunde sind wir auch gegen die Anwendung drastischer Abführmittel, wie solche in manchen angepriesenen „Entfettungspillen“ enthalten sind. In jüngster Zeit hat eine Kurmethode der Fettleibigkeit besonderes Aufsehen durch die bei einem berühmten Staatsmanne erzielten günstigen Erfolge erzeugt. Das Princip jener Kur besteht in einer derartigen Regelung der Diät, daß die Aufnahme von Flüssigkeiten auf ein möglichst geringes Maß herabgesetzt, der Körper dabei genügend ernährt und für Erregung des Herzmuskels durch anstrengende Bewegung gesorgt wird. In der Regel wird hierbei das Maß für die zu verabreichenden Getränke in folgender Art niedrig angesetzt: Des Morgens und Abends eine Tasse Kaffee, Thee, Milch oder andere Flüssigkeit (150 Gramm), Mittags ⅜ Liter Wein und vielleicht noch ¼ bis ⅔ Liter Wasser während des Tages. Dabei gilt als Regel, nie eine größere Quantität Flüssigkeit auf ein Mal zu trinken, sondern die für den Tag bestimmte Menge in kleinen Portionen zu sich zu nehmen. Eine solche wasserentziehende Diät ist aber auch ein den Organismus wesentlich umgestaltender Eingriff und läßt sich wohl nur in jenen Fällen rechtfertigen, wo in Folge der fettigen Veränderungen des Herzmuskels hochgradige Kreislaufsstörungen vorhanden sind und es zur wichtigen Aufgabe des Arztes wird, die im Körper aufgestauten Flüssigkeitsmengen auszuscheiden und darum auch die Aufnahme von Flüssigkeit möglichst zu vermindern.

Ob und welche Arzneimittel gegen Fettleibigkeit anzuwenden, kann nur der Arzt nach sorgfältiger Untersuchung des Einzelfalles bestimmen; ebenso ist es von individuellen Verhältnissen abhängig, welcher Trink- und Badekur sich der Fettleibige zu unterziehen hat, um in wirksamer Weise das diätetische Heilverfahren zu unterstützen. Aber ohne strenge Diät geht es nicht! Schlemmern, welche durch Medikamente mager werden und dabei ihr gewohntes Leben fortsetzen wollen, möge die grobkörnige Mahnung des geistreichsten Feinschmeckers, Brillat-Savarin’s, angeführt sein, welche also lautet: „Wie ihr wollt, mästet euch weiter, werdet plump, kurzathmig und ersticket in der Schmelzbutter; ich werde mir es notiren und euch in der zweiten Auflage meines Buches als warnendes Beispiel anführen.“


Das Körner-Museum zu Dresden.

In diesem Jahre hat das in Dresden in der Neustadt „an geweiheter Stätte“ unter dem Geläute der Osterglocken am 28. März 1875 von seinem Begründer Dr. Emil Peschel eröffnete „Körner-Museum“ sein erstes Decennium erfüllt. Zehn Jahre! eine kurze Spanne Zeit, wenn sie freudenreich war, doch eine lange, lange Frist, wenn sie schwere Sorge in sich faßte.

Als am 26. August 1863 zu der fünfzigjährigen Todesgedenkfeier für Theodor Körner in Dresden eine in einem alten Stadttheile entlegene Gasse und kleiner Platz, bisher Am Kohlmarkt genannt, den Namen Körnerstraße erhielt und an der Außenseite der Geburtsstätte des deutschen Tyrtäos eine stattliche Marmorgedenktafel mit den darin gemeißelten Worten: „Hier wurde geboren Theodor Körner am 23. Septbr. 1791. Er fiel im Kampfe für Deutschlands Freiheit am 26. August 1813. Gewidmet von seiner Vaterstadt am 26. August 1863“, umbraust von dem jubelnden Hoch einer festlichen Menge Tausender angebracht worden war, war auch der erste Akt der Dankbarkeit von der Vaterstadt Dresden dem Dichter von „Leyer und Schwert“ dargebracht.

Eine noch rühmlichere Fortsetzung erhielt diese Feier durch die am 18. Oktober 1871 auf dem Georgplatz zu Dresden vor [264] dem stattlichen Gebäude des städtischen Kreuzgymnasiums vollzogene Enthüllung des vom Altmeister Professor Dr. E. Hähnel modellirten Körner-Standbildes, das zugleich als Schluß der Siegesfeierlichkeiten unter dem Nachhall der Begeisterung für die großen Errungenschaften in den gewaltigen Kämpfen von 1870 und 71 mit Jubelgesängen und kräftigen deutschen Reden der Stadt Dresden zur Zierde, dem jetzigen Geschlecht zur Erbauung und dessen Nachkommen zur Nacheiferung aufgestellt worden ist.

Nicht allein der Gedanke zu diesen Festlichkeiten, sondern auch die ganze mit großen Mühen und Opfern geschehene Ausführung des 1863 und 1871 gefeierten Festes ist Dr. Emil Peschel zu danken, der aber in seinen patriotischen Bestrebungen das Geleistete noch nicht als genügend erkannte. Ihm fehlte noch der würdigste Schlußstein zu alledem, was vorangegangen.

Schon seit einer langen Reihe von Jahren hatte er sich der Erreichung eines noch größeren Zieles, der Vollführung einer für einen Einzelnen gewaltigen Arbeit im Stillen gewidmet. Nach den endlich abgeschlossenen Vorarbeiten konnte er nun zur Ausführung seiner Lieblingsidee, der Begründung einer historischen und litterarischen Ruhmeshalle unter dem Namen „Körner-Museum“ im Körner-Schiller-Hause zu Dresden schreiten.

Am 28. März 1875 wurde dasselbe unter der gleichzeitigen Enthüllung der bronzenen Reliefportraits Schiller’s und Theodor Körner’s, welche aus einer im deutsch-französischen Kriege 1870 eroberten französischen Kanone von C. Lenz in Nürnberg gegossen, von Prof. K. Echtermeier lebensgetreu modellirt sind, unter der gleichen Theilnahme der Festgenossen, wie es vor dieser historischen Stätte schon 1863 geschehen, der Oeffentlichkeit übergeben.[1] – Zunächst der links vom Eingang an der Außenseite, unmittelbar unter den Fenstern der ersten Etage, wo Theodor Körner’s Geburtszimmer sich befindet, schon erwähnten Marmorgedenktafel war zu Ehren des Hauses und aus Anlaß der Museumseröffnung noch eine zweite, rechts von der ersten befindlich, eingelassen, welche die Inschrift trägt: „Hier wohnte bei seinem hochherzigen Freunde Dr. Ch. G. Körner Friedrich Schiller von 1786 bis 1787.[2] Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt sein Wort und seine That dem Enkel wieder!“ –

Zeigte schon damals der bescheidene Raum des ersten Theils des Körner-Museums eine Fülle hochinteressanter Gegenstände besonders in Bezug auf Theodor Körner und die Seinigen, so war dies noch viel mehr der Fall, nachdem zweimalige räumliche Vergrößerungen innerhalb des ersten Decenniums vorgenommen wurden, und trotzdem genügt der Raum zur Bergung und Schaustellung der geschichtlichen, litterarischen und künstlerischen Schätze schon seit Langem nicht mehr. Ein besonderes Museumsgebäude würde erst den wahren Gehalt und die volle Bedeutung des Körner-Museums vor Augen führen und zur Geltung bringen. Welch geliebte Schatten treten aus dem Hause, jetzt nach hundert Jahren noch hellstrahlend hervor! Das Körner-Haus hat Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts innerhalb seiner Mauern außer dem fast zur Familie Dr. Ch. G. Körner’s gehörenden Schiller, der zwei Jahre hier sein Glück gefunden, wohl fast alle damals lebenden geistigen und künstlerischen Größen Deutschlands und auch des Auslandes im häuslichen Kreise des herrlichen Vaters unseres deutschen Tyrtäus begrüßt und ihnen gastliche Stunden oder Tage bereitet. Wohl können jetzt Männer wie Goethe, Schiller, Novalis, Joh. von Müller, Bode, Bertuch, von Beulwitz, W. und A. von Schlegel, Alexander und Wilhelm von Humboldt, Oehlenschläger, Heinrich von Kleist, E. M. Arndt und hundert Andere uns nicht mehr das Lob des Körner’schen Kreises selbst verkünden, auch können Männer wie Mozart, Paer, von Weber etc. ihre unsterblichen Weisen nicht mehr vor derselben entzückten hochansehnlichen Gesellschaft von damals hervorzaubern und ertönen lassen, aber ihr Geist waltet noch fort in den Räumen des Körner-Museums. Wir sehen sie doch noch Alle, Alle in Wort und Bild, als Büste oder in sonstigen Erinnerungszeichen, wir begrüßen sie oft in denselben Originalschriften und niedergeschriebenen Tönen, die noch jetzt das deutsche Volk mit bewegtem Herzen liest, mit umflortem Auge wehmuthsvoll erblickt und andachtsvoll als Töne erlauscht.

Und nicht genug ist es mit der Schilderung dieses häuslichen, gelehrten und künstlerischen Kreises, welcher sich bis auf die ganze mächtige Goethe- und Schiller-Litteraturperiode erstreckt und dieselbe umfaßt, nein, auch die Großen, Mächtigen und Gewaltigsten aus der wenngleich damals schwersten, aber auch gewichtigsten deutschen Geschichtsepoche: die Zeit der deutschen Befreiungskriege von 1813 bis 1815, treten uns als „All-Deutschland und seine Getreuen“ erschütternd in den Zimmern des Körner-Museums entgegen. Der 1806 wegen der Veröffentlichung der Schrift „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“ zu Braunau erschossene Buchhändler Ph. Palm, die 1809 zu Stralsund und Mantua erschossenen Ferdinand von Schill und Andreas Hofer, Männer wie Haspinger, Speckbacher, Arndt, Hormayr, Rückert, M. von Schenkendorf etc. leiten die Erhebung Deutschlands ein.

Nach dem „Aufruf an mein Volk“ erscheint ein großer Theil des deutschen Volkes als neue Streiter für Gott und Vaterland, erscheint die Poesie der Befreiungskriege: die von Lützow’sche Freischaar, Theodor Körner als Barde, dessen im Bivouak oder kurz vor der Schlacht geschriebene Schlachtgesänge Tausende von Freiwilligen gegen Napoleon geführt, erscheinen endlich die hohen Recken mit Degen oder Feder, die Generale und Staatsmänner der großen Zeit: Scharnhorst, Gneisenau, Blücher, Wellington, von Stein, Metternich, Nesselrode, kurz Alle, die da am Webstuhle der Zeit gewirkt. Und zuletzt als die Verherrlichung erscheint der Genius der Befreiungskriege, die deutscheste der deutschen Frauen, die Mutter unseres greisen Heldenkaisers, die einstige hohe Dulderin für ihr Vaterland, die Königin Luise von Preußen. Ihr zur Seite stellen sich alle die gekrönten Häupter, die für Alles, was sie an die Welt band, gegen den Kaiser der Franzosen zu kämpfen hatten.

Aber das Schicksal dieses wichtigen nationalen Ehrentempels, dessen große Bedeutung selbst im Auslande anerkannt wird, ist für die Zukunft ein ungewisses. Und deßhalb mögen zum Schlüsse dieser Zeilen noch einige kurze Worte gesagt sein, die aber inhaltsvoll und inhaltsschwer als Mahnung, nicht speciell an die Stadt Dresden allein, nicht an die Sachsen oder Preußen im Allgemeinen, nicht an einzelne Korporationen von Stadt- oder Landtagsabgeordneten und hohen Reichstagsmitgliedern gerichtet sind. Nein, ohne jeden Hintergedanken für Volkskollekte oder Ehrenspende stellen wir die Frage an jeden echten Deutschen: Was soll denn nun jetzt oder später aus den geschichtlichen und litterarischen Schätzen dieser unvergleichlichen, mit den unsäglichsten Mühen und Geldausgaben eines einzelnen Privatmannes geschaffenen Sammlung in den Räumen eines geweihten Hauses werden?

Dr. Peschel hat bisher mit eiserner Festigkeit und unerschütterlichem Muthe sein Alles dem Körner-Schiller-Hause einverleibt, sein Hab und Gut, sein Wissen und Können, sein Hoffen und Streben. Seit neun Jahren verschiebt sich eine angemessene Subventionirung des Museums von Seiten des Reichs oder Sachsens, oder das endgültige Schicksal desselben unter formellen Klauseln, juristischen Bedenken oder auch unter politischen Rücksichtsnahmen von einem Weichbild der Stadt oder einer Grenze des Landes nach einer anderen. Sollte es wirklich wahr sein, daß die auf deutscher Erde geborenen, Verhältnisse halber nach Nordamerika ausgewanderten, sich jenseit des Oceans wohl befindenden deutschen Brüder zur Erinnerung an das trotz alledem heißgeliebte Vaterland schon vor Jahren für New-York oder Chicago das Körner-Museum ankaufen wollten, um ein schönes Stück deutscher Geschichte und Poesie als Erinnerungstempel für das liebe deutsche Vaterland zu bewahren?

Die Frage der nun endlich in nationalem Sinne vorzunehmenden Lösung dieser Museumsangelegenheit trete dem Herzen eines jeden wahrhaft fühlenden und gebildeten Deutschen nahe, erfasse Jeden, damit er Einflußreicheren, als er vielleicht selbst ist, mahnend zurufe:

Die deutsche Nation giebt sich ein Recht auf die Beibehaltung und Sicherstellung des Dresdener Körner-Museums, zu Ehren ihrer selbst, zu Ehren der Manen Schiller’s und Körner’s, zu Ehren von Scharnhorst’s heiligen Scharen und des deutschen Heldengeistes, der das Vaterland befreite! Zu Ehren aber auch des Mannes, der zu diesem Werke seine ganze Kraft einsetzte, des Schöpfers des Museums! Dr. F. M.     


  1. Vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1875, S. 398.
  2. Von 1785–86 wohnte Schiller im Hofgärtner Fleischmann’schen Hause, dem Körner-Hause unmittelbar gegenüber.




[265]
Unter der Ehrenpforte.
Von Sophie Junghans.
(Fortsetzung.)


Du hättest mich früher rufen sollen, mein Kind,“ sagte der Weber mit ernster Stimme, deren Sanftmuth nichts Erkünsteltes, Erzwungenes hatte, sondern aus der Tiefe eines geläuterten Herzens kam. „Geh jetzt in Deine Kammer.“

Hilde ging still hinaus. Georg stand vor dem alten Manne mit fliegenden Pulsen und den Augen eines Fieberkranken. Wollte der Alte jetzt etwa predigen, ihn herunterkanzeln? Georg hatte so viel Geduld ihn anzuhören, wie der schwerverletzte Mann etwa, dessen Körper nur eine schmerzliche Wunde wäre, gegen eine rauhe Berührung empfinden würde.

Aber als Meister Lukas jetzt sprach, war seine Stimme noch immer ruhig ... traurig eher, als etwas Anderes. Und sogar noch einen gewissen gehaltenen Respekt vor dem auf der Stufenleiter irdischen Ranges von Gott höher Geordneten konnte man heraus hören.

„Euch, Herr,“ sagte er, „kann ich fürder diese Schwelle nicht mehr frei geben. Um Eures braven Vaters willen sage ich nicht mehr als nur dies: Geht, hebt Euch fort aus dem Hause des ärmeren Mannes, der Euch mit einfältigem Herzen aufgenommen hat, und dem Ihr als Gastgeschenk Kummer und Gram gebracht habt. Den Frieden meines Hauses habt Ihr versehrt. Geht, zum letzten Male hat diese Thür Euch eingelassen!“

Einem schonungslosen Angreifer gegenüber wäre Georg’s bitterer Schmerz wahrscheinlich in Grimm umgeschlagen. Aber für diese Weise des alten Mannes hatte er keine Waffen. Ein jedes Wort desselben traf, und traf schwer. Als Meister Lukas, die eingefallene Brust dehnend und gerader aufgerichtet als er pflegte, jetzt die Hand nach der Thür ausstreckte, da ging Georg völlig stumm, wie Hilde eben gegangen war. Er war schon minutenlang im Freien und stand in seiner dumpfen Gleichgültigkeit ungewiß, wohin er sich wenden sollte ... da erst wurde von drinnen langsam der Riegel vorgeschoben.

„Hilde! Hier ist Dein Platz!“ (S. 268.)

Und langsam wendete sich Georg, anstatt nach rechts, der Stadt zu, zur Linken, die Landstraße entlang und dann in die offene abendliche öde Gegend hinaus. Er wußte kaum, wo er ging. Das also wäre das Ende gewesen! Mit leichtem, frevlem Muthe begonnen, hatte das Abenteuer sich seiner völlig bemächtigt, ihn auf die Stelle hingedrängt, auf der er heute gestanden hatte, beschämt, ja erniedrigt vor jenem Manne. Und von der Stätte, an der er die Befriedigung einer flüchtigen Laune gesucht, da brachte er einen gebrochenen Muth und ein zerrissenes Herz mit. – –

„Warte nur, Rosinchen“ sagte Frau Külwetter zu ihrer Tochter, als sich das Mädchen in diesen Tagen schmollend über Georg’s finsteres Wesen beklagt hatte, „warte nur noch ein drei, vier Wochen, länger kann es ja bis zu dem fürstlichen Einzuge nicht mehr dauern. Und dann, wann in der Stadt wieder alles im Geleise ist und die Leute wieder richtig bei Sinnen – denn mehr als einer kommt Einem jetzt wie aus dem Häuschen vor, der Georg ist’s nicht allein – dann ruhe ich auch nicht länger, dann müssen wir mit Bürgermeisters ins Reine kommen. Es ist mir schon wegen der Kapaune, die sind bis dahin über und über fett und dürfen nicht älter werden – ein paar Schock Eier habe ich jetzt gerade billig kaufen können für die Kuchen, ich mag sie nicht erst einlegen ... und unser schönes Weizenmehl! wenn uns das auch nicht gerade wohlfeil kommt – Dein Vater hat den Sack voll von dem verschuldeten Bruchmüller an Zahlungsstatt angenommen für ein paar Ellen seines blaues Tuch – so haben wir doch nie ein feineres, weißeres Mehl im Hause gehabt – es ist wie geschaffen für die Hochzeitskuchen. Also ich sorge Dir dafür, daß wir bald Verspruch halten! Man merkt es ja an seinem Gesichterschneiden: den Georg ärgert das lange Hinziehen auch.“

Rosine verrieth weder durch Miene noch durch Worte, daß sie Anlaß hatte, was den Grund von Georg’s übeler Stimmung betraf, anderer Ansicht als ihre Mutter zu sein. Sie würgte den Eltern gegenüber ihren bittern Aerger schweigend hinunter, denn Rosine war, wie wir wissen, keine offene, freier Ergießung bedürftige Natur. Nur bei dem Dienstmädchen Gertrud ließ sie sich gehen, und Trudchen, um sich für diesen Beweis von Vertraulichkeit erkenntlich zu zeigen, trug ihr allerhand zu und hatte [266] auch den letzten Besuch Georg’s in dem Weberhause alsbald herausgeschnüffelt und haarklein darüber Wahres und Falsches berichtet.

Seitdem sann Rosine den ganzen Tag und mit Beeinträchtigung ihres sonst sehr gesunden Schlafes auch sogar einen Theil der Nacht hindurch darüber nach, wie sie sich an der Weberdirne rächen und zugleich auch dem Georg eins versetzen könne, gewissermaßen auf Abschlag, denn die volle Heimzahlung der erfahrenen Kränkung mußte für den Ehestand aufgespart bleiben, und Rosine konnte vor sich hin sitzen, das volle, weiche Gesicht in beide Hände gestützt, und ein wahres Vergnügen bei dem letztern Gedanken empfinden.

Aber auch für jetzt hatte sie endlich einen gar nicht übeln Plan ausgeklügelt. Sie mußte und sollte von den Handtüchern mit den gestickten Borden haben, wie sie die Frauen und Mädchen bei den fremden Weberleuten so geschickt auszuführen verstanden. Das war eine ganz gediegene Vermehrung der Aussteuer, und deßhalb zeigte sich auch die sonst so sparsame Frau Külwetter dem Ankauf nicht abgeneigt. Denn der Leinenschatz eines Mädchens war ja ein sicheres Kapital, und das Geld, welches man hineinsteckte, wohl angelegt.

Ehe sich aber eine Bürgersfrau von damals dazu verstand, einen Gang zu thun, wie der hinaus in die Weberniederlassung, jenseit des Stadtthores, aus dem man in seinem Leben kaum ein Dutzendmal heraus kam, da mußten schon am frühen Morgen die bessern Kleider und zur Fürsorge auch das Regentuch aus den lavendelduftenden Truhen genommen und bereit gelegt und das Haus auf einen ganzen Nachmittag bestellt werden. Die schlaue Rosine ließ die Mutter erst Tage lang bei dem Gedanken an ein solches Unternehmen seufzen, dann hatte sie mit einem Male die allerbequemste Auskunft bereit. Die Gertrud hatte es einer Nachbarin und diese wiederum einer andern gesagt, welche ihr Weg doch hinaus vors Thor führte, und, kurz und gut, die Mutter konnte ruhig zu Hause bleiben, eine der fremden Dirnen war bestellt und würde die Muster der schönsten Borden, darunter man dann eine Auswahl treffen konnte, zu Külwetters ins Haus bringen.

Daß sie, Rosine, die Gertrud in eigner Person mit einer ausdrücklichen Bestellung zur Tochter des Meister Lukas geschickt hatte, brauchte Frau Külwetter nicht zu wissen, und es glückte, ihr zur rechten Zeit etwas vorzumachen. Und da Rosine nun wußte, auf wann die Weberstochter zu kommen zugesagt hatte, so war es ganz einfach, in der weitern Verfolgung ihrer Absicht der Mutter einen andern Tag als den bezeichneten zu sagen und mit ein paar weitern kleinen Kunstgriffen sich das Feld für den Anfang wenigstens frei zu halten.

Das Schwierigste war, den Anlaß für die Anwesenheit Georg’s in ihrem Hause zu finden und sich diese zu sichern. Rosine aber war gesonnen, nichts unversucht zu lassen. Von ihrem Erkerfenster aus konnte sie sehen, wer bei Bürgermeisters aus- und einging. Die Spätnachmittagsstunde, in der Hilde zu kommen zugesagt hatte, nahte heran. Rosine saß mit klopfendem Herzen am Fenster und bewachte drüben die Hausthür. Georg war zu Hause, das wußte sie. Blieb er im Hause, so konnte sie zur rechten Zeit die Gertrud hinschicken und ihn herüber bitten lassen, damit er ihr zu dem Kaufe seinen Rath gebe. Da aber – ihre Augen begannen zu funkeln – da trat er aus der Thür, das Barett auf dem Kopfe, zu einem Ausgange bereit. Rosine sprang in die Höhe, nicht willens, den besten Theil ihres Planes zu opfern. Gertrud sollte hinunter, ihn aufhalten … der Vorwaud würde sich schon finden. Georg aber schritt langsam über den Marktplatz, das Glück war Rosinen günstig, er kam auf ihr Haus zu … Er kam, sie zu besuchen, gerade jetzt, von selber! Im Gefühl ihres Triumphs lachte das Mädchen laut auf, dann aber hob sie sich auf die Zehen, hinter dem Vorhang stehend, etwas ängstlich noch immer … wenn er nur nicht im letzten Augenblick andern Sinnes wurde!

Nein, die Hausthür ging, sein Schritt kam durch den Flur, und nun glitt Rosinchen geschwind durch die Stube, setzte sich auf den Stuhl vor ihr Spinnrad, dann aber, einem zweiten Gedanken folgend, trug sie das Rädchen vor die hölzerne Bank mit der Lehne, auf welcher zwei Personen Platz hatten. Und nun schnurrte das Rad auch schon, und Jungfer Rosine machte ein Gesicht, als ob sie den ganzen Tag dagesessen und gesponnen hätte.

Georg trat ein. Rosine hätte sein Klopfen überhört, so vertieft war sie. Erst als er vor ihr stand, bemerkte sie ihn, und wie sie nun lächelnd zu ihm in die Höhe blickte, während sie zugleich den runden Arm ausstreckte und, ein wenig vorn über gebeugt, in das Rad griff, um es aufzuhalten, sah sie wirklich ganz allerliebst aus.

„Laßt Euch nicht stören, Bäschen, das Radschnurren ist gar keine üble Musik,“ sagte Georg, indem er sich mit einem halben Seufzer der Ermüdung neben sie auf die Bank nieder ließ. Er hatte also keine Lust zum Reden, was eigentlich kein Kompliment für Rosinen war. Sie ließ sich aber, klug wie sie in diesen Dingen war, seine schweigsame Laune gefallen und that nach seinem Begehr. So neben ihr und etwas weiter zurück sitzend, konnte er aus nächster Nähe den rosigen Nacken, das kleine Ohr und einen Theil der runden Wange betrachten, was alles schon an sich eine zärtliche Sprache redete, ohne daß Rosine die Lippen zu öffnen brauchte. Es dauerte auch nicht lange, so stähl sich sein Arm um sie herum, und wenn er auch auf der Lehne der Bank ruhen blieb, so konnte er sie doch jeden Augenblick umschließen, und sie brauchte sich nur ein wenig zurückzulehnen, um der Stütze dieses Armes zu genießen.

So sah denn das Pärchen für einen etwa Eintretenden einig genug aus. Georg, in seine trüben Gedanken verloren, empfand Rosincns ruhige Nähe wohlthätig und blickte, als jetzt die Thür ging, etwas unwirsch über die Störung in die Höhe. Ganz anders Rosine, deren Herz stärker gegen das straffe Mieder klopfte. Sie hatte, während sie emsig spann, ebenso auf jedes Geräusch im Hause gelauscht, und das Oeffnen und Schließen der Hausthür, die Schritte draußen und dann eine fremde, ziemlich tiefe Stimme waren ihr nicht entgangen, indeß Georg aus dem Allen nicht das mindeste Arg hatte.

Trudchen, die Magd, war von draußen in die Thür getreten. Ueber dem Schnurren des Rades verstand Georg nicht, was sie ihrer Jungfer sagte. Rosine aber entgegnete über die Schulter zurück mit scharfer Stimme: „Sie kommt spät genug … sie mag warten. Laß sie sich in die Küche setzen, bis ich komme.“

Die Magd hatte sich wieder entfernt, Rosine spann weiter, und Georg hatte den kleinen Zwischenfall, den er kaum beachtet hatte, vergessen. Er ahnte nicht, daß das Mädchen neben ihm klopfenden Herzens ihre Zeit abmaß und schon jetzt ihrer Rache Genüge that an eben Derjenigen, bei deren reinem Bilde seine sehnsüchtigen Gedanken weilten. Ja, er dachte an Hilden, wie er Täg und Nacht that, so auch jetzt, in Gegenwart Rosinens und unter der Einwirkung ihres oberflächlichen Reizes.

Und Jungfer Külwetter war keineswegs ohne eine Ahnung dieser heimlichen Abtrünnigkeit, mit der sie sein träumerisches Schweigen in eine ganz richtige Verbindung brachte. Dasselbe ärgerte sie auch je länger je mehr, aber sie behielt sich in der Gewalt. Endlich fuhr sie herum, ließ das Rad stocken und lachte ihn an. „Wie redselig Ihr seid, Herr Vetter!“

„Ich?“ Georg war etwas beschämt … „Ihr habt Recht, mein hübsches Bäschen, ich bin ein allzu schlechter Gesellschafter; Ihr verdient einen besseren. Halte ich Euch etwa von einem häuslichen Geschäfte ab? Ist mir nicht, als hättet Ihr vorhin sollen abgerufen werden?“

„Ja, draußen ist Jemand, der feil hält,“ sagte Rosine mit angenommener Gleichgültigkeit. „Da Euch das Radschnurren behagte, wollte ich nicht abbrechen. Aber Ihr wißt es Einem auch gar so schlechten Dank!“

Das runde Kinn senkte sich auf den Busen, das gute Kind schmollte. Georg fühlte seinen Unwerth ihrer mehr als verwandtschaftlichen Güte. „Rosinchen –“ er hatte sich über sie geneigt und sprach leise, mit zärtlichem Vorwurf. In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür hinter den Beiden. Rosine, aufhorchend, veränderte ihre Stellung nicht, nur daß sie vielleicht ein klein, ganz klein wenig dichter an Georg herangerückt war. Sekunden lang blieb alles still; die Person, welche hatte eintreten wollen, schien beim Anblick des allem Anschein nach ganz vertieften Paares stutzig geworden zu sein. Dann ließ sich die laute Stimme Gertrud’s vernehmen. Die Dirne hatte die Verabredung geschickt befolgt. Jetzt rief sie von draußen, hinter der Fremden stehend: „Nur herein, Jungfer … Ihr dürft immer eintreten. Nicht wahr, Rosinchen? oder hab’ ich Euch falsch verstanden?“

Rosine war aufgefahren; wie verwirrt, tief aufathmend strich sie das Haar aus dem glühend rothen Gesicht. Georg wußte [267] selber kaum, wie es gekommen, daß er mit einem Male ihre Hand hielt. Beinahe hätte er dieselbe losgelassen, als Rosine jetzt in einem leichten, dreisten Tone sagte: „Ihr hattet es wohl eilig, daß Ihr nicht draußen warten konntet!“ – aber jene runde feste Hand schmiegte sich so warm in die seine; er hielt sie noch immer, als er sich jetzt langsam umwendete, um zu sehen, zu wem Rosine gesprochen habe.

Da stand er aber auch schon aufrecht, und die Hand der Jungfer Külwetter wurde so plötzlich fallen gelassen, als wäre sie ein Stück glühendes Eisen geworden. Er sah nichts, in dem ganzen weiten Gemache nichts, als zwei Augen, ein Paar graue tiefe Augen, die sich jetzt ohne Vorwurf, in schmerzlicher Ergebung vielmehr, Sekunden lang auf sein Antlitz richteten. Und seltsam, dieses traurige Entsagen in dem Blicke Hildens – denn Hilde war es, die dort an der Thür stand – fachte in dem jungen Menschen etwas wie eine plötzliche Wuth an. Hildens Augen sagten ihm so deutlich, wie es Worte nur gekonnt hätten: fürchte nichts, ich will dich deiner Braut nicht streitig machen – und nun loderte ein wilder Grimm in ihm auf, gegen sie, gegen sich selber, vor allem aber gegen Rosinen! Er hätte des Mädchens verlockende Gestalt zermalmen können, für dies abgekartete Spiel, wie er es plötzlich zu durchschauen meinte. Da sprach Hilde, und sofort wirkte der Zauber ihrer Stimme auf ihn, sodaß er wenigstens äußerlich ruhig blieb, anscheinend ein gleichgültiger Zuschauer der Weiberverhandlungen, die sich nun anspinnen sollten.

„Ihr habt mich rufen lassen und unsere Wirkereien zu sehen begehrt,“ sagte Hilde. „Ich habe Euch die schönsten Muster ausgesucht und hoffe, Ihr werdet etwas finden, was Euch gefällt … Erlaubt Ihr, daß ich sie hier aus einander lege?“

Hilde hatte ein kleines Bündel getragen und trat nun an den Tisch, die hohe Gestalt mit ihrem ruhigen Anstande, dessen Wirkung durch eine beinahe nonnenhaft einfache, sie aber wohl kleidende Tracht erhöht wurde. Rosine kniff die Lippen zusammen. Jene hatte ihre unartige Frage von vorhin, warum sie nicht in der Küche gewartet, gar nicht beachtet, vielleicht nicht einmal gehört, gewiß weil sie ganz hingenommen von der Anwesenheit des Bürgermeistersohnes gewesen war! Rosinens Fassung begann sie zu verlassen; ihre Augen, die sich auf die Fremde richteten in dreistem Anstarren, wurden grünlich – sie sah Hilden zum ersten Male in der Nähe und in dem Maße, als sie sich zugeben mußte, daß das Mädchen, ohne jeden Anspruch auf das landläufige Weiß und Roth achtzehnjähriger Jugend, etwas Besonderes, Ergreifendes in ihrer Erscheinung habe, kochten Gift und Galle höher in ihr. Kaum daß sie sich noch Mühe gab, ihre feindselige Absicht gegen den ahnungslosem Ankömmling zu verbergen.

„Ja, kramt immerhin aus – ich habe mich zwar derweil anders besonnen und werde Euch wohl nichts zu verdienen geben, aber man kann sich ja die Raritäten einmal ansehen!“ sagte sie wegwerfend.

Hilde blickte erstaunt auf; noch wußte sie diesen Ton nicht zu deuten. Auch zu Georg schweifte ihr Auge fragend hinüber, erhielt aber keinen Aufschluß. Georg hatte die Arme übereinandergeschlagen und lehnte gegen ein hohes Spind, dem Tisch gegenüber. Es zuckte um seinen bitter geschlossenen Mund bei den letzten Worten Rosinens, aber er öffnete die Lippen nicht. Still und stetig folgten seine Augen den Händen Hildens und jeder ihrer Bewegungen, als sie jetzt mit einer Geschäftigkeit, die bei dieser stillen Seele etwas Rührendes hatte, die Streifen gestickter Leinenborden, das Werk ihrer fleißigen Hände, sorgfältig neben einander auf dem Tische ausbreitete. Auf dem dunkeln Grunde seiner gebräunten glatten Eichenholzfläche kamen die durchbrochenen Muster sehr wohl zur Geltung, und Hilde, indem sie hier noch einen Streifen glätter ausbreitete, dort einen mehr ins Licht rückte, schien selbst jetzt ihre Freude daran zu haben. Auch waren wirklich manche der Stickereien schon in ihrem Entwurf wahre Kunstwerke.

„Diese breite Borde,“ sagte Hilde nun, „sticken wir um die besten Tafeltücher. Jene schmälere wird für Handtücher genommen; sie ist sehr haltbar in der Wäsche und Ihr werdet sicherlich zufrieden damit sein, wenn Ihr sie bestellt. Dies und das sind Borden, die wir meist für sich, nicht in das Stück hinein arbeiten, weil das Muster ein gar feines und schwieriges ist. Man benutzt sie dann als Einsätze für die feinsten Kissenbezüge, die mehr zur Zierde als zum Gebrauche dienen.“

Ihr ehrliches Auge suchte jetzt Rosinens Gesicht, wie um an ihr weibliches, doch sicher vorhandenes Verständniß für die schönen Arbeiten sich zu wenden. Aber Rosinens Blick, von Leidenschaft verdunkelt, sah kaum, was vor ihr war. Wieder drängte sich ein schnödes Wort auf ihre Lippen, doch nahm sie sich noch einmal zusammen. Georg machte ein so wunderliches Gesicht, daß auf Augenblicke dem Haß und Aerger in ihr sich eine unbestimmte Furcht vor dem, was sie heraufbeschwor, gesellte. Und doch konnte sie nicht innehalten. Sie wendete sich sogar zu ihm und sagte in einem Tone, der leicht und lustig sein sollte, aber schneidend heraus kam: „Das wäre nichts für uns; wie, Georg? die Betten mit Firlefanz aufzuputzen, das mag wo anders als in ehrbaren Bürgerhäusern Brauch sein.“

Georg begnügte sich damit, die Achseln zu zucken. „Immer noch so schweigsam! Wahrhaftig man muß Geduld mit Euch haben, Georg,“ fuhr das Mädchen fort. „Und ich hatte gehofft, Ihr solltet mir beim Kaufe hier guten Rath geben. Gerne schaffen die Mutter und ich an, was Euch gefällt –“ ein lauernder Blick Rosinens streifte ihn bei der dreisten Anspielung, und sie sah seine Stirn sich röthen, doch ungewarnt fügte sie hinzu: „Nun, vielleicht seid Ihr ein anderes Mal besserer Laune, und die Jungfer mag wieder kommen …“

„Ich muß Euch bitten, mich aus dem Spiele zu lassen,“ fiel hier Georg ein. „Kauft oder kauft nicht – folgt ganz Eurem Gusto, Jungfer Bäschen! ich hätte diese Gelegenheit, denselben kennen zu lernen, nicht missen mögen.“

Mißtrauisch sah ihn Rosine an. Da war es ja – was bedeuteten die abweisenden Worte anders, als daß er gemeinsame Sache mit der Dirne machte! Ihre Augen funkelten grünlich und es bebte unheimlich in der Stimme, mit der sie jetzt, zu Hilden gewendet, sagte: „Nun, wenn ich auch nichts gebrauchen kann – den Weg werd’ ich Euch ja wohl bezahlen müssen, man kann nicht verlangen, daß Eures Gleichen etwas umsonst thue. Was kostet die Elle von dem Krame hier?“

„Verzeiht“, sagte Hilde, sich zusammennehmend. „Diese Borden werden nicht nach der Elle vermessen; wir sticken sie in das fertig gewebte Stück ein, Handtuch oder Tafeltuch, je nachdem, und der Preis richtet sich nach dem Muster. Nur diese könnt Ihr, wie ich schon sagte, einzeln kaufen … es ist die feinste, mühsamste Stickerei von allen, und der Besatz um einen Kissenüberzug würde Euch wohl auf einen Gulden und mehr kommen. Es arbeitet Eines Wochen lang daran,“ fügte sie, wie zur Entschuldigung des Preises, hinzu.

„Haha“ – es war ein wildes Auflachen Rosinens. „Man müßte ja von Sinnen sein, wenn man so viel für den Plunder bezahlen wollte! Bei Gott, Ihr versteht zu fordern – aber was thut es denn, wenn man Abnehmer findet!“ Und fast schreiend stieß sie hervor: „Lässest Du Dir alle Deine Künste so gut bezahlen, freche Buhldirne Du?“

Ein dumpfer Ausruf tönte durch das Gemach, aber nicht Hilde hatte ihn ausgcstoßen, denn sie stand einen Augenblick wie versteinert. Und dann hätte man den Blick wegwenden mögen, um die bittere, qualvolle Scham der jungfräulichen Seele, ihr Zucken unter dem Stich der frechen Zunge nicht zu belauschen, nicht noch schmerzlicher zu machen.

„Unverdient gebt Ihr mir den schnöden Namen!“ stieß sie endlich mit bebenden Lauten hervor. „Gott richte zwischen mir und Euch – nur Gutes, ja mein Allerbestes hatte ich Euch gegönnt bis heute … aber ich kannte Euch nicht – Ihr seid böse von Grund aus!“

Und nun wendete sie sich von der Jungfer Külwetter ab und ihre Augen trafen auf Georg. Der stand da, jeder Nerv gespannt, in athemloser Erregung wie Einer, der im nächsten Augenblick in einem erbitterten Kampfe seinen Antheil nehmen wird; während aber tiefe Verachtung der einen der Gegnerinnen um seinen Mund zuckte, hingen die Augen leuchtend am Antlitze der andern, an Hildens Antlitz, in einer Art von Begeisterung.

Die arme Hilde aber sah davon nichts vor Thränen, die ihr plötzlich den Blick verdunkelten. „Und Schande über Euch, Georg Tiedemars!“ rief sie, nun erst leidenschaftlich, „der Ihr ruhig dabei steht und laßt mir so bittre Schmach anthun! Ihr – Ihr, der von allen Menschen am besten weiß, daß ich sie nicht verdiene. Aber paart Euch, paart Euch nur, Feigheit und Lüge! es ist wahrlich eines des andern werth!“

[268] „Hilde!“ – wie befreiend drang der Ruf, eine Beschwörung und zugleich ein Jauchzen entfesselter Zärtlichkeit, durch die Schwüle der letzten Minuten. Georg war auf das Mädchen zugestürzt und riß sie an sich, nicht achtend der Geberde der Abwehr, mit der sie ihm die Hand entgegengestreckt hatte. „Hier ist Dein Platz!“ rief er, sie dicht an seinem Herzen haltend, und seltsam bebte etwas in seiner Stimme wie ein wilder Triumph, nicht über ihr zitterndes Fortstreben, nein, über den Widerstand, den sein eigener Stolz bisher dieser Liebe geleistet hätte, Triumph über sich selber. Dann aber ging es wie ein unendliches, zärtliches Mitleid über das männliche Antlitz, als er ihr armes Herz an dem seinen noch immer beben und überlaut klopfen fühlte, ein Nachzittern der Pein, die sie eben um seinetwillen gelitten hatte, und er flüsterte ihr kosend beruhigende Worte zu, unbekümmert um die Gegenwart Derjenigen, die ihn freilich bisher mit keinem Laute unterbrochen hatte.

Rosine hatte wortlos dagestanden, weil ihr Ueberraschung und Wuth buchstäblich die Kehle zuschnürten. Endlich fand sie mit einem dumpfen Laut, einem heisern Lachen ähnlich, die Stimme wieder und nun trat sie ein paar Schritte auf die Beiden zu, weiß bis in die Lippen, mit sprühenden Augen und zuckenden Händen, und eine vor Leidenschaft unkenntliche Stimme zischte mehr als sie sprach: „Was soll die Komödie, Georg, hier in meines Vaters Haus? Wie weit denkt Ihr’s zu treiben … wer und was ist die Dirne?“

Wie zur Antwort für sie preßte Georg die Geliebte fester an sich, diesmal aber machte sie sich los, sodaß sie ihm in die Augen sehen konnte, und leise drang an sein Ohr ihre schmerzliche Frage: „Sie hat Recht; Georg – was bin ich Euch?“

Sekunden lang ruhte des Jünglings leuchtender Blick in dem ihren, ehe er hochaufgerichtet und mit klingender Stimme sprach:

„Die Jungfer dort will wissen, wer Ihr seid, Hilde … vom heutigen Tage an meine Braut, der all meine Liebe und Treue gehört, und bald mein Weib, so wahr mir Gott helfe! Aber nun fort aus diesem Hause … fort aus jener bösen Nähe!“ … Er faßte ihre Hand, legte auch noch den Arm wie zum Schutze um sie, die ganz stille blieb, und so schritten die beiden hohen Gestalten nach der Thür.

Aber nicht so, mit einem ganz anderen Nachklang noch sollte die Scene enden. Sie hatten das Zimmer noch nicht verlassen, als Rosine hinter ihnen in ein gellendes, halb wahnsinniges Gelächter ausbrach. Es war kaum noch ein Lachen, eher ein wildes Schreien, mit dem sie sich plötzlich, raubthierähnlich, auf den Tisch losstürzte.

Und nun folgte ein Reißen, ein Krachen, welches fast an die Mahlzeit eines solchen wilden Geschöpfes erinnerte. Doch waren nur Rosinens Hände geschäftig, die runden, kindischen Hände, denen die Wuth jetzt eine unnatürliche Kraft verlieh. Das riß und krachte, da flogen Stück um Stück jener Stickereien, das Werk zahlloser mühsamer Wochen, in Fetzen umher, und was größeren Widerstand leistete – und das feste Leinen und die dichte Stickerei setzten oft eine unerhörte Anstrengung voraus – das wurde um so wüthender zerfetzt, um so gründlicher vernichtet. Und dann packte sie mit beiden Händen in den Haufen von Lappen und hängenden Fäden, den wenige Augenblicke geschaffen hatten, hob die Arme hoch empor und schickte unter gellendem Hohngelächter und Rufen: „Da – da habt Ihr den Plunder – etwas zur Mitgift für die Betteldirne!“ einen Regen von Fetzen hinter den Beiden her, die der Abscheu über ihr rasendes Gebahren noch auf einen Augenblick an die Stätte gebannt hatte und hinter denen nun die Thür ins Schloß fiel. –

(Fortsetzung folgt.)




Die Bismarck-Feier in Berlin.

Stimmungsbild von Hermann Heiberg.

Vielleicht steht unter den großen gewaltigen Bewegungen, die im Laufe der Zeiten ein Volk aufstehen ließen, um einem einzigen Menschen eine nationale Huldigung darzubringen, die Bismarck-Feier am 31. März in Berlin unvergleichlich da. Der Norddeutsche ist zwar überhaupt frei von starken Ausdrücken seiner Gcfühlserregung, aber wer diesen Abend einzeichnen kann in seine Erinnerungen, wer nicht nur mit blödem Auge die Dinge nahm, wie sie ihm erschienen, wer sie aufhorchte, wie der norddeutsche Volksmund spricht, wer dem nordischen Germanen ins Auge schaute und in seinen Mienen zu lesen verstand, dem gelangte es an diesem Tage zum Bewußtsein, daß etwas Besonderes, Tiefes, Etwas, was nichts gemein hat mit dem Rausche einer bloßen von spontaner Begeisterung getragenen Laune, die Brust der Volksmassen bewegte. Aus dem so verschieden abgetönten Empfindungsleben der Massen drangen wohl auch Laute hervor, wie sie unzertrennlich sind von einem solchen Schaugepränge. Wo der Farbensinn sich regte, wo die wechselnden Bilder ein Künstlerauge traf, wo gar der norddeutsche Humor durchbrach, schlugen wohl die Stimmen zusammen und hoben sich in der Erregung die Arme und Hände, aber im Großen und Ganzen stand die Menge mit einem Anhauche von Ehrfurcht und sah, was und wie sich’s zusammen, und wie eine Idee so viele Tausende gleichmäßig verbunden hatte: „Ausdruck zu geben dem Danke, der des Deutschen Inneres erfüllte an dem heutigen Tage.“

Imposant ist ein fremdes Wort. Aber kein Ausdruck ist zutreffender. Imposant war dieser Zug mit seiner Würde und seinem feierlichen Gepränge. Keiner, der die Fackel in seiner Hand hielt, und den nicht das Gefühl bewegte: „ein kleiner winziger Tribut für unseren großen Kanzler“, keiner, der einen Schläger in der Hand hielt, oder das Banner hochtrug, keiner, dem ein Emblem in der Faust steckte, und keiner, in welch immer der Idee angepaßten Kleidung er einherschritt, der Hellebardier und der auf altdeutsch-gezäumtem Rosse in die Trompete stoßende Herold, keincr von allen diesen ernst einherschreitenden Männern aus den Gewerkcn, aus den Gilden, aus den Vereinen, der nicht ein Gefühl des Stolzes in sich trug, ihm, dem großen eisernen Manne, dem größten Sohne des Volkes den Tribut zu zollen, der ihm gebührt.

Das war die innerste Physiognomie dieser grandiosen Huldigung. Nicht unmittelbar neben dem Kanzlerpalais, aber in genügender Nähe, und in einer solchen Entfernung von dem Endpunkte der Wilhelmstraße, um den Zug in seiner Ausdehnung zu verfolgen, hatte ich meinen Platz.

„Jetzt kommt der Zug!“ Dies Wort brauste etwa um acht Uhr durch die Kopf an Kopf gereihten, geradlinig neben dem Trottoir aufgestauten Volksmassen. „Der Zug ist da!“ wiederholte sich’s summend und schwirrend. Und nun entwickelten sich unter des Himmels glitzerndem Dache, unter dem aufqualmenden Rauche der Fackeln und über den unzähligen dunklen beweglichen Punkten, Tausende gleich glühenden Irrwischen in der Luft tanzender Lichter.

Die Tête des Zuges machte Halt vor dem Palais des Gefeierten; nun schwenkten allmählich auch die Reihen, nun kam’s endlich, gleich einem hinabgesunkenen Sternenhimmel näher und näher und ging an unserem Auge in nächster Anschauung auf.

Und in diesem Augenblick lösten sich von den Dächern der Häuser breite feurige und dampfende Lichter, die in rosenfarbenem Kolorit emporstiegen und in märchenhaften Schimmer Alles, was unter ihnen lag, einhüllten. Und kaum waren diese Flammengarben verloschen, als Smaragdgrün aufleuchtete und wunderbare, seltsame Reflexe hinabfielen auf das bunte Treiben drunten, auf die silbernen Rüstungen und Waffen, auf die phantastischen Gewänder und zitternden weißen Helmbüsche.

Und dazwischen spielten die Musikkorps ihre feierlichen, erhebenden Märsche, senkten sich die Degen, Rapiere und Fackeln. Vorüber Tausende an Tausenden, vorüber an dem Gewirre von Menschenköpfen, die herabschauten, vorüber an den Lichtern, Blumen und Fahnen, die herabflatterten aus den Häusern mit ihren dichtbesetzten Fenstern, Vorsprüngen, Dächern und Thüren. Hier wehte ein weißes Tüchlein und darunter neigte sich ein Kopf, dort blitzte ein Frauenkopf und ein Hurrah drang empor. Und Hurrah! und Hurrah! und nun fielen hundert Stimmen ein, bis neue Klänge aus den Trompeten diese Töne verwischten. Und immer neue Bilder! Eines prächtiger fast als das andere! Wagen, aufgeschirrte Pferde, Herolde, Krieger, Fackelträger, ganze Vereine mit ihren Fahnen, Embleme und Triumphwagen, und abermals Ruhe und abermals dampfende glühende Fackeln und abermals die langgezogenen oder raschen Fanfaren der berittenen Musiker.

Ausführlich ist an anderen Orten von den Einzelheiten des großen Festfackelzuges berichtet worden: hier sei nur gestattet am Schluß noch einige Eindrücke wiederzugeben. Einige Male glaubte man sich in ein Märchenland versetzt! So erschien wie ein von Gustav Doré, dem großen französischen Illustrator, hervorgezaubertes Bild: der Triumphwagen der Kunst-Akademiker, ebenso phantastisch, so grotesk, so mannigfaltig, so kühn in der Zusammenstellung und in der Lichtvertheilung! Welch eine Mannigfaltigkeit an plastischem Schmuck, an Farben, Gewändern, Figuren und Masken! Die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches, die Politik in den fremden Erdtheilen zu symbolisiren, war die Aufgabe gewesen und sie war in einem entzückenden lebenden Bilde gelöst.

Als endlich die Nachzügler mit herabgebrannten Fackeln oder mit leeren Händen erschienen, als Lichterglanz und buntes Treiben dahin, Menschentritte und Musik verrauscht und verschollen, lösten sich die dichten, bisher fast unbeweglichen Menschenreihen und plötzlich war die noch ebenso streng gesäuberte Straße von Tausenden übersät, die dem Zuge nacheilten oder sich zerstreuten.

Als ich meinen Beobachtungs-Posten verließ und auf die Straße hinabstieg, lief noch eilend ein junger Mensch, fast ein Knabe, athemlos mit zwei hochaufgerichteten Fackeln in den Händen dem Zuge nach. Er hatte sie aufgesammelt und wollte, vorher nicht geduldet – jetzt noch seine Empfindungen an den Tag legen durch diesen Akt: für den großen Kanzler des Deutschen Reiches Fürst Otto von Bismarck.




[269]

Nebelmorgen.
Nach dem Oelgemälde von Ed. Schleich jun.

[270]

Brockhaus’ Konversationslexikon.

Zur Charakteristik und Geschichte eines nützlichen Buches.
Von Karl Braun-Wiesbaden.
(Mit Abbildungen aus der im Erscheinen begriffenen 13. Auflage.)


Hermanns-Denkmal
(v. Bandel).

Auf wirthschaftlichem Gebiete hat sich die Arbeitstheilung schon lange vollzogen. Zur Freude der Einen, zum Aerger der Anderen. Besser aber, als sich zu freuen oder sich zu ärgern, ist es, diese Erscheinung der Kulturentwickelung zu begreifen.

Auf dem niedrigsten Standpunkte der Kultur war ein Jeder darauf angewiesen, alle seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, das ist, selbst Alles zu machen, was er bedurfte. Der Mann betrieb den Krieg und die Jagd, später auch Viehzucht und Ackerbau. Die Frau besorgte Küche und Kleidung. Sie spann, kochte und webte. Jeder war sein eigener Zimmermann und Maurer; sein eigener Schuster und Schneider. Dann kam der Tauschhandel und mit ihm die Arbeitstheilung. Jeder verfertigte Das, was er am besten und billigsten herstellen konnte, und tauschte es aus gegen die Erzeugnisse der Anderen. Endlich kam das Geld. Wer seine Waare auf den Markt brachte, der erhielt dafür nicht eine andere Waare, sondern Geld, das ist eine Anweisung, gegen welche er auf dem Markte andere beliebige Waaren von gleichem Werthe beziehen konnte. So wurden indirekt Waaren gegen Waaren, Dienstleistungen gegen Waaren und Dienste ausgetauscht gegen Dienste. Je mehr diese Entwickelung der Dinge von der Einzelwirthschaft zur Tauschwirthschaft, von dem Natural- zum Geldsystem vorschritt, desto mehr mußte sich die Theilung der Arbeit, die Differenzirung der Leistungen und der Geschäfte entwickeln. Es ließ sich freilich auch eine Möglichkeit voraussehen, daß hierbei der Mensch zu sehr Maschine werde, daß ihn irgend ein Theil zu sehr absorbire und aus dem Zusammenhange bringe. Allein diese Gefahr wurde abgewandt durch die Vereinigung der einzelnen Kräfte zu gemeinsamem Wirken, und so ergab sich denn als nächstes Ziel unserer Kulturentwickelung nicht nur die Theilung, sondern auch die Zusammenfassung, das ist

„Getheilte Geschäfte,
Vereinigte Kräfte.“

Sebaldusgrab zu Nürnberg (Vischer).

Auf geistigem Gebiete ist es ähnlich gegangen. Die Wissenschaft entwickelte sich in der Art, daß zunächst die Thatsachen ermittelt, geprüft und gesichtet werden müssen, und daß sich dann aus der so gewonnenen Kenntniß der Einzelheiten die Erkenntniß des Ganzen bildet, das ist die Erkenntniß der Gesetze, welche jene Einzelerscheinungen regieren. Das Werk der Forscher ist vereinzelt. Dann aber bedarf es einer Zusammenfassung, und endlich einer Form, welche Jedem zugänglich macht, was alle Einzelforscher ermittelt. Die alten Griechen und Römer, welche reicher an Weisheit waren, als an Wissen, erachteten gleichwohl die Zusammenfassung der einzelnen Kenntnisse und Kräfte für nöthig. Sie nannten den Inbegriff Dessen, was ein gebildeter und freier Mann wissen sollte, die encyklische Lehre, welche die sieben freien Künste umfaßte, nämlich Grammatik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie, Musik, Dialektik und Rhetorik, und Speusippos, ein Schüler des Plato, hat eine solche „Encyklopädie“ geschrieben; sie ist jedoch nicht auf uns gekommen.

Später brachte man die encyklopädischen Kenntnisse, um das Nachschlagen zu erleichtern, in Wörterbuchform. Das älteste und berühmteste dieser encyklopädischen Wörterbücher, oder – um in unserer heutigen Sprache zu sprechen, das älteste Konversationslexikon – datirt vom Ende des 10. Jahrhunderts. Sein Verfasser war ein gelehrter griechischer Grammatiker – heutzutage würden wir sagen: Philologe –, Namens Suidas, von dem wir wenig mehr wissen, als den Namen. Man glaubt gegenwärtig, dem alten Suidas entschieden kleine Verwechselungen und Schnitzer nachweisen zu können, und behauptet, er sei ein geistloser Kompilator gewesen. Aber man vergißt darüber, wie große Dienste er seinen Zeitgenossen geleistet hat und uns heute noch leistet. Sein in griechischer Sprache abgefaßtes encyklopädisches Wörterbuch – nein, wir können getrost „Konversationslexikon“ sagen – ist damals in den weitesten Kreisen der gebildeten Welt verbreitet gewesen und hat viel Nutzen gestiftet. Man hat es unzählige Male abgeschrieben und verbessert und vervollständigt oder, wie wir heute sagen würden: „bis zur Gegenwart fortgeführt“: neu herausgegeben, Auszüge und „Hand-Ausgaben“ in „Taschenformat“ – man verzeihe mir diese modernen Ausdrücke, aber ich kann doch für die „Gartenlaube“ nicht Griechisch schreiben – aus demselben gefertigt etc. Man sieht daraus, es entsprach einem offenbaren Bedürfnisse seiner Zeitgenossen, und in dieser Beziehung wenigstens kann man sagen: Was der Suidas für die gebildete Welt des 11. und 12. Jahrhunderts war, das ist der Brockhaus für die des 19., und wahrscheinlich nicht minder dereinst auch für die des 20. Jahrhunderts.

Kutab-Minar bei Delhi.

Für uns aber, für die Männer von Heute, hat der alte Suidas eine wissenschaftliche Bedeutung, die dem bescheidenen alten griechischen Philologen selbst wohl niemals zum Bewußtsein gekommen. Er war die fleißige Biene, die für uns den Honig gesammelt. Er hat Auszüge aus allen möglichen Schriftstellern gemacht, die nicht bis auf uns gekommen, und hat uns so über fast alle Gebiete der alten Kultur die schätzenswerthesten Notizen erhalten, ohne welche wir in gänzlicher Finsterniß herumtappen würden.

Petroleumbratmaschine.

Ich beschränke mich auf diese kleine geschichtliche Notiz und will dem geneigten Leser den weiten Weg ersparen durch all die zahlreichen theils systematischen und theils lexikalischen Encyklopädien vom 11. bis zum 18. Jahrhundert. In der Mitte dieses letztgenannten Jahrhunderts erhebt sich als ein Rocher de bronze, als ein mächtiges weltgeschichtliches Gebäude das ebenfalls in alphabetischer Ordnung abgefaßte Sammelwerk, das Diderot und d’Alembert unter dem Titel „Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et metiers“ zuerst in Paris in der Zeit von 1751 bis 1772 in 28 Foliobänden, von welchen 11 Kupfer enthalten, herausgegeben, und das von da an unzählige Male neu aufgelegt, nachgedruckt und ganz oder in Auszügen neu herausgegeben worden. Es war die Blüthe der geistigen Bewegung seiner Zeit, das Zusammenfassen der von tausend Punkten der Peripherie aus begonnenen Bewegung des „philosophischen Jahrhunderts“ in ein schier unüberwindlich erscheinendes centrales Gesammtbild dieses 18. Jahrhunderts, das berufen war, die Niederschläge und Trümmer des gesunkenen Mittelalters wegzuräumen und an die Stelle des Absolutismus, der bisher zwar auch an dieser Aufgabe gearbeitet hatte, aber nur um die Menschheit statt in feudal-klerikale in despotische Bande zu schlagen, um an die Stelle dieses Absolutismus die Grundlagen einer neuen menschlich freien Zeit zu setzen. Auch das Brockhaus’sche Konversationslexikon ist, wenn man es rückwärts bis in seine ersten Anfänge verfolgt, ein Werk des 18. Jahrhunderts.

[271]

Die Pole des Volta’schen Lichtbogens.

Es begann vor nunmehr beinahe 90 Jahren bei F. A. Leupold in Leipzig zu erscheinen. Sein Programm war, „die Theilnahme an einer guten Konversation zu fördern (daher der neue Name „Konversations-lexikon“ anstatt der früheren Bezeichnung „Encyklopädisches Wörterbuch“) und den Sinn für gute Schriften zu erschließen.“ Allein die Aufgabe war zu eng gegriffen; die Zeit war neuen Unternehmen nicht günstig. Dasselbe gerieth, noch bevor es ganz vollendet war, ins Stocken. So kaufte es Friedrich Arnold Brockhaus, der nicht nur der Gründer der jetzt in seinen Enkeln blühenden berühmten Leipziger Firma war, sondern auch als der wahre Vater, Bahnbrecher und Erfinder des Konversationslexikons zu betrachten ist, im Jahre 1808, zu welcher Zeit er noch in Amsterdam etablirt war. „Was will der Mann mit dem verkrachten Unternehmen machen? Hat er die Mittel, es neu zu beleben?“ fragte damals, 1808, zweifelnd die Geschäftswelt.

Rosenkohl.

Ja, er hatte die Mittel, wenn auch sein Betriebskapital noch gering war. Er hatte, und das ist die Hauptsache, die geistigen Mittel. Er wußte die an sich richtige, aber nicht bis zur Lebensfähigkeit entwickelte Idee des Unternehmens richtig aufzufassen, zu erweitern und zu vertiefen; und er besaß die Ausdauer, das Geschick und die Thatkraft, welche erforderlich waren, um der Idee die entsprechende Erscheinungsform zu verleihen. Er dehnte das Werk aus auf die Zeitgeschichte, namentlich auf die zeitgenössische Biographie, die Staats- und Rechtswissenschaften, die Geschichte und Politik, die Litteratur und die Naturwissenschaften etc. Er wußte tüchtige Mitarbeiter zu gewinnen; aber er selbst behielt die oberste Leitung; und das war gut, denn er allein besaß die nöthige Freiheit und Weite des Blickes, welche er sich durch seinen vielfachen Verkehr im In- und im Auslande, kurz im Strome der Welt, erworben hatte. Er wußte, was dem deutschen Volk noth that, und er hat es geleistet. So hat er von 1808 bis 1818 unablässig gearbeitet, und so lieferte er endlich in der zehnbändigen dritten Auflage (Altenburg und Leipzig, 1814 bis 1819) ein Werk, welches die Grundlage für die weiteren Auflagen bildet, bis zu dem heutigen Tage.

Die wachsende Gunst des Publikums, das immer neue Auflagen von stets vermehrter Anzahl der Exemplare verlangte, war seine Belohnung. Aber es ging mit diesem siegreichen Unternehmen wie mit einem siegreichen Krieg. Wer auf den letzteren zurückblickt, der sieht in demselben nur eine ununterbrochene Kette scheinbar fast mühelos errungener Triumphe. Nur wer näher zusieht, der sieht auch die ungeheuren Opfer, die kolossalen Schwierigkeiten, die bedrohlichen Wechselfälle, welche nur durch den äußersten Aufwand von Scharfsinn, Thatkraft und Tapferkeit überwunden werden konnten, der weiß, daß der Lorbeer erstritten werden muß und daß er Niemand in den Schoß fällt.

Glühlichtlampe von Edison.

In der That, das Brockhaus’sche Konversationslexikon ist ein Buch, worüber man ein Buch schreiben könnte. Ein solches Buch wäre ein hochinteressantes Kapitel der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte und zugleich eine fast rührende Historie des Kampfes wider Unverstand, Böswilligkeit und sonstige feindselige Mächte, von welchen ein großer Theil seinen Ursprung hatte in der damaligen unvollkommenen Verfassung und Gesetzgebung Deutschlands, oder sagen wir lieber: der einzelnen deutschen Staaten. Denn der Deutsche Bund hatte zwar eine gemeinschaftliche Polizei und ein gemeinschaftliches, von dem Fürsten Metternich ausgesonnenes System der Unterdrückung jeder nationalen und idealen Regung, aber eine gemeinsame Gesetzgebung hatte er nicht. So hatte denn Brockhaus zu kämpfen mit Nachdruck, Censur und polizeilichen Verboten. In dem einen Staat war der Nachdruck erlaubt und in dem andern war er verboten. Kaum hatte Brockhaus seine ersten Erfolge errungen, so bemächtigte sich der württembergische Nachdrucker A. F. Macklot seines Werkes, um ihn um die Früchte seines Fleißes zu betrügen. Was der einen Regierung gefiel, das mißfiel der andern. In dem einen Bundesstaat wurde dieser, in dem andern jener Artikel verboten. In dem einen dieser Band und in dem anderen jener. Und wenn eine Regierung keine Lust hatte, die Einzelheiten zu untersuchen und zu prüfen, dann verbot sie lieber gleich in Bausch und Bogen das Ganze. Der Raum, der mir zugemessen ist, verbietet mir, eine vollständige Darstellung dieser Leidensgeschichte zu geben, welche der Erzählung Homer’s von dem Unglück und den Kämpfen des „göttlichen Dulders Odysseus“ nicht nachstehen würde. Wer sich näher dafür interessirt, den verweise ich auf die Biographie des Friedrich Arnold Brockhaus von seinem Enkel Dr. Eduard Brockhaus (3 Theile, 1872 bis 1879, Band II, Seite 121 bis 163).

Und nun, nach dieser kleinen geschichtlichen Skizze, kehre ich zurück zu der Einleitung meines Aufsatzes, um das ganze Unternehmen, welches soeben in der dreizehnten Auflage erscheint und bis zum zehnten Band gediehen ist – im Ganzen werden es sechzehn Bände sein und das Werk geht rasch seiner Vollendung entgegen – kurz zu charakterisiren.

Auch auf geistigem Gebiet gilt, je mehr die Wissenschaft vorschreitet, je mehr sich die Einzelkenntnisse erweitern, vertiefen und ausdehnen, je mehr die Gesammterkenntniß sich steigert, desto mehr der Grundsatz der Arbeitstheilung, der Grundsatz der „Theilung der Geschäfte“, aber auch der der „Vereinigung der Kräfte“.

Früher, als das Gebiet des Wissenswerthen noch enger begrenzt war, gab es wohl einzelne gottbegnadete Personen, welche das Ganze mit einem genialen Blicke zu überschauen vermochten. Heute ist das nicht mehr möglich. Selbst der Gelehrteste von uns muß, wenn er offenherzig sein will, gestehen:

„Zwar viel ist mir bewußt,
Doch Alles weiß ich nicht.“

Krause Endivie.   Moos-Endivie.

Ich habe wohl schon Gelehrte sagen hören: „Wozu ein Konversationslexikon? Ich kenne meine Wissenschaft. Ich kenne die Litteratur. Ich weiß ja das Alles; oder ich weiß wenigstens, wo es zu finden.“

Ganz richtig! In deinem Fach weißt du’s. Aber wie ist es denn in den anderen Wissenschaften? Kennt der Mann der historisch-politischen Wissenschaften auch eben so gut die exakten Wissenschaften? Weiß der Jurist Bescheid in der Medicin, der Theologe in den Naturwissenschaften, der Industrielle in der Philologie und Geschichte? Oder umgekehrt?

Gewiß nicht! Also bedarf selbst der Gelehrteste eines solchen Hilfsmittels, namentlich wenn man eine Notiz oder ein Datum schnell braucht. Hat man doch nicht immer Zeit und Lust, seine eigene Bibliothek (vorausgesetzt, daß man eine hat) zu durchstöbern, oder nach der Staats-, Universitäts- oder Stadtbibliothek hinzuwandern.

Dieses Sammelwerk aber ist in der That eine ganze Bibliothek in nuce, – oder vielmehr eine Versammlung von ein paar hundert tüchtigen Gelehrten, die jede Minute zu meiner Verfügung stehen. Ich brauche sie nur anzutelephoniren, und sie geben mir sofort die richtige und zuverlässige Antwort.

Arbeiter im Staßfurter Steinsalzbergwerk.

Zum Schluß nun noch einige Notizen über die dreizehnte (neueste) Auflage, welche gegenwärtig ihrer Vollendung entgegensieht. Die erneuerte und stets wachsende Gunst, durch welche das Publikum dies Unternehmen auch in seiner neuesten Phase aufmuntert, liefert den Beweis, daß es das Richtige getroffen. Der riesenhaft anwachsende Stoff ist mit eben so viel Geschick als Ausdauer bewältigt. Das Verzeichniß der Mitarbeiter zählt über zweihundert Namen von gutem und bestem Klange. Die Illustrationen sind gelungen, sowohl die großen, nämlich die Bildertafeln und die geographischen Karten, als auch die kleinen, nämlich die im Text abgedruckten Holzschnitte. Namentlich die naturgeschichtlichen, technischen und kunstgewerblichen Artikel haben durch die Illustrationen an Anschaulichkeit [272] Verständlichkeit, auch für den Laien, bedeutend gewonnen. Die Abbildungen, die diesem Artikel als Proben beigegeben sind, mögen, wenn auch nur in kleinem Maßstabe, den Leser von der Richtigkeit des soeben Gesagten überzeugen. Auch die farbige (Chromo-)Illustration ist mit Takt und Auswahl zur Anwendung gekommen. Ich verweise namentlich auf „das Auge des Menschen“ in Heft 29, auf „die Giftpflanzen“ in Heft 106 bis 107 und auf die Tafel „Keramik“ im 150. Heft.

Auch in der neuesten Auflage hat das Konversationslexikon seine vornehme Haltung bewahrt. Es ist nicht Organ einer tendenziösen Parteirichtung, sondern bestrebt sich, allen Erscheinungen unseres Kulturlebens in gleicher Weise gerecht zu werden. Dadurch unterscheidet es sich z. B. von dem hochkonservativen „Staats- und Gesellschaftslexikon“, das der Kreuzzeitungs-Wagener herausgegeben, und von dem „Konversationslexikon für das katholische Deutschland.

Soeben läßt Brockhaus auch eine neue (die vierte) Auflage des zwei bändigen „Kleinen Konversationslexikon“ vom Stapel. Ich wünsche ihm frohe Fahrt. Es ist für Diejenigen bestimmt, deren wissenschaftlicher Bedarf oder deren Kaufkraft sich bescheidenere Grenzen gezogen. Es theilt dies „kleine“, in Betreff der Vorzüge der neuen Auflage vor den älteren, die Verdienste des „großen“.




Blätter und Blüthen.


„Charitas“. (Mit Illustration S. 261.) Neben den Bildern der Madonna nehmen die der „Charitas“ namentlich bei den italienischen Meistern einen hohen Rang ein. Indem man den Begriff des lateinischen Wortes caritas, als der reinen Menschenliebe ohne alle persönlichen Begehrungen, bildlich darzustellen suchte, schritt man von der Mutterliebe weiter bis zur selbstlosen Liebe der Barmherzigkeit, deren Gegenstand wieder nur das Kind als das hilfloseste Wesen unter allen Geschöpfen sein konnte. Aus dem klassischen Alterthume ist kein Kunstwerk bekannt, das eine solche Idee verkörpert hätte. Diese Kunstschöpfungen gehören der christlichen Gefühlswelt an und haben in Andrea Vannucchi, genannt Andrea del Sarto, ihren berühmtesten Meister gefunden. Seine „Charitas“ im Museum des Louvre ist sogar das bedeutendste Bild, das er in Paris gemalt hat; sie ist als ernste holde Mutter dargestellt, welche drei Kinder nährt, pflegt und bewacht, indem sie einen Knaben an der Brust hat, einen andern mit Früchten erfreut und einen dritten in seinem Schlummer beschirmt. Die „Charitas“ unseres Künstlers W. Bouguereau erscheint dagegen als die sorgende und liebende Barmherzigkeit mit den Hilflosesten, sie behütet den Schlummer der beiden Kinder und wird dann auch weiter sorgen, wie für uns Alle die „Charitas“ sorgte in der Zeit, wo ohne sie alle Kinder verloren wären. F. H.     




Nebelmorgen. (Mit Illustration S. 269.) Ein einfaches Landschaftsbild – Flachland – und doch welch eigenthümlicher Zauber, welche Poesie liegt in dieser Gegend! Weithin bis an den fernen Horizont dehnt sich der einsame Moorgrund. Zwischen den hügelartigen Rohrstauden glitzern wie Silber die stehenden Wassertümpel. Dort und da unterbricht ein Föhrengehölz vermischt mit schlanken Birken die flache Einöde. Im Vordergrunde ragt ein einzelner Birkenstamm, daneben rings hohes Röhricht und dichtes Erlengebüsch. Dies ist die Scenerie, in die uns der Künstler hineinversetzt.

Ein nebliger Septembermorgen liegt über der Ebene. Grau in Grau scheint sich der Himmel auf die Erde herabzusenken, und doch ist es nicht jenes schwere Gewölk, das dem Regen vorherzugehen pflegt, es ist jener leichte Nebel, der in den ersten Morgenstunden aus dem feuchten Moorland aufsteigt, um dann wie Schaum zu zerfließen.

Morgendämmerung ist angebrochen. Der Brunsthirsch ist aus dem Röhricht getreten, aus welchem nächtlicher Weile sein Schrei über das Moor hingellte. Da steht er und „verhofft“. Vielleicht naht sich ein ebenbürtiger Gegner! Abseits von ihm „äugt“ ein „Altthier“ ins Weite hinaus und „sichert“, ob sich nicht irgend etwas Verdächtiges wahrnehmen lasse, während die übrigen Stücke des Rudels „äsen“. Aber Alles ist ruhig, kein Laut körbar in der einsamen Wildniß. –

Indessen erhebt sich ein leichter Wind und spielt in den schlanken Birkenzweigen, der Nebel beginnt sich in die Höhe zu lichten, und die aufgehende Sonne blickt mit mattem Schimmer durch den Schleier des Gewölks. J. C. Maurer.     




Der Arbeiter-Bauverein in Kopenhagen. Unser kleiner Aufsatz in Nr. 34 der „Gartenlaube“, Jahrgang 1884, hat einen überaus erfreulichen Erfolg aufzuweisen. In Chemnitz in Sachsen hat sich, wesentlich anschließend an die von uns geschilderten Grundlagen des Kopenhagener Musters, eine Arbeiter-Baugenossenschaft gebildet. In Leipzig und Zwickau sind Bestrebungen im Gange, die dasselbe Ziel zu erreichen versprechen. Aehnlich an vielen anderen Orten, selbst weit außerhalb der Landesgrenzen. Wenn zunächst nur ein kleiner Theil derjenigen Städte, die sich bei dem Arbeiter-Bauverein in Kopenhagen, bei dem Arbeiter-Bauverein in Flensburg und bei dem Unterzeichneten Auskunft über die Einrichtung erbeten haben, zum praktischen Handeln gelangt, so wird das ausgestreute Samenkorn zweifellos reiche Früchte tragen.

Am 31. März fand die Generalversammlung des Kopenhagener Vereins statt, in welcher die neunzehnte Jahresrechnung für 1884 vorgelegt wurde. Der Bericht lautet wiederum sehr günstig: die Zahl der Mitgliederantheile ist in 1884 von 12 643 anf 13 553 gestiegen, wobei der gesammte Abgang an ausgeschiedenen, verstorbenen, verzogenen und gelöschten Mitgliedern berücksichtigt worden. Der Unterstützungsfonds ist einzelnen Hausbesitzern, die zeitweilig in Bedrängniß gerathen waren, insbesondere einigen Wittwen verstorbener Eigenthümer zu Gute gekommen. Im Frühjahre wurden 20 Häuser zum Gesammtwerthe von 153591 Kronen und im Herbste 19 Häuser zum Werthe von 147911 Kronen an Mitglieder übertragen. Damit ist die Häuserzahl des Vereins aunf 562 zum Werthe von 3991944 Kronen (4490937 Mark) gestiegen, von welchem Betrage 844599 Kronen abgetragen sind. 49 Häuser befinden sich im Baue, die im nächsten Frühjahre zur Ablieferung gelangen.

Am 1. Februar d. J. wohuten in jenen 562 Häusern 4381 Personen. Neuerdings ist ein Terrain erworben worden, welches für 203 weitere Häuser Platz bietet. Die Gesundheitsverhältnisse in den Vereinshäusern, worüber seit 1878 genaue Aufzeichnungen gemacht werden, erweisen sich nach wie vor als ganz vortrefflich. In 499 Häusern mit 3920 Bewohnern sind im Vorjahre 58 Todesfälle vorgekommen, das ist 14,8 pro Mille (annähernd dasselbe, was in den letzten vier Jahren beobachtet worden); in ganz Kopenhagen war das Verhältniß 23,57 pro Mille (im Durchschnitt der letzten sieben Jahre 23,47 pro Mille). Auch für 1885 ist abermals eine Summe ausgesetzt, bestimmt zur Prämiirung der am besten gepflegten kleinen Blumengärten vor den Häusern. Inmitten der Hauptanlage beabsichtigt der Vorstand nunmehr ein größeres Gebäude für eine Volksbibliothek mit Lesezimmern und einem Vortragssaale herzustellen. Die Kosten werden sich auf etwa 100 000 Kronen belaufen, die man durch besondere Einnahmen aufzubringen hofft. In den Wintermonaten sollen hier verschiedene Reihen ausgewählter populärer Vorträge gehalten werden. Ein hochgeschätztes Vorstandsmitglied schreibt uns darüber: „Wir hoffen durch diese Vorträge manchen guten Keim zu pflanzen. Wir haben unter unsern Mitgliedern viele kleine Leute, deren harte körperliche Tagesarbeit doch nicht den Durst nach Kenntnissen erdrückt. Diesen Durst wollen und müssen wir stillen. Wir wissen, wie viel Befriedigung, Segen und Glück damit gestiftet werden kann.“

Schon dieses Wort legt Zeugniß ab von dem edlen Geiste, in welchem die Verwaltung des Arbeiter-Bauvereins in der dänischen Hauptstadt geleitet wird. Möge der gleiche Geist alle durch jenes Beispiel hervorgerufenen Bestrebungen beseelen!

Kiel. P. Chr. Hansen.     




Einträglicher Obstbau. Seit einigen Jahren sind in Deutschland überall Bestrebungen zu Tage getreten, deren Ziel darauf gerichtet ist, den bei uns darniederliegenden Obstbau und die vernachlässigte Obstindustrie zu heben. Namentlich sucht man kleinere Leute, die über ein Stück passenden Landes verfügen, für diese lohnende Arbeit zu gewinnen, um ihnen einen nicht unbeträchtlichen Nebengewinn zu sichern. Die neue Bewegung verdient die thatkräftigste Unterstützung, denn sie soll uns eine Hausindustrie schaffen, deren Werth in finanzieller und socialer Beziehung nicht unterschätzt werden darf. Unter diesen Umständen muß das Erscheinen eines bündigen Lehrbuchs, welches durchaus populär gehalten ist, mit Freuden begrüßt werden, und auch wir erachten es für unsere Pflicht, unsere Leser auf das Werk „Gressent’s einträglicher Obstbau“ (Verlag von Paul Parey, Berlin) aufmerksam zu machen, das eine Lücke in der pomologischen Litteratur der Neuzeit ausfüllt. Das Buch wendet sich nicht an gelernte Gärtner, sondern an Leute, die nach Erfüllung ihres anderweitigen Berufs die noch freie Zeit auf sorgsame Pflege ihres Obstgärtchens verwenden. Für diese alle ist „Gressent’s einträglicher Obstbau“ geschrieben, und zwar in einer so klaren und anziehenden Weise, daß wir ihm die weiteste Verbreitung wünschen möchten. –i.     




Die höchsten dauernd bewohnten Orte der Erde sind Homle in Westtibet (4598 Meter über dem Meeresspiegel), Cerro de Pasco (4352 Meter) und Potosi (4069 Meter) auf der peruanisch-bolivianischen Hochebene, Ladak in Westtibet (3600 Meter). In Europa wohnen die Menschen nicht so hoch, denn in unseren Alpen liegt die höchste dauernd bewohnte Stelle Sta. Maria am Stilfserjoch nur 2535 Meter über dem Meeresspiegel. –i.      


Kleiner Briefkasten.

Verein der Lehrerinnen und Erzieherinnen in Oesterreich. Gern bestätigen wir Ihnen, daß Ihr Verein in Wien, Wildbrettmarkt 2, unter dem Protektorate der Erzherzogin Valerie ein „Heim“ für Lehrerinnen und Erzieherinnen eingerichtet hat, wo auch deutsche Lehrerinnen etc. billiges Unterkommen finden. Diese Thatsache schließt indessen das Befürfniß nach Gründung eines deutschen Frauenheims für deutsche Erzieherinnen etc. nicht aus, wie denn derartige Heims für schweizerische und französische Lehrerinnen etc. in Wien thatsächlich bestehen. Was der Artikel „Deutsches Frauenlos im Ausland“ in Nr 8 verlangt: die Gründung eines deutschen Frauenheims in Wien, muß daher in vollem Maße aufrecht erhalten bleiben.

Margarethe, Eine Kleinstädterin, A. R., R. B. in Hannover, L. Oc. in B. Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.

S. 100. Württemberg. Familienangelegenheiten!



Inhalt: [ Verzeichnis des Inhalts von Heft 16, 1885 - z. Zt. noch nicht transkribiert. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.