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Die Gartenlaube (1883)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[349]

No. 22.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Der Freiherr von Werdenfels hatte Wort gehalten. Seine Geduld war in der That zu Ende und das Dorf lernte zum ersten Male die Strenge des Gutsherrn kennen. Trotz aller Warnungen hatten sich die nächtlichen Zerstörungen im Parke wiederholt, diesmal aber hatte man auf Befehl Raimund’s die Thäter ergriffen und sich ihrer versichert; sie harrten der verdienten Strafe.

Man war es in Werdenfels längst gewohnt, jede Handlung des Schloßherrn, welcher Art sie auch sein mochte, mit Mißtrauen und Erbitterung aufzunehmen, aber man war es auch gewohnt, daß jeder Angriff gegen ihn straflos blieb. Die Energie, die er diesmal kundgab, erregte im ersten Augenblicke Bestürzung, dann aber flog ein Schrei der Entrüstung durch das ganze Dorf, und Alles war darüber einig, daß man sich dergleichen von dem Felsenecker nicht gefallen lassen könne und dürfe.

In der Kirche war die Messe beendigt, und die Andächtigen hatten sich entfernt, nur der Pfarrer saß noch im Beichtstuhle und hörte eine Beichte, die ihm im Flüstertone vertraut wurde. Sie mußte wohl Ernstes und Schweres enthalten, denn der Knieende hatte das graue Haupt tief auf die gefalteten Hände niedergesenkt, und die Stimme des Geistlichen klang jetzt in einer wahrhaft vernichtenden Strenge:

„Ihr habt das Zuchthaus verdient, Eckfried! Was der Freiherr Euch erlassen hat, das müßte ich Euch auferlegen und fordern, daß Ihr dieses Geständniß vor dem ganzen Dorfe wiederholt.“

Eckfried zuckte zusammen, und sein Athem stockte, als er fragte:

„Hochwürden, Sie wollten -?“

„Nein,“ unterbrach ihn Vilmut. „Ich will nicht, daß der Name einer alten ehrenwerthen Bauernfamilie beschimpft wird, und ich will vor allen Dingen nicht, daß die weltliche Gerechtigkeit straft und richtet, was mir im Beichtstuhle anvertraut wurde. Verdient hättet Ihr die Strafe.“

„Ich hab es ja nicht ausgeführt,“ sagte Eckfried abgebrochen. „Es hat keinen Schaden gethan – der junge Baron kam dazwischen – ich sagte es Ihnen ja.“

„Der Wille ist so schlimm wie die That selbst. Habt Ihr nicht dem Freiherrn an das Leben gewollt? Antwortet, ja oder nein?“

Dem Freiherrn gegenüber hatte sich Eckfried mit ungebrochenem Trotze zu seiner Absicht bekannt und sich ihrer sogar gerühmt, vor der strengen Frage des Priesters sank sein Trotz zusammen, und er verstummte.

„Ich habe gemeint, es wär’ keine Sünde – weil’s dem Werdenfels galt!“ murmelte er endlich. „Sie haben es uns ja oft genug gesagt, Hochwürden, daß er zeitlich und ewig verdammt ist, und Sie müssen es doch wissen.“

„Wollt Ihr etwa mich für Euer Verbrechen verantwortlich machen?“ fragte Vilmut mit schneidender Schärfe. „Maßt Ihr Euch an zu richten, wenn ich einen Schuldigen verdamme? Das ist mein Amt allein, aber das ganze Dorf scheint in dieser Hinsicht in einem verhängnißvollen Irrthume befangen zu sein. Ich habe schon mehr Bekenntnisse gehört und schon mehr Strafen verhängen müssen; doch jetzt habe ich mit Euch allein zu thun.“

Der Alte wagte keine fernere Vertheidigung, er senkte scheu und demüthig das Haupt zu Boden. Er war nicht überzeugt, sein Haß gegen den Freiherrn nicht gemindert, aber da der Pfarrer seine That verdammte, so mußte sie wohl verdammungswerth sein, und er beugte sich willenlos dem allmächtigen Worte des Priesters, der jetzt fortfuhr:

„Ihr werdet die Bußübungen, die ich Euch auferlegt habe, genau und pünktlich befolgen.“

„Ja, Hochwürden.“

„Und außerdem werdet Ihr noch heute Euren Enkel zu mir bringen.“

Eckfried sah auf, und in seinen Zügen malte sich eine unbestimmte Angst, als er fragte:

„Den Toni?“

„Ja. Die junge Seele des Kindes darf nicht länger solchen Einflüssen preisgegeben werden. Es gehört nicht in die Obhut eines Großvaters, der zum Mordbrenner werden wollte. Ihr werdet Euch von ihm trennen.“

„Von dem Toni? Von meinem kleinen Buben? Und was – was wollen Sie denn mit ihm machen?“

„Er soll in bessere und vor allen Dingen in strengere Zucht, als die Eure ist. Die Fischersleute drüben am Grundsee haben vor Kurzem ihren einzigen Knaben verloren, sie sollen einstweilen Euren Enkel zu sich nehmen, und Ihr werdet ihn nicht eher wiedersehen, als bis ich es Euch erlaube.“

„Hochwürden!“ fuhr der Alte in tödtlichem Schrecken empor, „thun Sie mir das nicht an! Alles, nur das nicht. Die Fischer am Grundsee sind harte Leute, sie werden schlimm mit dem armen Buben umgehen – er ist noch so klein und so an mich [350] gewöhnt – legen Sie mir jede Strafe auf, und wenn es noch so schwer ist, ich will’s aushalten – aber lassen Sie mir meinen Toni.“

„Nein,“ sagte Vilmut unbewegt. „Ihr habt das Recht verwirkt, ein Kind zu erziehen. Ich weiß, daß diese Strafe die härteste für Euch ist, härter, als selbst das Gefängniß, und gerade deshalb lege ich sie Euch auf. Am Grundsee kommt der Bube in rauhe, aber auch in fromme und tüchtige Zucht, dafür werde ich sorgen. Es bleibt dabei, Ihr bringt den Knaben noch heute zu mir.“

Da hob der alte Mann die gefalteten Hände empor, und seine Stimme brach fast in bitterem Schmerze.

„Hochwürden, ich hab’ nicht mehr lange zu leben, und was ich vom Leben gehabt habe, ist auch nur Jammer und Noth gewesen, Sie wissen es ja. Ich habe Alles verloren – Alles! Nur der kleine Bub’ ist mir noch geblieben, und so lang’ ich den behalte, so lang’ halte ich es noch aus im Leben. Ich habe schwer arbeiten müssen in der letzten Zeit für uns Beide, aber wenn ich halbtodt nach Hause kam und der Toni kam gesprungen und lachte mich an, dann war es vergessen. Den Toni dürfen Sie mir nicht nehmen und den geb’ ich auch nicht her – komm es wie es wolle!“

„Nicht?“ fragte Vilmut kalt. „Das wird sich zeigen. Ihr übergebt mir entweder den Knaben oder – ich verweigere Euch die Absolution. Ihr habt zu wählen.“

Eckfried schlug beide Hände vor das Gesicht und stöhnte laut auf.

„Nun?“ sagte der Pfarrer nach einer Pause. „Wollt Ihr die Schuld ungesühnt auf der Seele behalten, oder wollt Ihr gehorchen?“

Der Ton der Frage zeigte, daß er seiner Sache sicher war, und er täuschte sich auch nicht.

Die Hände des alten Mannes sanken matt nieder, und dumpf und tonlos erwiderte er:

„Ich will’s thun!“

Einige Minuten später verließ Vilmut die Kirche, während Eckfried ihm folgte. Draußen auf dem Kirchplatz tummelte sich eine Schaar von Kindern, sie jagten sich lustig umher, aber beim Erscheinen des Geistlichen wurde das Spiel sofort unterbrochen, und die sämmtlichen Kinder kamen herbei, um dem hochwürdigen Herrn die Hand zu küssen.

Der kleine Toni, der sich unter ihnen befand, war einer der Ersten, dann aber lief er eiligst zu seinem Großvater, an dem er mit großer Zärtlichkeit hing und welcher das Kind jetzt so krampfhaft an sich preßte, als wolle er es nicht wieder loslassen. Vilmut wandte sich zu ihm und sagte mit voller Gelassenheit:

„Ich werde Euren Enkel sogleich mit mir nehmen, er bleibt bis morgen im Pfarrhause.“

Der alte Mann sah in das rosige Gesichtchen, das noch heiß geröthet war vom raschen Laufe, in die hellen blauen Augen, die ihn so lachend und kinderfroh anschauten, und dann in das strenge, finstere Gesicht des Priesters, wo auch nicht ein Schimmer von Milde zu entdecken war.

„Ich kann nicht, Hochwürden!“ brach er aus. „Ich will nach dem Schlosse, ich will – den Werdenfels um Verzeihung bitten, und wenn ich daran sterben sollte – aber den Toni kann ich nicht hergeben!“

Statt aller Antwort nahm der Pfarrer das Kind aus den Armen des Großvaters und ergriff es bei der Hand.

„Ihr kennt die Bedingung, unter der ich Euch einzig und allein die Absolution gewährte! Ihr habt eine Schuld begangen und werdet ohne Murren die Strafe tragen, die ich über Euch verhänge. Wenn sie Euch schwer dünkt, so denkt daran, daß sie verdient ist. Komm, Toni!“

Toni begriff natürlich nicht, um was es sich handelte, aber er fürchtete sich vor dem strengen geistlichen Herrn und fühlte instinctmäßig, daß man ihn von seinem Großvater trennen wollte. Er begann deshalb laut und bitterlich zu weinen und versuchte, sich zu sträuben, aber Vilmut brachte diesen Widerstand bald zum Schweigen. Seine Hand legte sich mit hartem Griff auf den Arm des Kindes und zwang es ihm zu folgen.

Eckfried war zurückgeblieben, noch siegte die gewohnte blinde Unterwerfung unter den Willen des Priesters, er ließ es geschehen, daß man ihm sein Liebstes nahm, und wagte es nicht einmal, es zu vertheidigen, aber in seinem Antlitz zuckte es zum ersten Male wie Trotz und Ingrimm, und seine Hände ballten sich. Als der Kleine aber jetzt noch einmal das thränenüberströmte Gesicht zurückwandte und wie hülfeflehend nach dem Großvater blickte, da biß dieser die Zähne zusammen, und es kam wie ein dumpfes, drohendes Murren aus seiner Brust hervor:

„Mich straft er, und wer ist denn schuld daran? Er hat mich und das ganze Dorf gegen den Felsenecker gehetzt – er allein, und nun sollen wir es büßen!“ –

Vor der Schloßterrasse von Werdenfels stand der Wagen, der den jungen Baron nach Rosenberg führen sollte, dieser selbst aber befand sich noch bei seinem Onkel. Er hatte gestern nach seiner Rückkehr den Freiherrn nicht mehr gesprochen und ihm daher erst heute Vormittag seine Verlobung mitgetheilt.

Werdenfels nahm die Nachricht mit Ueberraschung, aber ohne Unwillen auf, er schien eher eine Genugthuung darüber zu empfinden, daß der junge Mann jene frühere Leidenschaft für die Schwester seiner Braut so vollständig überwunden hatte.

„Ich wünsche Dir Glück, Paul,“ sagte er, ihm herzlich die Hand reichend. „Und ich hoffe, Du wirst es finden in einem jungen Wesen, das sich Dir so ganz und voll zu eigen giebt. Ich habe Deine Braut freilich nur ein einziges Mal gesehen, damals am Schloßberg, als sie vor meiner Nähe bei Dir Schutz suchte. Vielleicht lehrst Du sie jetzt einsehen, daß ich nicht so sehr zu fürchten bin.“

„O, meine kleine Lily ist sehr gelehrig,“ versicherte Paul, der sich in der glücklichsten Bräutigamsstimmung befand. „Sie soll den gefürchteten Felsenecker bald besser kennen lernen. Allerdings gestand sie mir gestern im Vertrauen, sie habe im Anfange ernstlich gefürchtet, Du hättest mich nur nach Deinem Bergschlosse gerufen, um mir dort in aller Stille den Hals umzudrehen.“

Raimund lächelte, aber es war ein mattes, trübes Lächeln.

„Ich glaubte nicht, daß der Aberglaube der Bauern sich bis in solche Regionen versteigt. Also sogar bei seiner jungen Verwandten hat Vilmut dergleichen geduldet!“

„Vermuthlich! Aber in der Opposition gegen den Herrn Pfarrer sind Lily und ich einig. Sie hegt Gott sei Dank eine gründliche Antipathie gegen ihren geistlichen Vetter, und wir haben bereits vor der Verlobung ein Schutz- und Trutzbündniß gegen seine Hochwürden geschlossen.“

„Du solltest trotzdem diesen Gegner nicht unterschätzen, Du siehst es ja hier in Werdenfels, was seine Feindschaft bedeutet. Als Vormund Deiner Braut kann er Euch endlose Schwierigkeiten bereiten, und jedenfalls wird er alles daran setzen, diese Verbindung zu hindern.“

„Er soll es nur versuchen!“ rief Paul kampflustig. „Ich bin bereit, es mit ihm aufzunehmen, und Lily’s bin ich unter allen Umständen sicher.“

„So zähle auch auf mich, wenn ich Dir irgendwo mit meinem Einfluß zur Seite stehen kann,“ sagte der Freiherr. „Und nun geh’ und bringe Deiner Braut meinen Gruß und meinen Glückwunsch.“

„Und sonst – hast Du mir keinen Gruß aufzutragen?“ fragte Paul leise.

Raimund wandte sich ab und beugte sich über die Papiere seines Schreibtisches.

„Nein,“ entgegnete er nach einer Pause.

„Dann darf ich wohl auch nicht meine Braut zu Dir führen? Und ich hätte es doch so gern gethan. Du hast ja stets Vaterstelle an mir vertreten.“

„Wenn Lily erst an Deiner Seite in Buchdorf lebt, werde ich mich oft und gern an Eurem Glücke freuen – die Annäherung an Rosenberg mußt Du mir erlassen.“

Paul erneute seine Bitte nicht, denn er fühlte, daß dieser Punkt nicht weiter berührt werden dürfe. Er nahm Hut und Handschuhe und machte sich zum Gehen fertig.

„Ich werde wohl erst am Nachmittage zurückkommen,“ warf er hin. „Du begreifst, Raimund –“

„Daß Du Deinen ersten Besuch als Bräutigam etwas länger ausdehnst – ja, das begreife ich vollkommen. Vermuthlich willst Du auch Deinen Arnold mitnehmen, denn ich sah ihn vorhin in voller Gala am Fenster vorübergehen.“

[351] „Er würde es mir niemals verzeihen, wenn ich ihn bei solcher Gelegenheit zu Hause ließe!“ rief Paul lachend. „Er soll der künftigen Herrin seine Ehrfurcht bezeigen; es wird nur leider schwer sein, ihm den nöthigen Respect beizubringen, denn er findet, daß Lily viel zu klein ist, um die gnädige Frau von Buchdorf mit der nöthigen Würde zu repräsentiren, und sein einziger Trost besteht in der Hoffnung, daß sie mit der Zeit noch etwas wachsen wird.“

Er verabschiedete sich von dem Freiherrn und ging.

Werdenfels trat an das Fenster und sah ihn einsteigen, während Arnold in Galalivree und mit unendlich wichtiger Miene seinem jungen Herrn folgte. Paul, der seinen Onkel am Fenster bemerkte, beugte sich aus dem Schlage und warf noch einen Gruß zurück, strahlend heiter und glücklich, auch Raimund winkte mit der Hand dem fortrollenden Wagen nach, aber sein Antlitz verdüsterte sich, während er halblaut sagte:

„Wie schnell und leicht die Jugend überwindet! Auch nicht ein Schatten ist von jener Leidenschaft zurückgeblieben, nicht eine Wolke trübt ihm das neue Glück. Ich bin damals auch jung gewesen, aber ich habe es nicht überwunden, noch heute nicht – und werde es nie.“

Es war Nachmittag geworden und der Freiherr saß an seinem Schreibtische, als sein Kammerdiener eintrat, leise und ehrfurchtsvoll wie gewöhnlich, aber seine Miene verrieth doch, daß er etwas Ungewöhnliches zu melden habe.

„Herr Pfarrer Vilmut fragt, ob er den gnädigen Herrn sprechen kann.“

Werdenfels wandte sich mit einer raschen Bewegung um.

„Wer, sagten Sie?“

„Hochwürden, der Herr Pfarrer, er ist bereits im Vorzimmer.“

„So lassen Sie ihn eintreten.“

Der Diener entfernte sich, und gleich darauf erschien Gregor Vilmut; die Thür schloß sich wieder hinter ihm, und er war mit dem Freiherrn allein.

Werdenfels hatte sich erhoben, aber in seinem ganzen Wesen lag jener eisige Stolz, den der Pfarrer Hochmuth nannte. Er stand in völliger Unnahbarkeit da, der Feind dem Feinde gegenüber, und neigte kaum das Haupt gegen den Eintretenden.

Vilmut sah das mit einem einzigen Blicke, und seine Haltung wurde noch starrer und unverbindlicher, als sie ohnehin schon war, während er sich langsam näherte.

„Sie waren einst auf dem Wege zu mir, Herr von Werdenfels,“ begann er. „Unsere Begegnung verhinderte Sie, das Pfarrhaus zu betreten, ich nehme das jedoch als geschehen an und gebe es zurück, indem ich heute bei Ihnen erscheine.“

„Es liegen mehr als sechs Monate dazwischen,“ sagte Raimund, ohne sich von seinem Platze zu rühren. „Wie sie in Werdenfels verflossen sind, das wissen wir Beide ja hinreichend. – Was bringen Sie mir, Hochwürden?“

„Ich komme in Ihrem Interesse!“ betonte Vilmut, gereizt durch den Ton und die Haltung; in denen er den „Werdenfels’schen Hochmuth“ fühlte.

„In meinem Interesse? Ich bedaure, das ablehnen zu müssen. Ich weiß meine Interessen selbst wahrzunehmen, ohne Rath und Hülfe von Ihrer Seite.“

„So werden Sie wenigstens eine Warnung hören. Sie haben in den letzten Tagen eine ungewohnte Strenge gegen die Dorfbewohner gezeigt und wollen jetzt sogar einige derselben dem Gefängniß übergeben, wie ich höre.“

„Allerdings will ich das, denn meine Geduld hat endlich ihr Ende erreicht! Schon neulich wurde ein Attentat auf meine Gewächshäuser versucht, das nur die Wachsamkeit der Dienerschaft verhinderte. Heute Nacht ist der Versuch wiederholt worden, und meine ganze Orangerie ist ihm zum Opfer gefallen. Zwar wurden die Zerstörer diesmal auf der That ergriffen, aber die Stämme der sämmtlichen Orangenbäume waren bereits durchschnitten und eine zwanzigjährige Mühe und Pflege in einer halben Stunde vernichtet. Erwarten Sie vielleicht, daß ich auch das ungestraft hingehen lasse?“

„Nein. Ich bin durchaus Ihrer Meinung, daß die Thäter bestraft werden müssen, und bestreite Ihnen keineswegs das Recht dazu, aber die Ausübung desselben könnte diesmal verhängnißvoll werden. Sie haben bisher derartigen Vorkommnissen gegenüber die unbedingteste Gleichgültigkeit gezeigt, die Leute werden diesen plötzlichen Wechsel zur vollsten Strenge nicht begreifen.“

Raimund zuckte die Achseln.

„Auf Verständniß rechne ich bei den Bauern überhaupt nicht mehr. Ich habe bisher Nachsicht geübt, weil ich hoffte, das Aeußerste noch vermeiden zu können, aber eine Erfahrung, die ich kürzlich machte, hat mir gezeigt, daß es nicht zu vermeiden ist. So mag die Sache denn ihren Lauf nehmen.“

„Sie meinen das Verbrechen, das Eckfried gegen Sie plante und das noch rechtzeitig verhindert wurde?“ fragte Vilmut.

„Ja, aber wie erfuhren Sie davon? Der Alte wird doch nicht zum Selbstankläger geworden sein.“

„Er bekannte es mir in der Beichte.“

„Ja so! Ich vergaß, daß der Beichtstuhl Sie allwissend macht. Vermuthlich haben Sie noch mehr derartige Bekenntnisse gehört und – absolvirt. Ihre ganze Gemeinde weiß es ja, daß Sie Absolution gewähren für jedes Verbrechen, sobald es mich betrifft.“

„Wer sagt das?“ fuhr Gregor auf.

„Eckfried selbst.“

„So hat er gelogen!“

Werdenfels blickte einige Secunden lang fest in das Gesicht des Priesters, das volle, ungeheuchelte Empörung zeigte, dann sagte er langsam:

„Es mag sein, daß die Leute weiter gehen, als Ihnen lieb ist. Ein Stein, der einmal in das Rollen gebracht ist, rollt eben weiter, das hätten Sie bedenken sollen.“

„Es handelt sich hier nicht um mich,“ gab Vilmut scharf zurück. „Ich bin nicht der Bedrohte, aber ich wiederhole es Ihnen, Sie haben die Leute nicht an Strenge gewöhnt und diese plötzliche rücksichtslose Härte kann gefährlich werden. Leider ist unter den Uebelthätern auch der Sohn eines Großbauern. Der Rainer führt die erste Stimme im Dorfe, und der Gedanke, daß sein Bube in das Gefängniß wandern soll, bringt ihn außer sich. Er war heute Morgen bei mir und stieß die wildesten Drohungen gegen Sie aus. Hüten Sie sich! Der Mann ist zu Allem fähig und wird Alles mit sich fortreißen. Ich warne Sie!“

Um Raimund’s Lippen spielte ein verächtliches Lächeln, als er fragte:

„Glauben Sie, daß ich mich vor den Bauern fürchte, weil Sie die Zügel verloren haben?“

„Ich? Wer sagt Ihnen –?“

„Ihr Erscheinen in meinem Schlosse. Wenn man sich, wie sonst, noch Ihrem Willen beugte, wenn Ihr bloßes Wort noch genügte, um den Gehorsam zu erzwingen, so wären Sie nicht hier.“

Vilmut biß sich auf die Lippen, denn widerlegen konnte er die Worte nicht. Er fühlte es selbst, daß die Zügel seiner Hand entglitten, daß seine Verbote nicht mehr befolgt wurden. Auch seine Hand vermochte es nicht mehr, den Stein aufzuhalten, den er selbst in das Rollen gebracht, aber der stolze Priester hätte um keinen Preis der Welt dies Schwinden seiner Macht zugestanden, am wenigsten vor diesem Gegner.

„Ich bin hier, um einer Gefahr vorzubeugen,“ versetzte er, „und es giebt ein Mittel dazu. Ueberlassen Sie mir die Bestrafung der Schuldigen! Eckfried ist bereits bestraft, die Buße, die ich ihm auferlegte, trifft ihn härter als Verurtheilung und Gefängniß, und auch den Anderen gegenüber werde ich Mittel zu finden wissen. Was ihnen im Beichtstuhl auferlegt wird, werden sie tragen, und Sie, Herr von Werdenfels, entgehen dem allgemeinen Hasse, der sich in so bedrohlicher Weise gegen Sie richtet. Legen Sie die Sache in meine Hände, ich bürge Ihnen dafür, daß sie nicht ungeahndet bleibt.“

„Ich danke,“ entgegnete Raimund mit kühler Ablehnung. „Ich ziehe es vor, Beleidigungen, die mir persönlich galten, auch persönlich zu erledigen. Ueberdies habe ich in Gegenwart der gesammten Dienerschaft erklärt, daß ich diesmal die vollste Strenge walten lasse, und werde mich nicht der Schwäche schuldig machen, das zu widerrufen. Ich habe als Polizeiherr von Werdenfels die Thäter vorläufig in Gewahrsam genommen und übergebe sie morgen den Gerichten. Es bleibt dabei.“

„Wohl, ich kann Sie nicht hindern, Ihr Recht auszuüben, wenn es aber geschieht, so stehe ich nicht mehr für Ihre persönliche Sicherheit ein.“

[352] „Habe ich Sie schon darum ersucht?“ fragte Werdenfels, sich stolz aufrichtend. „Ich wußte bisher nicht, daß ich unter Ihrem Schutze stand, und weise ihn mit aller Entschiedenheit zurück. Der Herr von Werdenfels bin ich, und wenn ich etwas mit meinen Bauern auszufechten habe, so ist das meine Sache allein, ich werde auch allein mit ihnen fertig werden.“

Vilmut war einen Schritt zurückgetreten. Diese kurze, scharfe und energische Sprache überraschte ihn augenscheinlich auf das Höchste. Er hatte es freilich schon beim ersten Blicke gesehen, daß Raimund von Werdenfels ein Anderer geworden war, aber der volle Umfang dieser Veränderung wurde ihm doch erst jetzt klar. Der Mann, der so gebietend vor ihm stand, hatte nichts mehr gemein mit dem bleichen Träumer von Felseneck, man glaubte es ihm, daß er den Kampf, den er nun schon seit Monaten aufgenommen, auch durchfechten werde bis zum Ende.

„Sie scheinen gesonnen zu sein, das Regiment Ihres Vaters wieder einzuführen,“ sagte Vilmut endlich. „Der Sohn gleicht ihm mehr, als wir Alle glaubten, das zeigt sich jetzt. Gewiß, Sie sind der Herr von Werdenfels, und daß Sie es sind – hat das unglückliche Dorf einst schwer genug erfahren.“

Er senkte die Stimme bei den letzten Worten, aber sie drangen trotzdem schneidend und scharf wie ein Dolch in die Seele des Gegners und verfehlten auch nicht ihre Wirkung. Raimund erbleichte, doch nur einen Augenblick lang, dann schlug er die Augen empor, sie begegneten finster, aber fest dem drohenden Blicke des Priesters.

„Hören Sie doch endlich auf, mich mit dem alten Fluche zu verfolgen! Es gab eine Zeit, wo ich die bloße Erwähnung nicht ertragen konnte, jetzt habe ich es gelernt, ihm in das Auge zu sehen, und Ihr Recht, mich damit zu quälen, ist verwirkt, seit Sie und Sie allein meine Dammbauten gehindert haben, denn ich weiß, wie hoch der freie Wille der Gemeinde in diesem Falle anzuschlagen ist. Ich habe eine That der Verzweiflung gebüßt mit einem ganzen Leben voll Verzweiflung, Sie aber haben mit kalter, ruhiger Ueberlegung, mit vollster Absicht den Schutz vernichtet, den ich meinem Dorfe gewähren wollte, und damit eine furchtbare Gefahr heraufbeschworen. Hüten Sie sich, daß nicht zum zweiten Mal ein entfesseltes Element über Werdenfels hereinbricht, denn diesmal wird man die Rechenschaft von Ihnen fordern.“

Es lag etwas wie ahnungsvolle Drohung in diesen Worten, aber sie glitten ab an der starren Unfehlbarkeit des Priesters, er erwiderte unbewegt:

„Ich that, was ich für Recht erkannte, und werde es vertreten.“

„So vertreten Sie auch das Wohl und Wehe der Hunderte, das Sie mit jenem Eingriff auf sich nahmen. Es ist immer vermessen, wenn ein Mensch, ein Einzelner die Vorsehung spielen will, selbst wenn er das Priesterkleid trägt. Zum Mindesten müssen der Wille und die Beweggründe rein sein, und die Ihrigen hat der Haß gegen mich dictirt, dieser Haß, der mich verfolgte von dem Augenblicke an, wo ich Herr auf diesem Boden wurde, der jede Versöhnung, jede Verständigung unmöglich machte, der mir sogar meine Braut entriß.“

„Und dies Letzte ist es allein, was Sie mir nicht verzeihen können, ich weiß es, Herr von Werdenfels! Mich und meine Gegnerschaft hätten Sie verachtet, und selbst der Priester hätte Ihnen nichts gegolten, denn Sie haben das Blut Ihres Geschlechtes in sich, aber die Macht des Vormundes wenigstens mußten Sie anerkennen, wenn Sie es ihm auch nicht vergeben, daß er seine Pflicht that und seiner Schutzbefohlenen die Augen öffnete.“

Werdenfels streifte mir einem langen, forschenden Blicke das Gesicht seines Gegners, während er langsam sagte:

„Hochwürden, ich habe bisweilen meine eigenen Gedanken über diese ‚Pflicht‘, über jenen rastlosen, wüthenden Eifer, mit dem Sie Anna und mich zu trennen versuchten und jede Möglichkeit einer Wiederannäherung verhinderten. War es wirklich nur der Vormund, der Priester, der zwischen uns trat, oder –“

Er brach ab, aber sein Blick vollendete die Frage, und sie wurde ohne Worte verstanden; Vilmut fuhr auf, als habe er einen Schlag erhalten.

„Sie wagen es, zu glauben –“

„Ich wage nichts, ich frage nur. Es könnte sein, daß der Mann, der in dem Herzen Anderer liest, wie in einem aufgeschlagenen Buche, in einem verhängnißvollen Irrthum über sich selbst begriffen ist.“

Gregor war todtenbleich geworden, aber in seinem Auge zuckte wieder jene unstete Flamme auf. Diesmal erlosch sie nicht so schnell, wie sie aufflackerte, denn es glühte unverkennbarer Haß darin, und dieser Haß galt dem Manne, der es wagte, den Schleier von einer Empfindung zu heben, die nicht existiren sollte, die niedergezwungen wurde mit aller Macht des Willens und gegen die der Wille doch machtlos war.

„Ich kam nicht hierher, um Beleidigungen zu hören,“ sagte Vilmut endlich, aber seine Stimme hatte nicht die gewohnte Sicherheit. „Ich wollte Sie warnen vor einer Gefahr, die Ihre unzeitige Strenge heraufbeschwört. Wenn Sie die Warnung verschmähen, so lehne ich jede Verantwortung ab für das, was geschieht, und unsere Unterredung ist zu Ende. Leben Sie wohl!“

Der Abschiedsgruß klang feindlich genug, Raimund neigte nur das Haupt, ebenso stolz und eisig, wie vorhin beim Empfange, in der nächsten Minute war er allein.

(Fortsetzung folgt.)




Am Sarge eines großen Volksmannes.

Von Dr. A. Bernstein.

 1.0 Schulze-Delizsch’s Geist, Thatkraft und Charaktergröße.

Geist, Thatkraft und Charaktergröße sind in harmonischer Verbindung die Grundbedingungen eines großen Schaffers. Auf die glückliche Vereinigung dieser drei Eigenschaften in der Seele des herrlichen Mannes hinzuweisen, dessen Tod wir tief beklagen, erachten wir für eine bessere Kennzeichnung seines Wesens, als eine flüchtige Lebensbeschreibung, wie sie bereits in sämmtlichen Tageszeitungen gegenwärtig zu finden ist.

Nur wenige Zeitgenossen hatten Gelegenheit, den tiefen, ernsten und seelenreinen Geist Schulze’s in seiner ganzen Fülle kennen zu lernen. In allen Punkten seines politischen Wirkens ragte er zwar hervor aus der Reihe seiner Genossen und wurde auch zu allen Zeiten als Einer der Begabtesten an Geist und begeisterndem Rechtssinn anerkannt; aber mehrere Männer gleich edlen freiheitlichen Strebens standen ihm zur Seite, die das Verdienst des tapferen Kampfes für Volksrecht mit ihm theilen. Sein eigenartiges und tieferes Wesen liegt verborgen in seinen Tagebuchblättern aus den Vorzeiten der politischen Bewegung. Die einzelnen Freunde, welchen er bruchstückweise hieraus Mittheilungen machte, die nahmen wahr, wie viel tiefer das ist, was er in aller Stille der Seele zur eigenen Klärung der Gedanken niedergeschrieben, als Alles, was die Tage der politischen Kämpfe ihn zwangen in öffentlicher Discussion darzuthun.

Der Mann, der praktisch so Großes wie Keiner vor ihm in gewerblichen Kreisen geschaffen, er war ein Dichter im würdigen Sinne des Wortes. Davon legte bereits sein „Wanderbuch, ein Gedicht in Scenen und Liedern“ im Jahre 1838,[1] also ein volles Jahrzehnt bevor er auf der politischen Tribüne seine Rednergabe darzuthun den Beruf fühlte, ein sprechendes Zeugniß ab. Wir begnügen uns damit, nur ein einzelnes Frühlingsgedicht von ihm hier unseren Lesern mitzutheilen, weil dies allein schon darthut, wie die Prosa der wirthschaftlichen Probleme und der oft erbitternde Parteikampf der politischen Streitfragen sich in einer edlen Natur auch mit einer poetischen lebendigen Naturanschauung vereinigt.

Das Gedicht lautet folgendermaßen:

 Lenzgesang.
Wonnedurstig, frühlingskräftig
Zieh’ ich durch die graue Flur,
Ueberall der Lenz geschäftig,
Junger Triebe frische Spur.

[353]

Schulze-Delitzsch’s Leichenzug auf der langen Brücke in Potsdam.
Für die „Gartenlaube“ gezeichnet von Albert von Roeßler.

[354]

Auf der Wiese, leise, lose,
Wankt das Blümchen her und hin,
Möchte selbst mit Lustgekose
Frei, ein Frühlingslüftchen, zieh’n!

Und es freut der ird’schen Hülle
Sich der Geist in Jugendbraus,
Strömet seiner Wonne Fülle
In die Muskeln schwellend aus.

Auf den Scheitel möcht’ ich häufen
Alle Kränze, die jetzt blüh’n,
Nach dem Höchsten möcht’ ich greifen,
Es zur Erde niederzieh’n.

In der Erde sollt’ es treiben,
Sollt’ es blühen lenzgeweckt,
Ob die gold’nen Früchte bleiben
Ewig auch dem Blick versteckt.

Von viel tieferem geistigem Zuge sind die Blätter seiner Tagebücher aus den Jahren 1841 bis 1844 erfüllt. In diesen erhebt sich ein Geistesbild zu lichter Anschauung über Menschen, Geschichte und Religionsentwickelung. Schulze besaß ein tief religiöses Gemüth. Freilich nicht im Sinne der Märchen-Gläubigen der Dogmen-Orthodoxie, wohl aber im Gefühl und Bewußtsein, daß das geläuterte Menschenwesen sich am deutlichsten auspräge in der stets wachsenden Veredlung der Gottesidee in der Menschheit. Lange Zeit bevor Bunsen in seinem Buche „Der Gott in der Geschichte“ diesen Gedanken eines stets mit der Geistesbildung der Menschheit wachsenden Gottesideals darlegte, sprach bereits Schulze in seinem bisher noch nicht veröffentlichten Tagebuch auf der Reise nach Italien die Grundzüge dieses Gedankens aus. Die poetische Intention und die Klarheit seines Denkens führen wir unseren Lesern in folgendem Auszuge vor.

Auf seiner Ferienreise in Italien treibt ihn die rege Liebe zur Natur nach Sicilien, um dort den Aetna zu besteigen. Es ist Nachts, wo er auf dem Meere die Ueberfahrt von Neapel aus unternimmt. Er schildert, wie es still ist im Schiffe. Die Schläfer ruhen in der Kajüte. Auf dem nächtigen Meer schwebt der Schimmer des Mondes. Schulze breitet seinen Mantel aus und sucht sein Lager auf dem Verdeck.

Da gewinnt das Meer im Geräusch der sich brechenden Wogen am Kiel und im Rasseln des Takelwerkes Laut und Leben, und vor seinem Geist taucht die Zeit des Alterthums auf, in welchem diese Küsten, diese Felsen und diese Haine belebt waren durch die Heldenlieder der griechischen Volkssagen, in welchen Cyklopen, Circe, Sirenen und die Abenteuer des Odysseus besungen wurden.

In Betrachtung des wachsenden Geistes der Menschengeschlechter ergeht er sich nun vom grauen Alterthum in die Blüthezeit der griechischen Kunst und in die Göttergestaltungen, die sie in unsterblicher Schöne geschaffen. Er spricht hierbei Gedanken aus, die von der Tiefe seiner historischen Auffassung ein sprechendes Zeugniß ablegen.

„Die Gottheit einer geschichtlichen Epoche ist deren jedesmalige höchste Idee. Wie die Menschheit im Ganzen vorschreitet, wie sich ihr Ideenkreis im Allgemeinen erweitert und klärt, so wächst auch die Gottheit mit und in ihr fort, und immer reiner und gediegener tritt der Begriff aus den abfallenden Schlacken veralteter Erkenntnißformen. Die alten Götter hatten darum zu ihrer Zeit so gewiß, so wesenhaft Existenz und Macht, wie die der heutigen. Aber der Versuch, sie zu fixiren und somit abzuschließen mit irgend einer Culturperiode, welcher von Priesterkasten von jeher versucht worden ist, mußte an dem unaufhaltsamen Wachsthum der Menschheit noch immer scheitern. Nur ein solcher ist der lebendige Gott, dessen Hauch die geistige Atmosphäre einer ganzen Generation durchdringt und erfüllt, Anfang und Ende aller höhern Bestrebung und Erkenntniß in ihr. Ist aber das Ziel erreicht, der Standpunkt geändert, dann zerfällt er mit dem Geschlecht selbst, dessen Product er war, wie jede Form, von welcher der lebendige Geist gewichen. Denn freilich sind das Alles nur Formen der Gottheit, wie die verschiedenen Generationen Formen der Menschheit sind, welche erscheinen und zerfallen, indem sie der ewige Begriff selbst in steter Beweglichkeit schrittweise von sich abstreift. So entwickelt sich die Gottheit fort und fort aus sich selbst heraus im unbegrenzten All, und Völker und Zeiten sind nichts weiter als die Träger einzelner Gottesgedanken, welche, sobald sie ihr Wesen nach seiner Eigenthümlichkeit entwickelt und so Blüthe und Frucht getragen haben, organisch zerfallen, mit dem Staube ihrer Verwesung den Boden für eine neue Vegetation befruchtend.

Mag der freie Menschengeist sich in seine eignen Tiefen versenken, mag er schweifen im Unermeßlichen umher, überall sucht und findet er Gott. Nicht länger in dem Versteck der Tempel und heiligen Haine, nicht in den Schulen der Priester liegt die Erkenntniß gefesselt, nicht in heiliger Ueberlieferung von Schrift und Wort. Der mündig gewordene Gedanke bedarf keiner sinnlichen Bilder, keiner Formeln und Symbole mehr, an die er sich anklammern müßte, um bei seinem Aufschwunge nicht in das Schrankenlose zu versinken. Wenn ich aufschaue zu den Sternen droben, nicht mehr drängt es mich, gleich jenen Menschen einer frühen Vorzeit, sie in phantastische Bilder nach Willkür zu ordnen, um mich nicht zu verirren in dem zahllosen Heere. Kernen Orion suche ich mehr, keinen himmlischen Schwan, nicht das Haar der Berenice oder die Leier, den Bären nicht und Himmelswagen – Welten sehe ich, bald lichtbeseligt um die eigene Achse, bald strahlendürstend um andere kreisen, alle von ewigen Kräften bewegt, nach ewigen Gesetzen in bestimmten Bahnen wandelnd. Aber der Menschengeist hat sie in seinem hohen Schwunge begriffen, diese Urkräfte, hat diese Urgesetze erkannt, diese unabsehbaren Bahnen gemessen. Hält doch ihn die gleiche Kraft in stets fluthender Bewegung, trägt er doch in sich selbst das Weltgesetz, das nothwendige Maß aller Dinge, die ewige Vernunft, in ihr das Bewußtsein des Alls. Und wie ich mich in den Gedanken versenke, überkommt meine Seele eine heilige Stille, tief wie das Meer; den Pulsschlag der ganzen, weiten Schöpfung gühle ich in meinem Herzen, meine Schläfe rührt der Odem der Ewigkeit, wie ein verlispelnder Hauch.“

Von solchen religiös poetischen und philosophischen Gedanken getragen war der Mann, der den Beruf in sich fühlte, in den politischen Kampf für Recht und Freiheit und in die damals noch ganz ungebahnten Probleme der wirthschaftlichen Fortschritte erfolgreich einzugreifen.

Ist dieser Auszug aus den noch nicht veröffentlichten hinterlassenen Schriften Schulze’s ein Zeugniß seines regen edlen Geistes, so bedarf es vor den Augen unserer Zeitgenossen keiner weiteren Zeugnisse seiner großen Thatkraft auf dem praktischen Gebiete. Die Genossenschaften, die er anfangs in ganz kleinen Kreisen unter den drückendsten Umständen der Reaction zu schaffen begonnen und bis zu der jetzigen Höhe empor getragen hat, sie sind eine Erscheinung, welche bekundet, daß auch im deutschen Vaterlande ideale Bestrebungen und reale Schöpfungen in auserwählten Geistern vereint auftreten und wirken können. Es gereicht dem Vaterlande zu hohem Ruhme, daß aus allen älteren Culturstaaten dem deutschen Manne Bewunderung gezollt und von den besten Geistern seine Werke gerühmt und nachgeahmt werden. Im praktischen England wird die Exactität angestaunt, mit der Schulze durch dreißig Jahre unausgesetzten Fleißes den großen Umfang seiner Wirksamkeit geregelt und in Schriften und Jahresberichten übersichtlich dargelegt hat. In Frankreich und Italien strebt man ihm nach und nimmt seine Statuten und gesetzgeberischen Ausarbeitungen als Muster, um in gleicher Weise eine gesunde sociale Bewegung im Volke anzuregen. Im deutschen Theile von Oesterreich sind Genossenschaften nach dem Vorbilde der Schulze’schen Schöpfungen bereits zahlreich vorhanden, und selbst in slavischen Kreisen bemühen sich ernste Männer, auf gleichem Wege die Bahn des wirthschaftlichen Fortschrittes zu ebenen.

Von noch höherer Tragweite ist Schulze’s Thatkraft dadurch, daß es ihr gelungen ist in der deutschen Nation einen Kreis von praktischen Männern heranzubilden, die sein Werk in seinem Geiste fortführen. An der Spitze von dreiunddreißig Provinzialverbänden der Genossenschaften stehen Männer aus den verschiedensten Berufsclassen, gemeinsam getragen von den Ideen und Zielen, die Schulze entwickelt und verwirklicht hat. Unter ihrer Leitung wirken mehr als 3500 Genossenschaften unter localen Directoren, die eine Gesammtzahl von fast anderthalb Millionen Mitgliedern repräsentiren. Es ist eine Thatsache, daß es kein Institut weiter giebt, das an Mitgliederzahl und an Ausdehnung ihres Wirkens in gleich imposanter Weise von einem einzigen Schöpfer und Träger freien privaten Charakters in’s Leben gerufen worden ist. Aus den Notizen, welche bis jetzt den Stand der Angelegenheiten darthun, ergiebt sich, daß in den gesammten Genossenschaften der Geschäftsumfang sich auf mehr als 2000 [355] Millionen Mark beläuft und ihr eigenes angesammeltes Kapital mehr als 180 Millionen Mark beträgt.

Erfolgreicher aber noch als dieser herrliche Triumph eines großen Strebens steht der Grundgedanke desselben vor Aller Augen da. In einer Zeit, in welcher sich die sociale Pfuscherei in der Kunst versucht, Volksbeglückungen durch Staatsactionen hervorzurufen, ist die bereits in aller Stille und ohne jede staatliche Autorität durchgeführte sociale Hülfe durch die Genossenschaften ein glänzendes Zeugniß für die Theorie der Selbsthülfe.

Die Entwickelung dieser Theorie geht über die Grenzen dieser Betrachtung weit hinaus. Wir führen deren glückliche Erfolge nur an als ein Zeugniß des großen Segens, den Schulze durch seine ganz beispiellose Thatkraft in’s Leben gerufen hat.

Die glückliche Verbindung von Geist und Thatkraft, wie sie in Schulze sich verwirklicht hat, gehört zu den größten Seltenheiten in der Welt. Man hat nicht mit Unrecht besondere Geistesbegabung und tiefe Seelenempfindung als den Gegensatz des praktischen Wirkens betrachtet. Dichterische Neigungen und philosophische Anschauungen werden in der Regel von bedeutenden Praktikern als störende Eigenthümlichkeit betrachtet, die zu unausführbaren Unternehmungen verleiten. Nannte man ja selbst die Deutschen eine Nation der Denker und meinte damit ihre praktische Thatenlosigkeit in der Geschichte erklären zu können. Daß gleichwohl in Einzelnen Geistesstärke und Thatkraft sich vereinigen könne, das lehrt ein ernster Blick auf den echten Sohn des deutschen Vaterlandes: Schulze-Delitzsch.

Alles überwiegend aber ist seine Charaktergröße.

Es steht sein ganzes nun abgeschlossenes Leben so rein und licht von jedem Schatten des Eigennutzes und der Selbstsucht vor Aller Augen da, daß selbst die Gegner seiner politischen Grundsätze und des wirthschaftlichen Wirkens nicht umhin können, sein Lob zu verkünden. Es waltet auch in haßverbissenen Gemüthern gegenüber der allgemeinsten Theilnahme, die sein Tod auf’s Neue wachgerufen, ein Schweigen ob von jeder Art von Verleumdung, mit welcher man durch ein ganzes Menschenalter seinen Charakter zu trüben versuchte. Ein sprechendes Merkmal der allgemeinen Verehrung giebt sich auch in den Worten kund, mit welchen der conservative Präsident des deutschen Reichstags, Herr von Levetzow, die Todeskunde in der Sitzung vom 30. April dieses Jahres dem versammelten Hause mittheilte. Es lauteten diese Worte wie folgt:

„Ich habe dem hohen Hause die schmerzliche Mittheilung zu machen, daß unser verehrter Kollege Schulze-Delitzsch, Abgeordneter für den Wahlkreis Wiesbaden-Rheingau, nach längerem Leiden gestern früh in Potsdam gestorben ist. Der Verstorbene gehörte dem Reichstage ununterbrochen seit 1867 an. Wie er sein ganzes Leben der öffentlichen Wohlfahrt gewidmet hat, auf genossenschaftlichem Gebiete unter Aufstellung neuer Gesichtspunkte der Schöpfer war hochbedeutungsvoller, weit über die Grenzen Deutschlands hinausragender Institutionen und Organisationen, deren Berather und Förderer, deren Seele mit voller Hingebung und Frische er blieb bis an seinen Tod, so gilt er auch im Reichstage als ein Muster treuer Pflichterfüllung, auf allen Seiten hoch geschätzt, bei allem Eifer stets sachlich und bereit, auch mit den Gegnern seiner Ansichten sich zu verständigen. Er empfand es sehr schmerzlich, daß seine körperlichen Kräfte ihm in der letzten Zeit nicht gestatteten, unseren Sitzungen regelmäßig beizuwohnen. Wir werden den liebenswürdigen, ehrwürdigen Collegen nimmer vergessen, und zu Ehren seines Andenkens bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.“

Das Haus erhob sich als Zeichen seiner Zustimmung zu dem Urtheile seines Präsidenten. Die achtbarsten Mitglieder aller Parteien fanden sich bei dem feierlichen Begräbnisse des verehrten Mannes in Potsdam ein, wie wir dies in einer Beschreibung des Leichenbegängnisses unseren Lesern noch näher ausführen. Wir aber können diese Charakteristik des Verstorbenen nur mit den Worten schließen:

„Heil dem Vaterlande, wenn nach dem schweren Verluste, der es betroffen, edle Nachfolger des Mannes erstehen, die ihm an Geist, an Thatkraft und Charakterreinheit nachstreben!“


 2.0 Schulze-Delitzsch’s Begräbnißfeier.

Der große Schmerz und die in allen Theilen Deutschlands tiefgefühlteste Trauer, welche der Tod des treuen Volksvertreters Schulze-Delitzsch am 29. April 1883 allen deutschen Herzen bereitet hat, fand durch die zahlreiche Theilnahme an seinem Leichenzuge einen sprechenden Ausdruck.

Das sonst so friedliche Potsdam zeigte am Begräbnißtage, den 3. Mai, dem Fest der Himmelfahrt, schon früh ein ungewöhnlich reges Leben, und dieses wuchs von Stunde zu Stunde, denn aus allen deutschen Gauen strömten Tausende, durch die traurige Kunde vom Tode ihres Schulze-Delitzsch tiefbewegte Männer herbei, um ihren Freund, Berather und Beschützer zur letzten Ruhestatt zu begleiten. Alle beeilten sich, ihre Namen in eine aufgelegte Condolenzliste einzutragen und ihre Kränze und Palmzweige, deren Atlasschleifen mit Widmungen versehen waren, am Sarge des geliebten und verehrten Dahingeschiedenen niederzulegen, welcher, über und über bedeckt mit den lieblichsten Kindern des Frühlings, zur ewigen Ruhe gebettet auf der Bahre lag.

Um 12 Uhr fanden sich die Mitglieder des Reichstages ein, um der häuslichen Feier beizuwohnen, etwa 150 Mitglieder aller Fractionen. Der Trauerfeier, welche im Gartensaale stattfand, wohnten ferner bei der Oberbürgermeister von Forckenbeck aus Berlin, der Vorsitzende der Berliner Stadtverordneten Dr. Straßmann, eine Deputation der städtischen Behörden Potsdams, der Polizeipräsident und Andere. Am Kopfende des von Blumen fast erdrückten Sarges hatte die trauernde Wittwe mit den beiden Söhnen, der Tochter und den übrigen Verwandten des Hauses Platz genommen, Der Chor der Friedenskirche eröffnete die Feier mit dem Gesange: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ Daran schloß sich die Leichenrede des Hofpredigers Rogge. Der Geistliche sprach mit Liebe und Wärme von dem Dahingeschiedenen als Familienvater und wußte dessen weltgeschichtliche Bedeutung so verständniß- und liebevoll zu Gehör zu bringen, daß die Rede einen erhebenden und nachhaltigen Eindruck auf die Trauerversammlung nicht verfehlte.

„Auch für ihn,“ sprach der Geistliche, „gilt das Psalmwort: ‚Unser Leben währt siebenzig Jahre und wenn es hoch kommt achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.‘ Mühe und Arbeit ist auch der Grundgedanke seines Lebens gewesen, und von jeher hatte ihm dies als Aufgabe und Inhalt eines Menschenlebens vorgeschwebt. Er hat nicht darnach gestrebt sein Leben in thatenloser Behaglichkeit, im Besitz der Lebensgüter zu verbringen, ihm war es vielmehr verliehen, die Gaben, die ihm Gott gegeben, auszunützen für die Allgemeinheit, seine Kräfte dem Ganzen dienstbar zu machen. – Der Geschichte bleibt es vorbehalten, ein abschließendes Urtheil über seine Bestrebungen zu fällen, aber ein Zeugniß sind wir diesem Sarge schuldig, und wir sprechen es aus dem Herzen des ganzen Volkes, und namentlich der 3500 Vereine, die an ihm einen Berather und Beförderer verloren: bei allen Bestrebungen hat ihm nur Eins vor Augen gestanden, das war die Wohlfahrt seines Volkes und seines Vaterlandes.“

An die tief ergreifende Trauerrede schloß sich der Segensspruch, und während der Chor eine Motette sang, wurde der Sarg mit der sterblichen Hülle des treuen Volksmannes hinausgetragen auf den vierspännigen Leichenwagen.

Sodann setzte sich der riesengroße, mehr als 10,000 Menschen umfassende Leichenzug in Bewegung. Im langsamen Schritt bewegte sich der Zug durch die Stadt über die lange Brücke hinaus (von wo aus das Bild ihn darstellt), dem alten Kirchhofe zu. Unzählige Menschen standen auf den Straßen, und an der langen Brücke hatten Tausende Stand gefaßt, die den Zug sehen wollten, welcher von hier aus einen imposanten Anblick darbot. Die Trauerweisen dreier Musikcorps mischten sich mit dem Geläute der Kirchenglocken und verbreiteten in der ganzen Stadt einen wehmüthigen Ernst. Dem Zuge voran schritt das Musikcorps des ersten Garderegiments, den Trauermarsch Chopin’s weithin schallen lassend. Dann folgten die Gewerkvereine Potsdams, Berlins und anderer Städte, der Berliner Arbeiterverein mit seiner florumhüllten Fahne und der Berliner Verein Waldeck kostbare Kränze an schwarzen Stäben tragend.

Ein zweites Musikcorps schritt dem mit Blumen geschmückten vierspännigen und von Reichstagsdienern escortirten Leichenwagen voraus. Unmittelbar dahinter folgten die Söhne und andere Verwandte des Verstorbenen. Dahinter wurden die Kränze des Großherzogs von Hessen und des Reichs- und Landtagspräsidiums getragen. Es folgten die Abgeordneten des Reichs- und Landtages, etwa hundertfünfzig an der Zahl, darunter die beiden Präsidenten von Levetzow und Ackermann, das gesammte Bureau [356] der Fortschrittspartei, unter Anderen Virchow, Eugen Richter, Ludwig Löwe, von Bunsen, Neßler, Albert Traeger und Rademacher. Von anderen Parteien von Bernuth, von Bennigsen, von Benda, von Maltzahn-Gültz, Dr. Hartmann, Dr. Lieber, die Socialdemokraten Frohme und Rittinghaus, und viele Andere. Ihnen folgten die städtischen Behörden Potsdams und Berlins in Amtstracht, der engere Ausschuß der Genossenschaften und Deputationen derselben aus allen deutschen Gauen. Ferner die Vertreter der Genossenschaftsbank und die Vertreter anderer Banken und gewerblichen Institute, zahlreiche kaufmännische Vereine, dazu die Vertreter der Berliner und auswärtigen Presse in sehr großer Anzahl, Kränze und Palmzweige tragend.

Wieder unterbrach ein Musikcorps die Reihen und diesem folgten Deputationen der Volksbildung-, Handwerker-, Gewerbe-, der politischen und communalen Vereine aus Berlin, Spandau, Charlottenburg, Delitzsch, Stralsund, Magdeburg, Stettin, Burg, Aschersleben, Wittenberg, Tangermünde, Hamburg, Görlitz, Eisleben, Wiesbaden, Lissa, Rudolstadt, Herzberg, Meiningen, Dennstedt, Gardelegen, Frankfurt, Brandenburg, Prenzlau, Kassel, Coblenz, Zeitz, Barmen, Breslau und vielen anderen Orten, um ihrem Begründer und Schöpfer das letzte Geleit zu geben. Delegirte des akademischen Vereins „Marchia“ in vollem Wichs schlossen sich diesen an, und ihnen folgten zahlreiche Berliner Bezirksvereine und sämmtliche fortschrittliche Wahlvereine mit Fahnen und Bannern, welche mit Florstreifen umhüllt waren. Potsdam machte den Beschluß. Darauf schloß sich eine Reihe von Wagen an, deren vordere den Reichs- und Landtagsmitgliedern gehörten.

Von nah und fern waren viele Freunde des Verewigten herzugeeilt, um mit der Potsdamer Bevölkerung ihren Freund und großen Mitbürger scheiden zu sehen. Schweren Herzens sahen sie dem Zuge nach, der ihren Stolz und treuesten Freund hinausführte auf den stillen Friedhof. Als der Zug dort angelangt war, empfing der Schärtliche Gesangverein den Sarg mit dem Liede: „Ueber allen Wipfeln ist Ruh“, und während man den Sarg in die Gruft hinabließ, sprach Hofprediger Rogge den Segen.

Der Bürgermeister Nizze aus Ribnitz, Vorsitzender des engeren Ausschusses der deutschen Genossenschaften, trat an die offene Gruft, dem Verstorbenen ein mit innigem Dankgefühl tiefbewegtes „Ruhe sanft!“ nachzurufen und mit folgenden Worten einen Kranz auf das Grab zu legen: „Du alter, braver Schulze, Du treuester Freund des deutschen Volkes, Du Wohlthäter von Millionen, als Zeichen unbegrenzter Liebe, Verehrung und Dankbarkeit lege ich diesen Kranz auf Dein Grab. Dein Geist leuchte uns auch ferner voran, Deine Asche ruhe in Frieden!“

Hierauf trat Herr Professor Möller an die Gruft, schilderte das Wirken Schulze’s auf dem politischen und volkswirthschaftlichen Gebiete und schloß mit dem Dichterworte:

„Wer den Besten seiner Zeit genug gethan,
Der hat gelebt für alle Zeiten.“

Nach Herrn Professor Möller sprach der Abgeordnete Wißmann aus Wiesbaden den Dank der Stadt Wiesbaden, die Schulze im Reichstage vertreten hat, in schönen, herzlichen Worten aus und legte einen prachtvollen Kranz auf das Grab.

Während der Gesangverein das „Auferstehen“ sang, schloß sich das Grab über dem Unvergeßlichen, die Menge zerstreute sich ernst und schweigend, und es wurde still auf dem Friedhofe, auf welchem das deutsche Volk einen der besten Männer seiner Vergangenheit und Gegenwart zur Ruhe gelegt hatte.




Der Allgemeine Deutsche Musikverein und dessen historische und ethnographische Ausstellung in Leipzig.

(Mit Originalzeichnungen von Rudolf Cronau.)

1. Tanzmaske der Neu-Irländer. 2. Trommel der Nubier, Ostafrika. 3. Schildkrötenrassel aus Südamerika. 4. Schellengeläute von der Zanzibarküste. 5. Tamburin der Grusier im Kaukasus.

Der bekannte Musikpädagog Louis Köhler in Königsberg stellte vor vierundzwanzig Jahren in Leipzig vor einer glänzenden Versammlung von Tonkünstlern den Antrag, einen Allgemeinen Deutschen Musikverein zu gründen. Derselbe entstand auch unter der Obhut des verstorbenen Redacteurs Dr. Franz Brendel, nach dessen Tode 1868 Professor Karl Riedel das Präsidium übertragen wurde, während Franz Liszt, der ewig jugendliche Großmeister, durch seine warme persönliche Theilnahme und durch Geltendmachen seiner humanen Grundsätze dem Verein jenes Gepräge gab, welches gestattete, den verschiedensten werthvollen musikalischen Richtungen die Arena zu eröffnen und jährlich vor Hunderten von urtheilsfähigen Musikern Tonwerke der Vergangenheit und Gegenwart in Wettstreit treten zu lassen. Bereits zwanzig Tonkünstlerversammlungen hat dieser Musikverein veranstaltet, stets mit einem großen Apparat von Kräften: ein und mehrere Orchester, zwei bis vier Gesangvereine, zwanzig bis vierzig Solisten, mehrere Dirigenten; jedesmal innerhalb vier Tage vier bis sieben Concerte, mündliche Vorträge, Berathungen etc. durchführend, dabei die geselligen Zusammenkünfte nicht vernachlässigend, immer zur Freude der Bewohner jener Städte, die ihn gastlich aufgenommen haben. Ueberall, wo er nur getagt hat, wurde der Wunsch ausgesprochen, ihn bald wieder begrüßen zu dürfen.

So in den Residenzen der kunstliebenden Herrscher Thüringens, deren Einer, Großherzog Alexander von Sachsen-Weimar, das Protectorat übernommen hat, in Weimar, Altenburg, Meiningen, so in Erfurt und Halle an der Saale, in Wiesbaden und Magdeburg, in Baden-Baden und Karlsruhe, in Dessau und in Kassel, in Hannover und nicht am wenigsten in der herrlichen Limmatstadt Zürich, wo man im vorigen Jahre dem deutschen Verein eine wahrhaft glänzende Stätte bereitete und ihm Tage voll Zauber und Herzlichkeit schuf.

Nicht nur für die Tonkünstler, auch für die Laien, unter denen ja so manche Kenner, ist es hochinteressant, einen schnellen Ueberblick über das reiche Productionsvermögen der Gegenwart gewinnen zu können. Berlioz’s (des stets sehnsüchtig nach Deutschland schauenden geistvollen Franzosen) Symphonien, sein mächtiges Requiem, Liszt’s Oratorien und symphonische Dichtungen, Wagner’s gewaltige Schöpfungen bilden die Glanzpunkte der Tonkünstlerversammlungsprogramme und zeigen, daß die einst geschmähte „Zukunftsmusik“ sich nach und nach Bürgerrecht erworben hat und noch lange der Gegenwart und der Zukunft Freude spenden wird. Aber auch die jungen skandinavischen Tonsetzer, an ihrer Spitze Grieg und Svendsen, die Jungrussen Borodin, Rimsky-Korsakoff, [357] Tschaikowsky, die Belgier Huberti und Lassen, der Italiener Sgambati, die Schweizer Hans Huber („Tell“-Symphonie), Gustav Weber, Edgar Munzinger, der Franzose St. Saëns, der Holländer G. W. Nicolai erregen lebhafteste Theilnahme und zeigen, wie befruchtend die deutsche Tonkunst auf die Außerdeutschen eingewirkt hat. Deutschland ist von jeher neidlos bereit gewesen, alles Gute anzuerkennen, was auch außerhalb seiner Grenzen entstanden ist, und kann solches ruhig thun im Besitze seiner stattlichen Reihe lebender oder jüngst verstorbener Componisten, welche alle aufzuzählen diesmal zu weit führen würde.

Es ist kein geringes Verdienst des Allgememen Deutschen Musikvereins, vielen Tonkünstlern zum ersten bemerkenswerthen Auftreten oder ihren bedeutenden Werken zum Durchbruch verholfen zu haben. So unter Anderem: Albert Becker aus Quedlinburg, jetzt in Berlin lebend, der minerva-ähnlich in die Arena trat: seine glänzende, warmblütige B-moll-Messe (zuerst durch den Riedel’schen Verein 1879 aufgeführt) erregte das Erstaunen der musikalischen Welt. Ein Componist, bis dahin gänzlich unbekannt, der die verwickeltsten polyphonen Formen spielend beherrschte, die gewagtesten Combinationen auf einander thürmte und dabei aus vollem Herzen schrieb!

Das mannhafte Ringen eines zweiten tiefangelegten Tonsetzers, des überaus geistreichen Coburgers Felix Dräseke, hat man seit mehr denn zwanzig Jahren bei verschiedenen Tonkünstlerversammlungen verfolgen können. Fast schien es, als ob es nicht gelingen sollte, ihm gebührende Anerkennung zu verschaffen, da – es war 1878 auf der Versammlung in Erfurt – schlug eine seiner Symphonien (welche schon der selige Julius Rietz hochstellte) glänzend durch; dennoch erlebte die Symphonie nachdem an anderen Orten nicht die gleichen Erfolge und zwar in Folge ungenügender Vorbereitung.

Die letzte Versammlung in Leipzig nun brachte von ihm eine große und schwierige Chorcomposition in einer Aufführung des oben genannten Gesangvereins, und man kann sagen, daß Felix Dräseke mit seinem hochbedeutenden H-moll-Requiem auf der ganzen Linie gesiegt hat. In einem Theaterconcert zündete des Russen Borodin Es-dur- Symphonie, im Krystallpalastconcert Liszt’s Prometheus-Musik.

Japanische Musikinstrumente.
1. Taikò. 2. Shôko. 3. Yôko. 4. Kakko. 5. Notenrolle. 6. Flöten im Futteral. 7. Chinesische Trompeten und Flaggen.

Aber nicht nur durch interessante Compositionen, nicht nur durch Virtuosen ersten Ranges suchte der Musikverein mit seiner zwanzigsten Tonkünstlerversammlung in Leipzig zu fesseln, sondern er hatte auch den sehr glücklichen Gedanken, dem Fest in den Tagen vom 3. bis 6. Mai durch eine ethnographisch-historische Ausstellung einen ganz besonderen Reiz zu verleihen. Es war ein erster Versuch, und obgleich er erst in zwölfter Stunde unternommen wurde, so ist er doch trotz der Kürze der Zeit und trotz der geringen Mittel, welche zur Verfügung standen, über alles Erwarten glänzend ausgefallen.

Sollte der Erfolg, welchen das Experiment gefunden, denn als ein solches können wir die Ausstellung nur bezeichnen, nicht ein Reizmittel zu weiteren Unternehmungen in dieser Beziehung sein? Die Zeiten der großen internationalen Weltausstellugen sind für unseren Continent vorüber, sie bringen sachlich keinen Nutzen mehr, sie sind für uns nichts anderes, als großartige Komödien, wie auch die letzte Pariser Weltausstellung eine solche gewesen ist. Dagegen hat man den Nutzen und die Vortheile internationaler Fachausstellungen kennen und schätzen gelernt. Sollte da nicht die Idee einer internationalen Ausstellung von musikalischen Hülfsmitteln, welche uns die Musikinstrumente aller Zeiten und Völker, von den Uranfängen an bis zur Gegenwart, in ihrem Sein und Werden vorführte, wohl zu erwägen, und sollte nicht der classische Musikboden Leipzigs die geeignetste Stätte dazu sein? –

Dem Grundgedanken nach zerflel die Ausstellung in zwei Abtheilungen, in eine ethnographische und in eine historische, welche beide eine Fülle interessanten und belehrenden Stoffes boten. Die erste Abtheilung bestand fast ausschließlich aus Gegenständen des „Museums für Völkerkunde“ in Leipzig, während die geschichtliche Abtheilung durch Beiträge, und zum Theil durch sehr werthvolle Beiträge, von Privatpersonen zusammengebracht worden war.

Der Ton ist das materielle Mittel für den musikalischen Ausdruck, welchem im niedrigsten Stadium, bei den rohesten Naturvölkern, schon das Geräusch diente. Um dieses wie jenen hervorzubringen, hat man zu allen Zeiten, selbst den urgeschichtlichen, und bei allen Völkern Instrumente benutzt.

Zu dem rohen Geräusche, dessen sich die sogenannten Naturvölker [358] bedienen, wozu sie die Lärminstrumente, die Rasseln, Klapperhölzer und Klapperstöcke, die Schnarren, Pauken und Trommeln benutzen, zu dem rohen Geräusche, sagen wir, tritt als erstes bildendes Element der Rhythmus hinzu, der zunächst in dem tactmäßigen Klatschen mit den Händen besteht, wie wir es heutzutage noch bei den Tänzen der Eingeborenen Amerikas und denen anderer Naturvölker, wie sogar auch noch bei der von den Völkern des Kaukasus getanzten Lesghinga beobachten können.

Selbst bei den primitivsten Blasinstrumenten, die man am frühesten aus Rohr, Muscheln, Hörnern und bei weiterer Entwickelung aus Thon hergestellt hat, wie man sie noch heutzutage auf den Inseln der Südsee und bei den Völkern Afrikas finden kann, fängt das Geräusch schon an in einen Klang überzugehen, welcher durch die Wahrnehmung, daß gespannte Saiten, in Schwingung versetzt, Töne von sich geben, mit anderen Klängen zum Zusammenklingen benutzt wird. In diesen Lärm- und Klanginstrumenten niedrigster Art, wie sie in den frühesten Zeiten und bei den rohesten Naturvölkern vorkommen, haben wir die Vorbilder für alle unsere modernen Musikinstrumente, die im Wesen durchaus auf jenen beruhen, noch heute dieselben Kategorien aufweisen und sich vor diesen nur durch ihre freilich oft erstaunliche Vervollkommnung auszeichnen.

Alle diese Arten von Instrumenten waren nun in reicher Auswahl auf der erwähnten Ausstellung vertreten, sodaß man sich ein treues Bild von den musikalischen Genüssen der sogenannten „Wilden“ machen konnte.

Da finden wir Trompeten aus Muscheln, Trommeln und Pansflöten von den Fidschi-Inseln, von Neu-Irland, Neu-Seeland und von verschiedenen anderen Eilanden der Südsee; nächst den Maracas, den Rasseln der Eingeborenen Venezuelas, den Klappern und Trommeln der eingeborenen Bevölkerung Amerikas, welche bei deren Tänzen Verwendung finden, wohl die am wenigsten ausgebildeten Musikinstrumente.

Die Panspfeife und die Flöte sind bereits höhere Errungenschaften, aus der Wahrnehmung hervorgegangen, daß es Töne verschiedener Höhe giebt und daß solche durch Pfeifen von größerer oder geringerer Länge, sowie durch Röhren mit Tonlöchern hervorgebracht werden können, wodurch zugleich die Möglichkeit, eine Melodie zu spielen, gegeben ist. Ein Gleiches gilt auch von den Saiteninstrumenten, hier entspricht die Harfe der Panspfeife, ihr schließt sich die Lyra mit ihren gleich langen, aber verschieden gespannten Saiten an, während die Guitarre und Laute das Seitenstück zur Flöte bilden, indem durch Verlängern oder Verkürzen der Saiten mit den Fingern Töne von verschiedener Höhe erzeugt werden. So ist, wie Ambros ganz richtig bemerkt, das Vorkommen von Harfen, Lyren und Lauten ein Kennzeichen, daß der Standpunkt roh naturalistischen Musikmachens[WS 1] überwunden und eine musikalische Cultur erreicht sei.

Bei der amerikanischen Urbevölkerung werden, wie bei den Südsee-Insulanern, nur Schlag- und Blasinstrumente gefunden, Saiteninstrumente sollen bei den wilden Indianern, die noch nicht mit europäischer Cultur Bekanntschaft gemacht haben, fast gar nicht vorkommen; nur die Apaches haben den Harpan – es ist dies ein spanischer Name – mit einer Saite, mit welchem sie ihre Gesänge begleiten. Die auf der Ausstellung befindlichen Guitarren der Eingeborenen von Bolivia und Venezuela, so merkwürdig sie auch sind, namentlich die, bei welchen der Körper aus dem Rücken des Gürtelthieres gefertigt ist, sind daher doch nicht ursprünglich amerikanisch, sondern durch westliche Einflüsse bedingt.

Höher als die amerikanischen Völker und die Völker der Südsee stehen in musikalischer Beziehung die Eingeborenen Afrikas und zwar von West-, wie von Ost-Afrika, die Bantu- und Sudan-Neger, wie auch die hamitischen Völker des Ostens. Außer den Schlag- und Blasinstrumenten, den Trommeln und Hörnern, zu welch letzterer Gattung von Musikinstrumenten auch die Stoßzähne des Elephanten, oft kunstvoll geschnitzt, wie auf der Ausstellung zu sehen war, verwendet werden, findet man nun hier auch die Harfe und Lyra, sowie die Marimba, bei welcher verschieden gestimmte Holzstäbchen durch Anschlägen in tönende Schwingungen versetzt werden.

Nur anführen wollen wir noch von den Naturvölkern die Bewohner der nördlichen Polargegenden, die Eskimos, Lappländer und die verschiedenen tatarischen Stämme mit ihren Zaubertrommeln, die mehr als Lärm-, denn als Musikinstrumente dienen.

Den Uebergang von den Natur- zu den Culturvölkern bildeten auf der Ausstellung die Siamesen und Malayen, welche mehrfach schon von europäischer Bildung beleckt sind, wie die Streichinstrumente, verschiedene Arten von Geigen, Bratschen und Celli von Paraken Salak auf Java beweisen, denen unsere gleichnamigen Instrumente unbedingt zum Vorbild gedient haben, wenn sie auch abgeändert worden sind.

Die Chinesen und Japaner eröffnen den Reigen der Culturvölker, jene zwar origineller, aber auch primitiver, diese weniger ursprünglich, dafür aber entwickelter. Dem Charakter dieser Völker entsprechend ist auch deren Musik. Sie besitzen bereits eine ausgebildete Theorie, sowie eine Notirung, nichtsdestoweniger entsprechen deren künstlerische Productionen nur sehr wenig unserem Geschmacke. Obgleich sie überaus phantastisch sind, so mangelt doch den Chinesen wie den Japanern Gemüth und Phantasie; sie sind reine Verstandesmenschen und in Folge davon ist die Musik bei ihnen auch mehr Wissenschaft, oft scharfsinnig ausgedacht und der Feinheiten nicht ermangelnd, als eine wahre, die Bedürfnisse des Herzens befriedigende Kunst.

Wie alles bei diesen Völkern nach gewissen Doctrinen geht, so bestehen auch für die Musikinstrumente ganz bestimmte Vorschriften, die Gesetzeskraft haben. Auch sie gliedern sich in die schon erwähnten drei Kategorien: in die Schlaginstrumente sowohl aus Metall wie Holz mit Fellbezügen gemacht, in die Blasinstrumente und in die Saiteninstrumente. Complicirtere Instrumente mit Ventilen, Klappen und Claviaturen giebt es weder in China noch in Japan.

Da finden wir in China als das primitivste Instrument die Klapperbrettchen, ferner Pauken und Trommeln, denen mehr Lärm und Geräusch als Töne entlockt werden, weiter Glocken und das wegen seines schönen vollen Tones allerwärts bekannte und bei unseren Theatern viel verwendete Gong oder Tam-Tam, das herzustellen uns bis jetzt noch nicht gelungen ist. Auch klingende Steine, welche reihenweise aufgehängt und mit einem Klöppel geschlagen werden, werden in China zur Hervorbringung von Tönen und als Musikinstrument, „King“ genannt, benutzt. In der Provinz Leang-tscheu giebt es einen solchen Klingstein von ganz besonderer Güte, welcher für so edel und vornehm gehalten wird, daß auf dem aus ihm gefertigten Instrumente, dem „Nio-Kong“, nur der Kaiser spielen darf.

Flöten werden in China aus Bambus hergestellt. Es giebt deren verschiedene Arten; auf einer Flöte kann man immer nur in einer und derselben Tonart blasen, für eine andere Tonart muß man eine andere Flöte nehmen. Auch eine Art von Trompete mit Zungenmundstück, im Tone ähnlich dem unserer Oboe, giebt es.

Die Saiteninstrumente sind sehr verschieden, da giebt es harfen-, guitarren-, lauten- und geigenähnliche mit Saiten aus gedrehter Seide und mit Bezug aus Messingdraht; auch eine Schlagcither kommt vor, das Urvorbild für unser Clavier.

Hinsichtlich der japanischen Musik gilt ganz dasselbe, was wir überhaupt bei allen Aeußerungen geistiger Thätigkeit der Japaner finden, nämlich wie auf allen anderen Gebieten, in Wissenschaft und Kunst, in Industrie und Gewerbe, überhaupt bei allen Erscheinungen der Cultur, so auch hier wenig Urwüchsiges. Das Meiste ist fertig und größtentheils schon hoch ausgebildet aus China und Korea nach Japan eingeführt worden, wo es anfangs mit großer Sorgfalt auf’s gewissenhafteste aufbewahrt, später aber vielfach verändert, verbessert, weiterentwickelt, mitunter aber auch verschlechtert worden ist.

So sind auch die japanischen Musikinstrumente nur Abkömmlinge der chinesischen, die zum Theil ganz in der ursprünglichen Form beibehalten worden sind, wie das Geking, eine Art Guitarre mit Stimmfeder. Auch die japanische „Koto“ ist dem „Kin“, der chinesischen Harfe, die japanische „Biwa“ der chinesischen Laute sehr ähnlich.

Die vom „Museum der Völkerkunde“ zu Leipzig auf der Ausstellung vorgeführte Sammlung japanischer Musikinstrumente war eine ganz vollständige und dürfte, was den Reichthum und die Pracht der Ausstattung der Gegenstände anbelangt, in Europa einzig dastehen. Es sind seltene kostbare Stücke, von auserlesener Arbeit und hohem Werthe, welche dem kaiserlichen Hofe in Tokio angehört haben und von diesem zu Paris auf der Weltausstellung des Jahres 1878 in der japanischen Abtheilung nur ganz kurze Zeit zu sehen waren, wo sie allgemein bei den Beschauern Bewunderung [359] erregten, ein vollständiges Orchester, welches seiner Zeit von dem japanischen Ausstellungscommissar, dem Minister Masayochi Matsugata, im Auftrage der japanischen Regierung dem „Museum für Völkerkunde“ zum Geschenk gemacht worden ist, wo es gegenwärtig einen Hauptanziehungspunkt der reichen Sammlungen des Instituts bildet.

Es sind zunächst Schlaginstrumente, und zwar sowohl aus Metall, wie die „Shôko“, eine runde Metallplatte mit Rändern, welche an einem Holzgerüste hängt und mit zwei Klöppeln geschlagen wird, als auch aus Holz mit Fellbezügen, also Trommeln, wie die „Taikò“, die große Trommel, welche an einem Holzständer aufgehangen ist und mit zwei dicken Klöppeln geschlagen wird, die zur Seite des einen runden Rahmen um die Trommel bildenden Ständers aufgehangen sind, ferner die „Kakko“, die schiefstehende kleine Trommel, welche, auf einem Holzgestelle ruhend, mit zwei Stäbchen geschlagen wird, dann die „Yôko“ oder „Sanno Tsudsumi“, welche aufrecht gestellt wird. Es sind dies sämmtlich Instrumente, welche bei der Aufführung chinesischer oder koreanischer Musikstücke benutzt werden und zu den sogenannten „reinen“, welche ausschließlich bei geistlichen Musikaufführungen gebraucht werden, gehören. Dazu kommen noch bei Aufführung rein altjapanischer Musik die „Tsudumi“, zwei Trommeln, von denen die eine auf der linken Schulter, die andere auf dem Schooße liegt und welche mit den Fingern der rechten Hand geschlagen werden.

Harfe vom Gabun, Westafrika. Harfe von Loango, Westküste Afrikas.

Die japanischen Blasinstrumente sind entweder aus Holz oder es werden Muscheln, an denen ein Mundstück von Messing angebracht ist, dazu benutzt. Metall wird nur zur Anfertigung von Zungen-Blasinstrumenten gebraucht. Das Hauptinstrument ist die „Shô“, bestehend aus einer Anzahl von Pfeifen mit Metallzungen, die kreisförmig vereinigt sind und eine Art kleiner tragbarer Orgel bilden, dann sind die „Hidschiriki“, eine Art von Oboe aus Bambus mit Metallzungen, sowie die chinesische Flöte „Ohteki“ und die koreanische Flöte „Komafuye“ zu erwähnen, welche sämmtlich nur für die reine Musik gebraucht werden.

Als Saiteninstrumente werden bei den Japanern eine Anzahl von harfenartigen Instrumenten benutzt, sowie die „Biwa“ und die „Geking“, welche letztere beiden sich mit der Laute und Guitarre vergleichen ließen. Hierzu kommt noch die „Samiseng“, das gewöhnlichste japanische Saiteninstrument.

Die harfenähnlichen Instrumente, welche liegend gespielt werden, zerfallen in die „Sono Koto“, die dreizehnsaitige Harfe, die „Kino Koto“, die siebensaitige, chinesische Harfe, die „Yamata Koto“ oder „Wenggang“, die sechssaitige, altjapanische Harfe, die „Idsumo Koto“ die zweisaitige Harfe, und die „Suma Koto“, ein Monochord. Die Saiten für diese Harfen sind alle aus Seide gedreht und mit Wachs getränkt. Sie sind bei ein und demselben Instrument gleich lang, gleich stark und gleich gespannt, sodaß die Tonhöhe nur durch die Stellung des beweglichen Steges bedingt wird. Zum Stimmen bedient man sich verschiedener Arten von „Stimmgabeln“, es sind aber keine Gabeln, sondern aus Bambus gefertigte Pfeifen, die entweder wie die Panspfeifen oder auch kreisförmig angeordnet sind, Tonlöcher oder auch Metallzungen haben. Zum Spielen der Koto bedient man sich künstlicher Nägel aus Elfenbein, die vermittelst kleiner Lederringe um Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand befestigt werden, während die Linke flach auf den Saiten jenseits der beweglichen Stege aufgelegt wird, um die Saiten nöthigenfalls zur Erzeugung von Zwischentönen durch Druck zu spannen oder durch Zug zu entspannen.

In der Mitte zwischen den „reinen“ und „nicht reinen“ Instrumenten, welche letztere auch für die bei den Nô-Tänzen gebräuchlichen Musikstücke verwendet werden, stehen verschiedene Klappern, Pfeifen, Flöten, Monochorde (Instrumente mit nur einer Saite), die aber mehr Spielzeug sind, als Musikzwecken dienen.

Eine wirkliche Notirung hat, wie schon erwähnt, die japanische Musik, doch besteht sie nur für die „reinen“ Instrumente, die von theoretisch gebildeten Musikern gespielt werden. Dieselben gehören zu der Classe der hochgeachteten Leute, und durfte von jeher die geistliche Musik auch von der Kaste der Daimios gelernt und ausgeübt werden.

Guitarre der Hamran.
Maracas, Rassel der Eingeborenen Venezuelas. Serbische Doppelflöte.

Die Indo-Europäer waren auf der Ausstellung durch die sämmtlichen Musikinstrumente vertreten, welche bei den verschiedenen Völkern des Kaukasus, den Grusiern, Armeniern und anderen vorkommen, ferner durch russische, serbische, italienische, griechische und zwar sowohl durch Schlag- wie auch durch Blas- und Saiteninstrumente. Besonders wollen wir nur hervorheben die russische „Balaleika“ und die serbische „Gusla“, von denen uns die Lieder jener Nationen so viel melden, die trotzdem aber bei uns kaum mehr als dem Namen nach bekannt sind. – Von den Instrumenten der semitischen Völker gedenken wir nur des „Schófers“, eines Blasinstrumentes, das noch jetzt beim jüdischen Tempeldienste in Gebrauch ist. Es ist das „Widderhorn“, das auch allgemeiner aus Gutzkow’s „Uriel Acosta“ bekannt ist. Dasselbe ist ganz einfach und besteht aus einem am Ende seines Rohres stark umgebogenen Schalltrichter und wird als heiliges Horn in der Synagoge zum Signalgeben benutzt.

Zum Schluß unserer Wanderung durch die ethnographische Abtheilung der Ausstellung müssen wir noch der „Kantele“ Erwähnung thun, der interessanten altfinnischen Harfe, welcher schon in der Kalewala, dem altfinnischen Nationalepos, gedacht und als deren Erfinder der gewaltige Sänger Wäinämönen im Liede gepriesen wird.

Die zweite Abtheilung der Ausstellung, welche die historischen Instrumente umfaßte, war zwar nicht so reich und mannigfaltig ausgefallen wie die erste, aber darum nicht minder interessant und erstreckte sich bis auf das Neueste des Neuen, bis auf das „Adiaphon“ der Herren Fischer u. Fritzsch in Leipzig, bei welchem die Töne durch Anschlagen von Stimmgabeln erzeugt werden. Namentlich drei Stücke waren es, die sich ganz besonders auszeichneten und die Aufmerksamkeit auch der Musiker von Fach auf sich lenkten. Es waren dies das Clavicymbalum d’amour von Gottfried Silbermann, aus den Jahren 1740 bis 1750, mit zwei Manualen, zwei Registern und Koppel, dreichörig, ferner ein Flügel, sechsoctavig, erbaut im Jahre 1773 von Johann David Schiedmayer, hochfürstlich ansbachischem Instrumentenmacher, und [360] endlich ein Clavier von Erard Frères in Paris, aus dem Jahre 1799 stammend.

Das „Cembal d’Amour“, dessen Erfinder Gottfried Silbermann ist, ist ein historisch hochwichtiges Stück.

Dieses interessante Instrument, kaum gekannt, hatten wir nun Gelegenheit auf der Ausstellung mit eigenen Augen zu sehen und „seine Vorzüge vor anderen Instrumenten und die große Kunst des Verfertigers“ zu prüfen. Der Genuß wurde noch erhöht, wenn der glückliche Besitzer desselben, Herr Opernsänger außer Dienst C. Hertzsch in Leipzig-Eutritzsch, uns dasselbe vorführte, und einen ganz besonderen Reiz hatte es, die alten Menuette darauf gespielt zu hören; man sah dabei in Gedanken die graziösen Figuren des Zeitalters Ludwig’s des Vierzehnten mit gravitätischen Pas vorüberschreiten, oder man wurde recht lebhaft an Mozart’s reizende Schöpfung im „Don Juan“ erinnert.

Ein höchst liebenswürdiges Instrument von poesievollem Tone war das kleine Clavier der Gebrüder Erard aus Straßburg, welche aber im Jahre 1776 nach Paris übersiedelten. Ihnen ist die Verbannung der Registerzüge und die Einführung des Pedales zu danken, nachdem schon vorher durch die Erfindung der Hammermechanik gegen das „Cembal d’Amour“ ein ganz wesentlicher Fortschritt gemacht worden war.

Der Ton dieses einfachen Instrumentes trug einen reizend naiven Charakter an sich, jungfräulich züchtig möchten wir ihn nennen, wie Vater Haydn’s unschuldsvolle, herzerfreuende Muse.

Eine äußerst spannende Situation entwickelte sich, als am 5. Mai nach einer anstrengenden Generalprobe Franz Liszt in seiner unverwüstlichen Frische an den Silbermann’schen Flügel trat und diesen von Herrn Hertzsch sich zeigen und erklären ließ. Mit Schnelligkeit hatte er den Mechanismus des Instruments erfaßt und nun setzte sich der Heros des Pianofortespiels vor das zarte Cembalo und spielte auf dem oberen Manual die Melodie „Eine feste Burg ist unser Gott“, während er auf der unteren Claviatur die Begleitung und Gegenstimmen improvisirte. Wer Liszt’s Schriften kennt, weiß schon von der hohen Verehrung, die der Abbé dem großen Reformator widmet, dazu kommt noch speciell seine Vorliebe für Luther’s erhabene Melodie und deren Bearbeitung durch Sebastian Bach. Mit Recht ist Liszt, der so viele Gegensätze in sich zu einen weiß, die Seele des Allgemeinen Deutschen Musikvereins, welcher letztere übrigens durch die in Folge einer wunderbaren Erbschaft gegründete Beethoven-Stiftung in der Lage ist, seit mehr denn zehn Jahren an Beethoven’s Geburtstag „Ehrengaben“ an verdienstvolle Tonkünstler ertheilen zu können und auch in dieser Beziehung segensreich zu wirken.




Groß-Feuer in Berlin.

Vor 150 Jahren und jetzt.
Culturhistorische Skizze von C. F. Liebetreu.

An einem schwülen Sommerabende des Jahres 1730 hielt ein schwerfälliger Reisewagen, hochbepackt und mit Staub bedeckt, am Georgenthore der königlich preußischen Residenzstadt Berlin, zu jener Zeit, wo der Vater Friedrich’s des Großen, Friedrich Wilhelm der Erste, gar kräftiglich sein spanisches Rohr auf dem Rücken manches Berliners tanzen ließ, auch wohl einen Juden, der furchtsam ihm aus dem Wege gelaufen, zurückrief mit donnernder Stimme und ihm mit Prügeln die Liebe zum Herrscherhause einzubläuen suchte.

Der wachthabende Officier trat aus dem kleinen Wachtraume, welcher sich in dem hohen plumpen Thurme des Georgenthores befand, untersuchte Paß und Papiere des Fremden und reichte sie schweigend mit Kopfnicken zurück.

Der Wagen rasselte durch das Thor, langsam nahm er seinen Weg die Königstraße hinauf.

„Bernhard!“ rief der Fremde dem Kutscher zu. „Halt einmal an. Ich will aussteigen. Hat mich der dreitägige Weg von Stettin hierher schon mürbe gemacht, so ist es rein unmöglich, daß ich die Stöße auf diesem abscheulichen Pflaster aushalte! Sieh nur, Bernhard, da das große Loch hart am Rinnsteine! Ein Glück, daß wir noch bei Tage gekommen, der Wagen wäre sonst sicher hineingerathen und umgeschlagen.“

Bei diesen Worten war der Fremde ausgestiegen, hatte die Decke zurückgeschlagen und blickte neugierig die Straße hinauf.

„Also, Herr Magister, Ihr wollt zu Fuß gehen? Meinetwegen! Wohin soll ich aber mit dem Wagen?“

„Nescio, das weiß ich nicht. Doch da kommt ein würdevoller Herr mit weißer Perrücke und rothem Mantel die Straße herauf, das ist ein Berliner Rathsherr, Bernhard, wie man mir daheim explicirt hat, den will ich fragen. – Hochgelahrter Herr!“ redete der Magister den unterdeß herangekommenen Rathsherrn an, „gestattet die submisseste Frage huldvoll einem Fremden, der die Ehre hat, als Magister Hieronymus Breck aus Stettin vor dem Herrn Rathsherrn zu stehen, wohin ich meine Schritte zu lenken habe, um Logis für mich und Kutscher zu finden, wo auch Stallung für die Pferde mir geboten werden können.“

„Zuerst, Herr Magister, heiße ich Euch willkommen in dieser königlichen großen Residenzstadt unseres allergnädigsten Königs,“ erwiderte der Rathsherr, indem er sich würdevoll verbeugte und die Linke leicht auf den zierlichen Degen stützte, „und so bin ich gern bereit, Euch Auskunft zu geben, sintemalen ich das Glück habe, hier geboren zu sein und Bescheid in der Stadt zu wissen. Da ist der ‚Goldene Arm‘ in der Heiligen Geiststraße, vorher aber kommt die Spandauerstraße, dort ist der ‚Goldene Anker‘, allwo man auch gut aufgenommen wird, sobald der Wirth nicht des Guten beim Poculiren zu viel gethan, außerdem aber ist der ‚Römische Kaiser‘ am Molkenmarkt von den Fremden gern besucht.“

„Gratias tibi, doctissime. Haben nun alle drei Gasthöfe auch Stallung und Tabagie, allwo ich mit den Leuten reden und mich informiren kann über berolinensia?“

„Stallung haben sie alle drei. Eine Tabagie aber, wenigstens die beste, findet Ihr im ‚Goldenen Anker‘.“

Mit den Versicherungen des aufrichtigsten Dankes und unter wiederholten gegenseitigen Verbeugungen trennten sich die Beiden. Der Rath schlug den Weg nach den hinter der Klosterkirche im Neubaue begriffenen Häusern ein, welche auf der Stelle der vor wenigen Jahren abgetragenen Stadtwälle errichtet wurden, Magister Breck aber ging die Königstraße langsam hinauf, gefolgt von seinem Fuhrwerke mit den müden Gäulen.

Die Königstraße war dazumal eine der breitesten Berlins, doch engten sie oft die Stufen vor den Häusern ein, die Gosse ging mitten durch die Straße, das Pflaster war so schlecht wie möglich, doch war der Kehricht an den Häusern und in den Winkeln seit dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelm’s des Ersten wie verschwunden.

Nur wenige Personen sah man auf der Straße, die Männer mit kleinen Perrücken, die man Muffer oder Mirlutons nannte, nur selten ließ sich eine Allongeperrücke blicken, die den Mitgliedern der französischen Colonie ausnahmsweise noch gestattet war. Das Haar der Soldaten war hinten in einen Zopf zusammengeschlagen, die Seitenhaare lagen, zu einer gewissen Länge verschnitten, über die Ohren. So schmutzig die Straßen, so sauber war die Kleidung des Mittelstandes und der feinen Leute. Blendend weiße Manschetten hingen weit heraus aus den Aermelaufschlägen des dunklen Tuchrockes, die schon beim Ellenbogen ihren Anfang nahmen, und das in tausend Fältchen gekräuselte Jabot trat gewaltig hervor aus der meist seidenen, großgeblümten Schooßweste mit ihren blanken Knöpfen. Die Damen mit ihren umfangreichen Röcken stolzirten mühsam auf ihren hohen Hacken über die unebenen Steine des Pflasters, Schminke war verpönt, der König litt sie ebenso wenig wie die Schönheitspflästerchen, die Haare waren einfach in die Höhe geschlagen und gepudert, Kanten und Spitzen zierten ihre Kleidung oft verschwenderisch, und die Busen wurden so entblößt getragen, daß selbst die Hofdamen Ludwig’s des Vierzehnten sich darüber verwundert hätten.

Endlich hatte der Magister sein Ziel, den „Goldenen Anker“, erreicht, der nur einige Häuser vom Landschaftshause abgelegen war. Er trat ein in den geräumigen Flur, an dessen Wölbung ein schwerer eiserner Wagebalken hing; der Geruch nach Heu und

[361]

Hecht und Uferschwalben. Originalzeichnung von E. Schmidt.

[362] Pferden verrieth ihm, daß die Stallungen ein integrirender Theil des Hauses sein mußten.

Einige Stufen führten vom Flur aus in die Tabagie. Nachdem der Magister dem Kutscher Bescheid gesagt und sein Felleisen dem Wagen entnommen hatte, trat er ein und das Läuten einer durch das Oeffnen der Thür in Bewegung gesetzten Glocke gellte dröhnend durch das Haus.

Die Tabagie war ein niedriger weiter Raum. Die Wände waren durch Alter und Rauch geschwärzt, die kleinen Scheiben von grünem Glase wehrten den Sonnenstrahl, Spinneweben hatten die Ecken der Wände überzogen und acht lange, fuchsroth gestrichene Tische, auf jeder Längsseite eine ebensolche Holzbank, zogen sich durch die Stube bis hinten in das Halbdunkel, wo ein mächtiger brauner Kachelofen mit dem nahen Lehnstuhl daneben fast die ganze Hinterwand einnahm.

Zwei ältliche Berliner saßen an dem Tische, welcher dem Fenster zunächst stand. Sie schienen ehrsame Handwerksmeister, trugen Röcke von der damals so beliebten dunkelblauen Farbe, hatten derbe Schuhe an den Füßen, ihr Haar war blond und kraus und ungepudert, das kräftige Dampfen ihrer Pfeifen ließ auf gute Lungen schließen, und die gesunde Farbe der derben, offenen Gesichter bewies, daß der Inhalt der vor ihnen stehenden großen Zinnkrüge ihnen gut bekomme.

„Gott zum Gruß, Ihr Herren Meister!“ sagte der Fremde, lüftete den Hut, legte das Felleisen auf die Bank und setzte sich daneben. „Mit Verlaub, ich nehme hier Platz.“

„Recht so,“ meinte der ältere Berliner, ohne die kurze Pfeife aus dem Munde zu nehmen. „Ihr sollt uns willkommen sein. Mag’s Euch hier gefallen!“

„Einen Willkommen trinke ich Euch!“ fügte der andere hinzu und that einen gar herzhaften Zug aus seiner Zinnkanne. „Woher des Weges? Wohl lange auf der Landstraße gewesen?“

„Ihr seht’s wohl gar an meinem Rocke?“ lachte der Fremde. „Glaub’s schon, daß ich nicht erst Berliner Staub darauf noch zu streuen brauche, sehe so schon schlimm genug aus und nun gar erst im Gesicht. Ja, ich komme weither. Komme aus Stettin, bin dort Magister und will morgen nach Spandau, meinen Vetter Balthasar Meinecke zu besuchen. Wir haben Beide geerbt von einer Muhme meiner Mutter, und da wollen wir Rath halten. Doch ehe wir weiter plaudern, ehrsame Meister, giebt es hier auch Bedienung?“

„Ei freilich! Seht dort hinten, auf der Ofenbank im Halbdunkel, da schnarcht der Johann, den müßt Ihr wecken.“

Der Magister schien nicht gerade verwundert über diese Eigenart des Berliner Hausknechtes; er mußte wohl in der Heimath ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Nur nach anhaltendem Schütteln gelang es ihm, den Knecht auf die Beine zu bringen und ihm deutlich zu machen, daß er Waschwasser und Seife brauche.

Bald war dasselbe sammt dem derben Handtuch zur Stelle geschafft, ein Schemel wurde in die Nähe des Fensters gerückt, das Waschbecken darauf gestellt, und der ehrsame Magister entledigte sich des Rockes und der Schooßweste, schlug den Hemdenkragen zurück und wusch Gesicht und Oberkörper mit größter Seelenruhe in der Gaststube des wohllöblichen Gasthauses „Zum goldenen Anker“ in der Spandauer Straße.

„Nun aber, Ihr Herren Meister,“ sagte er beim Abtrocknen des Gesichtes und der Hände, „giebt es hier eine Sorte Bier oder mehrere, worunter man wählen kann?“

„Zuviel haben wir nicht,“ erwiderte der Eine trocken, „da ist Ruppiner, Bernauer, Cottbuser, Carthäuser Landbier, dann noch Zerbster und Lebuser.“

„Und das findet Ihr nicht viel?“ staunte der Magister.

„Eins hat er noch vergessen,“ unterbrach ihn der andere Meister, „das Potsdamer Bier, und dem gebe ich den Vorzug. Ja, Herr Magister, es ist eine ganz wackere Auswahl, aber soviel haben wir doch nicht, wie bei den großen Gelagen der hohen Herren bei Hofe zum Verzapf kommt. Da hat die Kämmerei ausgerechnet, daß es dreiunddreißig Sorten gewesen im Jahre 1723, die auf die Tafel kamen, als der Erzbischof zum Besuche hier war.“

„Was Ihr sagt! Nun, so will ich Eurem Rathe folgen. Heda, Johann, bring Er eine Kanne Potsdamer und dazu Wurst und Speck, auch eine Zwiebel. Wenn Ihr so vielerlei Biere habt,“ fuhr er zu den Meistern gewendet fort, „da müßt Ihr ja gewaltig trinken!“

„Nun, wir trinken eben grad’ genug,“ meinte lächelnd der Aeltere; „ich war gestern oben im Rathhaus und da hab’ ich von dem Stadtschreiber so beim Plaudern erfahren, daß achtundzwanzigtausendfünfhundert Tonnen im letzten Jahre ausgeschenkt sind; das würde natürlich zu wenig sein bei uns sechsundsiebenzigtausend Berlinern, aber die Armen und die Tagelöhner, die gießen soviel Wasser hinein, daß es einem weh thun könnte; da wird eine Kanne niemals mehr am Tische kleben bleiben und wenn sie auch stundenlang stillsteht.“

„Trefflich schmeckt das Bier,“ sagte der Magister nach einem tiefen Zug, „das will ich mir loben! … Aber wer flucht denn da so auf der Gasse? Der hat ja einen mächtigen Stock. Die blanken Knöpfe an seinem blauen Rock sehen ganz gut aus!“

„Das ist der Rathsdiener,“ erklärte der jüngere Meister, indem er nach kräftigem Zuge seine Pfeife auf die Diele ausklopfte, den braunen Abguß der Asche mit größter Seelenruhe hinterher goß, die Pfeife neu stopfte und in Brand setzte. „Der arme Mensch hat gar kargen Lohn, aber an Aerger fehlt’s ihm nicht. Seht Ihr da drüben die Hökerinnen und Verkäuferinnen? Die hat er in Ordnung zu halten, und wer da weiß, daß man oft mit seinem eigenen Weibe kaum fertig wird, der weiß auch, was das heißt. Das schnattert den ganzen Tag, statt zu arbeiten!“

„Zu arbeiten? Nun, wenn sie ihren Kram verkaufen, thun sie ja ihre Arbeit!“

„Mit nichten, Herr Magister! Dafür sorgt unser gnädiger König, daß keine müßig dasitzt und Maulaffen feil hält; der hat angeordnet, daß jede in der Woche ein Pfund Wollgarn spinnen muß. Das bringt sie nach dem Lagerhaus und kriegt’s bezahlt. Thut sie’s nicht, wird sie bestraft und der Rathsdiener wird vom Rath ausgescholten, daß kein Hund ein Stück Brod von ihm nehmen möchte, denn der Rath, na, der sieht auch nicht gern, wenn der König ankommt mit zornigem Gesicht, und sein echt spanisch Rohr in der Hand! Beinahe hätte es gestern der Rathsherr Frobel ordentlich von ihm gekriegt. Der König glaubte nämlich, er hätte Kattun von Holland eingeschmuggelt, und das kostet hundert Thaler Strafe.“

„Nicht möglich!“ meinte der Magister.

„Ihr könnt es, wenn Ihr mir nicht glaubt, im Intelligenzblatt lesen. Das wird seit 1727 bei uns hier gedruckt, darin findet Ihr Alles; darin könnt Ihr auch lesen, daß seit demselben Jahre keine Häuser mehr ohne Schornsteine gebaut werden dürfen; auch Schindeldächer findet Ihr in der ganzen Stadt nicht mehr, und die Scheunen liegen jetzt alle draußen vor den Thoren. Das ist sehr wichtig beim Feuer!“ erzählte der redselige Meister.

Das Eintreten des Wirthes unterbrach die Unterhaltung. Er hatte seinen besten Sonntagsanzug angethan, kam er doch vom Kindtaufschmause, das verrieth auch weidlich sein geröthetes Gesicht und seine frohe Laune. Aber würdig schritt er trotzdem daher mit seinen weißen Manschetten, dem großen Jabot, dem riesig großen Spazierstock mit vergoldetem Knopf.

„Gott zum Gruß, ehrbare Meister,“ sagte er, indem er den Hut vom Kopfe nahm. „Auch ein Fremder, wie ich schon draußen am Fuhrwerk erkannt? Seid willkommen unter meinem Dach, mag es Euch bei mir gefallen! Doch damit wir uns auch ansehen können, müssen wir Licht haben, die Schummerstunde ist schon zu Ende, und der ‚Goldene Anker‘ soll nicht aussehen wie ein dunkel Beinhaus! Johann, Licht!“

„Gleich, Herr!“ gähnte Johann und ging langsam hinaus; kaum aber hatte er die Thür geschlossen, so riß er sie schon wieder auf, stürzte mit staunenswürdiger Hast an’s Fenster und rief jammernd: „Gott steh’ uns bei, es brennt, es brennt!“

„Was, Feuer?“ schrie entsetzt der Wirth; er und die Gäste stürzten an’s Fenster und rissen den schweren Flügel mit Mühe auf.

„Da hängt schon die Laterne an St. Marien. Gott sei uns gnädig, sie zeigt nach dem Holzgarten zu hinter der Klosterkirche! Johann, hole die zwei Handspritzen vom Boden und die acht Ledereimer. Dann sieh, wo die Leiter ist, und sorge mit den Knechten, daß der Kübel und der Zober auf dem Boden voll Wasser ist, genau nach Vorschrift, hörst Du, damit, wenn [363] der Viertelsmeister zu revidiren kommt, Alles in Ordnung ist. Hörst Du?“

„Ja wohl, ja wohl!“ rief Johann und rannte so schnell aus der Stube, als wäre niemals der Schlaf am Ofen seine Lieblingsbeschäftigung gewesen.

„Ich wechsle die Kleider, dann müssen wir Alle hin!“ Damit verließ auch er das Zimmer.

Auf der Straße wurde es lebendiger. Der Nachtwachmeister war zur Militärwache am Schlosse gestürzt und hatte, wie sich’s gebührt, das Feuer gemeldet, um von da zu dem Bürgermeister und dem Feuerherrn zu laufen. Nach dem Mühlendamm hatte er einen der dreißig damaligen Nachtwächter postirt, einen andern am Rathhause, damit sie den Leuten den Ort des Feuers angeben konnten. Von fern ertönte der Trommelschlag der Wache, die bisher so öde Straße füllte sich mit dahineilenden Gestalten, die Glocken von St. Petri und Nicolai, von St. Marien und von den „Schwarzen Brüdern“ klangen dumpf durch einander, hin und wieder brachte ein Windstoß den schrillen Pfiff der Kunstpfeifer herüber, die auf den Thürmen postirt waren. Drüben beim Rathhause leuchtete es roth auf. Nach Vorschrift waren Pfannen mit brennendem Kien an all’ seinen Ecken aufgestellt, die Thüren desselben waren weit geöffnet, der Marktmeister schürte die Flammen, und dunkle Gestalten eilten hinein und hinaus.

„Nun, ehrsame Meister, an’s Werk!“ rief der eintretende Wirth. „Meister Klaus, was ist Euer Amt heute?“ fuhr er fort, indem alle Vier sich auf den Weg machten.

„Vorerst hinüber zum Rathhaus. Johann! gieb jedem von uns einen Ledereimer! Ich bin nämlich jetzt Bürgerofficier, deshalb muß ich hinüber. Muß ausschauen, ob die Hauseigenthümer mit Eimern kommen und ob die Incoln auch nicht zu saumselig eintreffen. Mit denen ist’s immer eine liebe Noth, ehe man sie zusammen hat. Der eine sucht sein Obergewehr, der andere sucht sein Untergewehr, der dritte gar muß selbst erst gesucht werden, und ich will zufrieden sein, wenn ich in einem Stündchen auf der Feuerstätte bin!“

„Wo brennt’s denn eigentlich?“

„In der Stralower Straße, hart am Thurm!“ rief ihm ein Vorübereilender zu.

„Dann kann ich auch gleich hier bleiben im Berlinischen Rathhaus,“ sagte der andere Meister. „Ich muß dort die hundertfünfzig Eimer mit dem Marktmeister vertheilen an die Gesellen und die schwarzen Kittel dazu, die sie überziehen. Heda, Merten!“ rief er einem halbwachsenen Buben zu, „lauf über die lange Brücke nach der Gertraudtenstraße zum cöllnischen Rathsherrn Brede, ich laß ihm sagen, er möchte nach dem Friedrich-Werder schicken, daß auch die ihre fünfzig Eimer senden, ebenso wie der Feuerherr der Dorotheenstadt und der Friedrichsstadt. Ich glaube, diese muß gar hundert senden. Nun lauf, mein Bursche, lauf, sollst am nächsten Sonntag drei Wecken von mir haben!“

Das Rathhaus war unterdeß von ihnen erreicht. Wie ein Bienenschwarm summte es auf den steinernen schmalen Fluren, auf den schwerfälligen breiten Stiegen. Auf dem Hofe aber, da konnte man vor Lärmen sein eigen Wort nicht verstehen, die Rathsherren schrieen sich heiser, der Bürgermeister konnte nicht mehr sprechen, nur der Feuerherr, eine riesige Gestalt, fand durch äußerst kräftige Püffe und Stöße, die seine Rede begleiteten, das richtige Verständniß.

Die hölzernen Handspritzen wurden aus den Kellern geholt, die Feuerleitern und Haken, welche längs der Flurwände auf Krammen ruhten, wurden herausgeschafft und – wie bei jedem Feuer damals, dauerte es eine hübsche Zeit, bevor die Schlüssel zu dem Spritzenhause gefunden waren. Endlich, als der Himmel sich immer röther färbte, als schon Funken bis in den Hof des Rathhauses flogen, rasselten die zwei Schlauchspritzen und die zwei Röhrspritzen, der Stolz der Berliner, auf’s Pflaster, und die Pferde der Lohnfuhrleute, welche an der Reihe waren, wurden eingeschirrt.

Alle vier fuhren hinaus auf die Königstraße. Dort entstand ein Drängen und Schieben, daß dem armen Magister angst und bange wurde, daß er zu zweifeln begann, jemals sein liebes Stettin lebendig wieder zu sehen.

An Schlauchspritze Nr. 1 und 2 nämlich drängten sich die ehrsamen Gewerke der Schuster und Schlosser, die hatten mit ihren Gesellen den Dienst bei diesen ungeschickten, schwerfälligen Kasten. Spritze Nr. 3 wurde von den Tischlern und Messerschmieden bedient und Spritze Nr. 4 von den Tischlern und Feilenhauern.

Endlich ging es vorwärts der Feuerstätte zu. Daß bei der Menschenmenge, bei dem Hin- und Herwogen, bei dem wüsten Schreien und Commandiren Niemand zu Tode gedrückt wurde in den engen Gassen, deren Eckhäuser sämmtlich schon Kienpfannen vor die Thüren gestellt hatten, war wunderbar genug.

Die Brandstätte ist endlich erreicht. Glücklicher Weise war eine Compagnie Gensd’armen schon früher zur Stelle. Sie hatte den Platz vor dem in hellen Flammen stehenden Hause, dessen elendes Fachwerk dem rasenden Elemente die beste Nahrung bot, gesäubert, nur die Frauen und Kinder aus dem brennenden Hause saßen weinend und jammernd auf dem Bürgersteig mit den wenigen Resten bereits geretteter Habe. An jedem Fenster der ganzen Straße war Licht aufgestellt, und die Nachbarn bis zum zwanzigsten Hause hatten bereits nach Vorschrift Chaine gebildet mit ihren Eimern. Schon flogen die letzteren von Hand zu Hand, das Plumpen der Brunnen hörte nicht auf, von den 507 Feuereimern der 37 Gewerke fehlten wohl nur wenige, doch was wollte das Begießen mit so kleinen vereinzelten Wassermengen bedeuten gegenüber dem himmelhoch züngelnden, dämonisch brausenden, zischenden, knisternden Elemente!

Da kamen die Spritzen; sie nahmen nach manchem Befehl und Gegenbefehl endlich Aufstellung, die Incoln aber und die Mannschaften der Bürgerwache bildeten unter der Leitung ihrer Bürgerofficiere einen weiten Kreis auf der anderen Seite der Straße. Dahinnen wurden die geretteten Sachen gebracht und treulich vor Diebstahl bewahrt. Noch immer flogen Betten und Hausgeräthe aus den Fenstern; in der Verwirrung, die der Schreck verursacht, warf mancher das Geschirr hinunter, statt selbst hinabzueilen und dem Gefahr drohenden brennenden Gebälk zu entgehen.

Da kamen die Schornsteinfeger mit ihren Jungen. Sie wurden mit lauten Zurufen begrüßt; wußte man doch, daß bei ihrer Wagehalsigkeit auch das Letzte aus dem brennenden Hause geschafft würde, was überhaupt noch zu retten war.

Das Poltern auf der Gasse verrieth die Ankunft der Kleinbinder. Auf ungeschlachten Holzschleifen fuhren sie pflichtschuldigst ihre mit Wasser gefüllten Zober und Tinen an. Beim Scheine der aufleuchtenden Flammen blitzen die Hämmer und Aexte des Zimmergewerbes. Von den Nebenhäusern aus brachen sie sich Bahn bis zu den brennenden Balken, die mit Krachen und Aechzen, von einem Feuerregen umhüllt, vom Dachstuhl in die Flammen stürzen.

Endlich hörte man das Stöhnen und Stampfen der in Bewegung gesetzten Spritzen. Aber wenig mehr als die Hälfte des Wassers fliegt durch das Mundstück des Schlauches in die Flammen! Der Hanf des Schlauches ist nicht dicht, der Mann, der ihn hält, ist schon durchnäßt, bevor der erste Strahl Wassers gegen die glühenden Balken zischt. Der Druck aber ist genügend; bis zur Dachfirste wird der Strahl geworfen. Doch – die Stadt hat nur drei solcher Schlauchspritzen! Nr. 1 und Nr. 2 kamen vom Berliner Rathhaus und Cölln sandte die dritte. Alle übrigen zehn sind Rohrspritzen. Kein Schlauch führt von ihnen nach jeder beliebigen Richtung, sondern steife, kaum fünf Fuß lange hölzerne Mundstücke werfen das Wasser aus, kaum zwanzig Fuß hoch!

Da freilich hatten die ehrsamen Gewerke harte Arbeit. Unaufhörlich wurden die Wasserkästen gefüllt, der Schweiß rann den Spritzenmännern in Strömen von der Stirn, und selbst die zwölf Meister, die aus jedem Quartier für jede Spritze in Reserve standen, mußten gar weidlich mit Hand anlegen; keine Gelegenheit wurde versäumt, aus der Schaar der Neugierigen die strammsten Burschen zu erspähen und sie zum Pumpen zu pressen. Wenn auch unwillig, gingen diese an’s Werk, sie fürchteten Beulen und blaue Flecke, die sehr leicht und billig seitens der ehrsamen Meister zu damaliger Zeit zu haben waren.

Endlich begann das Feuer große Rauchwolken zu zeigen. Erleichtert sagte sich Jeder, daß die schwerste Arbeit gethan.

„Das ist auch unsere Spritze Nummer zwei, die’s gemacht hat!“ rief stolz ein Schlosser, indem er sich mit blauem Sacktuch die Stirn wischte.

„Nee, Meester,“ rief lachend ein Schusterjunge, der den Kopf zwischen zwei Soldaten hindurchzwängte, „von det bisken Spucke [364] geht keen Feier nich aus! Det is von die beeden Prahmspritzen, die haben die Schiffbauer un die Fischer von det Stralower Thor jeholt, da von det Spinnhaus her, und die spritzen nanu von de Spree aus, aber derbe!“

Die Naseweisheit des zukünftigen Berliner Bürgers blieb vollkommen ungerügt, denn die Nachricht selbst wirkte zu erleichternd auf die Ueberarbeiteten, und man war schon damals mit der Eigenartigkeit der Auseinandersetzungen eines Berliner Schusterjungen durchaus vertraut.

Rauch und Qualm vermehrten sich zusehends; nur hin und wieder schoß noch einmal eine Feuergarbe zum dunklen Himmel. Nacht starrte aus den oberen Fensterhöhlen des Hauses, und wie mit Leuchtkäfern besäet erschienen die geschwärzten, halb niedergestürzten Balkenlagen.

Endlich, als das Frühroth den Osten färbte, war das Feuer gelöscht. Wie bleiche Gestalten lagen die nassen, mit Sand gefüllten Säcke auf den Dächern der Nebenhäuser, welche die Bewohner zum Schutz des Hauses hatten heraufschaffen müssen. Die Kienfackeln an den Ecken verlöschten nach und nach, das Pumpen wurde eingestellt und – auf der Brandstätte ragten nur die Mauern empor. Alles war ausgebrannt, bis auf eine Stube im Erdgeschoß.

Wie höhnend schauten die beiden Vasen auf der großen Truhe darin mit ihrem bunten Schmuck von Augsburger Lackirbildern, die sorgsam, der Mode gemäß, darauf geklebt waren, hinaus auf die Straße. Betten lagen noch wüst auf der Diele und wohl zehn säuberlich umrahmte, herzlich schlechte Bilder von Hinrichtungen berühmter Räuber und Mörder mit Galgen und Rad, mit Prediger und Scharfrichter und der tausendköpfigen Menge hingen an den vom Rauch geschwärzten Wänden des öden Gemaches.

„Ihr seid noch hier, Herr Magister?“ rief erstaunt der Wirt „Zum goldenen Anker“. „Und gar geschwärzt in dem Gesicht!“

„Nun, lieber Wirth,“ erwiderte der Angeredete lachend, „Euch wird ein lauwarm Bad auch sehr heilsam sein. Ich habe, wie sich’s gehört, ganz wacker den Eimer geschwungen, doch – was ist der Lohn für unsern Schweiß: ein Haufen Asche!“

„Das wohl, Herr Stettiner,“ entgegnete empfindlich der mit Spreewasser Getaufte, „aber seht, kein einziges Nebenhaus ist angebrannt; das zu erreichen sollte Euch doch in Eurem kleinen Stettin herzlich schwer werden!“

Der Magister schwieg wohlweise; ihm waren schon früher die Berliner gar sattsam über den Mund gefahren. Er nahm sich von Neuem vor, die im Uebrigen so gutherzigen Berliner nicht wieder an ihrer schwächsten Stelle anzufassen.

„He, Gevatter Claus!“ rief der Wirth einem Bürger zu. „Wie steht’s? Habt Ihr Feierabend?“

„Noch nicht. Bin ja der Aelteste der Brunnenmachermeister, und da muß ich ausschauen, daß wenigstens einige Brunnen wieder in Ordnung kommen durch meine Gesellen. Kein einziger giebt mehr Wasser; ’s war Zeit, daß die Prahmspritzen kamen, sonst brennte das ganze Quartier!“

„Nun, Nachtwächter,“ redete der Magister einen müden Graubart an, dessen Horn an der Seite seinen Stand verrieth. „Nun könnt Ihr Euch ja auch hinlegen! Habt wohl einen guten Posten?“

Bitter lächelnd zeigte der Nachtwächter auf einen Officier, der von der anderen Seite der Gasse aus die Brandstätte betrachtete.

„Seht den da, werther Herr! Schaut den gnädigen Herrn, der kommt sicher vom Hoffest, sonst hätte er nicht seine Gala-Uniform an. Seht den rothen Rock mit blauen Aufschlägen und Kragen, die sechs gestickten silbernen und die sechs goldenen Schleifen auf den Rabatten, auf den Aufschlägen, auf den Taschen und hinten auf dem Rock, wie zierlich der mit Seide blaugefütterte Rock ausschaut mit den aufgehakten Schößen, wie prall die gelben Hosen sitzen, wie stolz er den Degen trägt, wie keck den Hut mit breiter Goldtresse: das ist ein Officier vom Regiment Gensd’armes, und sein Rock kostet mehr, als mir fünf Jahre einbringen! Habe drei Thaler monatlich. Gehabt Euch wohl, fremder Herr!“

Drüben auf der anderen Seite, wo die Habseligkeiten der Abgebrannten aufgestapelt waren, hielten die Bürgerofficiere noch Wacht mit ihren Mannschaften, auch die Soldaten mußten bleiben, bis all das Geräthe von Freunden und Nachbarn sicher geborgen war.

„Wißt Ihr, Gevatter,“ redete ein Zimmermann, die Axt auf der Schulter, den Wirth an, „welche Spritze zuerst auf der Brandstätte war?“

„Wollt mich wohl foppen, Gevatter, weil wir’s von Berlin nicht waren?“

„Bewahre, das wollte ich nicht! Also wir von Berlin haben diesmal verspielt? Wer war’s denn?“

„Die Cöllner waren die ersten. Ich könnte beinahe fluchen vor Aerger.“

„Gönnt es ihnen, Gevatter,“ rief der Andere im Weggehen. „Die Riemer und Nagelschmiede, welche die Cöllnische Spritze besorgen müssen, sind gar rechtschaffene Leute.“

„Glaub’s schon, doch die fünfzehn Thaler hätten wir auch brauchen können,“ brummte der Wirth. „Nun, Herr Magister, kommt mit nach Haus. Da wollen wir uns sauber machen und der Frühtrunk soll uns trefflich schmecken.“

„Wenn’s Euch gefällig ist, sehr gern. Doch was sagtet Ihr von fünfzehn Thalern?“

„Das ist ebenso einfach wie weise von den Vätern der Stadt und den Rathsherren festgesetzt: seht, die Juden sind zu keiner Arbeit zu gebrauchen, sie können nur schachern und deshalb dürfen sie auch nicht zum Löschen kommen. Dafür zahlen sie nach jedem Brande fünfzehn Thaler der ersten Spritze Belohnung. Ist das nicht weise?“

„Sehr weise! Wie ich aber gehört habe, brauchen die königlichen Bedienten auch nicht beim Feuer zu helfen, wie sonst jeder Andere. Was zahlen die denn?“

„Die?“ meinte der verblüffte Wirth. „Was so ein Magister für tolles Zeug zusammenfragt! Nichts zahlen sie natürlich! Nun wollen wir aber eilen, daß wir nach Hause kommen! Der Morgentrunk soll uns schmecken!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Hecht und Uferschwalben. (Mit Illustration auf S. 361.) Das fesselnde Bild, welches uns heute unser geschätzter Mitarbeiter, Emil Schmidt, vorführt, ist kein Erzeugniß der Künstlerphantasie, sondern ein wirkliches Bild aus dem Leben, eine Scene aus dem Kampfe um das Dasein, welcher mit seinen ehernen Ketten das ganze Reich des Lebens umschlingt. Herr H. Band hat im vorigen Jahre diese freche Raubthat des Hechtes während einer Angelpartie an den Ufern der Mulde, unweit des Schlosses Zschepplin, beobachtet und berichtet uns darüber, wie folgt:

„Unten am Ufer rechts saßen, kaum sechs Schritte von mir entfernt, auf einer über dem Wasser hängenden Weidenruthe drei junge Uferschwalben, kaum des Fliegens fähig. Aus einem verunglückten Neste waren sie mit Mühe bis hierher flatternd geflüchtet. Die Alten flogen fütternd ab und zu. Noch lag der bekorkte Kiel der Angel unbeweglich. Da mit einem Male rechts ein gewaltiges Aufrauschen und Aufschlagen im Wasser, gerade an der Stelle, wo die Schwälbchen saßen. Die Weidenruthe bog sich in heftigen Schwingungen auf- und abwärts. Ein Schwälbchen, das am hintersten, am wenigst schwingenden Theile der Ruthe saß, hielt sich fest und suchte das Gleichgewicht flatternd zu gewinnen. Das andere kreiste ein Weilchen schwerfällig herum und nahm dann seinen Platz auf der ziemlich beruhigten Ruthe neben dem andern Schwälbchen wieder ein. Verwundert schaute ich nach der Stelle. Die Wellenkreise verschwanden immer mehr, je weiter sie sich ausdehnten, der Wasserspiegel glättete sich, und die frühere Ruhe war wieder hergestellt. Aber ein Schwälbchen fehlte. Da zuckte es an der Angelschnur, und ich widmete ihr meine volle Aufmerksamkeit. Es war jedoch kein richtiges Anziehen, es hatte nur (nach dem terminus technicus der Angler) genippelt. Da plötzlich wieder der geräuschvolle Ausschlag im Wasser an derselben Stelle. Hin und her, auf und ab bog sich abermals die Ruthe. Wie vorher balancirte flatternd, ohne abzufliegen, das eine Schwälbchen und hatte bald festen Sitz genommen. Das zweite Schwälbchen fehlte. Daß der Räuber ein Hecht war, daran war kein Zweifel. Leise trieb ich die Angelruthe in’s weiche Ufer und näherte mich vorsichtig der betreffenden Stelle. Em ziemlich bequemer Platz bot sich dar, den Ort zu übersehen. Das Wasser war flacher, und der steinige Grund lag klar vor Augen. Mit unverwandter Aufmerksamkeit wartete ich lange, lange. Der letzte Aufsprung des Hechtes geschah so jäh, so schnell und zwar diesmal von der Seite her, wo ich gesessen hatte, daß ich eben nur ein Augenblicksbild des Geschehenen auffassen konnte. Das dritte Schwälbchen war nun auch weg. Die schwingende Ruthe stand zuletzt wieder still, und alles war vorbei.“


Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Erste Auflage bei Brockhaus in Leipzig, zweite Auflage 1859 bei Flemming in Glogau.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Mnsikmachens