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Die Gartenlaube (1883)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[333]

No. 21.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


„Also Anna war am vergangenen Dienstag in der Försterei? Wie kam sie dazu? Sie ist ja noch niemals dort gewesen?“

Es war Gregor Vilmut, der seine kleine Cousine Lily in dieser Weise examinirte. Er war soeben erst von Werdenfels herüber gekommen und hatte nur das junge Mädchen im Balconzimmer gefunden. Lily war bekanntlich sehr kriegerisch gegen den Vetter Gregor gestimmt, sobald er abwesend war, in seiner Gegenwart aber hielt weder diese Tapferkeit noch ihr gewohnter Uebermuth Stand. Auch jetzt zeigte sie sich sehr ernst und verständig und war nur erstaunt, daß ihre ganz harmlose und zufällige Aeußerung über jenen Ausflug ihrer Schwester den gestrengen Verwandten so erregte. Er war aufgefahren, als sie den Tag nannte, und seine Fragen klangen so scharf und heftig, als ob es sich um ein begangenes Unrecht handelte.

„Anna hatte den Eltern Fräulein Hofer’s längst einen Besuch versprochen,“ entgegnete Lily. „Es war stets davon die Rede, daß sie einmal nach der Försterei kommen werde.“

„Und dieser Besuch wurde auf einmal so dringend, daß sie ihn mitten im Winter abstatten mußte. Warum nahm sie Dich nicht mit? Du pflegst sie ja sonst stets zu begleiten.“

„Sie fuhr mit Emma Hofer, und in unserem Schlitten haben nur zwei Personen Raum. Anna kehrte ja auch schon am folgenden Tage wieder zurück.“

Vilmut erhob sich und trat an das Fenster, indem er dem jungen Mädchen den Rücken zuwendete.

„Er war an dem Tage in Felseneck!“ murmelte er. „Sie haben sich wieder gesehen, wieder gesprochen – ich weiß es!“

Lily wagte noch eine schüchterne Bemerkung, die aber nicht einmal einer Antwort gewürdigt wurde. Sie fand es sehr anmaßend, daß Gregor sogar die Besuche ihrer Schwester controlirte und darüber Rechenschaft verlangte, schwieg aber wohlweislich, denn sie sah, daß er äußerst ungnädig war. Sie athmete förmlich erleichtert auf, als Anna eintrat.

Die junge Frau begrüßte mit einer gewissen kühlen Zurückhaltung ihren Verwandten, der sich bei ihrem Eintritt umwandte und ihr entgegen ging. Es schien eine Entfremdung zwischen ihnen eingetreten zu sein seit jener letzten Unterredung im Pfarrhause, auch Vilmut’s Gruß hatte nichts mehr von der alten Vertraulichkeit.

„Ich komme, um zu hören, wie es mit dem Verkauf von Rosenberg steht,“ begann er. „Freising, den ich gestern sprach, sagte mir, daß er Dir einen Käufer vorgeschlagen habe. Du wirst jedenfalls den Vorschlag annehmen?“

„Nein,“ erwiderte Anna ruhig. „Ich habe dem Justizrath soeben geschrieben, daß ich den Antrag ablehne.“

„Ablehne? Und weshalb?“

„Weil das Gebot nicht den geforderten Preis erreicht. Du weißt, welchem Zwecke jene Summe dienen soll und weshalb ich darauf bestehen muß.“

„Allerdings, trotzdem solltest Du die Sache nicht von der Hand weisen. – Laß uns allein, Lily, ich habe mit Deiner Schwester zu reden!“

Lily würde unter anderen Umständen sehr beleidigt darüber gewesen sein, daß man sie ohne Weiteres wie ein Kind fortschickte. Da es aber galt, dem Vetter Gregor zu entlaufen, so nahm sie die Verabschiedung mit höchst vergnügter Miene hin und verschwand eiligst aus dem Zimmer.

Anna hatte sich inzwischen niedergesetzt. Sie war bleicher als sonst, und ihre großen braunen Augen hatten den strahlenden Glanz verloren; sie blickten matt und verschleiert, als hätten sie in der letzten Zeit viel Thränen vergossen, aber auch Vilmut schien verändert. Er zeigte nicht mehr die gewohnte eiserne Ruhe, die nichts mehr zu zerstören und zu erschüttern vermochte, es lag etwas Unruhiges, Unstetes in seinem Wesen, und es war auch nicht mehr der alte eisige Blick, der auf den Zügen der jungen Frau haftete, als wolle er die geheimsten Gedanken darin lesen. Es zuckte bisweilen auch in diesem Blicke, flackernd und unheimlich, wie eine Flamme, die vom Luftzuge hin und her getrieben wird.

„Ich würde Dir rathen, den Vorschlag anzunehmen,“ nahm Vilmut das Gespräch wieder auf. „Wer weiß, ob sich sobald ein zweiter Käufer für Rosenberg findet. Jene letzte Schuld Deines Gatten muß allerdings im vollen Umfange gedeckt werden, aber die gebotene Summe deckt sie zum größten Theil, und das Fehlende würde ich im Nothfalle aus eigenen Mitteln ergänzen.“

„Du, Gregor?“ fragte Anna mit unverhehltem Erstaunen. „Deine Mittel sind ja überhaupt beschränkt, wie die meinigen, und in diesem Winter vollends sind sie von allen Seiten in Anspruch genommen worden. Du hast ebenso wie ich alles nur Entbehrliche hingegeben.“

„Gleichviel! Meine Bürgschaft genügt für jede Summe, und ich stelle sie Dir zur Verfügung. Schließe den Kauf ab!“

Die letzten Worte klangen nicht wie ein Rath, sondern wie ein Befehl, dessen Befolgung man erwartet. Anna schlug langsam das Auge auf und fragte statt aller Antwort:

[334] „Liegt Dir so viel daran, daß ich Rosenberg verlasse?“

Vilmut zuckte ungeduldig die Achseln.

„Welche thörichte Empfindlichkeit! Mir liegt daran, Dich diesen ungewissen Verhältnissen zu entziehen, damit Du endlich einen festen und bestimmten Zukunftsplan fassen kannst. Ich dächte, das müßte Dir selbst erwünscht sein, aber Du scheinst keine Eile damit zu haben.“

„Wenigstens will ich nichts übereilen. Freising selbst räth mir, noch zu warten, da das Landgut den geforderten Preis werth ist, und im schlimmsten Falle haftet es für jene Schuld. Ich habe fast noch ein Jahr Zeit zur Tilgung derselben.“

„Und so lange willst Du natürlich in der Nähe von Werdenfels bleiben?“ fragte Gregor mit scharfer Betonung.

„Ja!“

Es war nur ein einziges Wort, aber es lag eine so stolze und entschiedene Abwehr darin, daß Vilmut sich auf die Lippen biß.

„Du machst es mir so deutlich klar, daß ich keinen Einfluß mehr auf Deine Entschlüsse habe,“ bemerkte er. „Auch jenen eigenthümlichen Besuch in der Försterei hast Du ohne mein Wissen unternommen, und ich werde vermuthlich nicht erfahren, was ihn veranlaßte.“

„Nein, Gregor, denn es ist eine Angelegenheit, die nur mich allein betrifft.“

„Und vielleicht auch den Herrn von Felseneck, der gerade an jenem Tage nach seinem Bergschlosse fuhr. Doch sei es darum, ich errathe, was Du mir verschweigst. Ueber eine andere Angelegenheit aber wirst Du die Güte haben, mir Auskunft zu geben. Ist es wahr, daß Baron Werdenfels, dem Du Deine Hand versagt hast, trotzdem in regelmäßiger Verbindung mit Rosenberg steht, daß fast keine Woche vergeht, wo er Dir nicht schreibt?“

„Also auch das hast Du erfahren?“ fragte Anna. „Freilich, was erfährst Du nicht! Ueber jene Correspondenz aber bist Du doch im Irrthum. Paul Werdenfels hat mir noch keine einzige Zeile geschrieben, seine sämmtlichen Briefe sind an Lily gerichtet.“

„An Lily?“ wiederholte Gregor mit einer Ueberraschung, als sei es undenkbar, daß Jemand sich die Mühe nehmen könnte, an das junge Mädchen zu schreiben. „Und Du weißt um diese Correspondenz, Du duldest sie?“

„Ich habe sie gestattet unter der Bedingung, daß ich die Briefe lese, und das geschieht auch regelmäßig. Ich,“ hier wurde die Stimme Anna’s wärmer und inniger, „ich möchte dem jungen Manne Ersatz geben für den Jugendtraum, den ich ihm zerstören mußte. Es hat ihm wehe gethan, ich weiß es, aber ich hoffe und wünsche, daß er diesen Ersatz in meiner Schwester finden wird.“

„Also Du hoffst das! Nun weiter – weiter!“

„Noch hat sich Baron Paul nicht erklärt, aber seine einstige Schwärmerei für mich ist überwunden, das sehe ich aus seinen Briefen. Er liebt Lily bereits, vielleicht noch ohne es zu wissen, und sie hängt an ihm mit ihrem ganzen kleinen Herzen. Sie werden und müssen sich finden, und ich kann und will diese aufkeimende Neigung nicht hindern.“

„Das sind ja überraschende Neuigkeiten!“ sagte Vilmut in herbem Tone. „Und Du hast eine derartige Verantwortung auf Dich genommen, ohne mich auch nur zu fragen? Hast Du vergessen, daß ich Lily’s Vormund bin und daß ich meine Einwilligung zu einer derartigen Verbindung verweigern werde?“

Die junge Frau erhob sich mit einer raschen Bewegung, und es legte sich wie ein Schatten auf ihre Züge.

„Und weshalb? Etwa weil Paul den Namen des Freiherrn trägt? Geht Dein Haß so weit?“

„Weil auch dieser Paul ein Werdenfels ist und weil ich nicht will, daß eine meiner Schutzbefohlenen dem Geschlechte angehört, das in seinem Hochmuthe nicht einmal den Priester ehrt und achtet. Der Vertreter der jüngeren Linie steht an Gottlosigkeit dem Chef des Hauses nicht nach, er ist der gelehrige Schüler seines Meisters. Du hast es ja mit angehört, als er mir seine Zukunftspläne hinsichtlich Buchdorfs entwickelte. Denkst Du, ich werde es jemals dulden, daß Lily einem solchen Manne die Hand reicht?“

„Willst Du auch sie Deiner starren Unduldsamkeit opfern, wie Du mich einst geopfert hast?“ rief Anna mit aufwallender Heftigkeit.

„Dich?“ fragte Gregor eisig. „Als ob Du Dich überhaupt je hättest opfern lassen! Als ob irgend etwas auf der Welt Dich von Werdenfels gerissen hätte, wenn es nicht seine Schuld gewesen wäre. Das allein band Deinen Willen und bindet ihn noch. Mir hättest Du Trotz geboten an seiner Seite.“

„Vielleicht! Aber die Fessel, die mich band, existirt nicht für Lily, und wenn Paul Werdenfels wirklich ihre Hand verlangt, so werde ich sie mit vollem Vertrauen in die seinige legen, trotzdem er Dein Gegner ist. Es liegt mehr Tüchtiges und Edles in seiner Natur, als Du ahnst, ich habe Proben davon. Auch Deine vormundschaftliche Gewalt hat ihre Grenzen, wenn ich mich offen und rückhaltslos auf die Seite des jungen Paares stelle, und das werde ich thun.“

In Vilmut’s Augen zuckte es wieder auf, es war jene unstäte Flamme, die in einem Momente zugleich aufflackerte und erlosch.

„Das heißt mit anderen Worten, Du willst mir gleichfalls den Krieg erklären? Ich habe es gewußt, daß wir schließlich dahin gelangen würden, von dem Augenblicke an, wo Werdenfels von seinem Felsenschlosse zurückkehrte. Seitdem bist Du nicht dieselbe mehr, Du hast Dich Schritt für Schritt wieder dem Zaubernetze genähert, mit dem er Dich schon einmal umstrickte. Denkst Du, ich habe sie nicht gesehen, die geheime Angst, die Dich Tag und Nacht verzehrt, seit Du hörtest, daß er in Gefahr schwebt? Denkst Du, ich weiß es nicht, was Dich nach der Försterei führte? Du hast warnen, bitten wollen, ihn der Gefahr entreißen. Es scheint vergebens gewesen zu sein; denn er ist noch in Werdenfels und hat auf einmal Lust bekommen, den strengen Herrn und Gebieter zu spielen.“

„Ja, es war vergebens.“ sagte die junge Frau mit stolzer, glühender Genugthuung. „Raimund ist muthiger als ich. Er bleibt und wird Euch Allen die Spitze bieten.“

Vilmut lachte, es war ein grelles, höhnisches Lachen, das den Ohren wehe that.

„Du bewunderst ihn wohl neuerdings noch als einen Helden? Es gab eine Zeit, wo man diesen Raimund in Deiner Gegenwart nicht einmal nennen durfte, wo schon sein bloßer Name Dich erbleichen und verstummen machte. Das hat sich geändert, der Name ist Dir sehr geläufig geworden, und wenn Du die Hand Deiner Schwester ergreifst und er die seines Neffen, um sie in einander zu legen, so könnten sich auch ein Paar andere Hände finden!“

Anna’s Auge sank zu Boden, sie dachte an jene Begegnung, an ihr schauderndes Zurückweichen und Raimund’s finsteres Abwenden, und schwer und langsam sagte sie:

„Nein, die finden sich nie!“

Gregor trat zu ihr, und jetzt war es seine Hand, die die ihrige ergriff und die zarten Finger mit so heftigem Druck preßte, als sollten sie zerbrechen. Sein Auge bohrte sich förmlich in das ihrige, und seine Stimme klang dumpf und heiser, als raube ihm irgend etwas den Athem.

„Das hoffe ich! Du darfst diesem Werdenfels nicht angehören! Das habe ich Dir damals zugerufen, als ich zuerst die Beziehungen zwischen Euch entdeckte, und das wiederhole ich Dir jetzt. Noch ist seine Schuld ungesühnt, und sie fällt auf Dich, wenn Du es wagst, dem Schuldigen zu folgen, Ihr werdet Beide daran zu Grunde gehen! Der Lehrer, der ehemalige Vormund hat die Macht über Dich verloren, nun denn, so gehorche dem Worte des Priesters, der Dir sagt: Du sollst jenem Manne nicht angehören!“

Es wehte etwas wie düstere, unheilvolle Prophezeiung aus diesen Worten, Anna zog langsam ihre Hand aus der seinigen und trat etwas zurück, aber es lag keine Furcht und keine Nachgiebigkeit in ihrer Haltung, vielmehr eine unbeugsame Entschlossenheit.

„Die Zeit meines blinden Gehorsams ist vorüber, Gregor! Wenn ich die Vergangenheit überwinden könnte, Du würdest mich nicht daran hindern, und auch Dein Priesterwort würde mich nicht schrecken. Ich kann es nicht, und Raimund weiß, daß ich es nicht kann, deshalb bleibt er mir fern. Aber wenn ich mein eigenes Glück nicht vertheidigen durfte, für das meiner Schwester werde ich kämpfen. Versuchst Du, es zu zerstören, so wirst Du mich an Lily's Seite finden. Sie soll nicht auch elend werden, wie ich und Raimund es geworden sind – durch Dich!“

Und ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen, wandte sie sich ab und verließ das Gemach.

Gregor machte unwillkürlich eine Bewegung, als wolle er sie [335] zurückhalten, aber schon im nächsten Augenblicke besann er sich und blieb regungslos stehen, nur sein Auge folgte der hohen, ernsten Gestalt, folgte ihr wie gebannt, bis sie im Nebenzimmer verschwand. Dann sagte er halblaut, aber mit einem Ausdruck unendlicher Bitterkeit:

„Es ist noch Mancher elend, außer Euch Beiden – und vielleicht mehr als Ihr!“ –

Während Lily’s Zukunft Anlaß zu solcher scharfen Meinungsverschiedenheit zwischen ihrer Schwester und dem Pfarrer gab, befand sich die junge Dame in einer Situation, die mit den Gedanken an ihre baldige Vermählung nicht recht in Einklang zu bringen war.

Sie trug nämlich auf dem Kopfe einen Papierhut von riesigen Dimensionen, sehr künstlich aus alten Zeitungen gefertigt, dessen Spitze ein Büschel alter Pfauenfedern zierte, die sich irgendwo in einem Winkel gefunden hatten. In der Hand dagegen hielt sie einen großen Heurechen, der als Gewehr diente, und in dieser Ausrüstung commandirte, exercirte und manövrirte sie nach allen Regeln der Kriegskunst, während der kleine Toni vom Mattenhofe, der in ähnlicher Weise ausstaffirt war, als freiwilliger Recrut bei ihr das Exerciren lernte.

Der alte Gärtner, der in Werdenfels gewesen war, hatte den Kleinen von dort mitgebracht, wie dies öfter geschah, denn Toni war ein besonderer Schützling der Frau von Hertenstein. Sie nahm sich in jeder Hinsicht des verwaisten Knaben an, und heute sollte sich dieser in dem neuen Anzuge präsentiren, den die gnädige Frau ihm kürzlich geschenkt hatte. Der Großvater konnte ihn nicht begleiten, da die schwere Tagesarbeit, mit der er sich und das Kind ernährte, keine Unterbrechung erleiden durfte.

Der Gärtner war soeben mit seinem Schutzbefohlenen angelangt, als Fräulein Lily erschien und sich schleunigst des willkommenen Spielcameraden bemächtigte, denn sie trieb noch gar zu gern Kinderpossen und ließ sich selten eine Gelegenheit dazu entgehen.

Sie nahm den Kleinen mit sich in den Garten, und nach verschiedenen Streifzügen gelangten Beide in das Gartenhaus, das zwar im Winter nicht benutzt wurde, aber unverschlossen war. Da es draußen ziemlich kalt war, so wurde der Spielplatz in den kleinen Gartensaal verlegt, und das Soldatenspiel, zu dem die Requisiten aus allen Ecken und Winkeln hervorgesucht wurden, war bald in vollem Gange.

Toni zeigte sich dabei geradezu als ein militärisches Genie. Er begriff jedes Commando, hielt Tact bei dem Marschiren und gewann die volle Zufriedenheit des jugendlichen Commandanten.

Das Gartenhaus lag am äußersten Ende der Besitzung, auf einem keinen Rasenhügel, und unmittelbar daran vorüber führte ein Fahrweg, der eine Strecke weiter in die Landstraße mündete und auf dem soeben ein eleganter offener Jagdwagen heranrollte. Der Herr, neben dem ein alter Diener in dunker Livrée saß, lenkte die Pferde selbst, aber er mäßigte ihre schnelle Gangart immer mehr, je mehr er sich Rosenberg näherte.

Paul Werdenfels pflegte mit Vorliebe gerade diesen Weg zu benutzen, wenn er nach Buchdorf fuhr, obgleich derselbe sehr schlecht und uneben war, aber er führte dicht an dem Landgute vorüber, während die Chaussee einen weiten Bogen machte. Bisher war es dem jungen Manne aber noch nicht geglückt, im Vorbeifahren eine der Bewohnerinnen zu erblicken, er war freilich auch nur selten auf seinem Gute gewesen. Heute aber, wo er ebenfalls von dort kam, schien ihm der Zufall günstiger zu sein, denn aus der offenen Thür des Gartenhauses tönte übermüthiges Lachen und der laute Jubel einer Kinderstimme.

Paul kannte dies frische silberhelle Lachen, das damals am Schloßberge seine unfreiwillige Niederfahrt begleitet hatte, nur zu gut. Er schwankte kaum einen Augenblick, Frau von Hertenstein wußte ja jetzt um seine Correspondenz mit ihrer Schwester, da durfte er sich schon eine Ueberraschung erlauben.

„Nimm die Zügel, Arnold,“ sagte er rasch. „Ich will nur einen Augenblick die Damen begrüßen und komme sogleich wieder zurück. Du wartest inzwischen hier.“

Dann schwang er sich leicht vom Bock, öffnete die kleine Thür in der niedrigen Gartenhecke, die gleichfalls unverschlossen war, und trat ein.

Lily hatte sich soeben an die Spitze ihres Kriegsheeres gesetzt und führte einen wundervollen Parademarsch aus, wobei sie mit lauter stimme commandirte, plötzlich aber machte sie ohne jegliches Commando Halt, denn vor ihr stand der junge Baron Werdenfels und maß mit etwas verwundertem Blicke den Papierhut und den Heurechen.

Das junge Mädchen wurde dunkelroth; in den freudigen Schreck über dies unverhoffte Wiedersehen mischte sich eine peinliche Verlegenheit. Es war aber auch gar zu fatal, sich so überraschen zu lassen, nachdem sie so lange die Rolle eines tröstenden Schutzengels gespielt hatte und dem Tröstungsbedürftigen eine Art von Ideal geworden war. Zum Glück war Paul ebenso verlegen wie sie.

„Verzeihung, wenn ich störe,“ sagte er stockend. „Ich fuhr gerade vorüber und da – da wollte ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, mein Fräulein.“

„Ich danke,“ versetzte Lily, gänzlich aus der Fassung gebracht. „Ich befinde mich ganz wohl – ich spielte Soldat mit dem Toni!“

Sie nahm in ihrer Verwirrung den Heurechen von der rechten Hand in die linke, ohne ihn jedoch loszulassen. Toni machte es pflichtschuldigst ebenso mit seinem Stock, denn er folgte genau jeder Bewegung seines Exercirmeisters.

„Sie dürfen mir nicht zürnen wegen dieses Ueberfalles,“ nahm Paul wieder das Wort. „Es war wirklich nur ein Zufall, der mich vorüberführte, aber da hörte ich Ihre Stimme und da – konnte ich es nicht länger aushalten, ohne Sie wiederzusehen.“

Lily’s ganzes Gesicht war wie in Gluth getaucht, obgleich die Worte sie nicht eigentlich überraschten. Die Briefe des jungen Baron waren in der letzten Zeit so unzweideutig geworden, daß sie nicht mehr länger im Zweifel sein konnte, wem seine Huldigung jetzt galt. Damit war aber auch die Unbefangenheit geschwunden, mit der sie ihm sonst begegnete. Sie wußte freilich nicht, wie reizend sie ihm gerade in dieser Verwirrung und Verlegenheit erschien. Er fand, daß ihr der Papierhut zum Entzücken stand, und sogar das unförmliche Heu-Instrument störte nicht seine Bewunderung.

Jetzt aber machte sich der kleine Toni bemerkbar, der mit großem Mißvergnügen die Unterbrechung des Spiels empfand. Er machte dem fremden Herrn den Vorschlag, sich gleichfalls zu bewaffnen und an dem Exercitium theilzunehmen, Fräulein Lily werde commandiren.

Diese Zumuthung gab der jungen Dame die verlorene Haltung zurück, sie wußte ganz genau, wie sie fortgeschickt wurde, wenn ihre Gegenwart unbequem wurde, deshalb nahm sie die strenge Miene Gregor’s an und sagte würdevoll:

„Geh hinaus, Toni! Ich habe mit dem fremden Herrn zu reden – wichtige Dinge!“

Toni zog ein Gesicht, da er aber ein folgsames Kind war, so gehorchte er der Weisung und setzte draußen das Spiel auf eigene Hand fort, indem er Schildwacht stand und vor der Thür auf- und abmarschirte.

Lily schulterte wieder ihren Rechen, den sie so krampfhaft festhielt, als ob das Leben davon abhinge, jetzt aber nahm ihn Paul sanft aus ihrer Hand und lehnte ihn an die Wand.

„Legen Sie doch dies Ungethüm bei Seite,“ bat er. „Sie stehen so kriegerisch da, daß ich es gar nicht wage, Ihnen zu nahen, und ich habe Ihnen doch so viel, so unendlich viel zu sagen. Ich wäre längst nach Rosenberg gekommen, wenn ich es gewagt hätte. Ich wußte ja nicht, ob Frau von Hertenstein meinen Besuch überhaupt annehmen würde, und Sie, Lily – wäre ich Ihnen willkommen gewesen?“

Lily gab keine Antwort, aber ihr Blick sprach deutlicher als Worte und er wurde verstanden, denn Paul trat näher und beugte sich zu ihr herab, während er mit steigender Wärme fortfuhr:

„Ich habe in der letzten Zeit sehr oft geschrieben und wohl auch sehr offenherzig. Sie müssen es ja wissen, was ich Ihnen zu sagen, was ich von Ihnen zu erbitten habe – werde ich vergebens bitten?“

Da flog es wie ein Schatten über die Züge des jungen Mädchens und in ihren hellen braunen Augen glänzte eine Thräne, als sie leise, mit halb erstickter Stimme, erwiderte:

„Was kann ich Ihnen denn geben? Sie haben ja meine Schwester geliebt!“

„Ja, ich habe sie geliebt!“ sagte Paul ernst, „und ich will diese Liebe nicht herabsetzen und verkleinern, auch vor Ihnen [336] nicht, aber sie ist von jeher hoffnungslos gewesen, wie sehr, das weiß ich erst seit einigen Tagen. Ich fühle erst jetzt, wie hoch und fern Anna von Hertenstein von jeher über mir gestanden hat und wie nahe und lieb mir eine Andere war, vom ersten Augenblicke an, wo das Schicksal mich mit ihr zusammenführte. Können Sie es verzeihen, Lily, daß Sie nicht meine erste Neigung gewesen sind? Ich bringe Ihnen trotzdem jetzt ein ganzes, volles Herz entgegen. Werden Sie es mir glauben, wenn ich Ihnen sage: Lily, meine kleine Lily, ich habe Dich so unendlich lieb!“

Das war wirklich der volle Ton des Herzens, und davor verschwanden auch die Schatten und Zweifel in der Seele des jungen Mädchens, die Thräne in ihrem Auge schmolz in einem glückseligen Lächeln.

„Und ich habe Dich auch lieb, Paul!“ rief sie und flog in seine weitgeöffneten Arme. Er zog sie stürmisch an seine Brust, der Papierhut fiel rauschend zu Boden, und draußen vor der offenen Thür stand der kleine Toni und sah mit offenem Munde und großen Augen zu. Die Sache erschien ihm im höchsten Grade verwunderlich. –

Arnold hielt inzwischen draußen auf dem Fahrwege, aber in übelster Laune und mit tiefgekränkter Seele. Er wußte freilich, was dieser Besuch bedeutete, man brauchte es ihm nicht erst zu sagen, daß man es ihm aber nicht sagte, erregte dennoch sein höchstes Mißfallen.

Der junge Herr war verlobt mit Frau von Hertenstein, das stand fest, und die Verlobung wurde mit Rücksicht auf den Pfarrer Vilmut noch geheim gehalten, daß man aber auch ihm, dem langjährigen treuen Diener, ein Geheimniß daraus machte, das war unerhört, und er beschloß, das seinem Junker Paul nachdrücklichst zu Gemüthe zu führen.

Zu den vielen löblichen Eigenschaften Arnold’s gehörte auch eine hervorragende Neugierde. Er hätte gar zu gern ein wenig spionirt, aber er mußte bei dem Wagen bleiben und konnte die ungeduldigen Thiere sich nicht selbst überlassen; ein fester Wille überwindet jedoch manches Hinderniß, das zeigte sich auch hier. Arnold fuhr langsam noch einige zwanzig Schritt weit und hielt dann unmittelbar unter den Fenstern des Gartenhauses, natürlich ganz zufällig, dann stand er ebenso zufällig auf, um einen Baumzweig bei Seite zu schieben, der den Wagen streifte, und suchte dabei mit langgestrecktem Halse einen Einblick in das Innere zu gewinnen.

Er wußte freilich im Voraus, was er sehen werde, eine zärtliche Gruppe, die gnädige Frau auf dem Sopha und den jungen Herrn neben ihr, schwärmerisch und ehrfurchtsvoll ihre Hand an seine Lippen drückend, er war merkwürdig ehrfurchtsvoll in seiner Liebe. Das Bild, das sich in Wirklichkeit zeigte, sah aber ganz anders aus.

Frau von Hertenstein war überhaupt gar nicht vorhanden, aber der Junker Paul stand mitten im Zimmer und hielt eine junge Dame in den Armen, die einen ganz merkwürdigen Papierhut mit Pfauenfedern auf dem Kopfe trug, und die Beiden küßten sich ohne jede Ehrfurcht, aber mit einer Vertraulichkeit, als ob sich das von rechtswegen so gehöre. Und jetzt fiel der Hut zu Boden, und Arnold erkannte die braunen Flechten und das rosige Antlitz Lily Vilmut’s – das war dem alten Diener zu viel, die Zügel fielen ihm aus der Hand, und er sank förmlich auf den Sitz nieder.

Erst nach einer geraumen Zeit kehrte Paul zurück. Er hatte seine junge Braut sofort zu Anna führen wollen, aber Lily protestirte dagegen, weil Gregor sich bei ihrer Schwester befand. Es war dem jungen Manne nun allerdings nicht erwünscht, mit dem Pfarrer zusammenzutreffen, von dem er so feindselig geschieden war, das hieß gleich in der ersten Stunde der Verlobung einen Sturm auf dieselbe herabrufen. Man kam also überein, daß Lily zuerst allein mit ihrer Schwester reden und daß ihr Bräutigam morgen nach Rosenberg kommen solle, um seinen Antrag in aller Form zu wiederholen.

„Da bin ich wieder!“ sagte Paul, indem er sich auf den Wagen schwang und die Zügel ergriff. „Es hat etwas lange gedauert.“

„Ja, sehr lange!“ bestätigte Arnold in einem Tone, der förmlich unheilsvoll klang, aber der junge Mann achtete nicht darauf, er trieb die Pferde zum vollen Galopp an, und dabei strahlte sein ganzes Gesicht in glückseligem Uebermuth.

Arnold hüllte sich zunächst in düsteres Schweigen, er wollte erst die Stätte des Verrathes hinter sich lassen, und der unebene Weg, wo man bei der raschen Fahrt hin- und hergeworfen wurde, hätte auch den Effect seiner Predigt beeinträchtigen können, als der Wagen aber jetzt in die Chaussee einbog, richtete er sich feierlichst empor und sagte nachdrücklich:

„Herr Paul – ich schaudere vor Ihnen!“

„Was thust Du?“ fragte Paul, sich zu ihm wendend.

„Ich schaudere!“ wiederholte Arnold noch energischer. „Das hätte ich denn doch nicht von Ihnen erwartet, dergleichen haben Sie ja nicht einmal in Italien angestiftet, das – ja das hätte nicht einmal der Signor Bernardo gethan!“

Es war die höchste Potenz seiner Verachtung, wenn er seinen jungen Herrn noch unter den Signor Bernardo stellte, und das machte auch Eindruck, denn Paul fragte mit einer gewissen Besorgniß:

„Aber was hast Du denn eigentlich?“

„Sie fragen noch?“ rief Arnold. „Sie sind verlobt mit Frau von Hertenstein und haben heimliche Zusammenkünfte mit ihrer Schwester. Sie küssen das Kind ganz ungenirt, und die Kleine läßt sich küssen – es ist himmelschreiend!“

Paul lachte laut auf, aber er war nicht in der Stimmung, diese Spionage übel zu nehmen.

„Ah, Du hast spionirt?“ rief er. „Ist es mir doch gewesen, als ob ich am Fenster ein fremdes Gesicht gesehen hätte, aber ich habe nicht darauf geachtet, wir hatten Besseres zu thun.“

Das schien dem alten Diener der Gipfel aller Abscheulichkeit zu sein und er begann eine Predigt, die all seine bisherigen Redeleistungen in Schatten stellte, eine Predigt, in der Signor Bernardo wie ein lichter Engel und Paul Werdenfels wie der schwärzeste aller Verräther erschien. Paul, den die Sache höchlich amüsirte, hörte ganz andächtig zu, erst als sein alter Mentor Athem schöpfen mußte, sagte er:

„Arnold, von all den Dingen, die Du Dir da zusammengereimt hast, ist auch nicht eine Silbe wahr. Ich bin nie mit Frau von Hertenstein verlobt gewesen, und was ihre Schwester betrifft, so wirst Du Dich ihr morgen in Rosenberg vorstellen und ihr Deinen allertiefsten Respect zu Füßen legen, denn sie wird Deine künftige gnädige Frau werden.“

„Die Kleine – mit dem Papierhut?“ rief Arnold, der in seiner Ueberraschung fast vom Bock gefallen wäre.

„Fräulein Lily Vilmut, meine Braut!“ bestätigte Paul nachdrücklich. „So sieh’ doch nicht aus, als ob Du aus den Wolken gefallen wärst! Hast Du nicht einmal einen Glückwunsch für Deinen jungen Herrn?“

Arnold bedurfte einer ganzen Zeit, ehe er überhaupt wieder zu Athem kam, dann aber faltete er die Hände und sagte wehmüthig:

„Das wird ein Leben in Buchdorf werden! Jetzt muß ich auch noch die junge gnädige Frau erziehen – und ich habe doch schon genug mit Ihnen zu thun, Herr Paul!“

(Fortsetzung folgt.)




Der Geiger-König.

Wer führt wohl ein unsteteres Wanderleben durch alle Welt, als das Völkchen der ausübenden Jünger der Tonkunst? Und wie Viele von ihnen haben nicht bei uns ihren Wanderstab in die Ecke gestellt, denen wir es – selbst den Hervorragendsten darunter – auf den ersten Blick ansehen, daß ihre Wiege nicht unter deutschen Eichen gestanden! Von ihm aber wissen wir es ganz genau, daß er ein Deutscher ist; ein König ist’s! Er kommt daher aus jenem wunderbaren Lande des Sanges, der Liebe und Freude, der Sehnsucht jedes deutschen Herzens, aus dem Lande, wo die Könige „Rhein“ und „Wein“ ihren Thron aufgeschlagen … es ist August Wilhelmj, der Geiger-König.

August Wilhelmj hat, als das jüngere von zwei Kindern

[337]

August Wilhelmj.
Nach einem Gemälde auf Holz übertragen von Adolf Neumann.

[338] des weithin berühmten rheingauer Weinproducenten Dr. juris August Wilhelmj zu Hattenheim am 21. September 1845 zu Usingen im Regierungsbezirke Wiesbaden das Licht der Welt erblickt. Seine Mutter, Charlotte geborene Petry, war selbst eine gefeierte Künstlerin, Schülerin des bekannten Hofraths Anton André zu Offenbach, sowie von Frederic Chopin und Marco Bordogni zu Paris. Hierzu gesellte sich der für ein aufstrebendes Geigengenie günstige Umstand, daß auch der Vater ein großer Musikverständiger und namentlich hervorragender Dilettant auf der Violine ist.

Die Erziehung August’s in einem der ersten und dazu musikalischesten und gastfreiesten Häuser an der großen Verkehrsstraße des Rheinstromes, in einer Familie, in welcher von jeher die Kunst die höchste Rolle gespielt und welche den Größen der Kunst und Wissenschaft stets offen gestanden hat, konnte nur von günstigem Einflusse auf den Knaben sein. Der Vater erkannte früh das Talent und wählte als Lehrmeister des Knaben den herzoglich nassauischen Hofconcertmeister Conrad Fischer zu Wiesbaden, unter dessen rühmlicher Leitung sich die musikalischen Anlagen des Schülers entwickelten, ja überraschend bald eine gewisse Reife erlangten, sodaß Henriette Sontag, als sie Anfangs der fünfziger Jahre zum Besuche in dem Wilhelmj’schen Hause weilte und den Jungen hörte, von der bereits eigenthümlichen Tonbildung und auffallenden minutiösen Reinheit überrascht, begeistert ausrief: „Du wirst ’mal der deutsche Paganini werden!“

Des ersten öffentlichen Auftretens Wilhelmj’s darf sich die alte Lahn- und Bischofsstadt Limburg rühmen, wo derselbe am 8. Januar 1854 in einem Concerte zum Besten der Stadtarmen seine Hörer entzückte. Zwei Jahre später, am 17. März 1856, bestand der Knabe im Hoftheater zu Wiesbaden vor einer zahlreichen und kunstverständigen Zuhörerschaft die Feuerprobe, aus der er glänzend hervorging.

Besorgt, daß sein Sohn dem sehr häufigen Schicksale sogenannter musikalischer Wunderkinder verfallen möchte, bestimmte August’s Vater ihn für den Gelehrtenstand und ließ sich erst durch unablässiges Bitten und Drängen bewegen, die Berufsentscheidung von dem Urtheile eines competenten Richters abhängig zu machen. Kein Geringerer als Franz Liszt war hierzu ausersehen, und freudigen Herzens begab sich August, der Verwirklichung seiner heißesten Wünsche näher gerückt, mit Empfehlungen des Prinzen von Sayn-Wittgenstein versehen im Frühjahre 1861 zu dem Altmeister nach Weimar. Hier brachten die Vorträge von Louis Spohr’s „Gesangsscene“ und H. W. Ernst’s „Ungarische Weisen“ die Wagschale der Schicksalsbestimmung Wilhelmj’s zum Steigen und retteten dem deutschen Volke seinen ersten Geiger. Liszt, welcher den Examinanden auf dem Clavier begleitete, sprang auf und rief:

„Und da konnte man noch über Ihren Beruf schwanken?! … Die Musik ist Ihnen angeboren! … Sie sind so sehr für die Geige prädestinirt, daß dieselbe für Sie hätte erfunden werden müssen, wäre sie noch nicht dagewesen! Arbeiten Sie fleißig weiter, die Welt wird von Ihnen reden, junger Mann!“

Diese classischen Worte zerstreuten natürlich alle Wolken des Zweifels, und ein sonniges Land der Zukunft lag vor Wilhelmj ausgebreitet, als er einige Tage darnach mit Liszt nach Leipzig fuhr, wo dieser ihn dem berühmten Ferdinand David zur weiteren Ausbildung mit den Worten anvertraute:

„Hier bringe ich Ihnen den zukünftigen zweiten Paganini – sorgen Sie für ihn!“

So studirte nun Wilhelmj von 1861 bis 1864 auf dem Leipziger Conservatorium der Musik, dessen Zierde und Stolz er fortan bildete und unter dessen übrigen Schülern er eine ähnliche Rolle spielte, wie weiland Schiller unter den Karlsschülern. Moritz Hauptmann und Ernst Friedrich Richter waren seine Lehrer in der Theorie der Musik, welche später, als Wilhelmj wieder in Wiesbaden lebte, in dem Symphoniker Joachim Raff ihren Nachfolger fanden.

Seine Cameraden aber in Leipzig staunten ihn als ein Wunder an, und oft ward er in seiner Wohnung um Extraproben seiner Virtuosität bestürmt. Bei einer solchen Gelegenheit spielte er einmal die berühmte Ernst’sche Transcription des „Erlkönig“ von Fr. Schubert mit solch technischer Makellosigkeit und zugleich mit derartig dramatischem Accente, daß der alte David freudestrahlend ausrief:

„Nein, Schwierigkeiten giebt’s für ihn nicht mehr – er ist ein wahres Phänomen!“

Nachdem Wilhelmj in der Folge, während seiner Studienzeit, auch schon in der Oeffentlichkeit gelegentlich einer Prüfung des Conservatoriums (9. April 1862), mit dem Vortrage des Concerto Pathetique (Fis-moll) von Ernst Sensation gemacht hatte, erregte er am 24. November desselben Jahres – noch ein Conservatorist! – bereits in einem Gewandhausconcerte mit dem Vortrage des „Concertes in ungarischer Weise“ von Joseph Joachim unbeschreiblichen Enthusiasmus und legte so auf diesem classischen Boden der Tonkunst den Grundstein seines Weltrufes.

Ferdinand David faßte die freundschaftlichste Zuneigung zu seinem Schüler und zog ihn immermehr in seine Nähe. Im Hause David’s verkehrte damals dessen kunstsinnige Nichte, die Freiin Sophie von Liphart, welche später (29. Mai 1866) Wilhelmj’s Gattin wurde.

Wilhelmj’s erste Kunstreisen (1865 bis 1866) galten der Schweiz und Holland; von da ging er nach London. Dank dem Einflusse Jenny Lind’s trat er am 17. September 1866 in einem der großen Concerte Alfred Mellon’s im königlichen Coventgarden-Theater auf. Sein Spiel versetzte das Publicum in die Zeit des ersten Auftretens Nicolo Paganici’s zuruck. Von der Themse eilte der junge Kunsttriumphator an das Ufer der Seine. In einem der berühmten Concerts populaires von Pasdeloup in Paris (am 20. Januar 1867) erregte der deutsche Geiger bei den verwöhnten Franzosen – acht Tage nach Joachim’s Auftreten – derartiges Entzücken, daß sie ihn „le nouveau Paganini“ nannten. Niemals aber hat thatsächlich in Paris ein Künstler oder eine Künstlerin solches Aufsehen erregt, wie damals unser Landsmann.

Doch Europa ist groß, größer die Welt, aber noch größer die Wanderlust und der künstlerische Thatendrang in der Brust eines Jünglings, welchen bereits die ersten Lorbeeren zum vollen Bewußtsein seiner Mission gebracht haben. Schon im Herbste 1867 sehen wir Wilhelmj in Italien, wo ihm seine unvergleichbaren Leistungen in der classischen Musik die Ernennung zum Professor der „Società di quartetto“ in Florenz eintrugen. Einige Monate später (Januar 1868) finden wir ihn in St. Petersburg wieder, wohin er einer Einladung der kunstverständigen Großfürstin Helena Pawlowna gefolgt war. Hier wohnte er im „Palais Michel“ mit anderen Berühmtheiten zusammen, darunter Hector Berlioz, dem „französischen Beethoven“, welcher damals jenen denkwürdigen Ausspruch that:

„Niemals habe ich einen Geiger mit einem solch eminenten, bezaubernden und edeln Ton gehört, als August Wilhelmj – ich gestehe, seine ganze Art und Weise hat etwas Phänomenales!“

Daß Wilhelmj’s erstes öffentliches Auftreten (am 27./15. Januar 1868) die Czarenstadt in förmliche Ekstase versetzte, läßt sich leicht denken. Nun folgen die Concertreisen in fast ununterbrochener Reihe: die Schweiz, Frankreich und Belgien, England, Schottland, Irland, Holland, Schweden, Norwegen und Dänemark bildeten den Schauplatz seiner Triumphe. In Stockholm ward er Ehrenmitglied der königlich schwedischen Akademie, ferner feierte man ihn durch Orden, durch die Ueberreichung eines Ehrendegens etc. Der Winter 1872 auf 1873 führte unsern Meister zum ersten Male auf eine größere Reise durch Deutschland und Oesterreich. Dieselbe gestaltete sich für Wilhelmj um so glänzender, als mit ihr seine Debüts zu Berlin (in der Singakademie 22. October 1872) und Wien (23. März 1873 im großen Musikvereinssaale) verbunden waren. Die Erfolge in diesen Metropolen waren geradezu epochemachend. 1874 bis 1877 weilte Wilhelmj meist in England und seine künstlerische Vielseitigkeit brach sich hier auf einem anderen musikalischen Felde durchschlagende Bahn. Wir finden ihn, der Virtuosenlaufbahn etwas abseits, in der rührigsten Progaganda für Richard Wagner. Er brachte die Wagner-Concerte in London zu Stande und veranlaßte sogar (Mai 1877) den Meister, hinüberzukommen, unter dessen Oberleitung er bei den vielbesprochenen „Wagner-Festen“ in der königlichen Albert-Halle das aus zweihundert Mitgliedern bestehende Orchester führte.

Besonders zu betonen bleibt noch, daß diesem Wirken jenseits des Kanals die Thätigkeit bei den Bühnenfestspielen zu Bayreuth vorausging, bei welchen August Wilhelmj bekanntlich des schwierigen Concertmeisteramtes mit einem seltenen Fleiße und verständnißvollen Aufgehen in dem Wagner’schen Genius waltete. Aus dieser Zeit [339] stammen auch jene oft citirten Verse Richard Wagner’s, mit welchen dieser seinen treuen Freund, „seinen Nibelungen-Musikmeister“, den „Siegfried unter den Geigern“ besang: „Volker der Fiedler ward nun neu!“ etc.

Ungeachtet seiner kräftigen Constitution konnte er jedoch den Ueberanstrengungen, die ihm seine neue Thätigkeit brachte, nicht Trotz bieten: er erkrankte lebensgefährlich, was die längere Entsagung von der Ausübung seiner Kunst zur Folge hatte. Nach der Genesung ging er wieder nach London, diesmal die großen Krystallpalastconcerte von A. Manns verherrlichend. Eine schmeichelhafte Einladung lockte ihn dann auf’s Neue in das Land des ewig blauen Himmels. Thatkräftig trat er für die deutsche Kunst ein, und eine Reihe von Abenden für deutsche Kammermusik (März 1878) zog ihm die seltene Auszeichnung der Ernennung zum Ehrenmitglied der berühmten Società di Quartetto der alten Lombardenstadt Mailand zu. Das Vaterland Paganini’s erklärte ihn für den ersten Geiger der Welt!

Nachdem Wilhelmj so in Europa als rühriger und berufenster Apostel deutscher Kunst sich überall bewährt, entschloß er sich zu jener großen Fahrt über den Ocean, um in Amerika die Weltreise, für die er von Jugend auf geschwärmt, zu beginnen. Ende September 1878 spielte er zum ersten Male in der „Steinway-Hall“ zu New-York – mit geradezu fabelhaftem Erfolge! Von Stadt zu Stadt aber vermehrten sich auf seinem Zuge durch den Norden und Süden der neuen Welt die Triumphe.

Mit Ehren überhäuft, begab er sich dann nach Neuseelaud und Australien, woselbst ihm gleichfalls Ovationen zu Theil wurden, die jeglicher Beschreibung spotten. In einzelnen Städten wurde er sogar zum Ehrenbürger ernannt! Darauf reiste August Wilhelmj nach Asien. Alexandrien und Kairo konnte er der ägyptischen Wirren halber nicht besuchen, sodaß er sie nur passirte, um direct nach London zu gehen, von wo er im Juli 1882 in seine Heimath an den Rhein zurückkehrte. Die zahlreichen und werthvollen Sammlungen, die er auf seiner großen Wanderung um die Erde erworben, sind in seiner Villa bei Mosbach-Bibrich am Rhein aufgestellt.

Mit dieser Reise um die Welt aber hat Wilhelmj den Traum seiner Jugend verwirklicht, das Ziel seiner Wünsche erreicht: in allen Zonen der Erde hat derselbe gestanden als treuer Priester deutscher Kunst zum Ruhme und zur Zierde deutscher Cultur. Der kunstsinnige Großherzog von Baden war der erste Regent Deutschlands, welcher „in Anerkennung der unvergänglichen Verdienste um die deutsche Kunst im Auslande“, dem Künstler die seltene Decoration des Comthurkreuzes des Verdienstordens vom Zähringer Löwen verlieh. Durch diese Weltreise ist Wilhelmj’s Name in eminentestem Sinne „weltberühmt“ geworden![1]

Sein erstes Wiederauftreten in Europa fand am 15. December 1882 im Cursaale zu Wiesbaden statt. Das Publicum begrüßte den sieggekrönten Meister stehend, und das Orchester intonirte unter allgemeinem Jubel eine Fanfare. Gegenwärtig befindet sich Wilhelmj auf einer Kunstreise in Deutschland, überall Triumphe feiernd, wie sich ähnlicher wohl nur Liszt und Paganini zu rühmen haben.

Wir vermögen unseren Aufsatz nicht zu schließen, ohne das Gebiet von Wilhelmj’s musikalischer Bedeutung flüchtig gestreift zu haben.

Anerkannt steht derselbe als Kammermusiker auf gleich hoher Stufe, wie als Solist. Die letzten Quartette Beethoven’s namentlich, auch die Werke der neuen Tondichter, gehören zu seinen hervorragenderen Leistungen. Altmeister Johann Sebastian Bach aber hat in Wilhelmj den mächtigsten Interpreten gefunden. Nach dem Vortrage der „Chaconne“ sagt einst Richard Wagner, zu Thränen gerührt, zu ihm:

„Reden kann ich nicht, lieber Wilhelmj, aber Sie müssen fühlen, welchen Eindruck Sie auf mich gemacht haben. Es ist das Erhabenste, was mir in der reproductiven Kunst noch vorgekommen ist!“

Wilhelmj’s Compositionen für sein Instrument, für Gesang etc., sowie seine zahlreichen Transscriptionen sind sehr geschätzt; in dieser Beziehung verspricht er noch Bedeutendes.

Hinsichtlich des Repertoires sei bemerkt, daß er das gesammte Gebiet der Violinliteratur beherrscht, wie eben vielleicht Keiner und zwar der klassischen sowohl wie der modernen, romantischen Richtung: in welch letzterer Beziehung häufig Compositionen von Anton Rubinstein, Saint-Saëns, Raff, Johannes Brahms, Max Bruch, Svendsen, Goldmark, August Reißmann, Ferd. Hiller etc. seine Programme zieren. Er ist eben universell in seiner Kunst, Meister in sämmtlichen Stilarten, in den Künsten der Phrasirung, wie in Dingen des Geschmackes vielleicht ohne Rivalen. Neben diesem seltenen Gestaltungsvermögen Wllhelmj’s ist eine andere seiner unerreichten Tugenden als Geiger, seine Technik, diese unbeschränkte, beispiellose Herrschaft über das gesammte Ausdrucksmaterial, nicht stark genug hervorzuheben. Sein wunderbarer, ganz einziger Ton, die Reinheit und Schallkraft ohne Gleichen seiner fabelhaften Terzen-, Sexten-, Octaven- und Decimendoppelgänge, der Oktaventriller etc. – Alles das ist sprüchwörtlich geworden.

„In dem specifisch Violinistisch-Technischen dürfte Wilhelmj vielleicht selbst nicht von Paganini erreicht werden,“ meinte ein gelehrter französischer Geiger – und er hat Recht!

Als Mensch ist Wilhelmj der liebenswürdigste und interessanteste Gesellschafter, der sich denken läßt; „er sprudelt von Geist und Witz,“ sagt Max Schlesinger von ihm – wer je mit ihm zusammengewesen, wird Dem gewißlich zustimmen! Seinen Freunden ist er der treueste Freund. Man muß ihn jedoch näher kennen: denn sein Sarkasmus und seine Ironie haben ihn bei dem oberflächlichen Kritiker zuweilen einer schiefen Beurtheilung ausgesetzt. Aber eine Tugend besitzt er, derentwegen er Allen zum Muster dienen darf und die Alle an ihm rühmen: die ungemachte natürliche Bescheidenheit und Einfachheit. Alle Ehren und Triumphe haben ihm diese nicht rauben können! Man hört ihn niemals von sich selber reden, und im Urtheile über Andere ist er anerkennend und milde.

„Wir thun ja Alle soviel wir vermögen, jeder nach seinen Kräften, und Alle bleiben wir doch hinter unseren Idealen zurück. Wie kann man da von besonderem Verdienste sprechen?“ pflegt er zu sagen.

So tritt August Wilhelmj als eine ritterliche, echt-deutsche Gestalt, ausgestattet mit einer imponirenden Erscheinung, dem genialen Beethoven-Kopfe, dem reichen Gefühls- und Geistesleben, ein vollbegünstigter Liebling der Musen, aus dem Relief der ausübenden Tonkünstler Deutschlands hervor. Er ist der Künstler, in dessen Lorbeerkränze deutsches Eichen- und rheinisches Rebenlaub hineingewunden sind –: ein würdiger College ist der „Geiger-König“ den Königen „Rhein“ und „Wein“, mit welchen er seit seiner ersten Jugend in inniger Vertrautheit lebte.
Ferdinand Mäurer.     




Im Congoland.

Von Dr. Pechuel-Loesche.
1. Eine Kitanda am oberen Congo.
(Schluß.)


Es mochten über tausend Weiber versammelt sein. Die Verkäuferinnen hatten sich auf die Erde gesetzt und ihre Waaren in den landesüblichen, aus Oelpalmenwedeln geflochtenen langen und schmalen Körben, in bis einen Meter im Durchmesser haltenden flachen Strohschüsseln und Holztrögen rings um sich ausgelegt. Da gab es leckere Bananen, köstliche Ananas, feurig-rothe Amomumfrüchte, Erdnüsse, Hühner, Eier, Kohl und sogar römischen Salat, der wahrscheinlich von den portugiesischen Colonien im Süden bis hierher vorgedrungen war. In überwiegender Menge fanden wir jedoch Wurzelknollen und die aus diesen bereiteten Präparate der überaus nützlichen Maniokpflanze zum Verkaufe gestellt: besonders Mayaka, die gewässerten, käsigweißen [340] und scharf riechenden Knollen, und Tschikuanga, zerriebene und im Dampfe gekochte Mayaka. Diese war in Wecken und gerundeten Broden, in Würsten und Klumpen aufgestapelt, jedes Stück sauber in Blätter gewickelt. Abseits neben den die große Mehrheit bildenden Verkäuferinnen von Nahrungsmitteln boten die Töpferfrauen ihre Erzeugnisse feil: kleine und große halbrunde Näpfe, schön geformte Wasserkrüge mit engen schlanken Hälsen, andere mit weiten, kurz angesetzten Oeffnungen und sehr große Thongefaße, die einem der Spitze beraubten Ei glichen, aber noch mit einem schräg nach außen und oben vorspringenden Rande versehen waren. Die meisten dieser keineswegs ungeschickten Gebilde der Töpferkunst zeigten auf röthlich-grauem Grunde das sehr hübsch in dunkler Farbe nachgeahmte Muster der Zeichnung des Malachites.

Das Geschäft schien Niemandem besonders am Herzen zu liegen; nirgends wurde zum Kaufen eingeladen, nirgends wurde gefeilscht. Die Händlerinnen rauchten behaglich ihre Pfeifen oder schwatzten rechts und links mit den Nachbarinnen. Unbekümmert um Diebe tauchten sie auch wohl in das nach allen Richtungen fluthende Gedränge. Wo Bekannte sich trafen, wo eine große Neuigkeit verkündet wurde, da staute sich der Menschenstrom, da bildete sich flugs ein Kreis von Neugierigen um die verhandelnden Parteien. An anderen Stellen steckten Klatschschwestern die Köpfe zusammen zu wichtigen Erörterungen, zu vertraulichen Mittheilungen über Dorf- und Familienereignisse, über das Wetter und den Stand der Feldfrüchte, über Heirathen, Geburten, Todesfälle, gute wie böse Nachbarn, über umgehenden Spuk, bedenkiche Zufälle und Hexenwesen. Hier und dort wurden junge Weltbürger gezeigt und bewundert, unartige Kinder abseits in die Campine geschafft, hungrige vor Aller Augen unbefangen gesäugt. Lebenslustige Weiber improvisirten dann und wann Tänze, die sie mit Gesang und Händeklappen tactmäßig begleiteten. Zudringliche, die Lebensmittel gefährdende Dorfhunde, die man mit Drohungen sowie mannigfachen Wurfgeschossen zu vertreiben suchte, verirrte Kinder, entlaufendes Federvieh, bei der Verfolgung umgeworfene Körbe und Mulden erregten allenthalben kleine Tumulte. So füllte das unendliche Gewühl den ganzen unteren Platz, trotz heißer Sonne, mannigfaltiger übler Gerüche und des aufwirbelnden Staubes. Der Weiber Schwatzen, Lachen, Jauchzen, Singen, Rufen, der Kinder Geschrei, das Gackern und Klagen aufgegriffener Hühner, das lustige Krähen flügelschlagender Hähne vermischte sich zu einem so wüsten, ununterbrochenen Lärm, daß Nervenschwachen dabei wohl Hören und Sehen vergehen konnte.

Um die Mittagszeit begannen auch die Männer einzutreffen. Sie versammelten sich unter den Schattenbäumen des oberen Platzes in unserer Nähe. Auch sie boten mancherlei Waaren feil, indem sie dieselben gleich den Weibern auf der Erde auslegten oder mit sich herumtrugen: kleine und große, nicht selten am Hefte mit Messing hübsch verzierte Messer, eigenartig geformte Beileisen, alle im Lande selbst geschmiedet, von der Küste gebrachtes Steinsalz in Bastsäckchen, Schießpulver in Fäßchen, weiße und bunte Kattune. Auch einheimische Stoffe von naturfarbenem Blätterbast der Naphiapalme, auf primitiven Webstühlen gefertigt, kamen in Menge zu Markte, dazu das Rohmaterial, bündelweise in Ziegenfelle eingerollt. Ferner aus eben diesen Fasern genähte, gestrickte, geflochtene und geknotete Mützen, die theilweise außerordentlich fein gearbeitet sind, zierlich erhabene Muster zeigen und theuer bezahlt werden.

Fische vom Congo, theils frisch, theils getrocknet oder angeräuchert und stundenweit ohne jeglichen Schutz in der Sonnenhitze transportirt, bildeten nach unseren Begriffen keine verlockende Speise, fanden aber dennoch schnellen Absatz. Sie waren stets derartig in sich zusammengebogen, daß Kopf und Schwanz einander berührten. Die größeren wurden einzeln oder in Stücken verkauft, die kleineren aber zu acht bis zwölf, und zwar auf dünne Speiler von Wedelstielen der Palmen befestigt. In der ausnahmslos gefällig symmetrischen Anordnung derselben bekundete sich wiederum der manchmal so überraschend ausgebildete Schönheitssinn der Afrikaner. Durch Kopf, Schwanz und Körpermitte gespießt, sodaß jeder Fisch gewissermaßen eine Ellipse bildete, und dicht an einander geschoben, waren die Exemplare so gereiht, daß von der Spitze abwärts immer größere folgten, an die sich in abnehmender Größe wieder kleinere anschlossen, und zwar derartig, daß der Umriß der Gruppe noch oben sich sehr allmählich, nach unten plötzlich verjüngte.

Von Hausthieren führte man Ziegen und etliche Schweine auf. Erstere hatte man nicht selten originell herausgeputzt mit einer aus Palmfiedern verfertigten, strahlig abstehenden Halskrause; letztere waren nicht, wie es bei unserem Landvolke üblich, um einen Hinterlauf gefesselt, sondern wurden weit praktischer an einem primitiven, um Brust und Hals gelegten Geschirr von Baststricken geleitet. Rinder besitzen die Eingeborenen des Congogebietes gar nicht und Schafe nur äußerst selten. Das zahme Geflügel gehört vorzugsweise den Weibern und wird daher gewöhnlich auch von diesen auf die Kitanda gebracht.

Manche Männer hatten ihre Lieblingshunde bei sich, die sie im Gedränge an der Leine führten oder vorsichtig unter dem Arme trugen. Es waren hübsche, meist recht wohlbehaltene Thiere, fein gebaut, mit klugen Köpfen, spitzer Schnauze und aufgerichteten Ohren, dazu glatthaarig, weiß und gelb oder braun gefleckt, isabellfarbig oder hell silbergrau. Alte Hunde bilden keinen Handelsartikel, wohl aber junge, die eifrig begehrt und gut bezahlt werden, namentlich wenn sie von anerkannt guter Abkunft sind.

Der obere Platz füllte sich immer rascher mit Männern und Knaben, die wie vordem die Weiber uns musterten und neugierig das Zelt umstanden. Bewaffnete sah man äußerst selten. Der eine oder andere trug zwar einen mit Messing beschlagenen Speer in der Hand, benutzte ihn aber mehr als Stock oder Schaustück, und einige junge Leute mit eingeführten Steinschloßflinten auf der Schulter passirten wohl nur im Vorübergehen den Markt. Durchschnittlich waren alle reichlicher gekleidet als die Weiber, sowohl mit den schönen einheimischen Bastzeugen, als auch mit europäischen Baumwollstoffen. Glücklichere paradirten wohl auch in Tuchröcken und bunten Uniformstücken, in unseren Augen entschieden zu ihrem Nachtheile; denn in solchem Aufzuge sind sie ausnahmslos vollendete Caricaturen. Die jüngeren Leute ahmten gern die Haartrachten des weiblichen Geschlechts nach, und besonders selbstgefällige Stutzer glänzten wie Angehörige jenes in Oel und Ruß, leuchteten sogar in rother Schminke und waren nicht minder reich mit Perlen behangen, die selbst noch die Spitzen der zierlichen Zöpfchen schmückten. Einige Männer fielen uns auf durch die Zeichnung ihrer Wangen, die mittelst einer Anzahl langer, von oben nach unten geführter Schnitte verunstaltet waren. Wir erkannten darin das Stammeszeichen der Bateke, die am Congo um den Stanley-Pool und weiter binnenwärts sitzen.

Wie es ihre Würde erheischte, erschienen die Honoratioren der Gegend zuletzt. Dorfälteste im besten Staate, kleine Häuptlinge tauchten auf, und ein Elfenbeinmakler von jenseits des Congo stolzirte großthuerisch einher, mit gelbseidenem Unterkleide und einem Ueberwurf von himmelblauem Sammet angethan, auf dem Kopfe eine rothsammetne mit gelber Seide gestickte Mütze. An seiner rothseidenen Schärpe hing ein Ruthengeflecht, wie das Gerippe eins doppelten Körbchens anzuschauen und mit blauen Glasperlen verziert. Dieses seltsame Gerüst wird beim Schlafengehen über das Gesicht geklemmt, mit einem Stück dünnen Kattuns überdeckt und dient so als ein primitives, im Süden vielfach gebräuchliches Moskitonetz.

Der Ton mehrerer Klingeln, das rhythmische Klappern und Schlagen einheimischer eiserner Doppelglocken, die in Gestalt unseren Kuhglocken ähneln, verkündete die Ankunft hoher Häuptlinge. Gravitätisch unter grellfarbigen Regenschirmen sich bewegend, schritten zwei Mächtige der Gegend durch die Menge einher, uns zu begrüßen. Vor ihnen liefen Herolde, welche die Glocken, andere, welche die hübsch geformten, am Griff mit blanken Messingbeschlägen verzierten großen Messer trugen. Diese gelten, wie bei uns die Scepter, als Würdenzeichen. Hinter ihnen drängte sich ein zahlreiches Gefolge in so wunderlichem Aufputz, als wäre eine europäische Rumpelkammer geplündert worden. Bedientenfräcke, helle und dunkle, lange und kurze Röcke, Jacken, schimmernde Uniformen wechselten ab mit bunten Decken, altfränkisch geblümten Mänteln und allem möglichen Flitterkram, wie man ihn gelegentlich wohl auf Bühnen sieht. Auf den Köpfen thronten ordinäre Filzhüte, rothe und blaue Zipfelmützen, Käppis und Czakos verschiedener Art, die unbekümmert auch verkehrt getragen wurden; sogar ein zerknitterter und vor Alter fuchsig gewordener Cylinderhut tauchte auf als ein Beweis, wie weit schon die Requisiten der Civilisation vorgedrungen waren. Mehrere des Gefolges hatten Trompeten an rothen Schnüren umhängen, andere trugen theils lange glatte oder mit Messing umwundene Rohre, sowie

[341]

Ueberraschte Sommerfrischler.
Nach dem Oelgemalde von M. Weese.




manchmal recht charakteristisch geschnitzte Stöcke; auch mehrere verrostete Cavalleriesäbel und ein mächtiger, einem Richtschwert gleichender Zweihänder wurden mitgeschleppt. Durch solchen Aufzug genügte man der eigenen Eitelkeit und wahrte das Ansehen beim Volke; uns glaubte man zu ehren und nebenbei auch zu imponiren.

Nach einer feierlichen, durch tactmäßiges Händeklappen eingeleiteten und mit Händedruck beendeten Begrüßung wurden den Umständen angemessene Redensarten ausgetauscht. Die Häuptlinge baten uns als Geschenke etliche Hühner und eine Calebasse voll Palmwein, empfingen als übliches Gegengeschenk ein Stück Kattun und zogen dann zufrieden mit den Ihrigen weiter.

[342] Unterdessen hatten sich, leider unbemerkt von uns, einige Fleischer in der Nähe eingerichtet. Ein paar Ziegen waren geschlachtet und zerwirkt worden. Die besten Stücke würden auf ausgebreiteten sauberen Bananenblättern zum Verkauf geordnet; die Eingeweide, nach einer nicht allzu gewissenhaften Reinigung, zerschnitten und sogleich in großen Töpfen an ein offenes Feuer geschoben.

Ein trotz des allgemeinen Lärmens deutlich vernehmbarer Jubel, die ungewöhnliche Erregung der nach einem Punkte hinströmenden Menge lockte uns nach der gegenüberliegenden Seite des Marktes. Hier entwickelte sich ein charakteristisches Stück Volksleben. Eine große Weiberschaar rückte eben auf den Platz, mit Aufbietung aller Kräfte und gellenden Stimmen einen scharf rhythmischen Gesang vortragend, die Hände klappend und wie eine Springprocession in gemessenem Tanzschritt vor und zurück hüpfend. Ein ungeheures nicht enden wollendes Jubelgeschrei der weiblichen Marktbesucher begrüßte sie. Die an dem grotesken Aufzuge Theilnehmenden waren wie das Gefolge der Häuptlinge mit allem nur irgend Verwendbaren, selbst mit Helmen und Czakos aufgeputzt, zudem aber noch vielfach roth, gelb und weiß bemalt, nicht nur im Gesicht, sondern auch auf den entblößten Stellen des Oberkörpers und der Glieder.

Wir hatten offenbar einen Triumphzug vor uns. In seiner Mitte gingen stolz erhobenen Hauptes zwei festlich gekleidete und mit Perlenschmuck überladene junge Frauen. Ein paar riesige für die am Congo heimischen Stämme auffallend dicke Weiber leiteten die Procession. Sich drehend und wendend, die Arme aufwerfend, große blinkende Messer schwingend und durch wilde Anrufe die Zuschauerinnen zu immer neuem Jubelgeschrei aufstachelnd, rückten die Angekommenen bis in die Mitte der Kitanda vor. Dort ordneten sie sich sogleich zum Tanze, den die Umstehenden singend und klatschend begleiteten. Da immer mehr Frauen und Mädchen nicht nur herzudrängten, sondern auch mittanzten, da die Procession sich überdies bald in verschiedene Abthheilungen trennte, die mit Gefolge auf der Kitanda umherzogen und immer weitere Kreise zur Betheiligung verlockten, gewann es fast den Anschein, als wolle das Markgewühl sich zu einem allgemeinen Tanzvergnügen umgestalten.

Wir hatten unterdessen erfahren, daß die beiden gefeierten Frauen von ihren Gatten der Untreue bezichtigt worden waren. Um ihre Unschuld darzuthun, hatten sie sich dem Gottesgericht unterworfen und die giftige Nkassarinde[2] genommen. Beide hatten jedoch das Ordal glänzend bestanden und waren demnach in aller Augen makellos. Um dies freudige Ereigniß entsprechend zu feiern und zugleich eine möglichst wirksame Demonstration gegen die bösen Männer in Scene zu setzen, hatte man diesen Triumphzug sorgfältig vorbereitet.

Gegen drei Uhr war der eigentliche Markt zu Ende. Die Frauen und Mädchen, welche nicht mittanzten oder sich nicht an den immer mehr zunehmenden Umzügen betheiligten, nahmen ihre Waaren auf und kamen nach dem oberen Platz. Hier in unmittelbarer Nähe unseres Zeltes oder weiter ab inmitten der Gruppen der Männer ließen sie sich nieder. Nun vermochte man auch die besonderen Vorgänge bei Abwickelung der Geschäfte eingehender zu beobachten. Es wurde betastet, geprüft und gekostet, gefeilscht wie auf unseren Wochenmärkten. Hin und wieder tauschte man verschiedenartige Waaren einfach aus. Andere wurden wohl auch mit Stücken von Kattun bezahlt, die man am Arm von den Fingerspitzen bis zu Schulter oder bis zur Mitte der Brust oder zwischen den ausgestreckten Armen abmaß. Dabei war man besonders bedacht die Arme recht weit auszuspannen, nach hinten zu strecken und durch die vorgebogene Brust das zu fordernde Stück Zeug möglichst lang ausfallen zu lassen. Natürlich konnten in Folge dieses Vorgehens große und kleine Personen sich am wenigsten schnell einigen über die verlangte und die bewilligte Länge des Stoffes, und der erste Abschluß des Handels ging gewöhnlich viel rascher von statten, als das darauf folgende Bezahlen des bedungenen Preises.

Die wichtigste Verkehrsmünze dagegen bildeten etwa erbsengroße eckige Bruchperlen, Nsimbu, von durchsichtigem, lasurblauem Glase, welche an der Südwestküste allgemein im Gebrauche sind. Zu hundert oder fünfzig auf Schnüre gereiht oder auch in kleineren Mengen gewissenhaft abgezählt, wechselten sie von Hand zu Hand.

Die Frauen kauften nun vielfach auch von den Männern, besonders von den Salzhändlern und Fleischern. Winzige, nach Gutdünken abgemessene Quantitäten von Salz wurden nach langem Hin- und Herreden, nachdem zögernd und unwillig noch einige Körnchen hinzugefügt waren, für etliche Nsimbu erstanden. Lustiger und lärmender ging es bei den Fleischern zu, wo hungrige Frauen sich schoben und stießen. Mit kleinen Näpfen versehen, kauften sie von dem nicht gerade appetitlichen Inhalte der brodelnden Töpfe, immer unzufrieden mit der Menge der ihnen für die Perlen zugemessenen Brühe und der Zahl der Fleischstückchen. Die Vorsteher der Garküchen walteten ihres Amtes mit bewunderungswürdiger Geduld und ließen sich oft genug durch allzu laute Beschwerden zu einer kleinen Zulage bestimmen.

Zur Speise war unterdessen auch Trank herbeigeschafft worden. Vom schnellen Laufe keuchende Männer erschienen auf dem Platze. Sie trugen riesige Flaschenkürbisse voller Palmwein, der wie Champagner perlte oder, wenn bereits zu weit in der Gährung vorgeschritten, durch den Blätterverschluß der Mündung siedend und schäumend hervorquoll. Der weiße süßliche Saft wurde um so eifriger gekauft, als es auf der Höhe sehr an Wasser mangelte und die Hitze groß war.

Das Gewühl um unser Zelt wurde fast unerträglich. Die sich zum Fortgehen anschickenden Menschen wollten noch einen letzten Blick auf die seltsamen Fremdlinge und deren Habseligkeiten werfen, die noch verweilenden hatten Muße, alle Einzelnheiten an und um uns auf das Genaueste in Augenschein zu nehmen. Wir hatten bald Grund genug, zu bereuen, daß wir am Platze selbst eine Lagerstätte gewählt. Wir vermochten uns vor den Zudringlichen, die sich allerdings harmlos genug betrugen, kaum noch zu retten. Selbst im Zelte waren wir nicht sicher. Jedermann wollte uns schreiben sehen und nicht zufrieden damit, durch die offene Thür hereinzublicken, hoben die Neugierigen auch noch die Seitenwände empor. Bald hier, bald dort schoben sich Köpfe in das Zelt, die eilfertig zurückgezogen wurden, wenn wir uns umwendeten.

Unsere Sansibari hielten zwar Wache, vermochten aber nichts gegen die immer wieder vordrängenden Massen auszurichten. Mauergleich standen die Menschen um uns, hin und her drängend, über die weit gespannten Stricke unseres wie im Sturme schwankenden Leinwandhauses stolpernd, lachend, gesticulirend und gutmüthig auch einmal anderen Schaulustigen Platz machend. Unser eifriges Schreiben schien für die Leute das Erstaunlichste zu sein; sie konnten die Blicke gar nicht wegwenden von dem Papier, den zum Tintenfaß geführten und dann wieder eifrig kritzelnden Federn. Aber auch ein aufflammendes schwedisches Zündhölzchen machte einen gewaltigen Eindruck, und wir mußten wohl oder übel, um den unablässigen Bitten zu genügen, zeitweilig einige derselben opfern. Das Aufsprühen des Zündstoffes, das plötzliche Erscheinen der Flamme wurde bewundert wie bei uns ein großartiges Feuerwerk.

Wer weiß, wie lange dieser harmlose, jedoch überaus lästige Belagerungszustand angedauert haben würde, wenn nicht ein komisches Ereigniß uns von den Zudringlichen befreit hätte. Ein Schmetterling flog heran und gaukelte vor der Thür des Zeltes. Herr Teusz, ein eifriger Sammler, ergriff sein Schmetterlingsnetz und sprang hinaus. Die hastige Bewegung, das hochgeschwungene Netz hatten auf die erregbare Menge eine ungeheure Wirkung. Die Massen stoben jäh aus einander. Alles läuft und springt zeterschreiend davon. Manche stürzen während der kopflosen Flucht nieder, Andere fallen über die Zappelnden hin; Kinder, Knaben, Mädchen werden niedergetrampelt, Körbe und Geschirre umgeworfen, Hühner, Hunde, Schweine, Ziegen losgelassen. Ein Höllenlärm tobt ringsum; das rennt und wirbelt, das zetert, quiekt, heult, gellt, belfert und Alles stürmt davon, hinaus in die Campine. Im Nu war rings um uns der Platz verlassen, in Staub gehüllt; wir standen mit den Unseren wie Sieger auf einem Schlachtfelde.

Der so komische Vorfall hätte leicht üble Folgen haben können. Wären nicht die Häuptlinge in unserer Nähe gewesen und hätten sie uns nicht beigestanden, die Gemüther zu beruhigen, so wäre die sinnlose Menge wohl gänzlich davon gelaufen. Die Mehrzahl der Leute kehrte überhaupt nicht wieder zurück, und obwohl der Rest schließlich die scherzhafte Seite des Tumultes begriff, so hielt man sich doch vorsichtiger abseits von uns, ohne uns fernerhin zu belästigen.

[343] Die Kitanda war nun vollständig aufgehoben. Die noch anwesenden Marktgänger suchten das angrenzende Gehölz auf, wo sie sich in Gruppen unter Bäumen und zwischen dem Gebüsch niederließen. Auch dort erinnerte ihr Thun und Treiben lebhaft an das unserer Jahrmärkte. Man setzte sich zu einander, um zu essen, zu trinken, zu rauchen und die Ereignisse des Tages zu besprechen. Allenthalben gingen Personen zwischen den verschiedenen Gruppen hin und wieder, sich in die Unterhaltung mischend, bei einem Trunke Bescheid thuend. Auch junge Leute beiderlei Geschlechts wußten sich zu finden, und manches Mädchens Marktkorb wurde von einem zuvorkommenden Liebhaber von der Kitanda nach Hause getragen.

Allmählich brachen die Familien auf und zogen davon, den Berg hinab. Als die Sonne sich zum Untergange neigte, hatten auch die letzten Nachzügler den Ort verlassen und in den Schluchten, über den Bergen verhallten die Stimmen der Heimkehrenden.




Eine Nordpolfahrt der Zukunft.

Gut Ding will Weile haben!

Und so wird noch mancher stolze Kiel die Fluthen der Eismeere durchschneiden und seine Widerstandsfähigkeit in den harten Stürmen der arktischen Zone erproben müssen, manch kühner Forschergeist wird noch an den Schnee- und Eisfeldern der Polarländer und Meere erlahmen, ehe es gelingen dürfte, das Banner der Wissenschaft an dem einen Endpunkte der Erdachse, auf dem Nordpol, zu entfalten.

Die bisher von einem Schiffe (Dampfer) erreichte höchste nördliche Breite liegt unter 82° 27′, bis zu welchem Punkte der „Alert“, eines der beiden Schiffe, welche die Engländer 1875 zur Erforschung des Nordpols ausgerüstet hatten, unter Capitain Nares am 11. September 1875 durch den Kennedycanal an der Westküste Grönlands vordrang. Diese Expedition kam auch mittelst Schlittenreisen am weitesten gegen Norden vor, und so konnte Schiffslieutenant Markham am 12. Mai 1876 unter 83° 20′ nördlicher Breite die englischen Farben im altersgrauen Spiegel des ewigen Ureises zurückstrahlen lassen.

Nicht minder günstige Resultate hatte auch bereits die österreichische Expedition Anfangs der siebenziger Jahre zu verzeichnen gehabt, bei welcher das schon im Winter 1872 frühzeitig an der Westküste von Nowaja-Semlja im Eise festgefrorene Schiff „Der Tegetthoff“, in einem mächtigen Eisfelde treibend, am 31. October 1873 bis 79° 51′ nördlich von den zuvor genannten Inseln geführt und festgelegt wurde, von welchem Orte aus später zu Schlitten bis 82° 5′ nordwärts gedrungen und das von der Expedition so benannte Franz-Joseph-Land entdeckt werden konnte.

Sämmtliche übrigen Nordpolfahrten, auch die deutschen, blieben weit hinter diesen erreichten hohen geographischen Breiten zurück. So wurde in den Jahren 1880 und 1881 Franz-Joseph-Land von Neuem durch die Engländer aufgesucht. Diese Reise endete aber, wie diejenige des „Tegetthoff“, mit dem Einfrieren und dem Verluste des Schiffes, und kehrte die Expedition, nachdem der Winter 1881 zu 1882 auf Franz-Joseph-Land zugebracht worden war, zu Schlitten und mittelst Boote nach Nowaja-Semlja zurück, woselbst sie, wie früher die „Tegetthoff“-Fahrer, von einem Schiffe aufgenommen wurde.

Auch ein dritter Weg zum Nordpole, welchen die Amerikaner im Jahre 1879 durch die Behringstraße einschlugen, führte zu keinem Resultate. Die „Jeanette“, am 8. Juli desselben Jahres von San Francisco ausgelaufen, saß bereits am 7. September in einem Eisfelde nördlich der Heraldinsel fest, in welchem sie am 17. Juni 1881 nach zweijährigem Umhertreiben in der Nähe der neusibirischen Inseln zu Grunde ging. Die Mannschaften retteten sich zwar mit den Booten nach Sibirien an die Lenamündungen, jedoch kamen der Capitain de Lony und zwei Drittel der Mannschaft in den Schneefeldern um, und ihre Leichen wurden erst im März 1882 aufgefunden.

Es ist keine Frage, daß die bisher bei der Erforschung der Polargegenden gemachten Erfahrungen, wenn auch nicht gerade abschreckend, so doch immerhin entmuthigend wirken müssen und jedenfalls darauf von Einfluß sind, daß einmal gemachte Entdeckungen nicht sofort weiter fortgesetzt und auf der erlangten Basis weiter durchgeführt werden.

Doch soll nach allen diesen Erfahrungen und Enttäuschungen die Erforschung jener eisumsponnenen Zone aufgegeben werden? Gewiß nicht! Was der Mensch mit einem, wenn auch öfter unternommenen, kühnen Anlaufe nicht erreicht, das hat er oft später in langsamem und schrittweisem Ringen durchzuführen gewußt.

Die Anordnungen und Mittel, welche bisher bei den ausgeführten Nordpolfahrten getroffen, bezüglich angewendet worden sind, entsprechen noch nicht völlig den in den arktischen Regionen herrschenden klimatischen Verhältnissen. Nach unserer Meinung sind namentlich zwei Momente vergessen worden, deren Mitwirkung für die Erreichung eines erfolgreichen Ergebnisses als durchaus erforderlich anzusehen sein dürfte.

Wir meinen zunächst die Einrichtung von Stationen, welche für die Dauer vieler Jahre ausgerüstet sein müßten, an den bisher zu Schiffe erreichten Punkten, dann aber auch die Anwendung eines Kommunikationsmittels, welches unabhängig vom Wasser, vom Eis und von der Erde es gestattet, weiter vorzudringen.

Der Anfang hierzu ist bereits gemacht, und mit Stolz können wir hervorheben, daß auch Deutschland im Kreise der internationalen Stationen vertreten ist, welche als Basis für spätere Erforschungen der Pole von allen cultivirten Völkern der Erde, wenn auch augenblicklich nur als wissenschaftliche Beobachtungswarten, eingerichtet worden sind (vergl. Jahrg. 1882, S. 379). Desgleichen hat auch bereits das zweite von uns erwähnte Moment in sofern Berücksichtigung gefunden, als Seitens einer englisch-amerikanischen Gesellschaft für Zwecke einer Nordpolexpedition Luftballons und dynamische Luftschiffe in Anwendung gebracht werden sollen.

Man mag über die Leistungsfähigkeit der Aëronautik so gering denken, wie man will: der Sichtbarkeit der Fortschritte gegenüber, welche die Luftschifffahrt in den letzten Jahren aufzuweisen hatte, wird sich auch das Auge des größten Zweiflers nicht verschließen können, und ist von uns Deutschen der hohe Erfolg nicht genug zu würdigen, welchen Haenlein seiner Zeit in Brünn durch sein mit Eigengeschwindigkeit ausgestattetes, lenkbares Luftschiff erreicht hat (vergl. Jahrg. 1882, S. 215). Auf dem Gebiete der Kunst zu „fliegen“ ist es aber leider in derselben Weise zugegangen, wie in den meisten anderen Branchen der Erfindungen, die nur zu häufig schnöde Gewinnsucht auszubeuten suchte, und deren Erzeugnisse hierdurch auf Kosten des guten Erfolgs mit Recht als in den Pfuhl des Schwindels gehörend bezeichnet werden mußten.

Möge aber das Endziel der Luftschifffahrt noch in grauer Ferne liegen, so kommt es zunächst vor Allem darauf an, die Menschenkräfte selbst derartig abzuhärten, zu stählen und mit dem zu ihrer Erhaltung durchaus erforderlichen Comfort zu umgeben, daß sie auch unter den Gletschern Grönlands und des Franz-Joseph-Landes, auf dem Eisspiegel selbst jenseits des 85.° nördlicher Breite Jahre hindurch dem Nordpolklima zu trotzen im Stande wären.

Uns will es scheinen, daß hierzu vor allen anderen Dingen eine völlige Acclimatisirung an jene rauhen, eiserfüllten, orkanbewegten Regionen erforderlich ist und daß die Forscher, welche sich den Nordpol als Ziel gesetzt haben, zuvor lange Zeit in südlicheren arktischen Stationen zugebracht haben müssen, um nach und nach und in längeren Zwischenpausen immer weiter nach Norden vorzudringen.

Der Amerikaner Hall dürfte ein in dieser Beziehung leuchtendes Vorbild gegeben haben. Dieser unermüdliche Mann hat sich jahrelang in dem nördlichen Inselgewirr seines heimathlichen Erdtheiles aufgehalten und ist dabei beinahe selbst zum Eskimo geworden, um sich gründlich für eine Fahrt zur Erforschung des Nordpols vorzubereiten, welche dann auch auf sein energisches Betreiben im Jahre 1869 seitens der amerikanischen Vereinigten-Staaten-Regierung von New-York aus zur Ausführung gebracht wurde. Doch trotz dieser Abhärtung erlag auch Hall am 8. November 1871 den Einflüssen des fast dauernd Erstarrung athmenden Klimas.

Die von den Schweden in der Mussel-Bai auf Spitzbergen beinahe unter dem 80.° errichteten und die von den Amerikanern [344] in der Lady-Franklin-Bucht unter 81° 20′ nördlicher Breite etablirten Beobachtungsstationen sind die nördlichsten Orte von den kürzlich angelegten Observatorien, welche, in den verschiedenen Eismeeren vertheilt, zu 11 um den Nord- und zu 2 um den Südpol liegen.

Die eine der vom deutschen Reiche errichteten Stationen, zu deren Gründung im verflossenen Jahre die „Germania“, das von der zweiten deutschen Nordpolexpedition an die Ostküste von Grönland her bekannte Schiff, den Dr. Wilhelm Giese als Leiter hinführte, liegt im Cumberlandsund in der Davisstraße, die andere auf Südgeorgien im Südatlantischen Ocean, zu deren Einrichtung und Leitung ein Schiff der kaiserlichen Marine den Dr. Schrader hinbrachte.

Diese sämmtlichen Stationen werden durch ihre meteorologischen Aufzeichnungen, durch die Beobachtung der Meeresströmungen, durch Aufklärung der Geheimnisse des Erdmagnetismus etc. wesentlich das Gelingen zukünftiger Nordpolexpeditionen erleichtern, und aus den daselbst installirten Mannschaften wird sich der Kern einer Armee herausbilden, welche einst mit Erfolg den Entscheidungskampf um den Nordpol wird aufnehmen können.

Was das neue englisch-amerikanische Project einer Nordpolfahrt anbetrifft, so sehen wir von einer speciellen Wiedergabe der in amerikanischen Journalen und in der „Times“ seiner Zeit darüber enthaltenen Notizen ab, da die Schilderung eines ideellen Verlaufes einer Nordpolexpedition, wie dieselbe im Nachstehenden besprochen werden soll, jedenfalls alles das mit enthalten wird, was die Engländer und die Amerikaner in dieser Beziehung geplant haben.

Das unserem Aufsatze beigegebene Bild soll den Verlauf einer Forschungsfahrt in die arktischen Länder und Meere veranschaulichen. Ein Blick auf die geographische Karte im Mittelpunkt der Illustration zeigt, welches umfangreiche Gebiet noch zu durchfahren, zu durchwandern und aufzuklären ist, ehe einer der allein ruhenden Punkte der rastlos um sich selbst eilenden Erdkugel erreicht werden kann. Als Angriffspunkt, dieses Riesenwerk zu lösen, möchte den deutschen Forschern der Weg durch das Ostgrönländische und Ostspitzbergische Meer, an der Ostküste Grönlands entlang, über Spitzbergen, durch Nowaja-Semlja nach Franz-Joseph-Land gelten.

Hier haben bereits überall deutsche Männer gewirkt und geduldet, sind deutsche Zungen erklungen, und die auf den Reisen der „Germania“, der „Hansa“, sowie des „Tegetthoff“ (österreichische Nordpolfahrt 1871) neu entdeckten Länder führen die Namen „König-Wilhelm-Land“ und „Franz-Joseph-Land“.

Von hier aus möge das deutsche Wort von Neuem erklingen, und oben am Nordpol mögen sich die Banner Deutschlands und Oesterreichs auch im Dienste der Wissenschaft vereinen, wie sie schon jetzt im gegenseitigen staatlichen Interesse in treuer Freundschaft zusammen wehen.

Wie weit „König-Wilhelm-Land“, wie weit „Franz-Joseph-Land“ nach Norden reichen, ob, durch Meeresarme von diesen Ländern getrennt, sich noch andere Inseln gegen den Nordpol hin erstrecken, wer will das behaupten? Dieses festzustellen muß aber die nächste Aufgabe der Forschungen sein. Um sie zu lösen, heißt es jedoch dort oben erst einmal festen Fuß zu fassen, Stationen zu gründen, die in gleichzeitig weiter südlich anzulegenden Ansiedelungen und Depotplätzen den Rückhalt finden. Eine Entfernung derselben unter einander von fünfzehn bis höchstens dreißig geographischen Meilen scheint im Allgemeinen zulässig, bei schwierigem Terrain, in vergletscherten oder unter Ureis begrabenen Landstrichen, im farblosen Labyrinth des festen Packeises wird man aber häufiger sich mit noch bei weitem geringeren Entfernungen begnügen müssen. Wir haben schon zuvor darauf hingedeutet, daß den in die arktischen Zonen entsendeten Männern durchaus derjenige Comfort gewährt werden muß, welcher sie, sozusagen außer Dienst, möglichst vor den Einflüssen des Klimas bewahrt, die bisher bei allen Nordpolfahrten so schwer in’s Gewicht gefallen sind. Nach gethaner Pflicht, nach körperlichen Anstrengungen verlangen Geist und Körper in möglichster Behaglichkeit zu ruhen.

Sollen die Stationen Jahre hindurch mit denselben Leuten besetzt bleiben, so muß für ein Unterkommen gesorgt werden, das unter allen Umständen vor der schneidenden Kälte, die weit den Gefrierpunkt des Quecksilbers übersteigt, vor den das Mark durchwühlenden Schneewehen und den orkanartigen Stürmen schützt. Wasser aus aufgethautem Schnee und Conserven sind sicherlich die einzigen Nahrungsmittel, welche dauernd den Eisverbannten zu Gebote stehen werden, denn die Ergebnisse der Jagd in jenen Breiten sind sehr gering und stets auch nur dem Zufall zu verdanken. Jedoch bezüglich der Kleidung, der Nahrung und sonstiger Ausrüstungsgegenstände der Nordlandsfahrer ist bisher stets das Richtige getroffen worden.

Anders steht es bezüglich der Stationsgebäude. Uns will es scheinen, daß nur ein schweres Blockhaus geeignet ist, den nordischen Wettern zu widerstehen, und daß gegen die Kälte und gegen den alles durchdringenden Schneesturm allein doppelte Wände mit Moosfütterung, die Wahrung des Einganges durch Vorhäuser, sowie der Fenster durch Laden, und im Innern ein mächtiger Steinofen schützen werden. Der Schnee auf dem Dache, die zusammengepeitschten Schneewehen um das Gebäude selbst möchten hierzu ebenfalls nicht unwesentlich beitragen. – Jedoch wie soll das Material zu diesen Gebäuden in jenen baumlosen Einöden gewonnen werden? Auf Treibholz, welches sich in dem südlicheren arktischen Meere in nicht unbedeutender Menge findet, wird an den fast ausnahmslos eisumsponnenen Küsten des König-Wilhelm- und Franz-Joseph-Landes kaum zu rechnen sein; die erforderlichen Hölzer aus dem Heimathshafen mitzunehmen, würde nicht gut möglich sein. Das Schiffsgebäude selbst muß daher das Material hergeben; der Zweck desselben als Fahrzeug ist ja auch in dem vorliegenden Falle erfüllt, wenn es gelang, eine Küste zwischen dem 80° und 85° nördlicher Breite zu gewinnen.

Steil ragen die Felsen aus den Fluthen empor, welche in nicht weiter Ferne die weite Fläche des Packeises begrenzt. Thaleinschnitte sind nirgend zugänglich; dieselben sperrt das sich langsam als Gletscher aus dem Inneren des Landes nach dem Meere fortbewegende Eis.

Mühsam muß auch das geringste Bedürfniß emporgeschleppt werden. Endlich ist das Stationshaus vollendet; alle Vorräthe, namentlich der Rest des Schiffsholzes, die Kohlen geborgen. Auch das Observatorium, durch Drahtseile gesichert und mit einem optischen Telegraphen versehen, harrt seiner Benutzung, und die für den Transport der Schlitten mitgeführten Hunde erfreuen sich wieder des festen Bodens in ihrem mit Hütten ausgestatteten Zwinger.

So lange es der nur allzu kurze winterliche Sommer zuläßt, wird versucht, durch die Jagd die Vorräthe zu vermehren; die ganze Natur ist selbst der endlose Eiskeller, welcher auch die überreichste Jagdbeute lange Zeit vor dem Verderben schützt. Jedes gewonnene Fell wird die Wohnlichkeit des Blockhauses erhöhen, jede Tonne Fett oder Thran das Licht- und Heizmaterial vermehren.

Ist die Einrichtung vollendet, so werden Zweigstationen gegründet, die sich zuerst jedoch auf südlicher gelegene Punkte erstrecken müssen. Ehe der Kampf um den Nordpol aufgenommen werden kann, ist es erforderlich, eine Etappenstraße zum Heimathsland hin zu sichern; denn die Anlage dieser ermöglicht nicht nur einen etwa nothwendig werdenden Rückzug, sondern sie gestattet vor allen Dingen auch die Möglichkeit einer späteren Zufuhr, wenn es vielleicht im nächsten Jahre unmöglich werden sollte, wiederum zu Schiffe in die zuvor erreichten hohen Breiten zu gelangen.

Wenn es schon schwierig war, den Transport der schweren Hölzer etc. vom Schiff auf die steile Küste zu bewerkstelligen, so werden die Mühseligkeiten noch ungeheuerlich wachsen, wenn es gilt, die Hunderte und Aberhunderte von Centnern nach den Bauplätzen der anderen Stationen zu schaffen. – Der lange Tag hat längst der schaurigen, für den Nordpolfahrer geradezu ewigen Nacht weichen müssen. Die rauheste Jahreszeit ist eingetreten, und nur die in Folge vorübergehender günstigerer Witterung sich einstellenden Ruhepausen im Kampfe der Natur, in der von Schnee und Sturm durchtobten Atmosphäre, sowie der Glanz des strahlenden Nordlichtes lassen eine Reise von wenigen Kilometern zu, die oftmals hin und zurück gemacht werden muß und zu deren Gelingen die treuesten Freunde des Menschen, die Hunde, nicht am geringsten beitragen.

Soll die Riesenarbeit der Stationsanlagen gelingen, so muß gleichzeitig von mehreren Punkten aus vorgegangen werden. Des Menschen Energie wird jedoch unter der Voraussetzung, daß die

[345]

Eine Nordpolfahrt der Zukunft.
Originalzeichnung von F.

[346] hierzu erforderlichen Geldmittel aufgebracht werden können, alle Schwierigkeiten zu überwinden wissen, und in zwei bis drei Jahren sind vielleicht an Grönlands Ostküste, auf den Inseln nördlich Nowaja-Semljas bis zum 85° nördlicher Breite hin Etappen angelegt, welche den weiteren Forschungen nach Norden den durchaus erforderlichen Rückhalt und Nachschub gewähren.

Die Beobachtungen zahlreicher Stationen, die Möglichkeit, sich durch die optischen Telegraphen, vielleicht mit Hülfe zeitweise zu besetzender Zwischenstationen, zu verständigen, oder auch gar directe Uebersendungen von Nachrichten werden es später zulassen, rechtzeitige Berichte nach den Häfen des nördlichen Europas oder Südgrönlands zu senden, die sich über die Möglichkeit und die Vermuthung aussprechen dürften, daß sich für den Sommer des betreffenden Jahres die Eisverhältnisse für ein weiteres Vordringen zu Schiffe günstig gestalten möchten. In Folge hiervon könnten dann die in diesen Häfen völlig zur Abfahrt bereitliegenden Expeditionsschiffe alsbald gegen Norden steuern, um es entweder selbst zu versuchen, auf eigene Faust vorzudringen, oder von irgend einer zu erreichenden Station aus die Reise zum Pol zu unternehmen.

Die Mitführung eines kleinen Ballon captif zu Recognoscirungen könnte das Auffinden offenen Wassers wesentlich erleichtern, auch ließe sich in einer Höhe von vielleicht nur 500 Metern ein Ueberblick gewinnen, der gewiß zur weiteren Aufklärung der arktischen Verhältnisse dienen würde. Eine Recognoscirung mit dem Ballon erfordert aber völlig windstilles Wetter und werden wohl die Tage nicht allzu häufig sein, an welchen die Witterung ein derartiges Unternehmen gestattet.

Schließlich wird aber auch dem Vordringen zu Schiff, mit Booten oder auf Schlitten vielleicht ein unüberwindliches Halt zugerufen werden. Eine letzte Station ist dann provisorisch einzurichten; von dieser aus erfolgt das allein nur noch mögliche Vorwärts mittelst eines dynamischen Luftschiffes. Ein festliegendes geschütztes Eisfeld giebt wiederum den nöthigen Raum für das zur Vorbereitung der Luftreise erforderliche Gebäude. Ein günstiger Wind – der Aërostat entschwindet nach Norden, um nach Erreichung des Zieles entweder mit einer anderen südlich wehenden Luftströmung zurückzukehren, oder (wenn das lenkbare Luftschiff wirklich erfunden sein wird), seine Eigengeschwindigkeit gebrauchend, die eisige Luft in der Richtung seines Ausganges zu durchfurchen. Für alle Fälle ist das Luftschiff mit einem kleinen Boot, mit einem Schlitten und mit einem dreißigtägigen Proviant zu versehen, damit auch im Fall eines Verlustes des Ballons beim Landen die Rückreise ermöglicht werden kann. Das Gewicht aller dieser Gegenstände gestattet dann aber sicherlich nur die Beförderung eines oder höchstens noch eines zweiten Reisenden. Wer wird sich zuerst einem Aërostaten in jenen Zonen anvertrauen? Freundlicher Leser, frage dein eigenes Herz! F.     




Ueber die Erlernung fremder Sprachen aus Büchern.

Welches Lehrbuch wähle ich am zweckmäßigsten für die Erlernung dieser oder jener fremden Sprache? Welche Methode ist hierfür die empfehlenswertheste, die am schnellsten und dabei doch zugleich auch am sichersten zum Ziele führende? Ist es überhaupt möglich, aus Büchern – und nur aus solchen – eine Sprache zu erlernen? und wie viel Zeit nimmmt die Erlernung bei mittleren Anlagen und ausdauerndem Fleiße in Anspruch?

Derartige fortwährend bei der Redaction der „Gartenlaube“ aus den verschiedensten Kreisen einlaufende Anfragen geben Zeugniß dafür, wie weit verbreitet und wie tief empfunden das Bedürfniß und der Drang nach Erlernung fremder Sprachen bei uns ist. Um so zweckmäßiger und ganz der „Gartenlaube“ entsprechend erschien darnach ein zusammenfassender Aufsatz, der nicht nur den vielen einzelnen Fragestellern willkommen sein wird, sondern hoffentlich auch dem weit ausgedehnten Leserkreise dieses Blattes überhaupt, wohl Manchen eine erwünschte Anregung gebend und die Betheiligten zugleich vor schwindelhafter Ausbeutung gläubigen Vertrauens warnend und bewahrend, wie andererseits ihnen das wahrhaft Empfehlenswertheste empfehlend.

Der ehrenvollen Aufforderung der Redaction zu einem solchen Aufsatze bin ich mit Freuden nachgekommen, und theile im Folgenden nach bestem Wissen und Gewissen die Ergebnisse einer auf sorgfältige und eingehende Prüfung sich stützenden vieljährigen Erfahrung mit.

Ich beginne mit der sogenannten Methode „Toussaint-Langenscheidt“, mit der ich mich besonders eingehend vertraut zu machen vielfach Gelegenheit gehabt. Toussaint und Langenscheidt, die beiden Verfasser des „brieflichen (französischen) Sprach- und Sprechunterrichts für das Selbststudium Erwachsener“, erheben – wie sie in ihrem „Prospect“ freimüthig bekennen – durchaus nicht den Anspruch, eine „neue“ Unterrichts- und Lehrweise „erfunden“ zu haben; sie haben vielmehr nur die für Erwachsene als besonders erprobt bewährten Lehrarten von Jacotot, Hamilton und Robertson zu einem in sich gegliederten Ganzen verbunden. Was sie aber als ihr eigenstes Verdienst dabei in Anspruch nehmen und mit vollstem Recht in Ansprach nehmen können, ist die umfassende und bis auf das Einzelnste und Feinste sorgfältige und genaue Darstellung der Aussprache mittelst eigener, leicht dem Gedächtniß sich einprägender Zeichen.

Ich theile hierfür das Zeugniß mit, das Dr. F. Booch-Arkossy im Vorwort seines weiter unten zu besprechenden „Lehr- und Lesebuches der französischen Sprache“ abgegeben hat in der Anerkennung, das durchgeführte Aussprachesystem in den mit allseitigem Beifall aufgenommenen Unterrichtsbriefen von Toussaint und Langenscheidt habe sich so ausgezeichnet bewährt, daß auch das als classisch anzuerkennende große „Encyklopädische französisch-deutsche und deutsch-französische Wörterbuch“ von Sachs und Villatte diese Darstellung angenommen und durchgeführt hat.

Ich hebe nun aus dem Toussaint-Langenscheidt’schen „Prospect“ folgende Stellen aus:

„Jedes Lebensalter über vierzehn bis sechszehn Jahre befähigt zur selbstständigen Theilnahme am Unterricht.“

„Vorkenntnisse oder besondere Fähigkeiten werden nicht vorausgesetzt.“

Daß jeder Erwachsene, der deutsch Geschriebenes zu lesen und zu verstehen im Stande ist, sich mit dem vollen Vertrauen, das vorgesteckte Ziel auch wirklich zu erreichen, an dem Unterricht betheiligen kann, ist ein wesentliches und kennzeichnendes Merkmal der im Langenscheidt’schen Verlage erschienenen Sprachbriefe. Alles, was für den zu erreichenden Zweck erlernt werden muß, findet sich an der geeigneten Stelle vollständig in der einfachsten und faßlichsten Weise erklärt und aus einander gesetzt. Der Lernende braucht an Kenntnissen Nichts als das Verständniß des in deutscher Sprache klar und deutlich Dargelegten mitzubringen. Dagegen wird andererseits eine tüchtige Willensfestigkeit und Stärke vorausgesetzt, die sich in anhaltendem Fleiß und zäher Ausdauer zu bethätigen hat.

„Will man zum Ziel gelangen,“ heißt es in dem Prospecte, „so muß gründlich und eifrig hinter einander gelernt werden. Wer ‚etwas‘, ein wenig Englisch oder Französisch treiben will, fange lieber gar nicht an. Ohne eine gewisse Selbstüberwindung, ohne den festen, unerschütterlichen Vorsatz: ‚Du willst die Sprache gründlichst erlernen‘, kommt man nicht zum Ziele; warm muß man beim Lernen werden. Und von den Elementen an muß das Studium unausgesetzt fortgeführt werden.“

Sowohl die englischen wie die französischen Unterrichtsbriefe enthalten je sechsunddreißig Briefe in zwei Lehrstufen, von denen der Prospect die erste als Nothbehelf für das dringendste Bedürfniß, die folgende als unerläßliche Ergänzung zu einem festen, sichern Wissen und Können bezeichnet. Für jeden Brief wird bei mittlern Fähigkeiten und einem täglichen fleißigen und beharrlichen Studium von anderthalb bis zwei Stunden die Zeit von vierzehn Tagen in Anspruch genommen, also für jede Lehrstufe von achtzehn Briefen etwa neun Monate, das heißt für die beiden Stufen anderthalb Jahre.

Man ersieht hieraus wohl, wie entfernt die Verfasser davon sind, in Denen, die sich ihrem Unterricht anvertrauen wollen, trügerische Hoffnungen zu erwecken. Man vergleiche damit, was Booch-Arkossy in dem Vorwort zu seinem schon erwähnten Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache über die erforderliche Dauer [347] des Studiums sagt. Dieses für höhere Lehranstalten berechnete Buch setzt Lernende voraus, „die mindestens mit der Grammatik der deutschen Muttersprache durchaus fertig und darin sicher sind.“ Das Ziel (allseitige Fertigkeit im Sprechen, Verstehen und schriftlichen Gebrauch des Französischen) ist mit fleißigen Schülern in Jahresfrist für viele Kreise sicher zu erreichen; mit zwei oder drei oder selbst sechs Monaten ist es nicht gethan. „Wer das Gegentheil behauptet, täuscht unwissentlich sich selbst oder wissentlich Andere.“

Manchem freilich mag es vielleicht verlockend genug klingen, wenn ihm ein „Meisterschafts-System zur praktischen und naturgemäßen Erlernung der englischen und (der) französischen Geschäfts- und Umgangssprache“ geboten wird als „eine neue Methode, in drei Monaten eine Sprache sprechen, schreiben und lesen zu lernen“, angekündigt wird, zumal wenn noch ausdrücklich hinzugefügt ist, daß „kein anhaltendes Studium erforderlich“ sei.

Natürlich läuft das Ganze, wie es bei Booch-Arkossy heißt, auf „einige Dutzend mechanisch eingeübter Phrasen und Gesprächsformen“ hinaus. Ein wirkliches Kennen und Können einer Sprache ist – wie jeder ein wenig Nachdenkende sich von vornherein selbst sagen muß – in so kurzer Zeit und zumal auf solche Weise, „ohne anhaltendes Studium“ nicht erreichbar. Man beachte z. B. nur die bei Toussaint-Langenscheidt so sorgfältig und meisterhaft behandelte Aussprache und sehe, wie es in dem sogenannten „Meisterschafts-System“ dafür heißt:

„Die richtige Aussprache kann man sich ohne einen Lehrer kaum erwerben. Wo es irgend möglich ist, empfehle ich daher, sich von einem geborenen Franzosen die Hauptsätze vorlesen zu lassen und ihm dieselben zuerst Wort für Wort und dann im Zusammenhange nachzusprechen. Doch genügt auch die Hülfe eines Deutschen, welcher mit der Aussprache vollständig vertraut ist.“

Ich glaube kein Wort über ein solches „Meisterschafts-System“ hinzufügen zu müssen, und wende mich nun wieder zu den Toussaint-Langenscheidt’schen Unterrichtsbriefen. Hier heißt es in der Einleitung:

„Jedes Sprachstudium macht Mühe, und wir sind weit entfernt zu sagen, daß unsere Methode diese gänzlich erspare … Dagegen können wir, gestützt auf Erfahrung, Jedem die beruhigende Versicherung geben, daß das Interesse, welches unsere Methode bei jedem Denkenden erweckt, die erforderliche Mühe so sehr verringert, daß sie kaum empfunden wird; denn bald findet jeder Lernende Vergnügen, ja Genuß am Studium … Auch wolle sich Jeder überzeugt halten, daß er das Ziel – bei Beharrlichkeit und pünktlicher Befolgung der gegebenen Vorschriften – sicher erreichen wird.“

Dieses Ziel ist die Verbindung des Kennens und des Könnens der fremden Sprache, und mit gutem Bedacht haben demgemäß Toussaint und Langenscheidt ihre Methode als „brieflichen Sprach- und Sprechunterricht“ bezeichnet. Diese Verbindung der Sprachlehre mit dem Sprechenlernen; die jede Ermüdung verhütende planmäßige Vertheilung des Lehrstoffes (unter fortwährender Berücksichtigung aller Theile des Sprachwissens und der Sprechübungen) in kurze und übersichtliche Abschnitte; das stufenmäßige, sichere und stetig wahrnehmbare Fortschreiten und die, bei der vom Lernenden selbst mit voller Sicherheit zu beschaffenden Fehlerverbesserung, geübte fortwährende Selbstcontrole sowohl über das bereits fest in sein geistiges Eigenthum Uebergegangene einerseits, wie andererseits über das noch einer wiederholten Durchnahme oder doch wenigstens einer festern Ein- und Nachübung Bedürftige, – diese Vorzüge der Methode Toussaint-Langenscheidt sind es, die dem rastlos auf das Ziel zuschreitenden Schüler seine Mühe erleichtern und versüßen.

Muß es ihn doch mit Freude und muthigem Selbstvertrauen erfüllen, wenn er sieht, wie er stetig fortschreitet. Ueberall fühlt er sichern und festen Boden unter seinen Füßen; denn nirgend wird ihm eine Aufgabe zugemuthet, die er nicht mit Zuhülfenahme des bis dahin Erlernten vollständig zu lösen im Stande wäre. Nichts treibt und zwingt ihn, zu etwas Späterem vorzuschreiten, ehe er sich in dem Vorhergegangenen vollständig befestigt hat, im Gegentheil leiten ihn etwaige Fehler in seinen Lösungen immer wieder zu den Punkten zurück, in denen sein Wissen entweder noch eine Lücke oder doch wenigstens nicht die gehörige Sicherheit zeigt, und indem er die Lücke ausfüllt oder die Unsicherheit durch weitere Einübung beseitigt, gewinnt er eine vollkommen feste und zuverlässige Grundlage für den Fortgang. Daraus erklärt es sich, daß fleißige und gewissenhafte Schüler der genannten Unterrichtsbriefe im Stande sind, sich aus denselben – und nur aus denselben – ein genügendes, festes und lückenloses Wissen in der betreffenden Sprache und eine bedeutende Fertigkeit in derselben anzueignen, wie denn die Einleitung die nachgewiesene Thatsache hervorheben kann, „daß Leute, welche keine einzige Stunde mündlichen Unterrichts im Französischen, beziehungsweise im Englischen genossen, sich lediglich durch das Studium der Unterrichtsbriefe so weit gebracht, die staatliche Prüfung als Lehrer des Französischen oder des Englischen gut zu bestehen, und daß sogar in derartigen Prüfungen die Schüler dieser Unterrichtsbriefe sich in der Regel auch durch ihre Aussprache vortheilhaft hervorthun“.

Ich bin weit davon entfernt, den – zum Theil sehr hohen – Werth anderer Hülfsmittel zur Erlernung lebender Sprachen zu verkennen; aber für das Selbststudium von erwachsenen Deutschen muß ich doch nach bestem Wissen und Gewissen die im Langenscheidt’schen Verlage erschienenen Toussaint-Langenscheidt’schen Unterrichtsbriefe in ihrer vervollkommneten und verbesserten Gestalt der dreißigsten Auflage, namentlich auch in Bezug auf die Aussprachebezeichnung, das Empfehlenswertheste nennen.

Die Langenscheidt’sche Verlagshandlung hat an die Spitze ihres Prospectes die folgende Bemerkung gestellt:

„Die Methode Toussaint-Langenscheidt ist geistiges Eigenthum der Langenscheidt’schen Verlagshandlung; sie wurde von ihren Begründern, beziehungsweise berufenen Mitarbeitern bis jetzt nur auf Englisch, Französisch und Deutsch[3] für Deutsche angewandt. Zu allen sonstigen, für die verschiedensten Sprachen und Nationen im In- und Auslande unter der Benennung ‚Methode Toussaint-Langenscheidt‘ oder ähnlicher Bezeichnung aufgetretenen Erscheinungen, beziehungsweise Nachahmungen stehen wir weder in Beziehung, noch sind dieselben unser Verlag. Dies ist gefälligst namentlich hinsichtlich einer neueren, von der literarischen Industrie auf den Markt gebrachten Nachbildung der englischen und französischen Unterrichtsbriefe zu beachten, die unter einer dem Originale täuschend ähnlichen, augenscheinlich auf Erregung von Irrthum speculirenden Bezeichnung erscheint.“

Man wird von mir nicht erwarten, daß ich einem schamlosen und elenden Freibeuter die Ehre der Erwähnung in diesem Blatte anthue; dagegen glaube ich eine andere, ehrliche Nachahmung der Methode „Toussaint-Langenscheidt“ nicht ganz unerwähnt lassen zu sollen, obgleich ich mich nicht in der Lage befinde, ein wirkliches Urtheil über dieselbe abzugeben. Ich meine die aus anderem Verlage in den von E. L. Morgenstern übergegangenen und dort nun weiter fortgesetzten „Sprachlichen Unterrichtsbriefe für das Selbststudium, nach der Methode Toussaint-Langenscheidt“. Bei diesem Unternehmen werden ehrlich und offen die englischen und französischen Unterrichtsbriefe des Langenscheidt’schen Verlages als die Meister und Vorbilder anerkannt, und es handelt sich hier um den Versuch, den bewährten Lehrgang in ähnlicher Weise auf Sprachen zu übertragen, welche in dem Langenscheidt’schen Verlage bisher nicht behandelt worden sind. Von diesem Unternehmen sind fünf Sprachen vollständig erschienen, zwei todte: Griechisch und Lateinisch, und von lebenden: Italienisch, Spanisch, Russisch. Vom Dänischen, vom Portugiesischen und vom Holländischen sind bis jetzt nur die Anfangsbriefe veröffentlicht. Alles bisher Erschienene liegt mir vor, und ich habe auch hier und da einen Blick in die Arbeit hinein gethan; aber ich kann und will darüber, wie gesagt, kein Urtheil abgeben, zu welchem meiner Ansicht nach nur Der berechtigt ist, der sich entweder gründlich in das betreffende Werk selbst vertieft hat oder es hat von Schülern durcharbeiten lassen. Wenn ich hier nicht verschweige, daß es mir scheint, als ob hier und da sich einzelne [348] Ausstellungen erheben ließen, so will ich damit dem Werthe des Ganzen durchaus keinen Abbruch thun. Es versteht sich, daß derartige Arbeiten sich beim ersten Wurfe nicht in der Vollkommenheit darstellen können, wie etwa die Toussaint-Langenscheidt’schen „Unterrichtsbriefe“ in der dreißigsten Auflage.

Ich komme nun auf ein schon mehrfach erwähntes höchst empfehlenswerthes Lehrmittel zur Erlernung fremder Sprachen zurück, nämlich auf die von F. Booch-Arkossy im Verlage von Breitkopf und Härtel unter Mitwirkung nationaler Gelehrten herausgegebene „Bibliothek ausführlicher Lehr- und Lesebücher der modernen Sprachen und Literaturen nach Robertson’s Methode“.

Wie bereits erwähnt, setzt diese vortreffliche „Bibliothek“ bei ihren Schülern größere Vorkenntnisse als die Toussaint-Langenscheidt’schen „Unterrichtsbriefe“ voraus und sie ist eigentlich für den Unterricht an „höheren Lehranstalten“ bestimmt und berechnet; doch können freilich auch „gebildete Selbststudirende“ dieses Lehrmittel mit gutem Erfolge benutzen, indem sie sich des in dem „Supplement“ zu jeder Sprache erschienenen „Schlüssels“ oder der Lösung der Aufgabe zur Verbesserung der von ihnen gemachten Fehler bedienen.

Erschienen sind in dieser „Bibliothek“ bisher die folgenden Sprachen: Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch.

Eine in demselben Verlage als Theil der „Bibliothek ausführlicher Lehr- und Lesebücher der modernen Sprachen“ erschienene „Neugriechische Grammatik“ von mir schließe ich natürlich hier ebenso von der Besprechung aus, wie oben meine „Deutschen Sprachbriefe“; aber ich glaube, rein sachlich und zum Nutzen unserer Gymnasialzöglinge, in Bezug auf die oben berührte Frage über das Kennen und Können einer erlernten Sprache auf das in dem Vorwort meiner „Neugriechischen Grammatik“ Ausgesprochene hinweisen zu dürfen und zu müssen.

Alt-Strelitz. Dan. Sanders.     




Blätter und Blüthen.

Für Mütter. Die Bewahrung ihrer Kinder vor der Diphtherie bildet mit Recht die Hauptsorge einer Mutter. Vergeblich sucht man nach einem absolut sicher wirkenden Mittel gegen diese Krankheit, sollte aber auch, was mehr als fraglich ist, in Zukunft ein solches Specificum gefunden werden, ohne Milhülfe der Eltern kann es seine volle Wirkung nie entwickeln. Ist die Krankheit vollkommen ausgebrochen, sind Kehlkopf und Luftröhre schon ergriffen, der kleine Patient erschöpft und verfallen, so bleibt für ein Gegenmittel ebenso wenig Aussicht auf Erfolg, wie bei einem eingenommenen im Körper schon verbreiteten Gifte, z. B. Arsenik.

Dem Feinde den Eintritt zu verwehren und ihn an der Pforte zu bekämpfen, giebt uns die Natur als Hülfe einige wichtige Winke. Die Diphtherie ist verbreiteter, als man anzunehmen pflegt, doch gelangen vielfach Erkrankungen bei einem widerstandsfähigen Organismus unbemerkt zur Abheilung.

Nicht zu selten wird ein Kind zu dem Arzte geführt, weil ihm beim Schlucken das Getränk aus der Nase fließt, eine Gaumensegellähmung ist vorhanden, welche auf eine vorausgegangene Diphtherie schließen läßt, etwas Halsweh vor einer Woche war die einzige Erscheinung. Noch öfter fehlt aber sogar diese Lähmung und zwar vorzüglich bei älteren Kindern und Erwachsenen, und hinter geringen Schmerzen beim Schlucken argwöhnt Niemand den tückischen Feind. Nach einigen Tagen erkranken kleine Familienmitglieder, Niemand erräth die Ursache, die Ansteckung erfolgte, und ist dies mit die häufigste Uebertragung von diesen leichteren als Halskatarrh gedeuteten Fällen. Die Erkrankung wird schwerer durch den in den Räumen jetzt gehäuften Ansteckungsstoff und die geringere Widerstandsfähigkeit jüngerer Kinder. Bei diesen sind die Gewebe blutreicher, lockerer, die Organe enger, und die Ausbreitung erfolgt leichter auf die rückwärts gelegenen Theile: Kehlkopf und Luftröhre. Zwei wichtige Lehren ergeben sich hieraus für die Kinderstube.

Jeder Halsschmerz bei Erwachsenen, vor Allem auch bei den Dienstleuten, ist streng zu beobachten, und Kinder sind während dieser kurzen Zeit von den Kranken fern zu halten, Küssen hauptsächlich zu meiden. Eine mehrmals täglich stattfindende Besichtigung der hinteren Theile der Mundhöhle (Mandeln) muß eine gleichmäßige Röthung, Freibleiben von weißen Punkten und Streifen ergeben. Auswaschen (nicht herunterschlucken) mit chlorsaurem Kaliwasser (eine Messerspitze auf eine Tasse Wasser) einige Male am Tage ist rathsam (vergl. „Gartenlaube“ 1877, S. 35). Zweitens gebietet uns die leichtere Abheilung in den älteren Jahren, schon weil das Kind dann durch Inhaliren und Gurgeln mehr selbstthätig sein kann, mit allen Mitteln es bis zur Schule vor der Ansteckung zu behüten. Mit der Schule beginnt die Hauptquelle der ansteckenden Krankheiten. Hier nun müssen wir auf eine Unsitte hinweisen, welche immer mehr um sich zu greifen droht, nämlich die frühzeitige Theilnahme der Kinder an den Spielschulen. Selbst dreijährige, sehr oft aber vierjährige Kinder werden zur Entlastung der Mutter in Räumen bis zu dreißig Kindern zusammengesteckt, welche den allgemeinen Anschauungen von Schulhygiene auch nicht im Geringsten entsprechen. Unter solchen Umständen muß sich eine ansteckende Krankheit auf Alle übertragen, wie bei Masern und Keuchhusten leicht nachzuweisen ist. Zu vielfachen Uebeln, z. B. Kurzsichtigkeit und Rückgratsverbiegung legt die Spielschule oft den Keim. Ein Kind gehört bis zum fünften Jahre in das Haus, so lange muß es individuell behandelt werden, sollen nicht frühreife geistige Mißgeburten die Folge sein. Wind und Wetter gebieten außerdem die größte Berücksichtigung bei einem so zarten Organismus. Die ärmere Bevölkerung wird leider öfter durch Erwerbung des täglichen Brodes gezwungen, ihre Kinder in Kinderbewahranstalten vor diesem Alter unterzubringen, diese sind dann aber meistens in den Händen von älteren Personen, die nicht selten eine gewisse Kenntniß der Krankheitsanfänge besitzen, doch wäre auch hier eine Besichtigung der Mundhöhle täglich beim Eintritte eine wenig zeitraubende Bemühung. Dr. Taube.     




Ein alter Portrait-Steckbrief. Die „Gartenlaube“ brachte in Nr. 15 einen interessanten Artikel über das Verbrecher-Album der Berliner Polizei, dessen Inhalt nach man vermuthen könnte, als wäre die Verfolgung von Verbrechern vermittelst deren Bildniß eine Errungenschaft der Neuzeit. Da dürfte es wohl für Manchen von Interesse sein, zu erfahren, daß bereits das Alterthum eine solche Art der Verfolgung gekannt hat, wie es aus einer Quelle erwiesen werden kann, welche bei den Studien über die allgemeine Culturgeschichte mehr zu Rathe gezogen werden sollte, als es bisher geschehen ist. Aus einer Notiz im Talmud geht nämlich hervor, daß es während der Kaiserzeit in Rom ein beliebtes Mittel war, einem Verbrecher durch Anschlag seines Bildes an die Thore Roms auf die Spur zu kommen.

Es wird im Tractat Aboda Sara erzählt, daß (um’s Jahr 138 bis 140) auf Anstiften eines römischen Staatsbeamten ein junges Mädchen aus angesehener Familie nach Rom gefangen fortgeführt und in ein Schandhaus geschleppt wurde, ein Vorkommniß, das zur Kaiserzeit nicht zu den Seltenheiten gehörte. Ihrem Schwager, dem so hoch gefeierten R. Meir, gelang es, den Wächter des Hauses zu bestechen und seiner Schwägerin zur Flucht zu verhelfen. Als dies herauskam, wurde das Bildniß R. Meir’s an Roms Thore angeschlagen und dabei ausgerufen: „Wer den Mann, dessen Bild hier befestigt ist, sieht, soll ihn gefangen nehmen!“

Dieses Referat, über dessen hohes Alter kein Zweifel besteht und das wenigstens für seine Zeit die besprochene Art der Verfolgung constatirt, dürfte für die Culturgeschichte von hohem Interesse sein. S.     




Die Perlen des Paradieses.

In Edens blumenreichem Garten stand
Auf heil’ger Erde, in dem Wundersand,
Ein Springquell ganz umkränzt von tausend Blüthen,
Die in der Sonne wie Demanten sprühten.
Und eine hohe Palme schirmt den Born,
In den aus einem silberweißen Horn
Ein Geist drei kleine feine Perlen hauchte.
Ein Fischlein fing sie auf, das niedertauchte,
Und dann im Grund der Quelle schnell verschwand,
Die mit dem Weltmeer in Verbindung stand.
Als es geschah, da sang ein Vogel leise
Auf dem Erkenntnißbaum die selt’ne Weise:
„Das was dem Fisch ein guter Geist beließ,
Das bleibt dem Menschen nur vom Paradies:
Die erste Perle, die das Horn gegeben,
Das ist die Tugend, die man soll erstreben.
Die zweite, die der Fisch uns gern verhehlt,
Das ist die Weisheit, die der Erde fehlt.
Die dritte aber, die der Engel weihte,
Das ist die Liebe, die gebenedeite,
Durch die im Traum wir Eden wiederschau’n
Und eine Brücke uns zum Himmel bau’n.“
 Franz Siking.     


Kleiner Briefkasten.

Ein alter Abonnent in Z. Ihre Anfrage, ob es nicht schon irgendwelche Abbildungen der in Nr. 18 der „Gartenlaube“ gerühmten Basreliefs giebt, welche das Monument der Jeanne d’Arc in Orleans schmücken, haben wir dem Verfasser des betreffenden Aufsatzes mitgetheilt und darauf folgende Antwort erhalten: „Es giebt ein hübsches Album, betitelt ‚Orléans. Monument de Jeanne d’Arc, Statue et Bas-reliefs‘, das nicht nur die letztere, sondern auch eine Ansicht der Stadt, der Kathedrale und der Rue-Jeanne-d’Arc enthält; Herausgeber und Verleger ist Buchhändler Fortin in Orleans. Aber obgleich dies Album nur von Orleans zu beziehen ist, ist es doch durchweg, selbst den Einband inbegriffen, ein Werk deutschen Kunstfleißes, das in Leipzig hergestellt wird. Herr Fortin schickt die Originalphotographie an Herrn Lithograph Emil Pinkau in Leipzig; dieser gravirt sie auf Stein und vervielfältigt sie nun durch Abdruck mit sechs verschiedenen Tönen. Diese vortrefflich ausgeführten lithographischen Nachahmungen der Photographie kommen dem Kupferstich ziemlich nahe. Ebenfalls von Herrn Pinkau rühren die zahlreichen Albums ‚Versailles, Tours, Angers‘ etc. her, die von den reisenden Engländern, Amerikanern, Italienern und – Deutschen in Frankreich als französische Kunsterzeugnisse gekauft werden. Das überrascht Sie? Mich nicht.“

Geben Sie also Ihre Bestellung dem ersten besten Buchhändler auf, und er wird Ihnen das „Album von Orleans“ kommen lassen.




  manicula Dieser Nummer ist Nr. 6 unserer „Zwanglosen Blätter“ beigelegt.



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es ist bekannt, daß eine Correspondenzkarte, welche in Wiesbaden von einer lustigen Gesellschaft zur Post aufgegeben wurde, „um Wilhelmj’s Berühmtheit zu prüfen“, mit der einfachen Adresse: „An August Wilhelmj, Amerika“, den Künstler nach mancherlei Irrfahrten im Süden Amerikas wirklich traf, sodaß er sie an die Wiesbadener Adressaten wie gewünscht, zurücksenden konnte.
  2. Siehe: Ein Hexenproceß in Loango. Jahrgang 1877, Seite 177.
  3. Die von dem Verfasser dieses Aufsatzes herrührenden „Deutschen Sprachbriefe“ kommen hier, wo es sich nur um die Erlernung fremder Sprachen handelt, natürlich nicht in Betracht; andernfalls würde ich die Aufforderung der Redaction zu diesem Aufsatze für die „Gartenlaube“ zurückgewiesen haben, um nicht als „Redner für das eigene Haus“ zu erscheinen. So aber kann gerade der Umstand, daß ich auf den Wunsch der Langenscheidt’schen Verlagshandlung mich entschlossen habe, meine – im Zeitraume von drei Jahren in vier starken Auflagen erschienenen – „Deutschen Sprachbriefe“ nach der Methode Toussaint-Langenscheidt zu schreiben, dem Leser Zeugniß dafür ablegen, welch hohen Werth ich – und zwar nicht erst seit heute oder gestern – dieser durch lange Erfahrung erprobten und bewährten Lehrweise beilege.