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Die Gartenlaube (1883)/Heft 35

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[561]

No. 35.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ueber Klippen.

Erzählung von Friedrich Friedrich.
(Fortsetzung.)

Der Winter hielt an. Der Schnee hatte sich gefestigt und neuer war nicht gefallen. Wochenlang stieg Hansel jeden Sonnabend Abends zum Oberburgstein empor und immer sicherer fühlte er sich, wenn er auch die größte Vorsicht nicht vergaß.

David hatte seinen Entschluß nicht geändert, derselbe beschäftigte ihn unausgesetzt. Manche Nacht lauerte er hinter einem Felsen versteckt vergebens auf den Verhaßten. Er durchsuchte den ganzen Bergesabhang nach einer Spur seines Fußes in dem Schnee. Er fand keine, und doch war er fest überzeugt, daß er mit der Moidl noch zusammen kam.

Unter dem Felsen, wo sie sich trafen, machte er Zeichen, und durch sie gewann seine Vermuthung Gewißheit. Es war ihm ein Räthsel, wie der Welsche dorthin gelangte. Da machte er die Wahrnehmung, daß das von ihm unter dem Felsen gemachte Zeichen die ganze Woche lang unberührt blieb und regelmäßig am Sonntag Morgen vernichtet war. In der Nacht zum Sonntage trafen sie sich also.

Auf’s Neue wandte er einen Tag daran, um den Weg, den Hansel einschlug, aufzufinden. Er suchte lange vergebens. Ohne Hoffnung schlug er einen Weg ein, der unterhalb seiner Besitzung sich am Bergabhange hinzog und von Holzknechten getreten war, welche in der Nähe Holz fällten. Da fiel ihm auf, daß eine Spur im Schnee weiter nach der Schlucht zu führte. Was konnten die Holzknechte dort gesucht haben? Er verfolgte sie, er fand einen Weg, der in tiefem Schnee gerade in der Schlucht emporführte. Jubelnd zuckte er zusammen, denn endlich hatte er die Spur des Welschen gefunden.

An diesen Weg hatte er freilich nicht gedacht, weil er ihn für unmöglich gehalten, dem verwegenen Burschen schien jedoch nichts zu schwer zu sein. Er versuchte, eine Strecke auf ihm emporzusteigen, mußte jedoch bald davon abstehen, denn seine unbeholfene Gestalt versank in dem Schnee und seinen Füßen fehlte ein Stützpunkt.

Nun konnte der Verhaßte ihm nicht mehr entgehen, er kannte seinen Weg und wußte, in welcher Nacht er ihn einschlug. Und kein Ort konnte für sein düsteres Vorhaben günstiger sein, als diese Schlucht. Wenn seine Kugel den Welschen niedergestreckt und er den Todten mit Schnee bedeckt hatte, wer konnte den Vermißten hier suchen und finden? Er lag dort, bis im Frühjahre das herabstürzende Wasser ihn mit in das Thal riß oder eine Lawine ihn noch tiefer begrub.

Der Sonnabend Abend, auf den Hansel sich die ganze Woche hindurch gefreut hatte, war gekommen. Der Wind hatte schon am Morgen umgesetzt und wehte aus Süden. Die Luft war lau und der Himmel war bewölkt. Der Umschlag des Wetters hatte Hansel besorgt gemacht, ihn beruhigte jedoch die Wahrnehmung, daß aus dem Thale immer noch kühler Nordwind wehte, der die Festigkeit des Schnees erhielt. Er konnte den Aufstieg durch die Schlucht immer noch wagen.

Zu der gewohnten Stunde am Abende brach er auf. Wohl bemerkte er, daß der Schnee unter seinen Tritten sich schon zusammenballte, er achtete wenig darauf, denn er mußte die Geliebte sehen. Der Aufstieg in der Schlucht wurde ihm schwerer, als je zuvor, der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er hätte die Joppe von sich werfen mögen, so heiß war ihm. War die Luft wirklich so lau und schwül, oder täuschte er sich? Einige Male war es ihm, als ob er unter dem Schnee zwischen dem Gerölle ein Rieseln wie von herabfließendem Wasser vernahm – es konnte nicht sein! Er nahm sich auch nicht Zeit zum Horchen, schneller eilte er vorwärts.

Glücklich langte er oben an. Wie an einem lauen Frühlingsabende erschien ihm hier die Luft. In wenigen Minuten war er bei der Geliebten, die ihn beteits erwartete.

„Hansel, bist Du durch die Schlucht aufgestiegen?“ fragte Moidl.

„Gewiß,“ gab Hansel heiter zur Antwort.

„Ich bin in Angst gewesen, das Wetter ist umgeschlagen, den ganzen Tag hat der Thauwind geweht.“

„Er hat noch sehr wenig gewirkt. Du siehst, ich bin ohne Unfall hierher gelangt. Noch läuft’s keine Gefahr, der Schnee steht noch.“

„Oben am Berge nicht,“ fuhr Moidl fort. „Mein Vater war gestern oben im Walde, da hat der Thauwind dort schon geherrscht, und er sagte, daß er heute im Thal sein werde. Er versteht sich auf’s Wetter, wie Wenige. Er fügte auch hinzu, daß der Schnee diesmal sehr schnell aufgehen werde, denn die Wärme komme von oben, und die Erde habe noch keine Kälte gehabt, als er gefallen sei, und der spätere Frost sei nicht durchgedrungen.“

„Ich bin ja hier, nun mag der Schnee aufgehen, hinab komm’ ich schon wieder,“ warf Hansel heiter ein.

Er hatte der Geliebten, die er seit acht langen Tagen nicht gesehen, so viel zu sagen, und auch Moidl dachte an den Schnee und den Thauwind nicht länger. Sie saßen gegen den Wind geschützt und vernahmen kaum, wie er heulend durch das Thal fuhr und pfeifend sich an den Felskanten brach. Dazwischen fielen einzelne Regenschauer.

[562] Die Zeit war ihnen wie ein Traum vergangen – Hansel drängte zur Heimkehr.

„Geh’ nicht die Schlucht hinab,“ bat Moidl.

„Ich komm’ auf dem Wege am schnellsten zu Thal,“ entgegnete Hansel. „Noch ist keine Gefahr vorhanden.“

„Wähl’ einen andern Weg.“

„Nein. Wie eine Ahnung, daß der Unterburgsteiner mir auflauert, liegt es auf mir,“ gab Hansel zur Antwort. „Es war auch in einer Nacht zum Sonntag, als seine Kugel mir durch den Hut hinfuhr. Was mich in der Schlucht bedrohen könnt’, wär’ eine Lawine, und diese Nacht fällt noch keine, der Schnee liegt zu fest.“

„Und wenn sie fiele?“ warf Moidl ein.

„Denk’ nicht daran,“ suchte Hansel sie zu beruhigen. „Ich kenne den Abstieg genau, und wenn ich stürz’, fall’ ich in den Schnee. Kaum eine halbe Stunde hab’ ich nöthig, dann bin ich in Sicherheit.“

„Der Wind heult so hohl.“

„Laß ihn heulen, Moidl. Er hört sich hier oben schlimmer an, als im Thal. In acht Tagen sehen wir uns wieder – erwart’ mich nur, ich find’ schon einen Weg.“

Noch einmal preßte Hansel die Geliebte an sich, dann eilte er fort. Es war ihm doch nicht ganz leicht um’s Herz, als er die Schlucht betrat. Deutlich vernahm er das Wasser unter dem Schnee, um so schneller eilte er, um nicht eine Minute zu verlieren.

Mit ängstlich pochendem Herzen trat das Mädchen in das Haus ihres Vaters und suchte ihre Kammer auf. Es war ihr, als ob der Wind immer hohler und unheimlicher klinge. Sie dachte nicht an Schlaf. Ohne Licht anzuzünden, öffnete sie das Fenster, wie ein schwüler Brodem wehte es ihr entgegen. Der Wind war unheimlich warm. Schwer lag es auf ihrem Herzen, ihre Brust vermochte kaum zu athmen. Sie faltete die Hände, sie wollte die heilige Jungfrau bitten, den Geliebten in Schutz zu nehmen, aber sie konnte nicht beten, die Angst verwirrte ihre Gedanken, die den Geliebten Schritt für Schritt begleiteten. Noch konnte er nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt haben.

Da vernahm sie plötzlich über sich ein donnerndes, rasselndes Rauschen. Mit dem Rufe: „Jesus Maria!“ stürzte sie zur Erde auf die Kniee.

Ein dumpfer, lauter Ton drang aus dem Thale zu ihr und brach sich im Echo an den Felswänden. Sie kannte diesen Ton nur zu genau – er kam von einer in der Schlucht niedergestürzten Lawine.

„Jesus Maria!“ wiederholten ihre Lippen noch einmal mit schwacher Kraft, während sie die Hände krampfhaft in einander geballt hatte. „Rette ihn, heilige Mutter Gottes, rette ihn!“ stöhnte sie und in ihrer Angst gelobte sie, das Liebste, was sie besaß – es fiel ihr nichts ein als ihre langen, braunen Flechten, um die sie so oft beneidet war – der heiligen Jungfrau als Opfer zu bringen.

Dann brach sie bewußtlos zusammen.




Auf den Bergstock sich stützend, eilte Hansel in mächtigen Sprüngen thalwärts. Das hohlklingende Heulen des Thauwindes war auch ihm unheimlich, er verhehlte sich die Gefahr nicht und beeilte sich, ihr zu entfliehen.

Da ertönte das donnernde Rauschen hoch über ihm in sein Ohr, er kannte es zu genau und obschon er erschreckt zusammenfuhr, so verließ ihn doch die Besinnung nicht, hinter einem Felsvorsprunge in der Schlucht warf er sich nieder, in der Todesverzweiflung sich fest an den Felsen anklammernd. Und die Lawine sauste mit Alles vernichtender Kraft nieder. Es war ihm, als ob er einen schweren Schlag auf den ganzen Körper erhielt und sein Kopf an dem Felsen zerschelle – dann schwand sein Bewußtsein.

Als er wieder zu sich kam, war er kaum im Stande, sich zu rühren. All seine Glieder schienen gelähmt zu sein. Allmählich raffte er sich zusammen. Nase, Mund und Ohren waren ihm mit Schnee verstopft. Tiefaufathmend befreite er sich davon. Erst jetzt wurde er sich des Geschehenen bewußt. Zaghaft versuchte er die Glieder, es war keins gebrochen, so sehr sie auch schmerzten.

Langsam richtete er sich empor. Er konnte stehen und gehen. Wohl zitterte er heftig am ganzen Körper, aber langsam arbeitete er sich auf dem Steingeröll, durch welches das Bergwasser rauschte, abwärts. Und er erreichte die Stelle, wo er die Schlucht verlassen konnte und gerettet war. Erschöpft sank er nieder. Wie ein Wunder erschien ihm seine Rettung. Aber nicht an sich dachte er, sondern an die Geliebte und deren Angst. Wenn er ihr doch hätte zurufen können, daß er lebe!

Langsam stieg er zu Thal und dann zu dem Gehöft seines Vaters empor. Der Weg wurde ihm unsagbar schwer, er fühlte, daß er an den Händen und im Gesichte geschunden war, was kümmerte es ihn – er lebte!

Als er in seiner Kammer angelangt war, besaß er kaum noch so viel Kraft, die durchnäßten Kleider abzustreifen und sich in’s Bett zu werfen. Er schlief nicht. Sein Gesicht brannte, all seine Glieder schmerzten. In einem halb bewußtlosen Zustande lag er da, in seinem Ohre klang das donnernde Rauschen der niederstürzenden Lawine, seine Hände griffen krampfhaft nach dem Bettgestell, um sich zu halten. Endlich übermannte der Schlaf den Erschöpften. –

Der neue Tag war längst hereingebrochen, als Hansel’s Mutter in die Kammer ihres Sohnes trat, um ihn zu wecken. Der laute Aufschrei, der ihr entfuhr, als sie das blutige und entstellte Gesicht desselben erblickte, weckte den Schlafenden. Erschreckt fuhr Hansel empor.

„Hansel, was ist geschehen? Was hast Du begonnen?“ rief die Frau.

Der aus dem Schlafe Erweckte blickte erstaunt und noch schlaftrunken um sich.

„Was soll geschehen sein?“ fragte er noch vom Traume befangen.

„Dein Gesicht – Dein Gesicht!“ rief die Frau und trat händeringend an ihn heran.

Hansel versuchte sich empor zu richten, nur mit größter Anstrengung gelang es ihm. Die heftig schmerzenden Glieder riefen das Geschehene in seine Erinnerung zurück. Schaudernd zuckte er zusammen, aber er faßte sich schnell.

„Ich bin gestürzt,“ entgegnete er.

„Wo – wo?“ rief seine Mutter.

Hansel richtete sich langsam im Bette empor.

„Gestern Abend,“ gab er zur Antwort, sein Kopf war noch wüst, und er wußte kaum, was er sprach.

„Du hast Dich gestern Abend gleich nach uns zur Ruhe begeben,“ fuhr seine Mutter fort.

Hansel schwieg einen Augenblick. Er konnte die Wahrheit nicht gestehen, auch seiner Mutter nicht, das Geheimniß seiner Liebe gehörte ja nicht ihm allein.

„Mich wandelte die Lust an, noch zu Thal zu steigen,“ sprach er, ohne seine Mutter anzusehen. „Ich wußte, daß ich im ‚Elephanten‘ noch Freunde treffen würde; wir waren sehr lustig, wir tranken, und ich habe vielleicht zu viel getrunken. Es war spät, als ich heimkehrte – ich weiß nicht, wie es geschehen ist – ich muß den Weg verfehlt haben – da – da stürzt’ ich von einem Felsen hinab – wohl dreißig Fuß hoch – ich weiß es nicht.“

„Hansel, Du hast Dir geschadet!“ rief die Frau erschreckt.

„Nein, Mutter, ich bin ja hierher gegangen,“ entgegnete der Bursch beruhigend. „Meine Glieder sind gesund, ich werd’ mich etwas zerschunden haben, das ist Alles.“

„Du weißt nicht, wie Du ausschaust, Dein Gesicht ist entstellt!“ fuhr die Frau fort. „Vor keinem Menschen kannst Du Dich so zeigen. Ich hab’ Dir nie einen Vorwurf gemacht, aber meid’ den Wein, Hansel! Schon Mancher ist dadurch zu Grund’ gegangen!“

„Ich geh’ nicht zu Grund’,“ entgegnete der Bursche und erfaßte die Hand seiner Mutter. „Laß meiner Jugend ihr Recht, ich find’ mich immer wieder auf den rechten Weg.“

Und die Frau strich beruhigt und liebkosend über das Haar ihres Sohnes, der brav gewesen war von Jugend auf.

„Treib’ es nur nicht zu arg,“ sprach sie mahnend. „Ich werd’ Deinen Vater vorbereiten, daß er nicht erschrickt, wenn Du zu ihm trittst.“

Sie verließ die Kammer, und Hansel sprang aus dem Bette. Als er vor den kleinen Spiegel hintrat, fuhr er selbst erschreckt zurück. Sein Gesicht war mit Blut überdeckt und geschwollen, aber seine Glieder waren gesund, und das gab ihm schnell seinen frischen Muth zurück.

Er wusch sich, mochten die Verletzungen auch schmerzen. Dann trat er an’s Fenster und sah zum Oberburgstein hinüber. [563] Der lag trübe, halb in Nebel gehüllt, da. Weshalb schien die Sonne nicht, weshalb war die Luft nicht klar? Er würde das Fenster aufgerissen und einen Jauchzer so laut in die Morgenluft hinausgerufen haben, daß er hinüber gedrungen wäre über das Thal und der Geliebten die freudige Botschaft seiner Rettung überbracht hätte!

Als er in die Stube hinabging, empfing ihn sein Vater ohne Vorwurf, aber schweigend. Derselbe fragte nicht nach der Ursache seiner Verletzung, er schien dieselbe nicht sehen zu wollen.

Seine Eltern rüsteten sich, um zur Messe zu gehen, er blieb zurück, denn mit zerschundenem Gesichte mochte er sich nicht zeigen. Er fürchtete die Fragen.

Seine Eltern hatten bereits das Haus verlassen, als seine Mutter noch einmal zurückkehrte.

„Hansel, Du gehst heute nicht zu Thal?“ fragte sie.

„Nein, Mutter.“

„Und wenn ich gefragt werd’, weshalb Du nicht kommst, was soll ich sagen?“

Hansel zögerte einen Augenblick mit der Antwort.

„Sag’, ich sei auf die Gemsjagd gegangen,“ sprach er dann.

„Hansel, soll ich die Unwahrheit sagen?“ mahnte die Frau ernst. „Ich geh’ zur Meß’, da kann mein Mund nicht lügen.“

„Dann sag’, ich fühle mich unwohl,“ entgegnete Hansel verlegen.

Seine Mutter ging schweigend fort. Er blickte ihr nach durch das Fenster. Sagte sie nicht doch die Unwahrheit?

Nachdenkend stützte er den Kopf auf die Hand. Es lag schwer auf seiner Brust; zweimal war er dem Tode nur mit Noth entgangen. So wunderbar seine Rettung war, so konnte er sich derselben doch nicht aus vollem Herzen freuen.

Dann sann er nach, ob es kein Mittel gebe, die Geliebte von seiner Rettung in Kenntniß zu setzen. Sollte er ihr schreiben? Wo fand er einen Boten, der den Brief überbrachte? Vielleicht klärte sich die Luft mehr auf und er war im Stande, ihr irgend ein Zeichen zu geben.

Müde und zerschlagen legte er sich auf die Ofenbank.

Seine Eltern kehrten aus der Messe zurück. Sie brachten keine Neuigkeiten aus dem Thale mit, denn sie hatten nur mit wenigen Bekannten einige Worte gewechselt. Hansel mochte auch nicht fragen, denn ihm bangte doch, sie könnten erfahren haben, daß er in der Nacht zuvor nicht in dem „Elephanten“ gewesen war.

Nach dem Mittagsessen begab er sich auf seine Kammer und legte sich aufs Bett, um zu schlafen. –

Während dem herrschte unten im Dorfe große Aufregung. Die Knechte des Unterburgsteiners forschten nach ihrem Herrn. Als sie zur Messe gegangen waren, hatte derselbe seine Kammer noch nicht verlassen, sie hatten jedoch nicht nachgeforscht, weil sie geglaubt, er habe am Abende zuvor sich einen Rausch getrunken und schlafe denselben aus. Als er nach ihrer Heimkehr sich noch immer nicht gezeigt hatte, waren sie in seine Kammer gedrungen und hatten dieselbe leer gefunden. Sein Bett war unberührt gewesen. Sie waren überzeugt, daß ihm ein Unfall begegnet war. Es fehlte auch seine Büchse, welche sonst neben seinem Bette an der Wand hing. Daß der Unterburgsteiner während der Nacht auf die Jagd gegangen sei, hielt Jeder für unmöglich, denn so thöricht war er nicht, um bei dem eintretenden Thauwinde in die Berge zu steigen. Ohnehin war es so dunkel gewesen, daß er ein Wild nicht hätte sehen können.

Eine bange Stimmung hatte sich Aller bemächtigt. Der Burgsteiner war kein Kind, der ohne Noth sein Gehöft verließ und sich in den Bergen verlief. Sollte er seine Verlobte besucht haben und auf dem Heimwege verunglückt sein? Auch dies mochte Niemand glauben, denn es war kein Geheimniß geblieben, daß die Moidl sich sträubte, Davids Weib zu werden. Die Magd des Unterburgsteiners hatte dies längst ausgeplaudert. Etwas Ungewöhnliches mußte geschehen sein.

Unwillkürlich dachten die Meisten an ein Zusammentreffen mit seinem Gegner – mit Hansel. Daß beide sich haßten, wußten alle. Man erinnerte sich, welche wilde Drohung Hansel vor Wochen in dem Wirthshause gegen David ausgesprochen hatte. Weshalb war er nicht zur Messe gekommen? Manche glaubten bemerkt zu haben, daß seine Eltern, als sie zur Kirche gegangen, besonders still und niedergedrückt gewesen seien.

Noch wagte Niemand, einen Verdacht gegen Hansel auszusprechen, denn wie sollten die beiden Gegner während der Nacht an einander gerathen sein? Da erzählte eine alte Frau, die Haidacherin habe ihr auf dem Kirchwege am Morgen mitgetheilt, daß ihr Sohn im Gesicht und an den Händen arg zerschunden sei und deshalb nicht zur Messe gehen könne. Er habe in der Nacht zuvor in dem „Elephanten“ gezecht und zuviel getrunken, da habe er auf dem Heimwege den Pfad verfehlt und sei von einem Felsen gestürzt.

„Er ist nicht im ‚Elephanten‘ gewesen und auch in der ‚Post‘ nicht!“ riefen Mehrere gleichzeitig, und nun war keiner mehr in Zweifel, daß er mit dem Unterburgsteiner zusammengerathen war. Hatte er doch gedroht, ihn zu vernichten, wie er ein Glas zerschelle.

„Er hat ihn erschlagen!“ riefen diejenigen, welche auf des Vermißten Seite standen.

Die Freunde Hansel’s wagten nicht, an seiner Schuld zu zweifeln, aber sie versuchten ihn in Schutz zu nehmen, damit das Gericht nicht sofort gegen ihn einschreite und er Zeit gewinne zur Flucht.

„Noch ist es nicht erwiesen, daß er schuldig ist,“ warf Sepp Plankensteiner ein.

„Seine eigene Mutter hat erzählt, daß er im Gesicht und an den Händen arg zerschunden ist!“ riefen ihm Mehrere entgegen. „In dem ‚Elephanten‘ ist er nicht gewesen. Es wird ein harter Kampf gewesen sein, denn David war ihm gewachsen.“

Auch Franz Steger nahm sich des Freundes an.

„Und wenn er mit ihm gerauft hat, ist dadurch erwiesen, daß ihn eine Schuld trifft?“ sprach er. „Wer weiß, wo sie sich getroffen haben und wie sie an einander gerathen sind. Der Unterburgsteiner kann übel zugerichtet sein, er kann sich bei einem Freunde verbergen, bis die schlimmsten Wunden geheilt sind, denn er ist stolz und wird sich scheuen, dieselben offen zu zeigen. Noch hat keiner ein Recht, auf den Hansel eine Schuld zu werfen. Erst muß doch erwiesen sein, daß dem Unterburgsteiner an Leib und Leben geschadet ist.“

„Du hast Recht,“ fiel Sepp ein. „Als beide auf dem Hofe des ‚Elephanten‘ rauften und Hansel den David warf, da hätte dieser sich auch leicht den Kopf zerschlagen können, und den Hansel würde keine Schuld getroffen haben. Vielleicht sitzt der Unterburgsteiner schon jetzt in seinem Hause und mag sich den Leuten nicht zeigen, weil er übel zugerichtet ist.“

„Sind die beiden allein und zur Nachtzeit an einander gerathen, dann ist es nicht beim Raufen geblieben,“ entgegneten Mehrere, aber Steger’s Worte hatten doch den Einfluß ausgeübt, daß Niemand den Hansel eines Verbrechens zu beschuldigen wagte. Der Tod des Unterburgsteiners mußte ja erst festgestellt sein.

Das Gespräch drehte sich an diesem Tage nur um diesen Gegenstand, und alle Möglichkeiten wurden mehr denn zehnmal erwogen. Eins blieb Allen unerkärlich, wie Hansel und David zur Nachtzeit sich getroffen hatten, denn durch die Magd Davids war es festgestellt, daß dieser am Abende sein Gehöft nicht verlassen hatte. Als sie sich zur Ruhe gelegt, war er noch in dem Wohnzimmer gewesen.

Spät am Abend kam ein Knecht vom Unterburgstein in den „Elephanten“ und berichtete, daß von seinem Herrn noch keine Spur aufgefunden sei. Stundenlang habe er mit mehreren Bauern nach demselben gesucht. Sie seien auch auf dem Oberburgstein gewesen. Der Bauer sei über das Verschwinden seines künftigen Schwiegersohnes sehr erschrocken, könne aber auch keine Auskunft geben.

Als der Bezirksrichter am folgenden Morgen, von einem Gensdarm begleitet, durch das Dorf hinschritt und langsam den Berg emporstieg, da wußten wohl Alle, die ihn sahen, wohin er ging. Die Leute traten vor die Thür und blickten ihm nach.

„Er holt den Hansel,“ sprach der Eine zu dem Anderen.

„Seine Schuld muß doch erwiesen sein, sonst würden sie ihn nicht holen,“ warf ein Dritter ein.

„Weißt Du genau, ob sie ihn holen?“ fragte ein Färber, der zu den Sprechenden trat. „Wenn er schuldig ist, dann wird er längst über die Berge sein, denn er hat ja Zeit genug gehabt, und ich kann’s ihm nicht verdenken.“

„Der Richter wird schon wissen, was er thut,“ bemerkte der Nachbar des Färbers, welcher mit diesem nicht auf dem besten Fuße lebte.

„Ich weiß es auch!“ rief der Färber lachend. „Wenn er das Nest leer findet, kehrt er leer zurück. Das würd’ ein Andrer genau ebenso machen.“

[564] Die Leute hatten das Rechte errathen. Der Bezirksrichter stieg mit dem Gensd’armen zu dem Gehöfte des Haidachers empor.

Der alte Bauer saß mit Frau und Sohn beim einfachen Mittagsessen.

Die Frau fuhr erschreckt zusammen, und der Löffel entfiel ihrer Hand, als sie den Bezkrksrichter und den Gensd’armen in das Zimmer treten sah. Der Athem stockte in ihrer Brust, ängstlich glitt ihr Auge über das Gesicht ihres Sohnes hin, dasselbe war ganz ruhig.

Der Richter grüßte die beiden Alten freundlich.

„Was ist denn mit Dir geschehen?“ wandte er sich an Hansel. „Dein Gesicht ist ja arg zerschunden.“

„Ich bin gestürzt.“

„Wann denn?“ forschte der Richter weiter.

„In der Nacht zum Sonntag.“

„Wie ist denn das gekommen? Ich hab’ immer gemeint, Du kennst jeden Weg und Stein sehr genau. Wo bist Du denn gewesen?“

„Ich war im Thal, auf dem Rückwege bin ich gestürzt.“

„Wo bist Du im Thal gewesen?“

Hansel zögerte mit der Antwort.

„In dem ‚Elephanten‘,“ fiel seine Mutter ein. „Dort hat er mit seinen Freunden getrunken, und der Wein ist ihm zu Kopf gestiegen. Heutzutage ist es anders, als es früher war, die jungen Burschen wissen nicht mehr, wann sie aufhören sollen. Hansel ist sonst mäßig, aber er hätt’ sich durch den Sturz Schaden für seine ganze Lebenszeit zufügen können.“

„In dem ‚Elephanten‘ ist er nicht gewesen,“ unterbrach der Richter die Frau. „Nun sag’, wo Du gewesen bist?“ wandte er sich an Hansel.

Dem Gefragten schoß das Blut in das Gesicht. Sollten seine Zusammenkünfte mit der Moidl verrathen sein?

„Muß ich denn Rechenschaft geben, wohin ich geh’?“ warf er ein. „Ich denk’, das ist nicht nöthig, so lang’ ich Niemand zu nahe trete.“

„Ja, es ist nöthig,“ wiederholte der Richter ernst.

„Und wenn ich’s nicht thue?“

„Dann verhafte ich Dich!“

„Jesus Maria!“ schrie die Frau auf. „Hansel, was hast Du gemacht?“

„Nichts, Mutter!“ entgegnete Hansel ruhig. „Ich brauch’ nicht zu sagen, wo ich gewesen bin, und verhaftet kann ich deshalb nicht werden. Der Herr Bezirksrichter scherzt.“

„Ich scherze nicht, das ist meines Amtes nicht,“ fuhr der Richter unwillig fort. „Dann bist Du wohl auch nicht mit dem Unterburgsteiner zusammengetroffen?“

„Nein,“ gab Hansel ruhig zur Antwort.

„Und Du weißt auch nicht, wo er geblieben ist?“

„Nein.“

„Was ist mit dem Unterburgsteiner?“ fiel der alte Haidacher fragend ein.

„Verschwunden ist er seit der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, keine Spur ist von ihm zu finden, so viel auch nach ihm geforscht ist. Hansel steht in Verdacht, mit ihm zusammen getroffen zu sein, mit ihm gerauft und ihn erschlagen zu haben.“

„Jesus Maria! Mein Hansel!“ schrie die Frau laut auf und rang verzweiflungsvoll die Hände.

Bestürzt stand Hansel da und blickte den Richter starr an. Dann trat er auf seine Mutter zu.

„Sei ruhig, Mutter, das ist Alles nicht wahr!“ sprach er. „Es muß sich ja bald aufklären, daß ich es nicht gethan hab’.“

„Dann hast Du wohl auch vor wenigen Wochen nicht eine wilde Drohung gegen David ausgestoßen?“ fuhr der Richter fort. „Hast nicht das Weinglas auf den Tisch geschleudert, daß es in tausend Scherben zersprang, und ausgerufen, so solle es dem Unterburgsteiner ergehen, wenn er Dir begegne?“

„Doch, das hab’ ich gethan, ich war im Zorne, und wenn er mir an dem Tage begegnet wär’, so wüßt’ ich nicht, was geschehen wäre. Mein Blut hat sich bald beruhigt.“

„Und weshalb warst Du in Zorn? Was hat er Dir gethan?“ forschte der Richter.

Hansel schwieg. Daß David auf ihn geschossen, mochte er nicht sagen, und ein anderer Grund fiel ihm nicht ein, denn die schwere Beschuldigung, die auf ihm lastete, wirkte verwirrend auf ihn.

„Nun, Du wirst Dich schon besinnen,“ fuhr der Richter fort. „Glaub’ nur nicht, daß es Dir so leicht werden wird, mich zu täuschen. Ich kann Dir sogar sagen, wo Du in der Nacht zum Sonntag gewesen bist. Du bist zum Unterburgstein hinaufgestiegen und dann, eh’ Du ihn erreicht, links in den Wald gegangen. Es mag nach zehn Uhr Abends gewesen sein. Ist dem nicht so?“

Hansel schwieg.

„Gesteh, denn der Gaisbub’ des Unterburgsteiners hat Dich gesehen, Du bist an ihm vorüber gegangen, ohne ihn zu bemerken, denn er hatte sich hinter einen Felsen gedrückt. Was hast Du dort zu suchen gehabt?“

Hansel verlor immer mehr seine Fassung.

„In dem Walde sollte ein Rehbock stehen.“

„Den wolltest Du schießen?“

„Ja,“ gab Hansel, ohne zu überlegen, zur Antwort.

„Dann wundert es mich, daß Du Deine Büchse nicht mitgenommen, denn mit dem Stecken, den Du trugst, konntest Du nicht schießen. Wenige Minuten nach Dir ist der Unterburgsteiner von seinem Gehöft herabgekommen und hat denselben Weg eingeschlagen – willst Du noch behaupten, daß Du mit ihm in der Nacht nicht zusammengetroffen bist?“

„Ja. Ich hab’ ihn nicht gesehen.“

„Hansel, es wär’ besser für Dich, Du legtest ein offenes Geständniß ab, das mildert,“ mahnte der Richter.

„Ich hab’ ihn nicht gesehen,“ wiederholte der Bursch.

„Hansel – Hansel, gesteh’, wenn Du mit ihm gerauft hast,“ rief seine Mutter, indem sie schluchzend und händeringend an den Sohn herantrat.

„Ich hab’ ihn in der Nacht nicht gesehen – ich hab’ nicht mit ihm gerauft.“

„Dann hast Du ihn erschlagen!“ rief der Richter. „Dein eigenes Gesicht zeugt gegen Dich, die Spuren des Kampfes in ihm kannst Du nicht fortleugnen. Ich verhafte Dich im Namen des Gesetzes!“

Laut aufschreiend sank die Frau auf einen Schemel. Hansel zuckte bei den Worten des Richters zusammen, aber er faßte sich.

„Ich bin unschuldig,“ versicherte er und sah den Richter offen an.

„Das wird sich erweisen,“ gab der Richter zur Antwort. „Ich sollt’ Dir die Hände binden lassen, aber ich möcht’ Deinen armen Eltern die Schmach ersparen, daß ihr Sohn gefesselt aus ihrem Hause geführt wird. Willst Du willig folgen?“

„Ja.“

„Versuch’ nicht zu fliehen, das Gewehr des Gensd’armen ist geladen.“

„Ich fliehe nicht.“

Der alte Haidacher hatte schweigend und vor sich hinstarrend dagesessen. Er hatte soviel Unglück in seinem Leben erfahren, daß er gegen einen neuen Schlag des Mißgeschickes fast abgestumpft war. Seine Frau schluchzte laut und rang verzweiflungsvoll die Hände. Hansel stand erschüttert da.

„Komm,“ sprach der Richter.

Da trat Hansel auf seinen Vater zu und reichte ihm die Hand. Der Alte wandte das Gesicht ab.

„Vater, Du darfst mir dreist die Hand geben!“ rief er mit leise zitternder Stimme. „Ich hab’ nichts gethan, was unrecht wäre!“

Der Alte antwortete nicht und rührte sich auch nicht. Als Hansel zu seiner Mutter trat, sprang dieselbe empor und umschlang ihn mit beiden Armen.

„Ich laß Dich nicht!“ rief sie in leidenschaftlicher Erregung.

„Ich komm’ bald zurück, Mutter,“ sprach Hansel. „Du darfst nicht glauben, daß ich schuldig bin – Du nicht!“

„Nein, ich glaub’ es nicht!“ rief die Frau und küßte ihren Sohn auf die Wange.

Hansel riß sich von ihr los und eilte aus dem Zimmer, ohne daß der Richter ihn noch einmal aufzufordern brauchte, ihm zu folgen.

(Fortsetzung folgt.)



[565]

Album schöner Frauenköpfe: 8. Studienkopf.
Nach dem Oelgemälde von W. Menzler.

[566]

Die Pflanzen-Einwanderung in Norddeutschland.

Kannst du dir, mein freundlicher Leser, bei einem Spaziergang durch Wald und Feld und Flur in unserem weiten norddeutschen Flachlande wohl vorstellen, daß alle Bäume und Blumen, die dein Auge sieht, und selbst all die unscheinbaren Gräser und Kräuter, über die dein Fuß achtlos fortschreitet, eine Heimath besitzen, die in fremden Ländern und selbst in anderen Erdtheilen gelegen ist? Daß uns aus anderen Gebieten viele und zwar die schönsten Blumen, sowie die Pflanzen, deren Pflege dem Landmann auf Feldern und in Gärten obliegt, zugekommen sind, daß noch alljährlicher uns neue Pflanzenarten in Cultur genommen werden – dies ist dir schon lange bekannt, und du hast vielleicht im Stillen deinem eigenen Lande einen Vorwurf daraus gemacht, daß es nur wenig schöne Feld- und Waldblumen, allerlei unscheinbares Kraut aber und die schädlichen Unkräuter in Menge hervorzubringen im Stande sei, während alle schönen und nützlichen Gewächse uns von weit her geliefert werden müssen.

Aber diesen Vorwurf verdient unser Land nicht, denn alle die verschiedenen Pflanzenarten, die uns umgeben, sowohl die nützlichen wie die schädlichen, sie sind alle bei uns zu Gaste, sind im Laufe von Jahrzehnten, -hunderten und -tausenden zu uns gekommen als Fremdlinge und Eindringlinge, und sind somit, je nach dem Alter ihrer Einwanderung und der Art und Weise ihrer Niederlassung, nur mehr oder weniger einheimisch.

Doch wenn die sämmtlichen Kinder unserer Flora fremdgeboren sein sollen, so müßte es einmal eine Zeit gegeben haben, in der unser Vaterland keinerlei Vegetation beherbergte? Allerdings gab es eine solche Zeit – war doch unsere norddeutsche Tiefebene ein Theil des Bodens eines großen Nordmeeres, das seine Südufer an den Gebirgen Mittelfrankreichs und Mitteldeutschlands hatte, dessen Wassermassen erst an den niederrheinischen und Wesergebirgen, am Thüringer Wald, am Erzgebirge, an den Sudeten und den Karpathen eine Grenze fanden. So ist der ehemalige Meeresboden, als die Gewässer sich allmählich nach Norden zu in engere Grenzen zurückzogen, zu unserem norddeutschen Lande geworden! In dieses Gebiet hinein haben dann Menschen-, Thier- und Pflanzenwanderungen stattgefunden.

Da drängt sich vor Allem die Frage auf: Können denn die Pflanzen wandern? Allerdings gehen unseren Blumen Fortbewegungsorgane ab, sie haften im Gegentheil ja selbst vermittelst der Wurzeln im Boden, sie sind so recht eigentlich an die Scholle gebunden, sie wandern aber auch nicht activ – sie wandern passiv. Wenn wir vorläufig von der Thätigkeit des Menschen für die Wanderungen der Pflanzen absehen wollen, so können wir als wirksame Factoren derselben, die natürlich nicht nur für unser Gebiet, sondern auch für alle anderen gelten, die Strömungen der Luft und des Wassers, sowie die Thätigkeit der Thiere anführen.

Die Samen vieler Pflanzen können, frei von den Hüllen oder von ihnen eingeschlossen, durch die Winde über weite Strecken fortgeführt werden – vorausgesetzt, daß sie leicht genug sind, um vom Winde getragen zu werden, und daß sie nicht durch ihre Schwere allzu bald zum Boden gezogen werden. Es findet sich in der Natur eine große Mannigfaltigkeit von Einrichtungen an Früchten und Samen, um dieselben für den Transport durch die Winde geeignet zu machen. In häufigen Fällen sind Anhängsel vorhanden, die, indem sie eine größere Fläche darbieten, dem Winde eine wesentliche Einwirkung gestatten.

Wer hätte z. B. nicht schon gesehen, mit welcher Leichtigkeit die mit Fallschirmen ähnlichen Haarkronen versehenen Samen des gemeinen Löwenzahn oder der Butterblume jeder Luftbewegung folgen und über weite Strecken fortgeführt werden?

Auf solche Weise hat die canadische Dürrwurz, die jetzt im ganzen Deutschland an unbebauten Orten sehr gemein ist, seit Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts, wo sie zuerst in Frankreich beobachtet worden ist, ihr Verbreitungsgebiet durch verwehte Samen gewonnen, und erst in neuester Zeit haben wir von einer durch die Winde uns zugeführten, aus dem Osten stammenden Pflanze Notiz nehmen müssen, die ihr Gebiet alljährlich nach Westen zu ausdehnte – von der Wucherblume, einem gelbblühenden Kreuzkraut, das an vielen Orten als ein so häufiges Ackerunkraut auftrat, daß seine Ausrottung in öffentlichen Bekanntmachungen der Landbevölkerung von den Behörden dringend an's Herz gelegt worden ist.

In zweiter Art findet die Einwanderung von Pflanzen ans fremden Florengebieten durch die Strömungen des Wassers statt. Sind die Samen, beziehungsweise die Früchte leicht genug und durch ihre Umhüllung genügend gegen die schädliche Einwirkung des eindringenden Wassers geschützt, so ist nicht schwer einzusehen, daß sie, in Gewässer gefallen oder geweht, durch die Strömungen derselben an andere Orte geführt werden können, wo sie, wenn die Gelegenheit günstig ist, neuen Pflanzen Ursprung geben.

Es ist bekannt, daß die Cocospalmen durch vom Wasser fortgeführte Cocosnüsse ihre weite Ausbreitung erlangt haben – um so eher können daher kleine Samen den Wasserströmungen folgen. Der Pflanzenkundige trifft in den Flußthälern häufig Arten, von denen er mit vollster Bestimmtheit angeben kann, daß und aus welchen höher gelegenen Orten sie hierher geflößt worden sind.

Die überall in den deutschen Gewässern verbreitete kanadische Wasserpest (Elodea canadensis) giebt ein recht lehrreiches Beispiel von der Wirksamkeit des Wassers als Verbreitungsmittel neuer Pflanzen in einem Gebiete. Die Pflanze bringt in Europa keine Samen hervor, nichtsdestoweniger hat sie ihren Siegeslauf durch die deutschen Stromläufe in kürzester Zeit halten können, da selbst aus kleineren abgebrochenen Theilen, wie aus Stengelgliedern, die in dem Wasserlauf fortgeführt werden, neue zahlreiche Ansiedelungen entstehen.

Es wird noch Vielen in Erinnerung sein, daß besonders in England diese Pflanze die Wasserläufe derart füllte, daß Schifffahrt und Fischerei stellenweise völlig stockte. Auch bei Berlin war die Wasserpest im Jahre 1868 im Spandauer Canal so häufig, daß ihre Ausrottung, die wegen Behinderung der Schiffahrt nöthig geworden war, für eine Strecke von 11/2 Meile in drei Monaten mehr als 2500 Thaler erforderte.

Dieser Faktor der Pflanzeneinwanderung muß gerade für die Besamung unseres norddeutschen Tieflandes von höchster Wichtigkeit gewesen sein, denn einerseits hat das zurückweichende Meer die Strandflora – deren Ueberreste wir nach heute in den Salzpflanzen sehen – entstehen lassen, andererseits haben die unsere Ebene durchziehenden großen Flußläufe ihr Strombett mehrfach völlig verändert und somit den Pflanzen in verschiedene Gegenden die Einwanderung ermöglicht. Mündete doch einst die Weichsel durch das untere Elbthal in die Nordsee und später im unteren Oderthale! So finden wir noch heute viele Pflanzen. die ihre Hauptverbreitung in Südrußland und Ungarn haben, längs des Weges, den die Weichsel ehemals nahm. Andere Gruppen kamen sowohl in älterer wie in jüngerer Zeit mit der Oder und der Elbe. Die jetzigen Stromläufe führen noch alljährlich eine stattliche Anzahl von Flußthalpflanzen hernieder.

Die Einwanderung neuer Pflanzen wird ferner durch die Thiere vermittelt. Es haften Früchte oder Samen an der Körperbedeckung der Thiere, am Haarkleide der Vierfüßler und im Gefieder der Vögel, oder aber sie werden als Magen- und Kropfinhalt über weite Strecken hin fortgetragen und können somit – an günstigen Orten abgesetzt – neue Arten in einem Pflanzengebiete entstehen lassen.

In früheren Perioden, als das Klima unseres Landes mehrfach die vollkommensten Umwandlungen erlitt, somit Thierwanderungen veranlaßt wurden, muß dieser Faktor der Einwanderung von hoher Bedeutung gewesen sein, zudem viele Samen der Verbreitung durch Thiere so recht angepaßt erscheinen, sei es durch Ausbildung von Häkchen, Widerhaaren und anderen Haftorganen – man denke nur an Kletten und Pfaffenläuse – sei es durch Ausbildung einer weit sichtbaren wohlschmeckenden Hülle von Fruchtfleisch, welche die Vögel zum Verzehren und damit auch zur Verbreitung der Samen einlädt. Die Zugvögel dürften daher besonders als Pflanzenverbreiter eine Rolle spielen.

Nachdem nun die natürlichen Ursachen der Einwanderung und Verbreitung neuer Arten in einem fremden Florengebiete betrachtet sind, haben wir uns zu dem Einflusse des Menschen auf die Vegetation seines betreffenden Gebietes zu wenden. Der Mensch hat wesentlich zur Bereicherung des Pflanzenbestandes [567] unseres Landes beigetragen, und zwar nicht allein der moderne Gärtner oder Landbebauer durch Importation und Inculturnahme neuer fremdländischer Arten, sondern es haben sicherlich schon die ersten Ansiedler und nach ihnen alle folgenden die für sie werthvollen Pflanzen aus der ursprünglichen in die neue Heimath mit herüber gebracht, sowie durch theilweis recht weitgehende Handelsbeziehungen sich solche zu verschaffen gewußt.

Doch sehr viel größer als die Zahl der vom Menschen in eigens für sie angelegten Culturen gepflegten fremden Arten ist die Zahl derjenigen, welche ohne den Willen, aber doch durch die Vermittelung des Menschen zu uns gekommen sind, und derjenigen, die, obwohl sie von ihm absichtlich eingeführt worden sind, seiner unmittelbaren Pflege sich entzogen haben.

Von einer großen Anzahl dieser Pflanzen können wir die Heimath, die Zeit sowie die Art und Weise der Ansiedelung angeben, von vielen anderen indessen fehlt uns ein solcher Nachweis – trotzdem lassen sie sich in vielen Fällen deutlich als Fremdlinge erkennen. Dürfen wir nicht mit vollem Rechte schließen, daß eine Pflanzenart von fremder Herkunft und mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Menschen eingeführt worden ist, wenn sie sich nur an solchen Oertlichkeiten vorfindet, die vor dem Erscheinen des Menschen noch nicht oder doch nicht in derselben Weise vorhanden waren? Solche Oertlichkeiten sind aber das beackerte Land, Zäune und Raine, Schuttplätze, Mauern, Wege und Straßen.

So kommen wir zu dem Schluß, daß gerade die Schutt- und Unkrautflora – trotzdem ihre Mitglieder sich so breit machen und damit den Anschein erwecken, als ob ihnen das Gebiet erb- und eigenthümlich gehöre – wie etwa die Melden, die Gänsefuß-, die Mohnarten, die Kornblumen und Kornraden den Stempel fremdländischer Herkunft an sich tragen. Die Zeit der Einwanderung dieser Pflanzen ist in vielen Fällen gewiß eine sehr entfernte – hat man doch einen großen Theil unserer Unkräuter schon aus der Steinzeit constatirt! Auch die Bewohner der Pfahlbauten sahen ihre Getreide- und Leinfelder mit Kornblumen untermischt, deren Samen ihnen zugleich mit denen der Culturpflanzen zugekommen sein mögen.

Von diesen Pflanzen, von denen wir nicht einmal die Zeit der Einwanderung anzugeben vermögen, läßt sich natürlich nicht sagen, auf welche Weise sie ihre Wanderungen vollführt haben – eine Vorstellung von derselben können indessen historisch nachweisbare Vorgänge geben, durch welche zumeist neuerdings unsere Flora bereichert worden ist, wenn auch wieder manche dieser Vorgänge als Ausflüsse des modernen Lebens nicht aus jene entfernten Zeiten der Einwanderung passen können.

Einen sehr großen Theil der jetzt einen Bestandtheil unserer Flora ausmachenden und neuerdings uns zugekommenen fremden Elemente verdanken wir der Verwilderung aus den Culturen. Der Mensch cultivirt Pflanzen zu Nährzwecken, er baut Arzneipflanzen, Gewürzpflanzen, in den Gärten Zierpflanzen, für sein Vieh Futterpflanzen und eine große Zahl von Arten zu technischen und wissenschaftlichen Zwecken, er begrenzt seine Felder durch Heckenpflanzen, er befestigt Ufer, Abhänge und Flugsand durch Pflanzen – kurz, es sind der menschlichen Zwecke bei den Culturen viele, und die Zahl der cultivirten fremden Arten ist eine sehr große. Enthielt doch der botanische Garten zu Berlin im Jahre 1878 nicht weniger als 17,000 verschiedene Pflanzen!

Außerdem gelangt eine bedeutende Menge fremdländischer Pflanzenarten durch unbeabsichtigte Verschleppung seitens des Menschen in’s Land.

Die moderne Landwirthschaft cultivirt nicht allein die schon von den älteren Generationen überkommenen Gewächse, sondern sie nimmt auch neue Pflanzenarten in Cultur, die erst aus fremden Ländern zu uns eingeführt werden müssen. So pflanzt der Bauer der norddeutschen Tiefebene für sein Vieh als Grünfutter mehrere fremde Kleearten, die aus Süd-Europa stammenden Lupinen, seit mehreren Jahrzehnten auch mit Erfolg die in Spanien und Portugal heimische Sorradella, wie auf Kalkboden gern die aus Mitteldeutschland uns zugeführte Esparsette. Mit den aus den Heimathländern importirten Samen dieser Culturpflanzen gelangen auf unsere Felder auch die Samen der Unkräuter jener Länder.

Mit Sorradellasamen wurden so als Unkräuter etwa zwanzig südeuropäische Arten auf unsere Felder gebracht, welche indessen - zum Trost für den Landbebauer und zum Bedauern des Pflanzensammlers - die natürlichen Bedingungen in unserer nordländischen Heimath zu ungünstig finden, um sich hier länger als wenige Jahre zu halten.

Eine noch fremdartigere Flora, weil aus anderen Erdtheilen stammend, führt uns die zur Verschleppung von Samen so recht geeignete importirte rohe Thierwolle zu. Dieselbe wird in unseren Manufacturen von anhaftenden Verunreinigungen, wozu Pflanzentheile, wie Früchte und Samen, einen namhaften Beitrag liefern, befreit, gewaschen und weiter verarbeitet. Die Abfälle aber nebst den Verunreinigungen kommen auf die Felder und Schuttplätze. Auf solche Weise gelangten ganz neuerdings nicht weniger als zehn verschiedene Arten der einen Gattung Schneckenklee (Medicago) - deren Früchte als spiralig aufgerollte Hülsen, häufig außerdem mit Stacheln versehen, leicht anhaften - aus Amerika und Afrika in die Umgebung von Berlin und einiger märkischer Maunfacturstädte.

Indessen will die Zahl unserer durch Wolle eingeführten fremden Pflanzen herzlich wenig bedeuten gegen die an anderen Orten beobachtete ähnliche Verschleppung, wie etwa in mehreren Häfen Südfrankreichs, wo die auf selbe Weise in’s Land gelangten ausländischen Arten nach Hunderten zählen und schon seit mehreren Jahrzehnten die Aufmerksamkeit der französischen Botaniker auf sich lenken.

Es giebt der Arten der Verschleppung noch gar viele, wie es ja auch die Verschiedenheit der Transportgüter, Mittel und Wege nicht anders erwarten läßt. Die Hauptorte des Verkehrs sind immer zugleich die Sammelstellen für verschleppte Arten; die Güterbahnhöfe großer Städte und die Abladestellen in den Häfen wird man nach fremden Einwanderern nicht vergeblich durchsuchen.

Wir wissen von zum Theil recht merkwürdigen Verschleppungen, wie von solchen südamerikanischer Arten durch Guano, ungarischer und südrussischer durch Pferde und Borstenvieh.

Als bemerkenswerth mag hier auch einer unser Land allerdings nicht direct berührenden Art der Verschleppung Erwähnung getan werden, nämlich der durch Vermittelung der Kriege. Eine sehr große Anzahl von fremden Pflanzen wurde im Sommer 1871 und in den folgenden Jahren in Frankreich an verschiedenen Stellen beobachtet, wohin die Samen derselben durch Futtervorräthe, die von den Franzosen besonders aus Nord-Afrika bezogen wurden, gelangt waren. Im Gefolge der deutschen Armeen ist nur eine sehr geringe Zahl von unseren Pflanzen in das Nachbarland verschleppt worden.

Eine andere, allerdings nur wenig in’s Gewicht fallende Ursache der Einführung neuer Pflanzen in unser Gebiet ist deren absichtliche Aussamung seitens der Botaniker, in der Hoffnung, mittelst derselben der heimischen Flora neue Bestandteile zuzuführen.

Um nun zum Schluß unsern Lesern ein Beispiel zu geben von der Wichtigkeit des Menschen für die Einführung neuer Arten, sowie von der strengen Auslese, die der Botaniker in Betreff der Einbürgerung abhält, und endlich von der Beteiligung der verschiedenen Erdstriche an der Zuführung der fremden eingebürgerten Arten, sei es uns gestattet, einige Zahlen mitzutheilen, die wir neuerlich für das Florengebiet der Mark Brandenburg festgestellt haben.

Von 460 Pflanzenarten, die dem obigen Gebiet als fremde Elemente durch menschliche Thätigkeit zugeführt worden sind und die nicht der ausschließlichen directen und beabsichtigten Cultur augehören, sind nur 50 eingebürgerte zu nennen, von denen dem Gebiet durch Verwilderung 33, durch Verschleppung 13, durch beabsichtigle Aussaat 2 und vielleicht 2 durch freiwillige Einwanderung zugekommen sind. Unter diesen 50 Arten haben ihre Heimat in Deutschland (außerhalb der Mark) 17, in Südost-Europa 3, in Süd-Europa 7, in Asien 3, in Amerika 10 und zwar 9 von diesen in Nord-Amerika.

Doch sind nun alle diese aus so verschiedene Art und Weise uns zukommenden fremden Gewächse eine Bereicherung für unsere heimische Flora?

Der Laie wird diese Frage anstandslos bejahen, anders indessen der Fachbotaniker, der unter den verschiedenen Elementen eine gar strenge Auswahl trifft. Ihm gilt als Bestandteil seiner Flora eine fremdländische Art nicht, wenn sie nur vorübergehend in seinem Gebiet auftritt, oder wenn sie sich in demselben nur in unmittelbarer oder mittelbarer Pflege des Menschen erhält.

[568] Die eingebürgerte fremde Art soll ihm vollständig das Aussehen einer wilden einheimischen Pflanze gewähren. Er will sie, wenn er ihre Geschichte nicht kennt, für eine seit nicht mehr nachweisbaren Zeiten seiner Flora zugehörige halten müssen; sie muss ihm die höchste Wahrscheinlichkeit bieten, daß sie aus seinem Gebiet nicht wieder verschwinden wird, zu welchem Zwecke sie eine gewisse Ausbreitung erlangt haben und in vollkommen hinreichender Anzahl vorhanden sein muss, sodaß sie nicht durch locale Veränderung des Standorts oder durch abweichende klimatische Einflüsse der Vernichtung völlig preisgegeben ist.

Dr. R. Büttner.




In der Volks-Kaffeeschenke.

Wer eine jener neuen Schenken (vergl. Jahrg, 1882, S. 279) kennen zu lernen wünscht, in denen man sich nicht betrinken kann, der braucht jetzt nicht mehr nach England zu reisen. Auch in Deutschland sind sie schon an mehreren Orten zu finden, z. B. in Bremen. Wollen wir dem dortigen „Volks-Kaffeehause“ einen Besuch abstatten?

Es nimmt sich schon von außen recht stattlich und einladend aus. Man hat dafür in der westlichen Vorstadt, wo die meisten Fabrikarbeiter beschäftigt sind und wohnen, eine Ecke gewählt, welche die Hauptstraße der Gegend mit einem der betretensten Wege zwischen den Fabriken und den Wohnquartieren bildet. Ringsum liegt es frei. Ein Siechenhaus, eine Anstalt zur Ausbildung von Kranken-Pflegerinnen und ein großes Volksschulgebäude machen seine Nachbarschaft aus. Aus dunkelrothen Backsteinen mit heller Sandsteineinfassung neu gebaut, ist es nicht das mindest hübsche unter diesen öffentlichen Gebäuden. In dem kleinen Vorgarten stehen für die gute Jahreszeit Tische und Bänke, auf denen man im Freien seine Erfrischung zu sich nehmen und die Wagen der Pferdebahn vorüberfahren sehen kann, eine noch junge und deshalb sehr beliebte Augenweide in diesem Stadttheil, dessen Bevölkerung nicht durch Ferienreisen und Sommerfrischen verwöhnt ist.

Wir treten in’s Innere des Hauses und finden rechts den Schenkenraum. Die feinste Dame braucht sich nicht zu scheuen, hineinzugehen und an einem der Tische sich niederzulassen. Auf der andern Seite aber ist die Sauberkeit auch sein größter Luxus, sodaß der schlichte Arbeiter sich hier nicht unbehaglich fühlen wird, falls er nur selbst vorher sich von den Spuren seiner Beschäftigung gereinigt hat. Es kommt trotzdem noch vor, daß Männer oder junge Leute dieser Classe, für die die Schenke doch eigentlich bestimmt ist, in der Thür zurückschrecken und Miene machen, gleich wieder davonzugehen. Entweder fällt ihnen dann ein zu großer Unterschied des Locals von den gewohnten dumpfen, verräucherten und schlecht ausgestatteten Branntweinkneipen oder Bierhallen auf, oder sie gewahren an einem Tische Leute, in deren Gesellschaft zu sitzen und etwas zu verzehren sie nicht gewohnt sind.

Dann aber eilt der wachsame Wirth hinter ihnen her. Er will keinen Gast wieder verlieren, der einmal die Schwelle übertreten hat. Mit einer gemütlichen Begrüßung, einem Scherze oder ein paar Worten zur Zerstreuung des störenden Eindrucks veranlaßt er sie, vollends hineinzukommen und Platz zu nehmen. Es däucht ihm geradezu eine der Aufgaben des Volks-Kaffeehauses, eine heilsame gesellige Mischung der Stände zu befördern. In Mittel- und Süddeutschland, vom europäischen Süden zu schweigen, ist diese sociale Ausgleichung ja längst erfolgt. Im Norden befördert und durchgeführt, würde sie viel unsinnigen Classenhaß im Keime ersticken und gegenseitige Beziehungen herstellen oder erleichtern, welche noch unmittelbar daraus hinwirkten, die verhängnißvolle Kluft zwischen Reich und Arm auszufüllen.

Aber was ersetzt denn in diesen Schenken den Schnaps? Das ist doch wohl die Hauptsache!

Die Hauptsache vielleicht nicht so sehr, wie Nichtkenner und Verächter der niederen Stände denken mögen. In dem trinkbaren Branntwein steckt gewiß eine starke, verführerische Anziehungskraft, aber das Einzige, was in die Schenke lockt, ist er doch bei Weitem nicht. Noch stärker zieht dahin das Bedürfniß der Unterhaltung mit Seinesgleichen, und Viele, leider, treibt von Hause weg, was sie da zu der abendlichen Ruhe in den Kauf nehmen müssen. Wie viele Arbeiterfrauen entbehren der Kunst oder auch nach aufreibendem Tagewerke der erforderlichen Kraft, ihrem Manne die Häuslichkeit angenehm und erquicklich zu machen!

In wie manchen Wohnungen dieser bedrängten Menschenclasse fehlt es dafür selbst an dem unentbehrlichen Raume! Deshalb ist die Schenke mit ihrer Wärme, ihrem Licht, ihrer Einrichtung auf unterhaltendes Gespräch anziehender als das Getränk, das in ihr geboten wird, es sei denn für diejenigen, welche dem Dämon im Alkohol, der gefährlich umstimmenden Wirkung dieses süßen Giftes, bereits verfallen sind. Alle übrigen Arbeiter, und das sind sicher die meisten, sehnen sich am Feierabend mehr nach einem solchen Aufenthalt, als nach einer bestimmten Flüssigkeit für ihren Durst. Es ist mithin möglich, den Schnaps durch ein anderes Getränk zu ersetzen. Das hat sich ja schon an der Ausdehnung des Biergenusses auf Kosten des Branntweintrinkens gezeigt. Unzweifelhaft ist dies ein Vorgang, dessen wir uns freuen dürfen, denn Bier führt, auch wenn es im Uebermaß getrunken wird, nicht entfernt so rasch und unaufhaltsam abwärts wie Branntwein. Ganz ohne Bedenken ist es indessen doch auch nicht; und die Unternehmer der Volks-Kaffeehäuser in Bremen sind deswegen willens, es in ihren Schenken nicht zuzulassen. Ohnehin ist an Bierhallen ja nirgends Mangel.

Das Getränkverzeichniß, welches in dem Kaffeehause an der Nordstraße ausgehängt ist, weist auf: ein Glas Milch, eine Tasse Kaffee oder Thee ohne Zucker für 5 Pfennig, eine Tasse Chocolade für 10 Pfennig.

So wenig wie in England der übliche Name Coffee Public House etwa beweist, daß dort mehr Kaffee gefordert würde, als das Nationalgetränk Thee, so wenig darf man glauben, in den Bremer Kaffeestuben werde meist Kaffee getrunken, Seitdem die Chocolade eingeführt ist, kommen drei bis dreieinhalb Tassen von dieser auf zwei Tassen Kaffee. Sie hat die Rentabilität des Unternehmens entschieden; noch nicht freilich in dem großen neuen Volks-Kaffeehause an der Nordstraße, das kaum ein Jahr im Betrieb ist, aber doch schon in seiner Vorläuferin, der kleinen Kaffeestube an der Langenstraße.

Es ging dort anfänglich, wie es jetzt in der größeren Kaffeeschenke geht: den Winter über ausgiebiger Besuch, im Sommer wenige Gäste, weil dann Abends und am Feiertage alles aus der Stadt hinaus in’s Freie trachtet. Aber wie diese Verflauung des Geschäfts in der alten kleinen Kaffeestube überwunden ist, indem dort nun auch während der schönen Jahreszeit immer noch rund fünftausend Gäste im Monat einkehren, so wird sie wohl auch in dem neuen Volks-Kaffeehause einem genügenden Besuche weichen, wenn nur erst die Vorurtheile geschwunden sind.

Neue Sitten und Gewohnheiten brauchen ihre Zeit, im Arbeiterstande so gut wie in höheren Schichten.

Eine Kaffeeschenke wird in der Regel ihr Leben damit zu beginnen haben, daß die Wirte und Stammgäste der umliegend den Schnapsschenken sie in Verruf thun. Aber sie stirbt an dieser wohlgemeinten Widmung von Haß und Verachtung nicht. Der Haß mag vorhalten, nämlich bei den anderen Wirthen; die Verachtung der Schenkenbesucher aber steht auf schwachen Füßen. Erst der Eine, dann der Andere wird aus Neugierde, oder weil ihm Zweifel an der Alleinberechtigung der Alkoholschenken aufdämmern, sich einmal hineinwagen, und dann wird bald ein Stammbesuch der Besten unter der umwohnenden Arbeiterschaft sich ausbilden, der keinen wirksamen Verruf auflommen läßt.

Sehr befördert werden kann diese Umstimmung, wenn die Inhaber einen Saal oder sonst ein geräumiges Zimmer für die Versammlungen der Arbeiterhülfscassen und ähnliche gemeinnützige Zwecke zu leicht erfüllbaren Bedingungen hergeben.

Kein Erfahrener wird, glaube ich, das Bremer Volks-Kaffeehaus ohne den Eindruck verlassen, daß diese Neuerung sich dort wie anderwärts durchsetzen wird. „Weg mit den Schenken!“ wäre ein törichter Ruf, aber „her mit Schenken ohne Alkohol!“ werden bald viele Tausende braver Arbeiter auch in Deutschland rufen.
A. Lammers.



[569]

Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Nr. 6. Der Schweizer Alpenclub auf der Ausstellung in Zürich.

Aus der glänzenden Ausstellung, welche an dem Ufer des Limmatflusses in Zürich das schweizerische Volk in diesem Jahre errichtet hat, greifen wir heute eine Abtheilung heraus, welche uns die Erzeugnisse einer den Bewohner des platten Landes nur wenig bekannten Thätigkeit vor Augen führt. Mitten unter den Fabrikanten, Landwirthen und Künstlern der Schweiz ist auch der Alpenclub erschienen, der sich die Aufgabe gestellt hat, die hohe Alpenregion dem Verkehr zu erschließen und sie wissenschaftlich zu erforschen. Sein zwanzigjähriges Wirken hat nicht nur für das engere Vaterland vielen Nutzen gestiftet, sondern muß auch von dem Strom der Touristen, der sich alljährlich in die Alpen ergießt, in hervorragender Weise anerkannt werden, es beansprucht entschieden ein allgemeineres Interesse, und hoffentlich werden auch die folgenden Angaben dem Leserkreis der „Gartenlaube“ nicht unwillkommen sein.

Ein Alpenführer.
Nach einer Photographie.

Seitdem 82 Söhne Albions unter Führung William Kennedy’s am 22. December 1857 in London den ersten „Alpine Club“ begründet hatten, ist bis auf den heutigen Tag die Zahl der Alpen- und Touristenvereine in Europa riesig gewachsen. Dentschland allein zählt gegen 40 solcher Vereine, die an der Erschließung, Erforschung und Verschönerung der heimischen Berge rastlos und mit vielem Erfolg arbeiten. Ja selbst nach Asien pflanzte sich diese Bewegung fort, denn die englischen Welttouristen haben vor Kurzem einen Himalayaclub gegründet. Frankeich, Oesterreich und Italien haben sich dieser für unsere wanderlustige Zeit so charakteristischen Bewegung gleichfalls angeschlossen.

Unter allen diesen Vereinen nimmt aber, was die Gediegenheit der Leistungen anbelangt, der Schweizer Alpenclub unbestritten den ersten Rang ein. Und das darf uns nicht wundern, denn die 35 Mann, welche an der von dem verstorbenen Dr. Simmler nach Bern am 19. April 1863 berufenen Gründungssitzung Theil nahmen, befanden sich von Anfang an in einer äußerst glücklichen Lage. Die Zusammensetzung der Schweiz aus verschiedenen Nationalitäten machte dem rasch aufblühenden Verein alle nationalen Sonderbestrebungen unmöglich und lenkte seine gesammte Kraft auf rein wissenschaftliche Forschung. Außerdem hat der rege Fremdenverkehr die Bevölkerung der Hochthäler schon frühzeitig zur Gründung zahlreicher Hotels, zur Anlage von Wegen und Straßen veranlaßt und auch zur Entwickelung eines selbstständigen Führerwesens vielfach angeregt.

Schwarzeckhütte und Finsteraarhorn.
Nach einer Photographie.

So mußte sich denn die Thätigkeit des schweizerischen Alpenclubs naturgemäß auf jene Hochgebirgsregionen richten, in welche nur der Tourist zu steigen pflegt und in welche ihm die private Speculation nicht mehr folgen kann. Hier aber kommen nur die Bedürfnisse abgehärteter Männer in Frage, und für diese genügen schon einfache Unterkunftshütten, in welchen sie übernachten oder vor dem einbrechenden Unwetter Schutz finden können. Unsere Abbildung zeigt dem Leser eine solche, die Schwarzeckhütte, eine Schöpfung der Section Oberland, welche am westlichen Fuße des Schreckhorns auf dem unteren Grindelwaldgletscher circa 2500 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Sie wurde 1877 errichtet, ist gut gebaut und unterhalten und bietet für acht Mann Raum. Die Hütte dient als Ausgangspunkt für Excursionen auf das Schreckhorn und über die Gletscherpässe Strahleck, Finsteraarjoch, Agassizjoch und Vischerjoch.

Seit der Alpenclub besteht, sind auf seine Kosten oder unter seiner Mitwirkung 30 Clubhütten in der oberen Alpenregion errichtet worden, welche die größte Zeit des Jahres hindurch unbenutzt bleiben und in denen der selten einkehrende Gast sich selbst bewirthen und mit einigen Bänken, Decken und wenigem Feuerungsmaterial zufrieden sein muß.

Außerdem war der Schweizer Alpenclub bemüht, das bereits von früher her in der Schweiz stark ausgebildete Führerwesen zu organisiren, und es ist ihm dies gelungen in einer Weise, welche ebenso den Touristen wie den Führern selbst zum Vortheil gereichte. So wurden in den verschiedenen Sectionen des Vereins Lehrcurse für Führer eingerichtet, und zahlreiche Unterstützungen Familien von Führern zugewandt, welche bei Ausübung ihres Berufes um’s Leben kamen. Vor Kurzem aber ist es dem Verein gelungen, eine Führer-Versicherung in’s Leben zu rufen, welche die Gesellschaft Zürich übernahm und wobei der Alpenclub ein Fünftel bis ein Viertel der Assecuranzprämie zahlt.

Auf unserer heutigen Abbildung sehen die Leser einen Alpenführer in lebenstreuer Darstellung, mit seiner einfachen aus Bergstock und Gletscherseil bestehenden Ausrüstung. An diesem Seile hängt oft das Leben des Führers und der ihm anvertrauten Bergsteiger, und darum muß es mit besonderer Sorgfalt auf seine Festigkeit geprüft werden. In der Regel giebt man den von Manillahanf gefertigten Seilen für touristische Zwecke den Vorzug. Ein solches Seil von etwa 15 Meter Länge wiegt 1,8 Kilogramm und reicht zum Anseilen von vier Personen. Für größere Touren braucht man dagegen Seile von 30 Meter Länge, welche ein Gewicht von 2,10 Kilogramm haben. Die meisten Führer in den Alpen sind heutzutage nur mit kürzeren Hanfseilen ausgerüstet, welche für kleinere Partien vollkommen genügen.

Der Bergstock des Führers, auch Pickel genannt, ist etwas kürzer als die gewöhnlich von den Touristen gebrauchten Bergstöcke, und hat ungefähr 1 Meter Länge. Unten läuft derselbe in eine scharfe Spitze aus, am oberen Ende hat er ein querliegendes Eisen, welches an dem einen Ende spitz, an dem andern aber breit ist, welche Theile danach die Namen Spitzhaue und breite Haue erhalten haben. Es mißt etwa 30, höchstens 33 Centimeter.

Wer aber bei Betrachtung dieser und anderer Gegenstände, als da sind: Touristenkleidung, Bergschuhe, Schneereifen, Schneebrillen etc., meinen wollte, daß der Club eigentlich nur den Sport des Bergsteigens fördert, von dem die Welt wenig Nutzen hat, den belehrt ein Blick auf den wissenschaftlichen Theil dieser Ausstellung eines Besseren. Da finden wir zunächst eine große Anzahl von Abbildungen und Landkarten, für welche wissenschaftliche Autoritäten dem Verein den größten Dank wissen und die unter Anderem auch auf der geographischen Ausstellung in Venedig im Jahre 1881 durch das Ehrendiplom erster Classe ausgezeichnet wurden. Anerkennenswerth sind auch die Bemühungen des [570] Vereins zum Zwecke der Anlegung einer Karte über das erratische Gestein und seine Anstrengungen, um diejenigen erratischen Blöcke zu schützen, welche ein besonderes Interesse darbieten. Auch die Errichtung des Observatoriums auf dem Säntis ist sein Werk.

So hat denn auch der Verein im Laufe der Jahre für wissenschaftliche Zwecke viele Tausende ausgegeben, und es ist nur zu wünschen, daß seine Mitgliederzahl stets wachse und ihm die Möglichkeit geboten werde, auf der einmal betretenen Bahn vorwärts zu schreiten.

Eine ausführliche Schilderung seiner Thätigkeit lag uns durchaus fern, wir beabsichtigen durch diese Zeilen nur, unseren Lesern einen flüchtigen Einblick in ein Treiben der Gegenwart zu ermöglichen, welches in früheren Zeiten durchaus unbekannt war, und müssen Alle, die sich dafür besonders interessiren, auf die sehr stattliche Fachliteratur verweisen, welche auf Kosten der Alpen- und Touristenvereine jahraus jahrein in Hunderten von Zeit- und Flugschriften im Buchhandel erscheint.




Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten.[1]

Von Udo Brachvogel. Mit Illustrationen von Rudolf Cronau.
III.
Die Geschichte des Nationalparks des Yellowstone. – Entdeckung und Erforschung des Wunderlandes. – Seine Constituirung als Volksdomäne. – Der Yellowstonesee. – Das Grand Cañon. – Die Fälle des Yellowstone. – Tower Creek, East Fork und Gardinerfluß.

Das weiße Miniaturgebirge der „Mammuth-Thermen“ war das erste der in dem heutigen Nationalpark des Yellowstone angesammelten wasservulcanischen Wunder, welches von den kaukasischen Entdeckern und Pionieren dieser Region erblickt wurde. Der Weg, den wir zu seiner Erreichung eingeschlagen (vergl. Nr. 23), der von Norden her, war auch der ihrige gewesen. Sie kamen von Montana, und zwar aus den Golddistricten des von den Felsengebirgen durchzogenen westlichen Montana, welches längst eine von der pacifischen Küste aus überkommene Minenbesiedelung besaß, während die östlichen zwei Drittel des riesigen Territoriums noch für ein Jahrzehnt und mehr der Jagd- und Kriegsgrund der jetzt auf Bundesreservationen beschränkten Sioux sein sollte.

Wer aber waren diese ersten weißen Entdecker der „Mammuth-Thermen“, oder wie sie von ihnen in durchaus bezeichnender Weise genannt wurden, der White Mountain Hot Springs, der „Heißen Quellen des Weißen Berges“ und damit des Yellowstone Wunderlandes überhaupt? Obgleich es keinem Zweifel unterliegen kann, daß schon Lewis und Clark auf ihrem großen nordwestlichen Entdeckerzuge im Anfang dieses Jahrhunderts, welchem man die Kenntniß der Stromsysteme des Missouri und des Columbia zu danken hatte, auch das Quellengebiet des Yellowstone berührt haben, so sind ihre Berichte doch in Betreff der merkwürdigen Dinge, welche demselben neuerdings seine Weltberühmtheit eingetragen haben, so gut wie stumm.

Die ersten Nachrichten darüber, welche nach etwas Anderem klangen, als nach Indianergefabel und Trappermärchen, gelangten 1856 zu den Ohren des Vereinigten Staaten Generals Warren, welcher ein Militärcommando in jenen damals noch völlig weltentlegenen Grenzländern führte. Die Sache erschien der höchsten Beachtung werth, und der General legte noch im selben Jahr der Bundesregierung den Plan einer officiellen Erforschung des im Herzen der Felsengebirge liegenden Hochthales vor, welches nicht nur in höchsten Höhen liegende Bergseen, mächtige Wasserfälle und ungeheure Cañons[2], sondern auch siedende Teiche, kochende Riesenspringquellen und brennende Ebenen umschließen sollte.

Die Ungläubigkeit jedoch, auf welche die große Neuigkeit in Washington stieß, vereitelte die Ausführung des Planes für die nächste Zeit, bis ihn der bald darnach ausbrechende große Bürgerkrieg vollends in Vergessenheit zurückdrängte. Und so blieb denn die thatsächliche Entdeckung des wunderstrotzenden Landes zwei Privatleuten, den unternehmenden Montanaer Pionieren Cook und Folsom, vorbehalten, welche im Sommer 1869 von Norden aus dahin vordrangen und so bestimmte Nachrichten über die von ihnen geschauten Naturmirakel und Naturmysterien zurückbrachten, daß die Regierung nicht umhin konnte, sich des alten Warren’schen Projects zu erinnern und die Yellowstone Angelegenheit sofort in ihre eigene Hand zu nehmen.

Schon im nächsten Frühjahr erfolgte in ihrem Auftrage die erste Exploration des geheimnißreichen Gebiets durch den Generalvermesser des Territoriums Montana, Washburne, welcher die Berichte Cook’s und Folsom’s in mehr als vollstem Umfange bestätigte. Hieran endlich schloß sich im Jahre 1871 die große Regierungsexpedition unter Leitung des schon damals als Felsengebirgserforscher bewährten Bundesgeologen, Professor F. W. Hayden, welche als die eigentliche Erschließung und Eroberung des Yellowstone-Quelllandes zu bezeichnen ist.

Die Ergebnisse der Expedition waren die denkbar glänzendsten und übertrafen selbst die phantastischsten Erwartungen. Vollends gekrönt aber wurde sie durch den Erfolg, welchen der amtliche Bericht Professor Hayden’s in Washington hatte: durch die wahrhaft hochsinnige Congreßacte vom 2. März 1872, welche auf diesen Bericht hin jenes mit Schönheiten und Merkwürdigkeiten so einziger Art übersäete Gebiet in einer sich zwischen 44° und 45° nördlicher Breite und 110° und 111° westlicher Länge erstreckenden Ausdehnung unter dem Namen eines Nationalpark des Yellowstone als „ein der amerikanischen Nation für alle Zeiten zu Vergnügungs-, Erholungs- und Gesundheitszwecken vorzubehaltendes und in diesem Sinne von der Bundesregierung selbst zu verwaltendes Volkseigenthum“ reservirte.

Seitdem gehört das Yellowstone-Gebiet thatsächlich der Nation, wenigstens in Beschreibungen, Schilderungen und Abbildungen aller Art.

Um sich in Gestalt allsommerlicher Vökerwanderungen auch thatsächlich in den Genuß seiner Herrlichkeiten zu setzen, harrt die amerikanische Nation freilich noch des Zeitpunkts, da die Nord-Pacificbahn ihre große Mission im Nordwesten der Vereinigten Staaten auch soweit ausgeführt, den heute noch außerhalb jedes geregelten Verkehrs liegenden Nationalpark mit der nächsten Station ihres eisernen Ueberlandweges, Bozeman in Montana, durch eine Zweiglinie verbunden haben wird. Erfreulicher Weise ist das lediglich eine Frage verhältnißmäßig kürzester Zeit, und hoffentlich wird sich dann auch von der Regierung sagen lassen, daß sie inzwischen gleichfalls das Ihrige gethan haben wird, um das einstweilen noch der primitivsten Verkehrsanlagen entbehrende und nur mit Hülfe eigener Reise- und Lagerausrüstungen zu erreichende und zu bereisende Hochgebirgsasyl des Nationalparks jenes vollkommnen Wildnißcharakters zu entkleiden, in welchem es bis zu dieser Stunde nur solchen Touristen zugänglich war, denen es in ihrem Verlangen nach seinen Wundern selbst auf eine kleine Afrika- oder Australienexpedition nicht ankam.

Wie die 3575 englische Quadratmeilen[3] messende Volksdomäne vor dem bei den Mammuth-Thermen ihre Nordgrenze überschreitenden Yellowstone-Fahrer daliegt, sondert sie sich, wie von selbst, zu ziemlich gleichen Hälften in einen östlichen und einen westlichen Wunderbezirk. Beiden gemeinsam ist, wie schon der grandiosen Mammuth-Thermen-Ouverture, die auf Schritt und Tritt souverain zu Tage tretende Herrschaft der wildesten vulcanischen Schöpfungsgewalten und, im holdesten Widerspruch dazu, das Waldwachsthum, welches, im übrigen Großen Westen der Prairien und der Felsengebirge so gut wie ein vollkommener Fremdling, hier plötzlich in einer Fülle und Allgegenwärtigkeit auftritt, als habe sich’s die Natur zur Aufgabe gemacht, in diesem Alpenheiligthum neben all ihrem Barocksten und Großartigsten auch nicht eine ihrer Lieblichkeiten fehlen zu lassen.

Und ferner ist es beiden Hälften gemeinsam, daß ein Paar [571] der herrlichsten Gebirgsströme – in der östlichen der Yellowstone selbst, in der westlichen der als Quellarm dem Missouri zuströmende Madison – gewissermaßen den schimmernden Faden bilden, an dem die einzelnen Naturwunderperlen dieses Zauberlandes aufgereiht sind.

Auch eine sichtbare Gebirgsscheide besteht zwischen diesen beiden Parkregionen. Sie erstreckt sich, dem Lauf des Yellowstoneflusses aufwärts folgend, über den 10,600 Fuß hohen Mount Washburne bis zu dem fast ebenso hohen „Elephantenrücken“ im Nordwesten des hier den Fluß entsendenden Yellowstonesees, um sich dann um diesen letzteren herum noch weiter südlich bis zu dem 9800 Fuß messenden Flat Mountain zu schwingen. Ihr gegenüber aber, auf dem Ostufer, erhebt sich eine Gruppe kaum weniger hoher Pics – Mount Langford, Mount Doane, Mount Stevenson – welche den bereits in der Höhe des Rigigipfels liegenden Seespiegel auf allen Seiten mit einer wolkenentrückten, firnenschimmernden Alpeneinfassung umgeben.

7427 Fuß über der Meeresfläche liegend und in seiner von einem unregelmäßig gezackten Maulbeerblatt entlehnten, wechselvollen Gestalt einen Flächenraum von nahezu 400 englischen Quadratmeilen bedeckend, ist der Yellowstonesee von dem halben Dutzend Alpenseen, welche wie krystallene Kleinode über das Wald-, Wiesen- und Bergland des Nationalparks ausgestreut sind, nicht nur der weitaus größte, sondern auch sicherlich einer der schönsten Hochgebirgsseen der Erde.

Und aus diesem 300 und mehr Fuß tiefen, vom ewigen Schnee der umliegenden Bergriesen genährten Fluthenreservoir fließt der Yellowstonefluß majestätisch zu Thal. Ruhig und gemessen strömt er krystallklar und eisigfrisch während der ersten zwölf Meilen seines Laufes durch einen natürlichen Hochpark dahin, welcher im Frühling und Sommer den üppigsten Gras- und Pflanzenwuchs entfaltet, und dem man es in diesem Vegetationsschmuck um so weniger ansehen würde, daß er sich über einem ununterbrochenen Reich vulcanischen Lebens dahindehnt, bräche nicht dasselbe auch hier in der Gestalt unzähliger heißer Quellen auf Schritt und Tritt an die Oberwelt.

Am See wie am Flusse, ja an mehr als einer Stelle bis in das eiskalte Bereich des ersteren selbst hinein, kochen, brauen und qualmen diese Wasser- und Schlammvulcane. Bald sieden sie, winzigen, oft kaum handgroßen Wasserspringteufeln gleich, unmittelbar aus dem Boden heraus; bald erscheinen sie in der großartigeren Gestalt von dampfenden Teichen und Becken mit jenen magischen Azurfluthen und kaleidoskopisch-bunten Niederschlägen, die wir schon bei den Mammuth-Thermen bewundert haben; bald kochen sie in fußhohen Kraterkegeln eigenen Aufbaues empor, in denen sie hier und da sogar die flachen Uferwasser des Sees durchbrechen und über ihre Umrandung hinweg glühende Sturzwellen in das eiskalte Element umher entsenden. Indessen nicht das heiße Gequell des Innern der Erde, sondern der schönste und frischeste aller Hochlandströme ihrer Oberfläche ist der gebietende Held des grandiosen Naturdramas, das sich hier vor uns entrollt.

Die Fälle des Yellowstone und das Grand Cañon! Es ist ein zweimaliger Sturz, den der junge Stromriese vollführen muß, um in die Abgrundtiefen des ersten und ungeheuerlichsten jener vier Cañons zu gelangen, in denen er sich auf einer Laufstrecke von nahezu achtzig Meilen quer durch die ehernen Rippen der Felsengebirge den Weg in die offenen Plains von Montana erzwingt. Den Namen des „Grand Cañon“ hat man diesem Schlunde zum Unterschiede von den drei übrigen Yellowstoneschluchten beigelegt, deren zwei letzte bereits jenseits der Nordgrenze des Nationalparks liegen. Aber wenn es hier auch das einzige Naturgebilde seiner Art wäre, hier oder in sonst einem andern Gebirge der Welt – der Name des „Großen“ wäre ihm doch zugefallen.

Fünfzehn Meilen lang klafft die Schlucht in die Erde hinein, zwischen jäh abstürzenden, von Klippen und Zacken starrenden Wänden, deren Höhe zwischen 1000 und 1800 Fuß wechselt. In der Tiefe aber, wo diese gelb- und rothleuchtenden, hier und da in geradezu unheimlichem Contraste von trotzenden, schwarzen Basaltsäulen und Gesimsen durchbrochenen und getragenen Wandungen spitzwinklig zusammenstoßen, rast der gestürzte Fluß. Wer schwindelfrei genug ist, von einer der scharfen Kanten des Absturzes aus einen Blick in die Tiefe hinunterzuwerfen, vermeint auf dem Grunde eine blaugrün schillernde Silberschlange dahinschießen und zischen zu sehen. Mehr jedoch, als den Blick hinunterzusenden, ist auch dem Schwindelfreiesten nicht gestattet. Selbst nur ein Stück des Absturzes hinabzuklimmen, ist einstweilen kaum unter den größten Schwierigkeiten und auch unter ihnen nur an einzelnen Stellen möglich, obschon versichert wird, daß gleich im Beginne des Schlundes ein Kletterpfad existire, auf dem man unter Zuhülfenahme von Gemsensehnen im Stande sei, sich die ganze Cañonwand hinabzuarbeiten und aus nächster Nähe zu schauen, „was sich birgt auf des Schlundes tiefunterstem Grunde“.

Wer einst diesen Pfad gefunden, hat wohl ein Recht, auf die Unbeirrbarkeit seiner Nerven, die Unfehlbarkeit seiner Muskeln zu trotzen. Und wer ihm nachwandelt, kaum minder. Ist es doch noch keineswegs für ihn damit gethan, daß er nur die Tiefe selbst erreicht. Dort beginnt für ihn der Kampf um einen festen Halt für Fuß und Hand erst recht, dort hat er sich des selber zerschmetterten und darum alles in seinen Bereich Kommende seinerseits wieder zerschmetternden Wildstroms zu erwehren. Nur an die Zacken des unmittelbaren Wasserrandes festgeklammert, oder auf einem der Steinblöcke im Fluß selber Fuß fassend, mag er nach der Oberwelt zurückblicken – denn ein Pfad, ein Uferrand, ein Rastfleck neben diesem rasenden Acheron ist nirgends gelassen. Nichts herrscht dort unten, als er!

Aber er hat auch seinen Preis für diese Herrschaft zu zahlen gehabt. Ein Fluthen-Phaëthon mußte er hinunterstürzen in die grausige Tiefe, damit sie Niemandem gehöre, als ihm, hinunterstürzen in die Nacht des Abgrundes aus den Sonnenregionen des Wald- und Wiesen-Hochthals, welches der krystallgeborene Seesprößling bis dahin durchflossen. Und nicht einmal ein einfaches Phaëthon-Schicksal war dazu hinreichend. Ein zwiefacher Sturz war nöthig, um diese Niederfahrt in die Unterwelt zu vollführen. Kaum eine Meile von einander entfernt liegen die beiden Wasserfälle und sind durch eine sich immer mehr vertiefende Schlucht verbunden, in welcher der Fluß als ununterbrochene Stromschnelle abwärts schäumt, der obere hat eine Höhe von 150 Fuß und der untere, in das Grand Cañon herabstürzende eine solche von 350 Fuß. Nur das Doppelmeer des Niagara-Sturzes übertrifft an Masse des Wassers diese Fälle. An Höhe erreicht selbst er den unteren kaum zur Hälfte. Weithin hallt der Donner der niedertobenden Fluthen. Ein stetes Schleiergewölk steigt, die eigentlichen Geheimnisse des Sturzes verhüllend, aus der Tiefe empor. Seine Feuchtigkeit wird einer üppigen Sommer-Vegetation an den Basalt- und Sandsteinwänden umher zum Lebenselement und wölbt, wenn der Sonnenglanz auf sie niederstrahlt, des Regenbogens Friedensbrücke über all den Vernichtungskrieg der gähnenden Tiefe. Dazu grüßt aus der Höhe ein durch zwei Drittel des Jahres in ungetrübter Bläue strahlender Himmel, von den Rändern des grimmen Schlundes selber aber ein compacter Waldwuchs hernieder, der nicht nur wie ein gigantischer Moosteppich über die schärfsten Kanten quillt, sondern vereinzelte Tannen-Vorposten nach der Tiefe entsendet, wo eben nur die gelben und rothen Geröll-Abstürze einen Platz zum Wurzelfassen gewähren.

Fünfzehn Meilen nach Norden erstreckt sich das Grand Cañon – je weiter von den Fällen fort, um so tiefer, um so mehr seine oberen Ränder einander nähernd, um so schauriger. Ganz aber, als ob Dante Alighieri hier einst den Schatten des Virgil getroffen, um mit ihm die Reise in das furchtbare Reich der Unterwelt anzutreten, schiebt und drängt sich das aufstarrende Felsengemäuer und Klippengezack am Ende des Cañons zusammen, dort, wo dem Yellowstone von Westen her der Wildbach des Tower Creek[4] in Gestalt einer scheinbar aus der Mitte der linken Schluchtwand hervorschießenden Cascade von 150 Fuß Tiefe zuschäumt.

Die Seitenschlucht, in der dieses tolle Wildwasser, fast einen beständigen Fall bildend, aus den ewigen Schneespalten des Mount Washburne herniederjagt, hat ihrer Schauerlichkeit halber den infernalischen Namen „The devil’s denn“ („Des Teufels Spelunke“) erhalten. Um den letzten Wassersturz aber, in welchem sich der Tower-Bach nach dem Yellowstone hinunterschleudert, thürmt sich vulcanisches Gestein in Zinnen, säulenartigen Thürmchen, spitzigen Nadeln und sonstigen Formen von wahrhaft wunderbarer Phantastik auf. Ihr dunkles Zacken- und Rankenwerk drängt dem Beschauer unwillkürlich die Vorstellung auf, daß es der gothische Gestaltungsgedanke war, welcher der Natur vorschwebte,

[572]

Das „Grand Cañon“ des Yellowstone. 0Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[573] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [574] da ihre feurigen Gewalten dies Felsen- und Klippenwesen aus der Erde steigen ließen.

Ein anderer Nebenfluß, welchen einige Meilen weiterhin der hier zwischen zurücktretenderen Thalwänden einherfließende und für eine kurze Strecke breit und voll aufathmende Yellowstone aufnimmt, ist der East Fork. Inmitten eines ganzen Dampfhofstaates von Schwefelquellen, Schlammvulcanen und allerlei kleinerem Thermengelichter tanzt er aus den Bergketten hernieder, die sich im Osten des Nationalparks aufthürmen. Aber er vereinigt seine Wasser mit denen seines Hauptflusses nur, um bald darauf mit diesem gemeinsam in die Felsenenge des nächsten Cañons desselben zusammengepreßt zu werden. Neun Meilen hat sich der Fluß durch die einander oft Stirn an Stirn gegenüberstehenden Felsenwälle dieser zweiten Steilschlucht hindurchzuwaschen, um beim Austritt aus ihr nahezu 2500 Fuß tiefer als bei seinem Ausfluß aus dem See dahinzuströmen.

Und hier, beim Austritt des Yellowstone aus dem zweiten Cañon, ist es auch, wo der Gardiner-Fluß, den wir mit seinen klaren und kühlen Fluthen den Fuß des von tausend heißen Quellen durchkochten Mammuththermen-Berges bespülen sahen, in jenen hineinfällt und so eine Art lebendigen Bandes zwischen den vorwiegend landschaftlichen Wundern der östlichen, der eigentlichen Yellowstone-Region des Nationalparks und den rein vulcanischen Mirakeln seiner westlichen Hälfte herstellt. Die im Rüstzeug aller nur denkbaren Farben- und Formenzauber die Wacht am nördlichen Eingang zum Wunderland haltenden Mammuththermen kennen wir bereits.

Für den dreifachen Geysergürtel des Madison-Flusses und damit für das eigenste Reich, welches sich hier alle bösen und alle guten Geister des ewigen Feuers errichtet haben, müssen Zeichner und Schilderer auch Raum und Rahmen einer eigenen Skizze beanspruchen.




Festlied zur Sedanfeier.

Am 2. September auf dem Marktplatz in Leipzig gesungen.

      Die Eiche rauscht im Vaterlande,
Die Deutschen grüßen Schaar um Schaar
Germania im Festgewande,
Es schmücket Kranz um Kranz ihr Haar.

5
      Recht wie in hellen Liebesstürmen

Zieht unser Volk von Fest zu Fest,
Je finstrer sich die Wolken thürmen
Und Blitze drohn von Ost und West.

      Heil, daß der Volkesseele Regen

10
Im hohen Drang sich offenbart,

Des Geistes Rüstzeug anzulegen,
Das ihm die große Vorzeit wahrt:
      Die Ehrensäulen aufzurichten
Den Kämpfern jeder großen Zeit,

15
Ob sie das Wort des Glaubens Pflichten,

Ob sie das Schwert dem Recht geweiht.

      Wenn Heldenthum und deutscher Glaube
Dein festlich Auferstehen weihn,
Ist dein Symbol die Friedenstaube,

20
Du Siegs-Germania am Rhein!

      Weh, wer an unsern Thoren rüttelt,
Wo du zur Ruh das Schwert gekehrt!
Wenn dein Haupt seine Locken schüttelt,
So klirrt jedes deutsche Schwert.

25
      Die Eiche rauscht im Vaterlande,

Auch dir, du großes Siegesfest.
Nie drohe uns der Tag der Schande,
Wo dich das Volk sich rauben läßt!
      Es schalle noch von Enkelzungen

30
Der Dankesjubel uns zur Ehr’:

Die einst die Einheit uns errungen,
Sie waren auch der Freiheit Wehr’!

Friedrich Hofmann.




Dr. Martin Luther im „Bären“ zu Jena.

Eine historische Skizze von Fr. Helbig.

Am Tage der Fastnacht – dem 4. März – im Jahre des Heils 1522 zogen auf der großen Verkehrsstraße, die von Nürnberg gen Naumburg, Halle und Leipzig führte, zwei fahrende Studiosen einher, welche sich als abendliches Reiseziel die Stadt Jena ausgewählt hatten. Ein am Nachmittag eingefallenes Unwetter hatte die Wanderer genöthigt, unterwegs einen Unterschlupf zu suchen, und außerdem die Wege so aufgeweicht, daß das Fortkommen ein erschwertes war. In Folge dessen hatten die Jünglinge sich verspätet, und es war schon der Abend hereingebrochen, als sie das südliche Thor der Stadt, das Löbderthor, erreichten. In den bereits tief dämmernden Straßen herrschte indessen helles, fröhliches Leben. Vermummte zogen einzeln und in Haufen vorüber und trieben allerhand Kurzweil. Die Insassen der Häuser schauten neugierig aus den Erkern und Fenstern auf das Treiben hinab oder standen und saßen lachend und schäkernd unter den Rundbögen der Thoreingänge. Auch schrille Musik von Pfeifen und Trommeln oder aus dröhnenden Hörnern mehrte den brausenden Lärm. Die einwandernden Studenten waren indeß von dem langen und mühevollen Wege ermüdet und begehrten nach Herberge und Nachtruhe. Aber überall, wo sie in der Stadt darnach Umfrage hielten, ward ihnen eine abschlägige Auskunft zu Theil, und so standen sie jetzt rathlos an dem nördlichen Ausgange, in der Schloßgasse am sogenannten Pförtchen, entschlossen, die unwirthliche Stadt zu verlassen und auf einem der Dörfer außerhalb Nachtherberge zu suchen. Da trat aus dem Pförtchen ein ehrsamer Bürgersmann, der wohl in der inneren Stadt noch einen Nachttrunk zu nehmen begehrte, und frug sie, wohin sie noch so spät hinaus wollten. Sie würden vor Einbruch der Finsterniß sicher keinen Ort erreichen, und die Wege seien leicht zu fehlen. Er wolle ihnen daher rathen, allhier zu bleiben.

„Lieber Vater,“ entgegnete hierauf der Aelteste der Beiden, „wir sind in allen Wirthshäusern gewesen, allenthalben hat man uns abgewiesen und Herberge versagt, müssen also aus Noth fürbaß ziehn.“

Da meinte der Bürger, ob sie denn auch schon im Gasthause zum „Schwarzen Bären“ gewesen seien? Als sie dies verneinten, erbot er sich, ihnen dasselbe zu zeigen. Es läge ein wenig vor der Stadt, nur etwa hundert Schritt vor der Pforte.

Als sie nun dort ankamen, stand der behäbige Wirth unter der Thorfahrt und lüftete, als er die Ankömmlinge sah, freundlich grüßend seine Kappe. Auf ihre schüchterne Frage nach Labung und Unterkunft hieß er sie fröhlich willkommen und führte sie allsogleich in die Gaststube rechts von der Flur. Dort trafen sie bereits quer an der Wirthstafel einen Gast sitzen. Derselbe hatte vor sich ein Buch aufgeschlagen, in welches er sich lesend vertieft hatte. Gleichwohl war sein Aeußeres nicht das eines Gelehrten. Er trug Wamms und lange Hosen und auf dem Kopfe eine rothe Lederkappe, ganz nach Landesgewohnheit der Reitersleute. Die rechte Hand hielt er gestützt auf den Knopf eines kräftigen Schwertes, während er mit der linken das Heft umfaßte. Sein etwas breites Gesicht bedeckte ein dunkler Vollbart und unter den buschigen Augenbrauen blitzten ein Paar tiefschwarze große Augen hervor, „funkelnd wie die Sterne“, daß man sich schier scheuen mochte, in sie hineinzuschauen.

Die Anwesenheit des Fremden, der wohl ein Edelmann sein mochte, schüchterte die beiden jungen Gelehrten etwas ein. Zudem waren ihre Schuhe und Kleider von dem Straßenkothe gar arg befleckt, sodaß sie sich ihres Aufzugs schämten. Sie setzten sich deshalb abseits von dem Gasttische auf ein an der Wand befestigtes Bänkchen in der Nähe des großen grünen Kachelofens und studirten verlegen die Figuren der zwölf Apostel, welche in die Glasur eingebrannt waren. Der Fremde aber hieß sie alsbald sich zu ihm an den Tisch setzen und bot ihnen Bescheid aus der vor ihm stehenden Kanne. Das konnten sie ihm nicht wohl [575] abschlagen. Sie setzten sich also zu ihm und thaten ihm Bescheid, bestellten auch, um des Gegenbescheides willen, eine Kanne Wein, obwohl ihr Zehrgeld nicht darauf eingerichtet war.

„Ihr seid,“ sprach der Rittersmann dann weiter, „Schweizer?“ Er mochte das wohl aus der Mundart, welcher die Beiden sich bedient, schließen. „Woher seid Ihr aus dem Schweizerlande?“

„Von Sanct Gallen!“

„Und wollt –“

„Gen Wittenberg, um allda die heilige Schrift zu studiren.“

„Dort werdet Ihr gute Landsleute finden; den Doctor Hieronymus Schurf und seinen Bruder Doctor Augustin.“

„Wir haben Briefe an sie,“ fiel der Jüngere ein, der sich seither ziemlich schweigsam gehalten und dem Aelteren allein das Wort gegönnt hatte.

Im Scheine der hohen Zinnlampe, welche der Wirth jetzt auf den Tisch stellte, konnte man sehen, daß die Erscheinungen beider Jünglinge sich eigenthümlich gegenüberstanden. Der eine, um mehrere Jahre ältere war von brünetter Farbe, das Gesicht war blaß und ziemlich scharf geschnitten und von einem fast schon männlichen Gepräge; der andere, jüngere war blond, ein wahrer Johannes-Kopf, das Antlitz voll, frisch und rund, fast mädchenhaft. Jener getragen von einem frühzeitigen Ernste, dieser uns befangen und munter in die Welt schauend.

Der Erstere, dessen Wißbegier durch die räthselhafte Erscheinung des Fremden lebhaft angeregt schien, frug nach einer Weile weiter:

„Mein Herr, wisset Ihr uns nicht zu bescheiden, ob Martinus Luther jetzt zu Wittenberg, oder an welchem Orte er sonst sei?“

Darauf antwortete der Fremde mit verhaltenem Lächeln:

„Ich habe gewisse Kunde, daß der Luther jetzt nicht in Wittenberg ist; er wird aber bald dahin kommen.“

„Gott sei gelobt! Denn so Gott unser Leben fristet, wollen wir nicht ablassen, bis wir den Mann sehen und hören. Denn seinetwegen haben wir diese Fahrt unternommen, da wir vernehmen, daß er das Priesterthum sammt der Messe als einen ungegründeten Gottesdienst umstoßen will. Dieweil wir nun von Jugend auf von unseren Eltern dazu erzogen und bestimmt sind, Priester zu werden, wollen wir gern hören, was er uns für einen Unterricht geben will und mit welchem Fug er solchen Vorsatz zu Wege bringen wird.“

Der fremde Reitersmann schwieg auf diese Rede eine Weile, als ob er darüber nachdächte, dann fuhr er fort:

„Wo habt Ihr bis jetzt studirt?“

„In Basel.“

„Wie steht es zu Basel? Ist Erasmus Rotterdamus noch daselbst und was thut er?“

„Wir wissen nicht anders, als daß es dort wohl steht; auch ist Erasmus noch da, was er aber treibt, ist Jedermann unbekannt und verborgen, da er sich gar still und heimlich verhält.“

„Lieber,“ frug dann der Fremde weiter, „was hält man im Schweizerlande von dem Luther?“

„Mein Herr, es sind wie allenthalben mancherlei Meinungen. Manche können ihn nicht genugsam erheben und Gott danken, daß er seine Wahrheit durch ihn geoffenbart und die Irrthümer zu erkennen gegeben hat; manche aber verdammen ihn als einen verruchten Ketzer. Das sind vor Allem die Geistlichen.“

„Ich denk mir’s wohl, es sind die Pfaffen.“

Während dieser Reden hatte der Jüngere voll Neugier das Buch des Reitersmannes heimlich aufgeschlagen und dabei wahrgenommen, daß es ein hebräischer Psalter war. Dann klappte er es schnell wieder zu. Der Reiter aber, der den Dieb wahrgenommen haben mochte, steckte es zu sich und ging hinaus, um, wie er sagte, nach seinem Rößlein zu schauen.

Inzwischen trat der Wirth an den Tisch heran und verrieth den Studenten, daß der, so bei ihnen sitze, der Martin Luther sei. Diese zweifelten jedoch daran und der Aeltere der Beiden wurde durch die Ritterkleidung und das Buch desselben zu der Ueberzeugung geführt, daß es der Hutten sei, der bei ihnen sitze, und so behandelten sie ihn denn hinfort auch als den Ulrich von Hutten.

Inzwischen hatte sich die Zahl der Gäste um zwei weitere Ankömmlinge vermehrt. Es waren zwei Nürnberger Kaufleute, welche die Absicht hatten, nach Naumburg zur Messe zu reisen.

Nachdem sie sich ihrer Oberkleider und der großen Sporen an ihren Reitstiefeln entledigt, nahmen sie ebenfalls Platz an dem Tische, zu dem auch der Reitersmann, der angebliche Luther oder Hutten, wieder zurückgekehrt war. Der eine der Kaufleute zog hierauf ein ungebundenes Buch aus dem Wamse und legte es neben sich auf den Tisch.

„Was ist das für ein Buch?“ frug alsbald der Reitersmann.

„Es ist Doctor Luther’s Auslegung etlicher Evangelien und Episteln, erst neu gedruckt und ausgegangen. Habt Ihr die noch nicht gesehen?“

Da lächelte der räthselhafte Fremde und sprach:

„Sie werden mir, denk ich, auch bald zukommen.“

Darauf trat der Wirth wieder zur Thür Herrin und lud die Gäste ein, sich zum Nachtmahl zu setzen, das indessen eine Magd vorgerichtet hatte.

„Was bringt uns der Speisezettel?“ frug einer der Kaufleute.

„Fleischbrühe mit Brodschnitten, gepökelt Rindfleisch, süßen Brei und Lämmerbraten,“ zählte der Wirth an den Fingern auf.

Da nahm Johannes den Wirth zur Seite und bat, er möge mit ihnen Nachsicht haben und ihnen besonders auftragen. Es genüge ihnen schon ein bescheiden Süpplein.

Da erwiderte der Wirth:

„Liebe Gesellen! Macht Euch keine Sorge, setzet Euch nur zu den Herren an den Tisch. Ich will Euch anständig halten.“

Das hatte auch der fremde Reitersmann gehört. Da trat er heran und rief:

„Kommt nur herzu. Ich will die Zehrung mit dem Wirth schon abmachen.“

Vor dem Beginn des Nachtmahls sprach der Rittersmann ein Tischgebet vor. Dann erging er sich in allerlei herzgefälligen und gottseligen Reden, sodaß die Schweizer und Nürnberger Kaufleute wie andächtig saßen und weit mehr der Reden wie des Essens achteten. Da kam er unter Anderem auch zu reden auf den Reichstag zu Nürnberg, der zu jener Zeit dort versammelt war „wegen Gottes Wortes und der schwebenden Händel mit Rom und der Beschwerung deutscher Nation willen“.

Die Kaufleute erzählten, daß die dort versammelten Fürsten und Herren sich gar wenig Zeit nähmen zu ernstem Thun, sondern ihre Zeit ausfüllten mit kostbarem Turnier, Schlittenfahrt, Tänzen und dem Hoffiren schöner Frauen.

„Das sind also,“ brauste da der Ritter aus, „unsere christlichen Fürsten! Ich meinte wohl, Gottesfurcht und christliche Bitte zu Gott würde ihnen eher zu ihrem Vorhaben verhelfen. Ich bin indessen,“ fuhr er dann mit größter Ruhe fort, „der Hoffnung, daß die evangelische Wahrheit mehr Frucht an unsern Kindern und Nachkommen bringen wird, da diese nicht mehr von dem päpstlichen Irrthum vergiftet, sondern jetzt auf lautere Wahrheit und Gottes Wort gepflanzt werden, als an den Eltern, bei denen die Irrthümer so eingewurzelt sind, daß sie schwerlich ausgerottet werden.“

Da sprach der ältere der beiden Kaufleute:

„Ich bin nur ein einfältiger Laie, verstehe mich auch auf die geistlichen Händel gar nit besonders, das spreche ich aber, wie ich die Sache ansehe: der Luther muß entweder ein Engel vom Himmel oder ein Teufel aus der Hölle sein. Ich hätte Lust noch zehn Gulden ihm zur Liebe aufzuwenden, wenn ich ihm beichten könnte, denn ich glaube, er würde mein Gewissen wohl unterrichten.“

Als das Nachtmahl beendet war, sammelte der Wirth der Reihe herum bei jedem der Gäste das Speisegeld ein. Die beiden Studenten machten dabei etwas verlegene Gesichter und zogen schüchtern ihre ledernen Beutelchen. Der Wirth aber ging mit dem Teller an ihnen vorbei und sagte halblaut:

„Laßt es nur gut sein. Er hat’s für Euch mit berichtigt,“ und dabei zeigte er auf den Rittersmann.

Die Kaufleute stunden denn auf und gingen in den Stall, ihre Rosse zu versehen. So blieben die Schweizer mit dem fremden Ritter allein in der Stube. Sie naheten diesem in Ehrfurcht und dankten dem „gnädigsten Junker“ für die Spende, indem sie ihm dabei merken ließen, daß sie ihn für den Ulrich von Hutten hielten.

„Viele Eurer Schriften, edler Junker,“ fügte Johannes an, „sind auch bei uns in der Schweiz verbreitet, so das Büchlein [576] über die römische Dreifaltigkeit und die Klag und Vermahnung wider die übermüthige Gewalt des Papstes.“

Da meinte er lächelnd:

„Ich bin diese Nacht zu einem Edelmann geworden, denn diese Schweizer halten mich für Huldreich ab Hutten.“

Da kam der Wirth an seine Seite und rief:

„Ihr seid es nicht, aber Martinus Luther.“

Da erwiderte er lachend:

„Die halten mich für den Hutten, Ihr für den Luther, bald werde ich wohl gar Markolfus werden.“

Markolfus, zu deutsch Grenzhüter, war aber der Name einer komischen Volksfigur jener Zeit.

Nach diesen Worten nahm er ein hohes Bierglas vom Tisch, um nach des Landes Sitte den Nachttrunk zu kredenzen.

„Schweizer,“ rief er dabei, „trinkt mir noch einen Freundestrunk zum Segen!“

Als nun Johannes das Glas von ihm nehmen wollte, um Bescheid zu thun, that er es zur Seite und nahm statt dessen ein Glas mit Wein.

„Euch Schweizern ist,“ meinte er dazu, „das Bier unheimisch und ungewohnt, trinket dafür den Wein.“

Und Johannes nahm den Wein und rief ihm den gleichen Segen zu. Das Gleiche that dann auch sein Genoß. Der Fremde aber warf seinen Waffenrock über die Schulter und bot den Jünglingen die Hand zum Abschied.

„So ihr nach Wittenberg kommet, grüßet mir den Doctor Hieronymus Schurf.“

„Wir wollen das gern thun,“ entgegnete Johannes, „doch wie sollen wir Euch nennen, daß er den Gruß verstehe?“

„Saget nichts weiter als: ,Der kommen wird, läßt Euch grüßen,’ so versteht er die Worte sogleich.“

Nach dieser Rede trat der Fremde zur Thür hinaus und ging zur Ruhe.

Dann kamen die beiden Kaufleute zurück in die Gaststube und begehrten vom Wirthe noch einen Nachttrunk. Auch die zeigten große Wißbegier, zu erfahren, wer der fremde Reitersmann sei. Und auch ihnen redete es der Wirth auf, daß es der Doctor Martinus Luther sei, obwohl er selbst dessen nicht ganz sicher war.

Da waren die Kaufleute voll Kummer und Aerger darüber, daß sie theilweis so ungeschickt geredet und ihn nicht genug geehrt hatten. Sie beschlossen daher, bald zu Bett zu gehen und am anderen Morgen früh aufzustehen, damit sie den großen und berühmten Mann noch anträfen, ehe er wegritt, und das Versäumte nachholen könnten.

Am anderen Morgen trafen sie ihn denn auch noch, wie er im Stalle sein Rößlein aufschirrte und sich anschickte, fort zu reiten. Er wich jedoch jeder Anrede und Nachforschung aus, indem er sprach:

„Ihr habt gestern beim Nachtmahl gesagt, Ihr wolltet zehn Gulden wegen des Luther’s ausgeben, um ihm zu beichten. Wisset, wenn Ihr ihm beichtet, werdet Ihr wohl sehen und erfahren, ob ich der Martinus Luther bin.“

Nach dieser schelmischen Ausrede saß er auf und ritt zur hintern Thürpforte hinaus auf die dort vorbeiführende Straße gen Halle und Wittenberg.

Die beiden Gesellen aus dem Lande Schweiz wandelten erst weit später die gleiche Straße. Als sie nach zwei Stunden Wegs im Dorfe Naschhausen unterhalb des Bergschlosses Dornburg ankamen, fanden sie, wie in Folge des gestrigen Regens der Saalstrom aus seinen Ufern getreten war und einen Theil der verdeckten hölzernen Brücke hinweggerissen hatte. Da konnten sie nicht weiter und mußten wider Willen im Gasthofe zum „Schieferhofe“ Herberge nehmen, obwohl sie gedachten, an diesem Tag noch bis Naumburg zu kommen.

Dort trafen sie auch die beiden Kaufleute aus Nürnberg, welche das gleiche Mißgeschick festgebannt hatte. Da kam denn auch hier wieder die Rede auf den vermeintlichen Dr. Luther, und da die Kaufleute sich gern einredeten, der Fremde sei es doch gewesen, so bezahlten sie in Freuden den beiden Studenten die Zeche und luden sie ein, auf ihrem Heimwege von Wittenberg sie in ihrer Heimath Nürnberg zu besuchen und ihnen da rechte Kunde zu geben über den Luther, falls sie in Wittenberg des Weiteren von ihm vernähmen.




Erst am Samstag trafen die Schweizer in Wittenberg ein und begaben sich alsbald zu Dr. Hieronymus Schurf, um ihre Empfehlungsbriefe abzugeben sammt dem Gruße Dessen, der da kommen werde. Da fanden sie in des Doktors Stube eine Anzahl Gelehrter beisammen in eifrigem und lautem Gespräche. Es waren dies Philippus Melanchthon, der treue Freund und gelehrte Beistand des Dr. Luther, der Professor Justus Jodocus Jonas, der den Mönch Martinus einst nach Worms begleitet, Nikolaus Amsdorf, auch ein wackerer Verfechter der neuen Lehre, und außer Hieronymus noch dessen Bruder Dr. Augustin. Mitten unter den Fünfen aber saß noch ein Sechster, und dies war kein Anderer, als der fremde Reitersmann aus dem Gasthofe „Zum Bären“ in Jena.

„Lasset Euch nicht stören, meine Freunde,“ wandte sich dieser zu seiner gelehrten Umgebung. „Wir sind“ – dabei meinte er die beiden jungen Ankömmlinge – „alte Bekannte.“

Und nun erzählten die Umsitzenden weiter, wie der blinde Eifer einiger Anhänger der neuen Lehre besonders auf Antrieb des Canonicus und Professors Andreas Rudolf Bodenstein, nach seiner Heimath genannt Karlstadt, zu allerlei Gewalt und Ausschreitungen geführt habe. So habe man nicht blos alle äußeren Bräuche des römischen Gottesdienstes jählings abgeschafft, sondern es sei auch eine Rotte Korah gewaltsam in die Kirchen eingedrungen, habe die Bildnisse der Madonna und der Heiligen von den Wänden herabgestürzt und hinausgeworfen, Altäre und Beichtstühle zerschlagen und an den amtirenden Mönchen Gewalt geübt.

Da erhob sich der Reitersmann zornesmuthig von seinem Sitze und rief mit gewaltiger Stimme:

„O über diese Unseligen, die das Heilige mit ihren unheiligen Händen besudeln und entweihen! Fern von uns sei Gewalt; das Wort allein muß es thun. Das Wort ist es allein gewesen, das Himmel und Erde geschaffen, und nicht wir armen Sünder. Also soll sich auch der Ritter des Schwertes wieder wandeln in den Ritter des Wortes. Ich will zur Kanzel steigen und solange nicht aufhören zu predigen, bis ich die entfesselten Gewalten beschwöre! Das walte Gott!“

Da wußten die beiden Studenten nun, daß der Fremde kein Anderer war, als der leibhaftige Doctor Martinus Luther. Dieser aber hielt Wort. Eine ganze Woche lang bestieg er Tag um Tag die Kanzel und predigte mit solcher Kraft, daß die Ruhe wieder einzog in die überreizte Stadt. Die beiden Schweizer aber blieben während des Sommerhalbjahrs in Wittenberg und studirten da fleißig. Im Herbste aber zogen sie wieder heimwärts, und da kehrten sie unterwegs auch wieder ein im „Bären“ zu Jena und bei den Kaufleuten zu Nürnberg, dahin die sichere Kundschaft bringend, daß es der wirkliche und leibhaftige Luther gewesen, mit dem sie am Fastnachtabend zusammengesessen in der Gaststube des „Schwarzen Bären“. Ja, der eine von ihnen, Johannes, der den Zunamen Keßler führte und später nach allerlei Fahrniß in seiner Heimath Basel zum Schulrathe emporstieg, brachte das denkwürdige Zusammentreffen und die geführte Unterhaltung jenes Abends zu Papier. Diese handschriftliche Auszeichnung davon liegt noch jetzt auf der Bibliothek zu Basel, ist aber auch schon mehrfach in Druck gekommen. Ihr sind wir denn auch bei unserer Skizze meist wortgetreu gefolgt.


Inhalt: Ueber Klippen. Von Friedrich Friedrich (Fortsetzung), S. 561. – Album schöner Frauenköpfe: 8. Studienkopf von W. Menzler, S. 565. – Die Pflanzen-Einwanderung in Norddeutschland. Von Dr. R. Büttner, S. 566. – In der Volks-Kaffeeschenke. Von A. Lammers, S. 568. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Nr. 6. Der Schweizer Alpenclub auf der Ausstellung in Zürich. Mit Abbildungen, S. 569. – Zehntausend Meilen durch den großen Westen der Vereinigten Staaten. Von Udo Brachvogel. III. S. 570. – Mit Illustration von Rudolf Cronau, S. 572 und 573. – Festlied zur Sedanfeier. Von Friedrich Hofmann, S. 574. Dr. Martin Luther im Bären" zu Jena. Von Fr. Helbig, S. 574.


Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressieren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.

manicula Dieser Nummer ist Nr. 7 unserer Zwanglosen Blätter" beigelegt.

Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Unter Meilen sind in diesen Artikeln stets englische Meilen verstanden, von denen 46/10 auf die deutsche Meile gehen.
  2. Unter der spanischen Bezeichnung „Cañon“ versteht man die einen so eigenen Charakterzug der Gebirgsländer des Großen Westens bildenden „Steilschluchten“ seiner Flüsse, welche, durch äonenlange Erosionsarbeit entstanden, weder an Höhe noch an Steilheit ihrer Wände in andern Erdtheilen ihres Gleichen haben.
  3. Es ist eben im Congreß auf das Betreiben General Sheridan’s im Werk, die Nationalparkdomäne um weitere 3000 englische Quadratmeilen zu vergrößern, sodaß sie dann an Größe dem Königreich Württemberg gleichkäme.
  4. Creek = Bach.