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Die Gartenlaube (1881)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Amtmanns Magd.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Herr Markus trat wieder in die Hausflur, auf den knirschenden weißen Sand, der feingesiebt den Estrichboden bestäubte. Die Thür der Küche stand offen; man konnte den backsteingepflasterten Raum übersehen, dessen Fenster nach dem Fichtengehölz hinausgingen. Frau Griebel’s blitzblanke Küche konnte sich kaum mit dieser messen, in welcher die letzten aus der großen Gelsunger Kücheneinrichtung herübergeretteten Reste von Zinn- und Kupfergeschirr tadellos funkelten und alles Holzgeräth schneeweiß an den Wänden stand. Die Frau Amtmann mochte wohl Recht gehabt haben von wegen des unzulänglichen Mittagsessens; ein homöopathisch kleiner Suppentopf dampfte auf dem Herde, und zwei hergerichtete schmächtige Tauben warteten auf den Moment, wo sie eine Hand in die Pfanne legen sollte, aber diese Hand war nicht da – es war so still in der Küche, daß man das Summen einer versprengten Hummel, ihre schwachen Stöße gegen die Fensterscheiben hören konnte. Nun ja, es war selbstverständlich, daß die vielgetreue Zofe, die ja „ein Herz und eine Seele“ mit ihrer Dame war, dem mißliebigen Besuch ebenso aus dem Wege ging, wie die gereizte Bewohnerin der Mansarde. – –

Als er in die Wohnstube zurückkehrte, bemerkte er Thränenspuren auf dem sanften Frauengesicht hinter den Bettvorhängen, der Amtmann aber war bemüht, drei bis vier Stück Havanas – jedenfalls der Rest der Cigarren, um deren willen der Forstwärter heute mit den Spitzen in der Tasche zum Juden wandern mußte – auf einem Cigarrenständer zu ordnen.

„Nun, wo steckt denn der Mosje Langbart?“ rief er Herrn Markus entgegen.

Der Eingetretene berichtete, daß der junge Mann seinen Weg fortgesetzt haben müsse, und nahm seinen Sitz am Bett der Kranken wieder ein.

„Wußte sie denn nicht zu sagen, wohin er gegangen sei?“ fragte der Amtmann, ganz hingenommen von seiner Beschäftigung, die Cigarren zu placiren; denn er sah nicht auf.

„Ach, Sie meinen die Magd? Ich sah sie nicht.“

„So, so – wird mit dem Mittagessen zu thun haben.“ – Er bot dem Gutsherrn die Cigarren hin, die jedoch dankend abgelehnt wurden.

Herr Markus sah, wie die alte Dame sich verstohlen abermals eine Thräne von den Wimpern wischte. Vielleicht wußte sie um den Spitzenhandel. Die Kante war möglicher Weise das letzte Familien-Erbstück, dessen Ertrag der lüsterne Herr Ehegemahl im vorhinein in die Luft verpafft hatte – ein Zorngefühl gegen den unverbesserlichen alten Mann stieg in ihm auf; er hätte um keinen Preis eine der Cigarren angerührt.

„Ein malerischer Waldblumenstrauß!“ bemerkte er, mitleidig die Gedanken der Kranken von dem unerquicklichen Thema ablenkend, indem er auf das Bouquet im Krystallkelch zeigte.

„Das will ich meinen,“ sagte der Amtmann. „Es sind aber auch Künstlerhände gewesen, die den Strauß gebunden haben. Meine Nichte, die gegenwärtig bei mir lebt, ist eine Blumenmalerin, die ihres Gleichen sucht. Wir erleben viel Freude an ihr, und das Capital, das ich an ihre Ausbildung gewandt habe, ist kein verlorenes, wie so mancher schöne Thaler Geld, den ich für vermeintliche Talente zum Fenster hinausgeworfen habe –“

„Ach ja – mein guter Mann hat immer geglaubt, er müsse Jedem forthelfen, der von der Kunst sein Heil erwartete, und diese Großmuth ist allzu sehr ausgebeutet worden,“ warf die Kranke mit einem schwachen Lächeln ein, und ein Blick voll unvergänglicher Liebe streifte den alten Herrn.

„Jugendeseleien sind’s gewesen, Sannchen, dumme Streiche, die ich aber, weiß Gott, heute noch gerade so machen würde, wenn ich – na, wenn ich noch mitten im Welttreiben draußen mitschwämme. Der Tausend ja, schön wär’s, das Mitschwimmen – schön, trotz der steifen Beine, die mir das infame Zugloch, der Hirschwinkel, angeblasen hat. Na, ’s ist noch nicht aller Tage Abend, und wenn erst mein californischer Goldjunge wiederkömmt –“

Er unterbrach sich bei der hastigen Bewegung, mit welcher die alte Frau ihr weggewendetes Gesicht tief in die Kissen drückte. „Aber was ich vorhin sagen wollte“ – hob er, das Kinn verlegen reibend, rasch wieder an – „I nun ja, da starb eines Tages mein guter Bruder; er war schon mit dreißig Jahren Wittwer geworden und hinterließ mir das arme kleine Ding, die Agnes. Ein Glückspilz war er nie gewesen, und als Vormund seiner kleinen Waise brauchte ich der Hinterlassenschaft wegen keinen Finger zu rühren – es blieb nichts übrig. Da haben wir das herzige Mädel an unser Herz genommen, mein Sannchen und ich, wie wenn’s uns der Storch eben frisch aus dem Teich gebracht hätte – und nicht zu unserem Schaden. In dem verhängnißvollen Moment, wo mein armes Frauchen unter ihrem bösen Nervenleiden buchstäblich zusammenbrach, da zeigte es sich, was wir an unserer Agnes hatten: sie ließ ihre prächtige Stellung in Frankfurt im Stich und kam hierher in die Einsamkeit, um die kranke Tante zu pflegen.“

„Agnes ist ein Engel – sie opfert sich für uns auf,“ sagte [90] die alte Dame erregt und so hastig, als gelte es, den Augenblick zu benutzen, nur die Verdienste des Mädchens in das rechte Licht zu ziehen. „Sie hat ein Joch auf sich genommen, das –“

„Nun, nun, Herzchen, so gar haarsträubend ist’s denn doch nicht,“ unterbrach sie der Amtmann mit einem unruhigen Blick. Er bog sich weg und sah nach dem Nähtisch, welcher in einem der Fenster stand. „Hm – Hut und Handschuhe sind fort. Sie wird wohl wieder einmal im Walde auf der Blumensuche sein. Ich hätte mir gern die Freude gemacht, sie Ihnen vorzustellen. – So in Saus und Braus wie beim General Guseck lebt sie in unserem Hause allerdings nicht, indeß –“

„Die junge Dame mag in ihrer Stellung wohl recht verwöhnt worden sein,“ warf Herr Markus mit einem leisen, malitiösen Lächeln ein.

„Verwöhnt, wie die Dame des Hauses selbst,“ bestätigte der Amtmann. „Denken Sie doch: Brillantes Theater, Diners, Soiréen, eigene Kammerjungfer, Ausfahrten in eleganter Equipage“ – er zählte Alles an den Fingern her – „sie ist sehr hübsch, eine Dame comme il faut, spielt wundervoll Clavier – Herr Gott, wie mich das immer wieder wurmt!“ unterbrach er sich selbst. „Ich hatte in Gelsungen einen Flügel, ein Instrument, das mich seine runden tausend Thaler gekostet hat; mancher berühmte Virtuose hat in meinen Soiréen darauf gespielt – jetzt steht’s bei einem reichgewordenen Leimfabrikanten, und ein halbes Dutzend junger Leimsiedersprossen klimpert drauf herum. Ja, was half’s denn aber? Ich mußte es hingeben. Sagen Sie doch selbst, wo hätte ich denn hier das Prachtinstrument aufstellen sollen? … Ich wünschte nur, Sie hätten einmal diese Tonfülle gehört! Unter den Händen meiner Nichte klang der Flügel geradezu erschütternd; selbst ihren Fingerübungen konnte ich mit Genuß zuhören – ah, Sie sind kein Freund davon?“ fragte er – der spöttische Ausdruck im Gesicht des Gutsherrn war drastisch lesbar geworden.

„Nein,“ versicherte dieser unumwunden. „Die Zahl der clavierspielenden Damen ist Legion. Nach jedem Diner, in jeder Abendgesellschaft ist der unglückliche Marterkasten die schließliche Zugabe. Ich bin gewohnt, nach meinem Hut zu greifen, sobald sich eine Dame an das Clavier setzt.“

Der Amtmann lachte gezwungen auf, während seine Frau sehr ernst sagte: „Glauben Sie mir, auch wenn man uns das Instrument gelassen hätte, Sie würden bei uns nie gezwungen worden sein, einer aufdringlichen Production auszuweichen. Unser liebes Kind sucht auch nicht im einseitigen Virtuosenthum seinen eigentlichen Beruf, seine Lebensaufgabe –“

„Aber, liebes Herz, ich sagte es ja schon, daß Agnes auch eine Malerin par excellence ist,“ fiel der Amtmann hastig, in sichtlicher Ungeduld ein.

„Sie weiß auch Bescheid in Küche und Keller,“ fuhr sie fort – man sah, es kostete sie einen inneren Kampf, noch etwas zu sagen, nachdem ihr Mann ihr so apodiktisch das Wort abgeschnitten, aber sie that es, und zwar mit etwas erhobener Stimme und hörbarem Nachdruck.

„Ich begreife Dich nicht, Sannchen,“ unterbrach er sie abermals. Eine starke Röthe stieg in sein Gesicht, während er sich geärgert unter einer Grimasse die Kniee rieb. „Liegt Dir denn gar so viel daran, die Agnes, die Tochter eines höheren Officiers, eine Franz, mit aller Gewalt als Aschenputtel, respective Küchendragoner, hinzustellen? – Sollte mir leid thun um mein Geld, wenn sie es nicht weiter gebracht hätte. … Apropos, Herr Markus,“ brach er das Thema gewaltsam ab – „wie lange gedenken Sie noch im Hirschwinkel zu bleiben?“

„Nur wenige Tage.“

Es schien, als athme der alte Herr erleichtert auf; gleichwohl wiederholte er stirnrunzelnd, in mißvergnügtem Ton: „Wenige Tage? … Hm, da werden wir wohl die Freude nicht noch einmal haben, Sie bei uns zu sehen, und ich bin gezwungen, da mir mein unglückliches Piedestal keinen Gegenbesuch auf dem Gute gestattet, den günstigen Moment beim Zipfel zu nehmen und Sie um einen mündlichen Bescheid auf mein Schreiben zu bitten. Kurz heraus: Wie steht’s mit der Eisenbahnfrage? – Sie werden sich nun selbst überzeugt haben, in welch desolaten Zustand die Vorwerksbaulichkeiten sind – da hilft schon längst kein Flicken mehr. Und vollends die alte Bude, in der wir hausen – die reißt und kracht bei jedem Windstoß in allen Fugen – sie prasselt beim ersten Vorbeipassiren der Locomotive zusammen, so gewiß, wie zweimal zwei vier ist.“

„Dann thut man am besten, sie vorher niederzureißen –“

„Herr!“ fuhr der Amtmann empor – es sah fast aus, als wolle er dem gleichmüthigen Redner an die Kehle fahren, während die Kranke mit einem Schreckenslaute flehend die Arme hob – „Herr, das heißt mit anderen Worten, Sie wollen mich an die Luft setzen.“

Herr Markus ergriff beschwichtigend die Linke der alten Dame.

„Wie mögen Sie darüber so sehr erschrecken, gnädige Frau!“ sagte er. „Ist Ihnen dieses Haus, das unleugbar dem Einsturz nahe ist, so lieb, daß Sie kein anderes an seiner Stelle sehen möchten? Ich baue auch die Schneidemühle von Grund aus neu auf; es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich nicht will, daß sie eines Tages meinen Pächter unter sich begräbt. Und hier läßt sich ein Neubau viel leichter und rascher bewerkstelligen, als dort am Wasser. Ich verspreche Ihnen, es soll ein hübsches, bequemes Hans mit gesunden, luftigen Räumen, Veranda und Sicherheitsläden werden. Wir rücken es um mindestens dreißig Schritte weit aus der lästigen Nähe der Schienen, verlegen die Stallungen an seine Nordseite und den Hof hinter die Gebäude, zu welchem Zweck selbstverständlich ein beträchtliches Stück Fichtengehölz wegrasirt werden muß. … Es ist nicht mehr als billig, daß ich Ihnen für die Dauer des Umbaues ein anständiges Logement verschaffe, und deshalb bitte ich Sie, Ihr Zelt im Gutshause aufzuschlagen. Die Hälfte der oberen Etage stelle ich Ihnen zur unumschränkten Verfügung – ich glaube, die Wohnräume Ihrer lieben verstorbenen Freundin werden Sie anheimeln und Ihnen genügen, bis Sie – ich hoffe ganz gewiß mit Anfang Mai nächsten Jahres – auf das Vorwerk zurückkehren können. Sind Sie damit einverstanden?“

Sie versuchte, bitterlich weinend und vollkommen sprachlos, seine Hand, die ihre Linke noch umschlossen hielt, an die Lippen zu ziehen, was der junge Mann erschrocken abwehrte.

„Nein, nein,“ sagte er verlegen erröthend, „danken Sie mir nicht! Nehmen Sie das, was ich thue, als einen letzten Gruß der edlen Heimgegangenen von jenseits herüber!“

Auch der Amtmann schien bis zur Wortlosigkeit überrascht zu sein; auch ihn mochte es drängen, dankend nach der Hand des jungen Mannes zu fassen, aber bei den letzten Worten desselben stutzte er und horchte auf. Er zog die Hand zurück, und in seiner schlauen Miene konnte auch ein nicht sehr Kundiger lesen, daß ihm plötzlich ein Licht aufgehe, daß ihm der Gedanke komme, hinter dieser unglaublichen Großmuth „müsse Etwas stecken“. – Er war eine jener brüsken, unzerstörbar selbstbewußten Naturen, die es nie zugeben, daß sie Macht und Ansehen selbst verspielt haben; sie suchen sich jeder Situation sofort herrisch zu bemächtigen, wenn ihnen auch nur zollbreit Luft und Raum gelassen wird.

„Ach ja, unsere theure Freundin,“ sprach er mit kühler Ruhe und vornehm reservirter Haltung, „sie hat recht wohl zu schätzen gewußt, was wir ihr zu allen Zeiten gewesen sind. Wir haben von der Ferne aus Freud und Leid redlich mit ihr getragen und schließlich die traurige Einsamkeit des Hirschwinkels gern mit ihr getheilt. … Ich bin so manches Mal durch Wind und Wetter gelaufen, um ihr mit einer Partie Schach die langweiligen Winterabende zu verkürzen – und Schach ist durchaus nicht meine Passion, müssen Sie wissen, Herr – im Gegentheil! Aber solch ein Opfer bringt man ja herzlich gern, zumal einer Frau, die hingebende Freundschaft so zu würdigen wußte, wie unsere gute selige Oberforstmeisterin.“

„Sie hat mehr für uns gethan, als das ganze Heer von Freunden zusammengenommen, das sich einst um unsere Speise- und Spieltische zu schaaren pflegte,“ schaltete die Frau im Bette schüchtern, mit bebender Stimme ein.

„Nicht bitter werden, liebes Herz! Auf alle diese Braven lasse ich nun einmal nichts kommen. Aber Du hast Recht – Clotilde war von Herzen dankbar und wäre unbestritten noch viel weiter gegangen, wenn wir in leichtbegreiflichem Zartgefühl nicht immer abgewehrt hätten.“

Er zuckte die Achseln.

„Je nun, es hat so sein sollen – der Tod ist ihr über den Hals gekommen, sie wußte nicht wie – sonst wäre wohl Manches ganz, ganz anders.“

[91] Herr Markus wandte sich unwillig weg von dem anmaßenden Schwätzer, der ihm, nur wenig verblümt, in das Gesicht hinein sagte, daß eigentlich er von Rechtswegen jetzt der Gutsherr im Hirschwinkel sei, wäre er nicht ein Pechvogel gewesen, dem das jähe Ende der früheren Besitzerin seine auf gebrachte Opfer wohlbegründeten Ansprüche vernichtet habe. Eine scharfe Antwort drängte sich auf die Lippen des jungen Mannes, allein im Hinblick auf die sichtlich alterirte Kranke, die beweglich, mit angstvoll flehendem Blick seine Augen suchte, bezwang er sich und entgegnete gelassen: „So viel ich durch ihren langjährigen Rechtsbeistand weiß, hat sich meine Tante zeitlebens nur als die Verwalterin dessen angesehen, was ihr Mann hinterlassen. Einzig aus dem Grunde hat sie auch durchaus nicht testamentarisch über das Gut verfügt.“

„Ja, ja – Sie mögen Recht haben – ja, ja!“ stotterte der Amtmann. Er duckte sich plötzlich ganz kleinlaut in seinem Lehnstuhl zusammen. „Ich erinnere mich auch, dergleichen Aussprüche aus ihrem Munde gehört zu haben. Es ist deshalb nur anzuerkennen, daß Sie die vieljährige innige Beziehung zwischen ihr und uns nicht ganz ignoriren. Nun denn, ich nehme Ihr freundliches Anerbieten, einstweilen in das Gutshaus überzusiedeln, mit bestem Dank an, aber – ich bitte Sie – was soll inzwischen aus meinem Viehstand werden?“

Es war schwer, dieser lächerlichen Aufgeblasenheit gegenüber ernst zu bleiben.

„Nun,“ sagte Herr Markus, indem er sich an seinem aufgesprungenen Handschuhknopfe zu schaffen machte, „ich meine, vorhin im Vorübergehen eine Kuh im Stalle gesehen zu haben –“

„Ja, ja – ganz recht, augenblicklich, Herr Markus. – Ich war vor Kurzem gezwungen, dem Fleischer zwei prächtige Schweizerkühe an’s Messer zu liefern – eine schwere Heimsuchung für einen Oekonomen! Ich bin überhaupt schlimm dran, bester Herr. Es steht draußen nicht Alles so, wie es sein sollte – das weiß Niemand besser als ich, aber mir fehlt ein Knecht. Ich habe nach allen Himmelsgegenden geschrieben – einen hiesigen will ich um keinen Preis; das Volk taugt den Teufel nichts – habe Lohn über Lohn geboten, aber den Lumpen ist’s zu einsam hier; es will absolut Keiner in den Hirschwinkel.“

„Lassen Sie mich einmal den Versuch machen! Vielleicht habe ich mehr Glück,“ versetzte der Gutsherr. „Die Kuh stellen wir auf dem Gute ein, und das Geflügel kann auch drüben auf dem Hofe mit durchgefüttert werden. Mit Vollendung des Neubaues aber muß Alles wieder im alten Geleise sein – das heißt: das nöthige Vieh in den Stallen und die erforderliche Menschenkraft und -Hülfe zur sorgfältigen Bewirthschaftung des Pachthofes – wenn er nicht total zu Grunde gehen soll. Ich werde für Alles Sorge tragen, auch dafür, daß der Knecht möglichst bald eintritt, der Ernte wegen. Selbstverständlich“ – der Knopf am Handschuh schien sich absolut nicht fügen zu wollen; der Sprechende wandte ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu – „selbstverständlich brauchen wir auch noch eine Magd, ein echtes, rechtes Bauernmädchen, das tüchtig mit eingreift. … Das Mädchen, das jetzt auf den Vorwerkswiesen hantirt, ist doch wohl ursprünglich nicht zu diesem Zwecke engagirt worden?“

Die Kranke legte die abgezehrte, blasse Hand über die Augen, als überkomme sie eine momentane Schwäche, und der Amtmann hatte in diesem Augenblicke einen so krampfhaften Hustenanfall, daß er ganz blutroth im Gesicht wurde.

Der Gutsherr aber brannte förmlich darauf, etwas Näheres über das Mädchen zu hören; er hielt den günstigen Moment unerbittlich fest, trotz Schwäche und Stickanfall des alten Ehepaares.

„Wie man mir sagte, ist sie ein Stadtkind oder hat zuletzt in einer größeren Stadt gedient –?“ forschte er hartnäckig weiter.

„Ja, sie war in Frankfurt am Main,“ antwortete die alte Dame. Ihre Rechte war von den Augen auf die Bettdecke gesunken und pflückte an dem Ueberzug. „Sie ist allerdings nicht für eine solche Thätigkeit erzogen, ach, nichts weniger als das. Lieber Herr –“

„Und deshalb sind wir Ihnen sehr zu Danke verpflichtet, wenn Sie uns eine richtige tüchtige Bauernmagd verschaffen wollten,“ fiel der Amtmann mit erhöhter Stimme ein. „Also, bis wann denken Sie mit dem Neubau zu beginnen, Herr Markus?“

„Ich will mich sofort mit einem Baumeister der nächsten Stadt in’s Einvernehmen setzen,“ entgegnete der Angeredete, sich erhebend – es lag eine tiefe Falte des Mißmuthes, ja, eines gründlichen Aergers, zwischen seinen Brauen – „und werde später nicht verfehlen, Ihnen den Bauriß vorzulegen.“

„Gottes Segen über Sie! Sie sind ein edler Mann,“ rief ihm die Kranke in tiefster Bewegung zu, während er sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung von ihr verabschiedete, um das Zimmer zu verlassen.

Der Amtmann bestand darauf, ihn hinaus zu begleiten. Draußen, in der Hausflur, hielt er ihn mit geheimnißvoller Miene fest.

„Es ist Alles sehr schön und liebenswürdig, was Sie da für uns thun wollen,“ raunte er ihm mit gedämpfter Stimme zu.

„Und ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür, aber denken Sie ja nicht, daß Sie dabei irgend Etwas riskiren – es wird Alles bei Heller und Pfennig ausgeglichen werden. Sie kommen nicht um Ihr Geld – dafür stehe ich. … Sehen Sie, drinn durfte ich nichts sagen; meine Frau weint sich noch die Augen aus vor Sehnsucht nach ihrem Jungen – das ist ein gar heikles Thema bei uns. Solch ein närrisches Weibchen! Und wenn er zerlumpt und zerrissen heimkäme, sie wäre doch selig, ihn wieder zu haben – so sind die Frauen, und in solchen Dingen muß der Vater den Kopf oben behalten. Ich werde doch wahrhaftig meinen Sohn nicht vorzeitig und um dieser Grillen wegen aus seiner Carrière reißen! Er hat großes Glück gehabt, der Thunichtgut, dem’s zu Hause, in der schönen thüringer Heimath zu enge war; der junge Bengel ist schon jetzt so eine Art Nabob; noch ein, zwei Jährchen, da frage ich Serenissimus schlankweg, was seine Gelsunger Domäne kostet –“

„Ei, du Sackermenter, willst du gleich ’runter gehen!“ unterbrach er sich, riß sein Käppchen von dem kahlen Schädel und warf es in die offenstehende Küche nach einer Katze, die eben aus den Tisch gesprungen war, um eine der Tauben zu annectiren.

Er humpelte hinein und jagte das Thier mit dem Stocke in den Hof, worauf er die Küche verschloß. Sie war noch leer. Ueber dem Suppentopf kräuselte kein Dampfwölkchen – das Herdfeuer war offenbar längst ausgegangen.

„Was das nun wieder für Dummheiten sind!“ brummte der Amtmann, roth vor Aerger und Alteration. „Und wenn man zehn Dienstboten hält und bezahlt, sie lassen, Eine wie die Andere, Thür und Angel offen und sieden und braten für die Katze, was man für sein theures Geld anschafft. … Um ein Haar wären wir um unser Diner gekommen. – Dummes Zeug! – Wo sie nur wieder einmal steckt!“

„Ja – wo mag sie sich wohl versteckt halten?“ dachte auch Herr Markus ergrimmt, der, nachdem er sich vom Amtmann verabschiedet hatte, nun über den Hof nach dem Garten schritt, um aus dem Wege, den er gekommen, nach dem Gute zurückzukehren. Er warf einen bösen Blick hinauf nach dem Mansardenfenster, wo sich eben wieder der Mullvorhang wie ein Sommerwölkchen in den blauen Lüften wiegte. – Höchstwahrscheinlich hatte sie sich zu Fräulein Gouvernante geflüchtet, und zwei Mädchenköpfe sahen ihm nun verstohlen und hohnlächelnd nach. … Es war doch stark, daß sie die kärgliche Mahlzeit ihrer Herrschaft achtlos preisgab und sich die schärfsten Verweise derselben zuzog, nur, um ihm nicht wieder in den Weg zu kommen.

Im Garten war es auch still und einsam. Die Grasmücken zwitscherten leise in dem Gebüsch, durch welches vor einer halben Stunde die vermeintliche weiße Dame gekommen war, um eiligst die nöthigen. Küchenkräuter abzuschneiden. Noch lagen die ihr im raschen Laufe entfallenen grünen Stengel über den Weg verstreut; es war offenbar kein Fuß wieder darüber hingeschritten. Und in der Lindenlaube konnte Herr Markus das Schreibeheft dreist in die Hand nehmen; es war weit und breit kein Menschenauge, um zu sehen, wie er ironisch lächelte.

Die ersten Seiten des kleinen Buches waren richtig bedeckt mit dem zierlichen Geschreibsel derselben Feder, in welche der Amtmann seinen herausfordernden Brief dictirt hatte. Es waren aber keine Verse, nur abgerissene Gedanken, wie sie der Augenblick eingegeben haben mochte, Ansichten und Aussprüche eines klaren, wohlgeordneten Mädchenkopfes. – Diese Blattseiten waren eigentlich ein günstiges Charakterzeugniß für die Schreiberin. Wie sie plötzlich ihre angenehme Stellung aufgegeben, um Krankenpflegerin zu werden, so hatte sie auch diese nicht absolut nothwendigen, poetischen Seelenergüsse mit dem pünktlich geführten, kärglichen [92] Einnahmeregister des verarmten Onkels ohne Zaudern vertauscht. – Wie aber reimte sich diese resolute Handlungsweise mit dem Gebühren der jungen Dame zusammen, die sich nach wie vor von der Kammerjungfer wie eine Prinzessin bedienen ließ? –

Er zerknitterte im Unwillen das unschuldige Schreibeheft in seiner Hand, aber er hatte auch alle Ursache, erregt zu sein. In welches Dilemma war sein so ruhiger Kopf gerathen! Er, dem sonst der heitere Lebensgenuß das Dasein ausfüllte, der daheim pünktlich und voll frischen Eifers seinen Obliegenheiten am Comptoirschreibtisch nachkam, um sich dann in den Erholungsstunden voll Lust in den Strom schöner Seelengenüsse zu werfen, dem bis dahin nichts die Wohlthat des süßen Schlafes, den Vorzug eines gesunden Appetites zu rauben vermocht hatte, ihm war jetzt der ursprünglich so anziehende Landaufenthalt verdorben worden durch aufdringliche Grübeleien, die sich absolut nicht abweisen ließen; er schob Frau Griebel’s Delikatessen widerwillig bei Seite und hatte heute Morgen schon schlaflos den Kopf in den heißen Kissen hin- und hergeworfen, noch bevor die Haushähne auf dem Hinterhofe ihre grellen Morgenfanfaren in das dunkelverhangene Schlafzimmer geschickt hatten.

Dieses Vorwerk, dieses alte Wrack mit der mystischen Dame Gouvernante und dem halbtollen Aufschneider, dem Amtmann, das Mädchen mit dem Sphinxgesicht und der edelschönen Gestalt im armseligen Arbeitskittel, das ihn reizte und ärgerte, wie es noch Niemand vermocht, und den „humanen, wißbegierigen“ Forstwärter, den unausstehlichen Menschen, der seine Fangarme begehrlich nach ihr ausstreckte – er wünschte sie sammt und sonders in das Mohrenland, um der Unruhe willen, die ihn peinigte und welche er doch mit aller Zorngewalt nicht abzuschütteln vermochte.

Heute wollte er in die Stadt fahren und mit dem Baumeister, der auch den Neubau der Schneidemühle übernehmen sollte, eingehend berathen. Der Riß des neuen Vorwerkshauses konnte schon in den nächsten Tagen in seinen Händen sein; ebenso der Baucontract, behufs der Abschließung. Alles Andere durfte er getrost in Pachter Griebel’s Hände und die der wackeren Frau Pachter legen – das Engagement des neuen Gesindes, die einstweilige Uebersiedelung der Amtmannsfamilie in das Gutshaus, den späteren Ankauf des Viehstandes. – Zu diesen Anordnungen bedurfte es nur weniger Tage; dann wollte er den Staub von den Füßen schütteln und in Jahr und Tag den Hirschwinkel nicht wiedersehen. … Einstweilen blieb die letztwillige Verfügung im Notizbuche der seligen Frau Oberforstmeisterin sein Geheimniß, bis er wieder ruhig geworden war und es sich im Laufe der Zeit herausgestellt hatte, wessen Obhut die sorgenfreie Existenz der kranken Frau auf dem Vorwerke anvertraut werden durfte. –

Er warf das Schreibeheft auf den Steintisch und verließ den Garten, dessen altes, ausgedientes Gitterthürchen mit schwachem Geseufze hinter ihm zufiel. Mit diesem leisen, lebensmüden Geräusch wähnte er die directe Beziehung zu den Menschen, die er da zurückließ, nunmehr abgeschlossen. Er war weit entfernt davon, sich einzugestehen, daß er sich ja selbst kopfüber in die fremden Verhältnisse gestürzt habe und allein schuld sei, wenn die Webefäden fremden Geschickes sich an ihm festklammerten, wie in diesem Augenblicke die zähen, kriechenden Queckenranken, die ihn auf dem wenig beschrittenen, grasigen Wege als lebendige .Fußangeln umstrickten, und deren er sich nur erwehren konnte, indem er sie zertrat. …


9.

Zwei Tage waren seitdem verstrichen. Gestern war der Baumeister im Hirschwinkel gewesen; er hatte sich mit den Intentionen des Gutsherrn vollkommen einverstanden erklärt und ein möglichst rasches Vorgehen in Aussicht gestellt. Herr Markus hatte ihn bei Besichtigung der Vorwerksgebäude begleitet – selbstverständlich hatte er die Schwelle der Hausthür nicht überschritten, dazu war er ja viel zu standhaft in seinen Beschlüssen, aber er konnte es doch nicht hindern, daß der Amtmann an das Fenster kam, um ihm für den Korb feinen Weines, den er sofort nach seiner Heimkehr auf das Vorwerk geschickt, in feuriger Lobpreisung der edlen Gabe zu danken. Er hatte es auch dankend acceptiren müssen, daß ihm ein Gegenbesuch in Aussicht gestellt wurde – und er war auch gekommen, der alte Herr, einige Stunden darauf, so zwischen „Hell und Dunkel“.

Herr Markus hatte in dem Pavillon auf der Mauer gesessen, und da waren zwei Gestalten am Rande des Gehölzes erschienen – eine männliche, die, den Gehstock schwerfällig aufstapfend, mühselig daher gehumpelt war, und ein weibliches Wesen, auf dessen Arm sich der alte Mann gestützt hatte. … Hatte Frau Griebel nicht gesagt, daß das Fräulein Gouvernante genau eine solche Hopfenstange sei, wie die fremde Magd? – Nun ja, das war sie gewesen, eine große, schlanke Dame in elegant sitzender, weichfallender, dunkler Robe – ein grauer Schleier hatte vom kleinen, weißen Strohhut geweht und auch wie ein grauverstaubtes Spinnengewebe über dem Gesichte gelegen.

Geradezu lächerlich aber war es gewesen, zu sehen, wie die erbitterte schöne Dame bei Herrn Markus’ Heraustreten auf das Freitreppchen dem Onkel eilig etwas zugeflüstert hatte, um gleich darauf mit wenigen Schritten in das Gehölz zu fliehen und spurlos zu verschwinden. … Und der alte Herr hatte seinen Stock mitten auf den Weg gestemmt, hatte mit steifgewendetem Nacken der Entflohenen verblüfft nachgestarrt und ein heiliges Donnerwetter hinterdrein geschickt, bis ihm die Erleichterung geworden war, sich auf den Arm des herbeigeeilten Gutsherrn stützen und über die alberne Prüderie der jetzigen jungen Frauenzimmer erbost schimpfen zu können.

Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, ihn das Freitreppchen hinauf zu bringen, droben aber hatte er sich behaglich in den weichen Eckdivan gedrückt und vergnüglich das „allerliebste Junggesellennestchen“ auf der Mauer gemustert. Gleich darauf hatten Cigarren und zwei grünfunkelnde Römer auf dem Tische gestanden, und der köstliche Duft des edlen Rheinweines war der langhalsigen Flasche entquollen. Herr Markus hatte die neue Hängelampe des Pavillonstübchens angezündet, und mit dem Aufflammen des weißen Lichtes war auch die zwischen „Hell und Dunkel“ verlegte Besuchsstunde motivirt worden – es war ein gar zu fadenscheiniger, sorgsam geflickter Rock gewesen, der über den hageren Schultern des alten Herrn wie über einem Kleiderstock gehangen hatte. Aber die Wäsche war bezüglich der Weiße und Sauberkeit tadellos gewesen, und auf dem Oberhemd hatte ein imitirter Stein in altmodischer Fassung als Busennadel geglänzt.

Und das konnte sich Herr Markus nicht verhehlen – es war eine sehr angenehme Stunde gewesen, die er da verlebt. Der alte Mann hatte höchst interessant über Welt und Leben gesprochen und sich als wissenschaftlich gebildet entpuppt, und der seltsame Zug in der Natur dieses leichtlebigen Verschwenders, nach welchem er allezeit und in allen Dingen den besten und wohlbegründetsten Rath für Andere, nie aber für sich selber gehabt haben sollte, war dadurch als vollkommen bewahrheitet hervorgetreten.

Später hatte der Gutsherr seinen Besuch selbst nach Hause geführt – das war nun wieder nicht zu vermeiden gewesen; denn allein konnte der Halbgelähmte nicht so weit gehen, und es war Niemand gekommen, ihn abzuholen. Zwar hatte Herrn Markus’ scharfes Ohr ein verdächtiges Schlüpfen durch die Stämme an der Wegseite hin aufgefangen, aber diejenige, die es so verletzend vermieden, mit ihm in Berührung zu kommen – mochte es nun Fräulein Gouvernante oder die verhaßte Prüde sein – die ignorirte er auch, und so hatte er im Weiterschreiten laut zu dem etwas schwerhörigen Amtmann gesagt, es müsse sich Wild in das kleine Gehölz verirrt haben, er höre es vorbeischlüpfen, und mit einem leisen spöttischen Auflachen war er weiter gegangen, auf dem rechten Arm die ganze Last des weinseligen alten Herrn und im linken ein Paket Bücher, welche sich der Amtmann vom Eckbrett herabgeholt mit dem Bemerken, daß er nach guter Lectüre förmlich lechze; er habe ja aus Mangel an Raum seine ganze kostbare Bibliothek, in die er Tausende gesteckt, verkaufen, respective zu Schandpreisen verschleudern müssen. …

(Fortsetzung folgt.)
[93]
Die letzte Jagd.
Mit Bild von H. Prell nach dessen Oelgemälde.

Und hörst du nicht des Hifthorns Schall
Im Eichenwald, Johann?
Was träumst du einsam hier am Stall,
Am leeren Stall, Johann?
Sie zogen alle zur frohen Jagd
Mit Speer und Hund und Roß:
Was bleibst du hier mit der Küchenmagd
Und der welkenden Greise Troß?

Und schlägt mein Herz auch wund und weh,
Erklingt dort Horn und Hatz,
Ich darf nicht jagen Hirsch noch Reh
Noch Bär und wilde Katz’.
Ich darf nicht reiten im Blätterglast,
Wo die gellende Meute tobt
Und der Hufschlag malmt den knatternden Ast –
Ich darf’s nicht; ich hab’ es gelobt.

Komm, setz’ dich auf die Steinbank, Kind!
Ich sag’ dir, wie’s gescheh’n.
Nicht viel im Gottesgarten sind,
Die sah’n, was ich geseh’n.
Ich sah dem Tod in den Rachen tief.
Und heute grauset mich’s noch;
Er dacht’, er hätt’ mich mit Siegel und Brief,
Und Gott betrog ihn doch.

Des Morgens war’s – da ritt ich aus;
Mein Roß, das war ein Schäck.
Dein Vater wollt’ ’nen Hirsch zum Schmaus,
Der’ wußt’ ich jeden Fleck.
Ich hatte bei mir zwei Rüden blos;
Die fanden im Walde die Spur
Und trieben ihn aus; er war nicht groß,
Zehn Enden zählte ich nur.

Und heidi! ging’s, und hussassah!
Aufstoben Ast und Blatt.
Wir waren bald dem Waldrand nah:
Was gilt’s – ich krieg’ dich matt.
Wir sausten über das blache Feld
Zu der tiefen Wildbachschlucht,
Dort, wo ich dir mal den Fuchs gestellt
Und die Jungen geholt aus der Bucht.

Die Schlucht, die Schlucht! D’ran dacht’ ich nicht;
Ich dacht’ nur an die Birsch,
Die Rüden vor dem Rande dicht
Anfielen jach den Hirsch.
Wir waren im Schuß: der Hirsch verschwand.
Als hätt' ihn die Erde verschluckt –
Hilf Himmel! Da bäumte der Schäck auf der Wand,
Und ich riß ihn zur Seite geduckt. –

Umsonst, wir stürzten, Mann und Thier;
Zu Berge stand mein Haar;
Da rief ich Gott zu Hülfe mir
Mit seiner Engel Schaar;
Da hab’ ich verschworen Jagd und Roß,
Vergönnt’ er das Leben mir doch.
Und das Roß nur zerbarst, mein trauter Genoß,
Und den Schwur, den halt’ ich noch.

Der Knabe saß, die Wange glüh,
Das Auge blitzeshell:
Wie ging’s dir denn? Johann, nun sieh’,
Nun hörst du auf so schnell!
Wie kamst du hinunter beim Sturz, Johann?
Wie war dir zu Muthe da?
Du bliebst wahrhaftig am Leben, Johann?
Da lachte der Alte: Ja!

Victor Blüthgen.
[94]

Wie die Menschen bauen lernten.

Von Paul Wislicenus.
(Schluß.)

Die bisher betrachteten beiden Baumaterialien – Holz und Lehm – haben jedes in seiner Art der Entwickelung der Baukunst Vorschub geleistet; das Holz hat in Form des Japanischen Palastes und der Norwegischen Kirche sogar stilistische Vollendung erhalten, während der Lehm als Ziegel nur der Vertreter des Steins genannt werden kann. Ohne dieses dritte unserer ältesten Baumaterialien, ohne den Stein selbst, würde jedoch die Entwickelung der Baukunst niemals die gothische Form erreicht, nie einen Kölner Dom ermöglicht haben. Das Steinmaterial ist das erste der Welt. Der mit Quadern arbeitende Baumeister verließ schon frühzeitig die einfachen Formen, und seine Schöpfungen strebten himmelan. Betrachten wir zunächst die Entwickelung des Steinbaues, und zwar die Entstehung des steinernen Hauses aus dem Höhlenbau! Durch regelrechtere Aufschichtung der in der Höhle verwendeten Steinblöcke entsteht allgemach die steinerne Wand. Diese älteste Form der Mauern bietet uns ein merkwürdiges und interessantes Bild.

In Griechenland finden sich Ruinen, welche in nichts anderem bestehen, als in einem gewaltigen halbzerstörten Mauerring. Riesige unbehauene Blöcke finden sich hier zu einer Festungsanlage emporgethürmt, sodaß sie leidlich genau auf einander passen; die übrig bleibenden Lücken sind mit kleineren Steinen ausgefüllt, und Thore führen in das Innere des Mauerrings. Drinnen ist Alles wüste; auf Steinhaufen, über welche Schlangen schlüpfen, wuchern dornige Ranken. Die Mauern, welche den Trümmerhaufen einfassen, sind von einer auffallenden Massivität, und die rohen Blöcke, aus denen sie bestehen, scheinen zu schwer, als daß Menschenhände sie hätten emporwinden können. Deshalb nennt der Grieche diese Steinwälle „Cyklopenbauten“. Auch auf unseren deutschen Bergen finden sich ähnliche Urbefestigungen, „Teufelsmauern“ genannt. Der Teufel soll ja auch die bekannte Brücke in der Schweiz gebaut haben, weil man nicht begreift, wie Menschen sie über dem Abgrund errichten konnten.

Jede dieser Ruinen trägt jedoch den Namen einer versunkenen Stadt, deren einstige Königsherrlichkeit in den Märchen und Liedern des alten Griechenland eine große Rolle spielt. Diese Städte und Burgen waren die Schlupfwinkel jener alten Helden, die nach Homer theilweise von den Göttern abstammten. So war unter Anderem „das herrliche Mykenä“, die Residenz der Atriden, eine solche Cyklopenburg.

In weniger verfallenem Zustande als die griechischen Städte der späteren Zeit sind die Reste dieser uralten Bauten auf uns gekommen, obwohl man dies bei der Construction der Mauern nicht erwarten sollte; denn die großen Blöcke, welche dieselben verbinden, sind nicht gekalkt. Man könnte vermuthen, die Vorfahren der Griechen hätten sich bei Errichtung ihrer Festungswerke den Kalk erspart, weil diese Werke aus so großen Steinen zusammengesetzt wurden, daß ihre eigene Schwere sie hielt. Allein dieser Annahme stehen eine Anzahl von neuerdings erfolgten Entdeckungen gegenüber.

Unser berühmter Landsmann Schliemann (vergl.: „Der Schatzgräber von Troja“, Jahrgg. 1878, S. 712), welcher auch in dem soeben genannten Mykenä umfassende Ausgrabungen hat anstellen lassen, ist eine der eigenthümlichsten Erscheinungen unserer Zeit. Ursprünglich nicht selbst Gelehrter, sondern Kaufmann und sehr wohlhabend, ist er aus reiner Schwärmerei zu seiner heutigen Beschäftigung übergegangen, und zwar – aus Schwärmerei für die Gesänge des Homer.

Er machte sich also an die Ausgrabung von Troja. Dort fand er in der Tiefe unter Anderem zwei Kröten und meinte, sie säßen bereits seit Priamus’ Zeiten da unten; ein kupfernes Schild, über eine Sammlung kostbarer Gegenstände gestülpt, sei von Priamus selbst aus Vorsicht darüber gedeckt worden. Was aber auch eine erhitzte Phantasie dem berühmten Manne für Traumbilder mag eingegeben haben – Schliemann hat doch Troja, hat die alte „Veste des Priamus“ wirklich gefunden., Seine Erfolge sind überall reell und großartig. Schliemann grübelt und untersucht nicht viel – aber er findet, findet mehr als alle Andern.

Nachdem er Troja aufgedeckt und Mykenä ausgebeutet, also die Residenzen des Priamus und Agamemnon gründlich untersucht hatte, trieb es ihn weiter. Auf Ithaka liegt heutzutage ein Städtchen und daneben ein alterthümlicher Trümmerhaufen; diesen ließ nun Schliemann nach den Schätzen des Odysseus untersuchen. Aber er fand nichts, das heißt er fand keine Schätze, und gab alsbald das Werk wieder auf. Und doch hat gerade diese Ausgrabung auf Ithaka von allen Schliemann’schen Resultaten das merkwürdigste zu Tage gefördert: man fand dort eine ganze aus Steinen erbaute Stadt, mit Häusern und Zwischenwänden, Höfen und Gassen, und in all den zahlreichen Mäuerchen und Mauern fand sich nirgends eine Spur von Kalk.

Ein ähnlicher, aber an Ausdehnung nicht so bedeutender Fund ist bereits vor längeren Jahren auf einer anderen griechischen Insel gemacht worden. Im Aegäischen Meer liegt das kleine Eiland Santorin oder Thera. Ein größerer Bogen Landes befindet sich einem kleineren gegenüber, und zwischen beiden fluthet eine runde Meeresbucht. Diese Insel – der aus dem Meereswasser hervorragende obere Kraterrand eines erloschenen Vulcans – sank vor mehreren Jahren aus unbekannten Gründen langsam in’s Meer, sodaß die am Strande stehenden Wohnhäuser in Gefahr kamen. Nach einiger Zeit stieg die Insel jedoch wiederum empor, und zwar höher als zuvor, sodaß heute einige Theile des früheren Meeresbodens vom Wasser entblößt sind. Da fand man im Schlamme eine versunkene Niederlassung steinerner Häuser mit Höfen, Zwischenwänden und Zimmerabtheilungen, alles verfallen. Die Mauern bestanden, gleich den Schliemann’schen auf Ithaka, sämmtlich aus unbehauenen Steinen, welche natürlich viel kleiner waren als die in den Cyklopenmauern verwendeten Blöcke, und diese Steine – vermuthlich mit Hülfe von Feuer und Wasser aus den Ursteinbrüchen gewonnen – waren ebenfalls nicht gekalkt.

Diese Häuserfunde bilden eine vortreffliche Ergänzung zu den Resten von Mykenä. Das in Trümmern liegende Innere der alten Königsstadt ist jedenfalls auch mit steinernen Häusern nach Art derjenigen in Ithaka und Santorin gefüllt gewesen – den Menschen jener griechischen Urzeit war der Kalk eben noch nicht bekannt. Die zwischen den Steinen offen bleibenden Fugen haben sie dann entweder mit Moos zugestopft oder mit Lehm verschmiert. Erst die Wahrnehmung, daß der mit Sand vermischte Lehmmörtel doch viel zu wünschen übrig ließ, hat sie dann veranlaßt, nach einer besseren Mauerspeise zu suchen, und da ihnen die wahrscheinlich rein zufällige Entdeckung der Eigenschaften des Kalkes dabei entgegenkam, so ist ihnen endlich die gediegene Herstellung steinerner Wände gelungen.

So wurde der Mensch zur Entfaltung einer wirklich genialen Baukunst befähigt, nachdem er, durch den Höhlenbau zu dem bequemeren Wohnhaus geleitet, sich im Bauhandwerk bereits ein gewisses Geschick angeeignet hatte. Freilich waren die ältesten Wunderwerke der eigentlichen Baukunst noch sehr roh und ungeschlacht, wie wir in dem folgenden Artikel sehen werden.


3. Die Pyramiden in Aegypten und Babylon.

Nach einem kurzen Einblick in die Höhlenbauten der menschlichen Urzeit und die daraus entstehenden ältesten Häuser wenden wir uns nun dem Beginn der eigentlichen Baukunst zu. Da treten uns alsbald die ältesten Monumentalbauten der Menschheit entgegen. Sie haben nicht wie Höhlen und Häuser den praktischen Zweck, den Menschen als Schlupfwinkel zu dienen, sondern sie verfolgen bei Veredelung des Geschmackes ein ideales Ziel. Hat doch ein „Monument“ den Zweck, uns an einen Menschen oder an ein Ereigniß zu „gemahnen“ – daher der lateinische Name. Stehen wir betrachtend vor einem „Monument“, so erfüllt eine Erinnerung unser Herz; wir gedenken der Veranlassung, welche dieses Bauwerk hervorgerufen hat, und auf diese Weise erhält das Gedächtniß selbst für uns eine Bedeutung, welche sich nach der Erhabenheit des Monumentes bemißt.

Die ältesten menschlichen Monumentalbauten sind Grabhügel gewesen. Die in unserem Vaterlande hausenden vorgeschichtlichen Völker hatten die Gewohnheit, dem Todten, den sie noch immer unter die Lebenden zählten, ein Haus zu bauen. Man legte den Leib des Entschlafenen auf die Erde, wälzte Steine um ihn

[95] her, deckte die Kammer mit flachen Steinen zu und warf einen Berg von Sand, Erde, Lehm oder auch von kleineren Steinen über ihr auf. So entstand aus der Höhlenwohnung das Hünengrab.

Diese Gräber sind theilweise uralt; sie sind roh, einfach und klein; in einem von uns entfernten Theile der Erde aber sollte das Hünengrab sich schon frühzeitig zu außerordentlicher Pracht entfalten. Dieses Land ist Aegypten. Von der Natur reicher gesegnet, als viele anderen, ist es das älteste Culturland der Welt. In ihm haben sich frühzeitig große Staaten entwickelt; gewaltige Könige beherrschten dort das zahlreiche Volk. Merkwürdig ist die alt-ägyptische Civilisation: überall können wir in ihr die Spuren der kaum erst überwundenen „Urzeit“ erkennen.

Die Aegypter bestatteten ihre Todten in Felshöhlen, welche uns an die künstlich in den Stein gebrochenen urmenschlichen Höhlenbehausungen im deutschen Mittelgebirge erinnern. In solchen „Todtenkammern“ brachte die große Masse des Volkes ihre Verstorbenen unter, und um den abgeschiedenen Seelen – von denen man glaubte, daß sie sich bei ihren Leibern so lange aufhielten, bis dieselben zu Staub zerfielen – eine Unterhaltung zu bereiten, ließ man die Todtenkammern reichlich mit Gemälden schmücken, welche die Geister an das vergnügliche Diesseits erinnern sollte. Man malte allerhand Bilder aus dem Leben, z. B. Jagden mit abgerichteten Katzen, Volksfeste, Gastmähler etc. Bei letzteren fehlen sogar die widrig-komischen Scenen nicht, welche dem allzu reichlichen Genusse von Trank und Speise zu folgen pflegen. Anders handelten des Volkes Könige: Jeder von ihnen baute sich bei seinen Lebzeiten als Wohnung nach seinem Tode ein Hünengrab, so groß und so prachtvoll aufgeführt, wie seine Macht groß und prächtig war.

In der That sind die Pyramiden – in großem Maßstabe genau wie das Hünengrab construirt. Auf einer mächtigen steinernen Unterlage ruht das „letzte Kümmerlein“ des Königs, und in demselben steht der gewaltige steinerne Sarg. Vor der Kammer, etwa in der Mitte der Pyramide, befindet sich ein kleiner Saal, welcher durch einen langen schmalen Gang mit der Außenwelt in Verbindung steht. Durch den Gang, dessen Eingang bis zum Tode des Königs offen blieb, wurde die Leiche in den Mittelsaal getragen, wo man die Todtenfeier abhielt. Am Ende der Handlung legte man den König in den Sarg, und verschloß den Eingang. Oft bildete die Pyramide eine königliche Familiengruft, sodaß in ihr mehrere Nischen mit Mumien vorhanden waren. Dort ruhte nun der Todte unter einer Last von Steinen, welche nach Art der Hünengräber die Grabkammer hochanstrebend bedeckten. Denn die ganze Pyramide bestand – außer dem schmalen Gange, der engen Todtenkammer und dem kleinen Saale – in einem massiven Berge aus großen Steinblöcken und erhob sich bis zu einer Höhe von über 120 Meter. Nahe an 90 Meter Steinblöcke liegen also ausgebaut über der Grabkammer.

Der einzige nennenswerthe Unterschied zwischen dem nordischen Hünengrab und der ägyptischen Pyramide beruht in der Größe der letzteren und in ihrer regelmäßigen Form. Diese Form ist aber selbst wiederum nur eine Folge der ungeheuren Größe. Schon die ältesten, nur circa 46 Meter hohen Pyramiden, welche in Stufenform gebaut waren, mußten regelrecht aufgeschichtet werden – sonst hätte man sie in dieser Höhe nicht gut herstellen können. Noch mehr war dies aber bei den dreimal so großen glattseitigen Königspyramiden nöthig; es war geradezu unerläßlich. Um sie in ihrer Kolossalität herzustellen, bedurfte man sehr großer behauener Blöcke, die man in Form der quadratischen Basis neben einander legen konnte. Auf ihnen wurde eine zweite nach allen vier Seiten verjüngte Basis errichtet, auf dieser eine dritte noch mehr verjüngte, in welcher man den Gang, den Saal und die Grabkammer aussparte. Um diese Lücken herum, sowie über dieselben hinweg, thürmte man nun wiederum die sich immer weiter verjüngenden, immer höher anwachsenden und immer mehr zur Spitze anstrebenden quadratischen Steinmassen. Allerdings wurden die Pyramiden nicht genau so, wie ich es hier beschreibe, aufgerichtet, sondern man baute zunächst auf dem Felsboden einen wenig umfangreichen Steinkern, wand auf denselben eine zweite Lage von Quadern hinauf, legte’ um die untere Lage an jeder Seite eine Reihe von Blöcken herum und ließ auf diese Weise die Pyramide zugleich nach oben und nach den vier Seiten hinaus wachsen. Hatte man den Bau aber im Rohen fertig, sodaß die kolossalen Steinstufen, welche die Pyramide bildeten, auf allen Seiten zu Tage traten, dann wurden diese Stufen durch Reihen halb so hoher Blöcke verkleidet, sodaß die ganze Pyramide nur halb so hohe Stufen zu bieten schien; man wiederholte dieses Werk der Stufenhalbirung und -Bekleidung so oft, bis die Stufen klein genug waren, um den ganzen Pyramidenbau mit glatten Steinplatten bekleiden zu können, damit er prächtig in der Sonne glänze.

Diese Pyramiden scheinen für die Ewigkeit gebaut. Noch heute stehen sie da, unversehrt in ihrer Größe, wie vor sechstausend Jahren; nur ihres Schmuckes, der glatten Granitplatten, sind sie meist entkleidet; die Platten sind herabgeholt worden; denn die späteren Geschlechter konnten sie anderweitig verwenden. Vor uns steht wieder der kahle Steinstufenbau, und wir können das Hünengrab besteigen. Vielfach sind auch die Blockreihen, welche zur Verkleinerung der Stufen dienten, herabgefallen, und die Besteigung verursacht Mühe: erst nach langer Wanderung kommen wir oben an.

Auf dem Rückwege lassen wir uns, wenn die Pyramide bereits geöffnet, etwa in der Höhe eines mittleren deutschen Kirchthurmes, in die Pforte hineinführen. Nacht umgiebt uns; es werden Fackeln angezündet. Im engen Gange geht es sacht bergauf. Rechts und links finden sich Nischen, in denen Mumien gestanden haben. Rückwärts blickend, sehen wir die Pforte kleiner und kleiner werden. Plötzlich stehen wir in dem Saal und, nachdem wir diesen durchschritten, gelangen wir durch einen kurzen Gang in die enge Todtenkammer. Wir glauben in Katakomben unter der Erde zu sein, während wir doch hoch über ihr stehen.

Vor uns ragt der steinerne Sarg; wir wollen ihn öffnen, allein die Steinplatte ist fest hineingepreßt. Wollen wir die Königsmumie sehen, so müssen wir die Platte zerschlagen. Da liegt der Todte im Holzkasten verschlossen, den vertrockneten Körper mit Bändern dick umwickelt. Vielleicht sagt uns kein Buch, keine in der Todtenkammer angebrachte Inschrift, wer der König war. Sein Name und seine Thaten sind verweht und vergessen. Das Volk, welches er regierte, hat nach zahllosen Schicksalen das Land den erobernden Arabern überlassen müssen, und die elenden Reste desselben sind in die Wüste übergesiedelt, aber das Grab dieses Königs hat seinen Ruhm und das Leben seines Volkes selbst überdauert. Man baute es vor 6000 Jahren, und es steht noch.


* * *


Allein nicht nur in Aegypten wurden im Alterthume Pyramiden gebaut. In Vorder-Asien, an dem Gestade des von Schiffen belebten Euphrat, lag in seiner herrlichen Fruchtebene das „hundertthorige Babel“. Etwa 2000 Jahre nach dem Entstehen der ägyptischen Pyramiden zur bedeutenden Stadt erwachsen, wurde Babel der beliebteste Völkermarkt der alten Welt. Dort strömten der gewaltthätige Assyrer und der weibische Lyder, der kräftige Perser und der verwöhnte Meder, der leichtfüßige Araber, der gewinnsüchtige Phönicier und der reiche Indier zusammen, und selbst Aegypter, Griechen, Skythen und Aethiopen erblickte man in der Menge der handelnden und feilschenden Marktbesucher.

Ueber dem bunten Treiben aber ragten majestätisch die Pyramidalterrassen des sogenannten „Babylonischen Thurmes“. Dieses Bauwerk, dessen Ruine man noch heute auf dem Trümmerfelde Babylons findet, war nichts anderes als eine kolossale, sehr breite und noch viel längere Pyramide, welche aus sieben senkrecht und steil über einander aufragenden bunten Stufen von je 22 bis 28 Meter Höhe bestand.

An den Seiten der Stufen führte eine Treppe von Terrasse zu Terrasse, bis zu der großen obersten Plattform empor. Dort oben stand, die Pyramide krönend, ein Tempel, der leuchtenden Sonne näher als das Gewühl unten in der Stadt, und eben dieser Sonne – dem Sonnengotte Baal – geweiht.

Prächtig und farbenreich müssen die Stufen in der Sonne geglimmert haben, um so prächtiger, je origineller die Zusammenstellung der Farben war. Jede Stufe war nämlich einheitlich gefärbt, und zwar jede andere wieder anders: die eine grün, die andere roth, die dritte blau, die vierte gelb, eine schwarz, eine mit Silber- und eine andere mit Goldplatten behängt.

Man kann im Alterthum in den Wüsten überall Sternanbetung finden, die Babylonier aber, vor deren Thoren die Wüste lag und deren Karawanen sie unausgesetzt nach allen Seiten durchschnitten, standen in Vorder-Asien an der Spitze der religiösen Astronomie. Ihre Sternenpriester, die da oben über dem Treiben der Welt [96] auf der Plattform der babylonischen Thurmpyramide standen, hatten sogar eine Art astronomisches System. Allein dem Volke kamen diese Entdeckungen nicht zugute. Ihm wurde das Ganze zur Religion, und darum betete es die fünf selbstständig wandelnden Sterne (die damals bekannten Planeten) an und widmete jedem von ihnen eine besonders gefärbte Stufe des Thurms, eine sechste aber weihete es der Sonne und eine siebente dem Mond.

Die babylonische Stufenpyramide war das höchste Gebäude der Welt. Sie maß mit der achten Etage (dem Tempel auf ihrem Gipfel) mindestens 190 Meter in der Höhe. Ihre Grundfläche war viereckig und rechtwinkelig, aber kein Quadrat. Freilich ist die Größe des ganzen Baues weit übertrieben worden – so geben die Talmudisten dieselbe mit nahezu 2 Millionen Fuß an, während Andere bescheidener von 10,000 Ellen sprechen. Immerhin war der „Thurm“ von gigantischer Größe. Seine untersten Terrassen stammen jedenfalls aus uralten Tagen – vielleicht aus der Zeit von 2300 v. Chr. Geburt – damals aber ist er, wie es scheint, nicht vollendet worden. Nebukadnezar, der Begründer des sogenannten „jungbabylonischen“ Reiches, stellte ihn um 600 v. Chr. Geburt wieder her. Noch heute findet sich seine Ruine in der babylonischen Ebene. Die Stadt zwar ist gänzlich zerfallen; die Lehmziegel, aus denen sie errichtet war, sind im Laufe der Zeit vom Regen erweicht und wieder zu Erde geworden. Aber man findet noch im Umfange von 9 bis 12 Meilen (!) den dreifachen Mauerring, und die eine dieser Mauern soll 350 Fuß hoch und 35 Fuß dick gewesen sein. Jetzt sehen diese Ringe aus wie niedrige Hügelketten.

Innerhalb der Mauern liegen vier große Ruinenhügel. Der eine, „Bab el Mudschel-lebbe“ genannt, erhebt sich auf der rechten Euphratseite und bildet die Reste der altbabylonischen sogenannten „nördlichen Burg“. Eine halbe Stunde davon liegt ein zweiter, „el Kasr“, dessen Umfang 875 Meter beträgt, die Ruine der alten Königsburg. Nicht weit davon sieht man einen dritten Hügel, „Amram ibn Ali“, die Ruine der „hängenden Gärten der Semiramis“; diese Gärten errichtete übrigens nicht Semiramis um 2000 v. Chr. Geburt, sondern Nebukadnezar um 600 v. Chr. Geburt für seine Gemahlin, die Tochter des Königs Kyaxares von Medien; sie lagen auf einem künstlich aufterrassirten Berge und hingen keineswegs in der Luft.

Etwa zwei Meilen weiter liegt stattlich in der Ebene, etwa 50 Meter hoch, der Berg „Birs Nimrud“ (Nimrodsthurm), die Ruine des babylonischen Thurmes. Er hat noch jetzt einen Umfang von circa 710 Meter und bildet ein Rechteck. Noch sind zwei der sieben Terrassen vorhanden, auch die Reste der Treppe sind noch da, auf welcher man auf die erste circa 25 Meter hohe Terrasse hinaufreiten kann. Die zweite Terrasse ist dagegen so zerstört, daß man sie zu Fuß erklettern muß. Ihr oberster Theil ist der Rest der nördlichen Mauereinfassung und hat allein 13 Meter Höhe.

Derartige Pyramidalbauten findet man – wenn auch in viel bescheidenerer Größe – in allen Ländern der Welt, sogar bei den rothhäutigen Azteken in Mexico. Immer aber wurden diese Gebäude nur in solchen Zeiten errichtet, welche den unmittelbaren Uebergang aus der Wildheit der Völker zu den ersten Triumphen der Cultur bildeten.

So haben die Menschen das Bauen gelernt; aus Höhlen und Hürden sind Häuser und Monumentalbauten geworden auf dem Wege langsamer Entwickelung, den die Menschheit in allen Dingen durchgemacht hat und fernerhin durchmachen muß.

Die Menschen werden weiter schaffen und streben; sie werden unermüdlich fortfahren, ihre Lage zu verbessern. Vervollkommnung ist das große Gesetz der Welt, Vollendung aber wird man nie erreichen: immer wird es noch Etwas zu verbessern, Etwas zu erfinden geben. Das aber ist, genau genommen, ein großes Glück; denn wenn jemals die Menschheit, wahrhaft zufrieden mit dem, was sie hat, die Arme sinken lassen wollte, so verfiele sie mit all ihren geistigen Triumphen wieder dem öden Nichts, aus dem sie einst entstand, wie die Baukunst selbst, die der strebende menschliche Geist erschaffen hat.




Aus den Papieren eines Asiaten

1. Der Baikal
Alle Rechte vorbehalten.


Ich möchte den Baikal den Bodensee Asiens nennen; wegen seines klaren, durchsichtigen Wassers, seiner unergründlichen Tiefe, seiner malerischen Lage verdient er in der That diesen Namen. Spricht oder sprach der Amerikaner vom „fernen Westen“ als von etwas Geheimnißvollem, Unerschlossenem, so können die Europäer, wenn sie nach Nordasien hinüberblicken, mit noch besserem Recht vom „fernen Osten“ sprechen; denn er liegt noch in Märchennebel gehüllt – und dies sogar für seine nächsten Nachbarn, die Russen. Vom Russen wissen wir ja, daß er alles „Russische“, somit auch sein eigenes Land, mißachtet; er kennt weder das südliche, russische Asien, noch Sibirien, noch den Kaukasus, noch das herrliche Finnland; geht der Russe auf Reisen, so ist sein Ziel „Paris“. Engländer und Amerikaner besuchen zwar schon längst Finnland, um dessen hochromantische Natur zu bewundern; Speculanten dringen zwar bis zum Kaukasus vor, aber das übrige eigentliche reisende Publicum hält sich von Rußland fern, und Sibirien ist ja wohl noch bis heute der Inbegriff aller Schrecken in Deutschland. Um so mehr fühlt sich der Kenner dieser Gegenden gedrängt, von diesem fernen Osten zu erzählen; so läßt sich vielleicht manches Vorurtheil beseitigen und etwas für ein Land thun, das viel besser ist, als sein Ruf.

Circa 6000 Werst (1 Werst = 1,067 Kilometer) östlich von Petersburg liegt das heilige Meer der Burjaten, dessen heutiger Name das corrumpirte mongolische Bai-kal (reicher See) ist. Steigt schon ganz Ostsibirien terrassenförmig an, so thut sich endlich in der Höhe von über 496 Meter ein mächtiger Felsenkessel auf; wie ein greiser Herrscher erhebt der schneeige Chamár-Daván sein ragendes (1950 Meter hohes) Haupt, und ich kann dem alten Herrn es wahrlich nicht verdenken, daß er nun schon viele Jahrhunderte hindurch sich an dem unter ihm ausgebreiteten Panorama nicht satt sehen kann: es ist zu schön; den Felsenkessel füllt der Baikal (gebildet durch die Angará wie der Bodensee durch den Rhein), umgeben von fast steil abfallenden Felsen, die wiederum von schwarz-grünen Cederwäldern dicht bedeckt sind. Ich habe den Baikal im Sommer und im Winter, bei Sonnenlicht und Mondschein, bei Sturm und Nebel gesehen, und er war immer schön, hinreißend schön, imposant und doch unwiderstehlich anziehend. Ich begreife es, daß die anwohnenden Burjaten und Tungusen ihn das Dalai-Nor (heilige Meer) nennen; denn wie er, milde, reiche Gaben spendend, in seiner majestätischen Ruhe ein zürnender, strafender Gott ist, so begraben seine Wellen, wenn sie sich im Sturme schaumgekrönt thürmen, alles Nichtige, Irdische in ihren unermeßlichen Tiefen. Wenige giebt es der sichern Ankerplätze, die in solcher Zeit Schutz gewähren, so weit sich auch das mächtige Meer[1] (so nennen es auch die anwohnenden Russen) ausdehnt. Der Baikal hat eigentlich nur zwei Häfen, Listwenitschnaja und Possolsk, und in diese will ich auch den freundlichen Leser führen.

Hart am Ufer der Angará und des Baikal zieht die in Felsen gehauene Straße hin; den Hintergrund bilden die senkrechten cedergekrönten Felsen, deren malerisches Zickzack ihren vulkanischen Ursprung deutlich erkennen läßt. Hier liegt das Dorf Listwenitschnaja, und abgesehen vom Bau der Häuser glaubt man sich plötzlich in die Schweiz versetzt, wenn man, den letzten Abhang hinabfahrend, die weite Wassermasse der Bucht vor sich ausgebreitet sieht; die Abendglocke ruft zur Kirche, die sich wie schutzsuchend an die Schamanenfelsen (Zauberfelsen) schmiegt, als fürchte sie, daß die Wellen des Sees auch einst in diese stille Bucht ungestüm hineinstürzen und Alles mit sich zurück in den See entführen könnten. Die schmucken Häuser deuteten auf Reichthum; ein kleiner Mastenwald begrüßt uns freundlich. Der Wagen hält vor einem europäisch eingerichteten Gasthause mit einladenden Zimmern und Gesellschaftsräumen, und ein verhältnißmäßig reiches Büffet winkt uns zum Imbiß und weckt in uns um so angenehmere Gefühle, als die Gasthäuser in Sibirien, sogar in den großen Städten, schmutzige,


[97] elende Kneipen sind. Die Ausnahmen an den beiden Ufern des Baikal machen es einem um so leichter, zu glauben, man sei plötzlich Asien entrückt. Bis zum Jahre 1879 vermittelte nur ein Dampfer, „Sinelninoff“, die Ueberfahrt über den Baikal; ich habe diesen würdigen Veteranen noch gesehen und benutzt; jetzt wird er wohl bald den wohlverdienten Platz im sibirischen Museum erhalten, und werden spätere Reisende beim Besuch desselben sich wundern, wie das Modell der Arche Noah nach Sibirien gekommen und wozu unser würdiger Vorahn den riesigen Schornstein, der eher einem Maste vergleichbar ist, auf sein von Gottes Hand geleitetes Fahrzeug gepflanzt hat.

1. Burjat.

Es wird Abend; wir treten auf die Veranda hinaus. Ich habe es stets den Malern auf die Rechnung geschrieben, wenn auf ihren Bildern der Abendhimmel östlicher Landschaften in mir damals unmöglich erscheinenden lila Tinten schwamm; in den Steppen Asiens, hier am Ufer des Baikal, habe ich den Meistern mein Unrecht im Herzen abgebeten. Es waren wunderbare Reflexe im Wasser, das, aus der Ferne azurblau erscheinend, in der Nähe von krystallener Durchsichtigkeit ist, als jetzt der Mond hinter den dunkelgrünen Waldkuppen hervortrat. Ich habe es empfunden, daß es überwältigende Natureindrücke giebt, empfunden im Herzen Asiens.

Hier blüht die Erdbeere roth; der feinste weiße und schwarze Sand deckt das Ufer, welches wilde lilafarbige, Lilien schmücken. Höchstens ist’s der grüne russische Douanesoldat, der den poetischen Zauber dieses Abends bricht, wenn er den Reisenden mit prüfendem Auge betrachtet oder sich mit einer geschäftsmäßigen Frage an denselben wendet. Doch sind das nur prosaische Minuten, die bald vergessen sind, während die Poesie solcher Stunden uns eine einzig holde Erinnerung bleibt. Solche Nächte müssen verträumt werden, und das that ich auch; die milde Nachtluft umfächelt uns; dünne Nebel entsteigen dem Meere und ballen sich zu wunderlichen Gebilden.

Als schon der Morgen graute, bestieg ich mit meiner plappernden Reisebegleitung das Schiff, und schnell wurde der Anker gelichtet. Bald lag die schöne Bucht hinter uns, und wir schwammen mitten auf dem schönen See, dessen Ufer uns bald im sonnigen Nebel entschwanden.

Höher und höher steigt die Sonne; man glaubt bis auf den Grund sehen zu können – so durchsichtig ist das Wasser, in welchem eine ungemein große Menge von Fischen sich tummelt, deren Hauptvertreter der „Omul“ (Salmo Omul), der sibirische Häring, ist. Für unseren Gaumen ist dieser gesalzene Omul kaum zu empfehlen; der echte Sibirier hält ihn dagegen für einen durch nichts zu ersetzenden Leckerbissen. Die höchste Freude, die man einem Sibirier, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, in der Fremde bereiten kann, ist die Bewirthung mit jener landesüblichen Delikatesse.

Bald sahen wir auf unserer Seefahrt das Ufer wieder auftauchen, aber nicht nach Possolsk, dem Klosterhafen, sondern nach Bojarsk führte uns der Dampfer; denn von

2. Ueber eine Spalte im Baikal.
Nach Skizzen von Axel Laren auf Holz gezeichnet von H. Heubner.

[98] hier aus geht jetzt die große Straße – eine lange Brücke führt in den See hinein, aber das Schiff kann bei Sturm hier nicht anlegen; ebenso wenig können die Passagiere in Boten an’s Ufer gebracht werden; die kurzen, steilen Wellen lassen es nicht zu, sodaß oft, dank diesen Kobolden, das Schiff, wenn kurz vor dem Landen der Sturm losbricht, mit seinen Passagieren zurückkehren muß durch Wetter und Graus nach Listwenitschnaja; denn dieser Hafen allein gewahrt vollkommen Schutz, und die Einfahrt in denselben ist bei jedem Wetter möglich.

Es ist also nicht so leicht über den Baikal nach Süden zu kommen. Hier ist das Panorama übrigens ebenfalls sehr schön, wie auch die Einrichtungen im Hotel gut sind. Ebbe und Fluth giebt es hier nicht. Schon Anfangs August stellen sich leichte Morgenfröste ein; Ende Oktober, in der Regel, gefrieren die Ufer; ist der Herbst still, so reicht das Eis oft schon Mitte November bis auf zwölf Werst in den See hinein, und nun steigen aus der offenen Mitte dichte Nebelmassen auf, die sich bis Irkutsk (sechszig Werst) hinziehen und die Stadt überziehen, der Nebel ist aber auch den Uferbewohnern das Warnzeichen, sich nicht zu weit auf das Eis hinauszuwagen.

Wird das Wetter stürmisch, steigt dabei die Kälte über fünfundzwanzig Grad, sodaß die aufgewühlten Wassermassen stark abgekühlt werden, und tritt darauf ruhiges Wetter bei strenger Kälte ein (über dreißig Grad), so deckt in einer einzigen Nacht eine dünne Decke die ganz Fläche, die sich den Anwohnern plötzlich wie ein Spiegel zeigt; denn mit den offenen Stellen ist auch der Nebel verschwunden. Nach zwei Wochen ziehen dann schon die Karawanen in endloser Reihe über diese neue Straße, auf der mit Fichten zierlich die einzelnen Wege abgesteckt werden.

Die schwerste Passage zwischen diesseits und jenseits des Sees tritt dann ein, wenn eine noch dünne Eisdecke sowohl die Fahrt zu Wasser wie die zu Eis unmöglich macht; sie ist aber noch lange nicht die uninteressanteste; es gilt alsdann, per Post um den Baikal herumzufahren. Da giebt es zwei Wege: der eine, bequemere führt längs dem Ufer, wenn das Wasser nicht hoch steht und keine Eisschollen diese Passage sperren; der andere muß eingeschlagen werden, wenn diese Hindernisse eintreten; er führt über die Berge des Ufers, oft über 310 Meter über dem Spiegel des Sees. Da geht’s bergauf, bergab, und man lernt die Kraft und Ausdauer der sibirischen Pferde hier bewundern; sie klettern Berge von 155 Meter, die fast steil sind, munter hinan, und die Passagiere brauchen nicht auszusteigen. Beim Hinunterfahren mußten wir aber auch unseren Schlitten verlassen; denn ein Fehltritt des Gabelpferdes, das Abreißen eines Hemmschuhs – und Schlitten und Pferde müssen kopfüber die Berge hinunterstürzen oder seitwärts die Tiefe der Abgründe, aus denen noch nie Jemand zurückgekommen ist, erproben.

Es ist daher begreiflich, daß die Passage über den Baikal möglichst lange benutzt wird, auch wenn schon milde Frühlingslüfte klaffende Spalten in das Eis gerissen haben; der Jämtschik (Fuhrmann) vertraut blind dem Instinct seiner Pferde, die es wohl wissen, ob sie eine Spalte überspringen können oder nicht. Er zügelt daher ihren rasenden Lauf nicht und bittet nur die Insassen des Schlittens dafür Sorge zu tragen, daß sie bei dem fürchterlichen Ruck, der dem Ueberspringen einer fadenweiten Spalte folgt, sich nicht den Kopf beschädigen. Ist der Spalt zu breit, so bleibt das Gespann wie angewurzelt plötzlich stehen; auch das giebt eine ganz respektable Erschütterung; nun steigt der Rosselenker ab und bindet die lange Holzstange und das Brecheisen, die er hinten am Schlitten stets angebunden führt, los, um zu erproben, ob noch Untereis da ist. Findet er dieses, so fährt er zu; findet er es nicht, so sieht er zu, ob der Spalt sehr lang ist, vielleicht durch den ganzen See, was einen Umweg von vielen Stunden verursachen würde; in solchem Falle wählt er ein einfaches kürzeres Mittel: er hackt mit seiner Brechstange das Eis, auf dem die Pferde und der Schlitten stehen, los und setzt auf dieser abgelösten Scholle über den Spalt, was ihm die bereits erwähnte, zum Abstoßen und Steuern bestimmte, lange hölzerne Stange möglich macht, sei der Spalt auch noch so breit. Die Pferde stehen ruhig und erleichtern somit die Passage ungemein. (Hierzu unsere Illustration auf Seite 97.)

Das Land, außer den Stadtgebieten, gehört in ganz Sibirien den einzelnen Stämmen; es existiren daher in ganz Sibirien keine Güter, weshalb das Land nur auf eine Reihe von Jahren gepachtet werden kann. Im Westen und Süden des Sees finden wir als Hauptbevölkerung die Burjaten, die im Ganzen ein intelligentes Volk sind. Sie flechten ihr dunkles Haar wie bei den Chinesen am Hinterkopf zu einem Zopf zusammen, aber diejenigen Burjaten, die als Grenzkosaken der russischen Krone dienen, müssen ihren geliebten Zopf abschneiden, was ihnen kein geringer Kummer ist. Sie sind übrigens mit der russischen Regierung ungemein zufrieden. Ist die Dienstperiode, die sich aber bis zu den spätesten Lebensjahren wiederholt, abgelaufen, so zieht der Burjate wieder seine Nationaltracht an, die weichen langen Stiefel (nach chinesischem Schnitt) und den langen hellblauen Rock mit Sammetaufschlägen. Den Kopf bedeckt er mit dem üblichen trichterförmigen Hütchen, dessen unterer breiter Rand in die Höhe geschlagen wird; die Spitze des Hütchens krönt eine rothe Troddel, deren Gestell bei Reicheren aus Silber gearbeitet ist. (Vergleiche Abbildung auf Seite 97.)

An der Ostseite des Baikal wohnen die Tungusen. Beide Stämme haben, trotz des mongolischen Typus, angenehme Gesichtsbildung; sie stehen unter Stammesältesten, welche wieder einem Fürsten unterstellt sind; dieser verhandelt für alle seine Tributzahler mit dem russischen Gouverneur. Im Collisionsfalle mit Russen sind alle aber den russischen Gerichten und der russischen Polizei unterstellt.

Cedern, Fichten, Pappeln, Lärchen, Birken sind die gewöhnlichen Baumarten. Die Flora ist ungemein reich und die Flüsse wimmeln von Fischen, unter denen sich namentlich auch der Stör findet. Der schwarze Sand, der hier vielfach gefunden wird, ist ungemein eisenhaltig (75 Procent), wie ja ganz Sibirien reich an Eisen, außerdem noch an Kupfer und Gold ist, und dennoch sind gerade die Ufer des Sees wild und öde, was aber wohl seinen Grund in den häufigen Erdbeben hat, die große Uferstrecken in den See stürzen; so ist bereits ein großes Dorf im See versunken, was gerade nicht zur Ansiedelung am Ufer lockt. Die Gegend südlich vom Baikal ist übrigens eine reiche Kornkammer Sibiriens.

Obschon bereits die Maisonne den letzten Schnee der Ebene vertilgt, beginnt die Schifffahrt auf dem Baikal doch erst im Juni, wo dann wieder die Theekarawanen die Ufer des Sees beleben. Es sei hier noch bemerkt, daß, wer reinen chinesischen Thee trinken will, diesen in Kiachta oder Nischni-Nowgorod auf dem Jahrmarkt kaufen muß; denn der zur See importirte wird schon in den chinesischen Hafenstädten, noch mehr aber nach seinem Eintreffen in Europa verfälscht.





James Garfield,

der nächste Präsident der Vereinigten Staaten.
Den Deutsch-Amerikanern zum 4. März 1881.

Am 2. November vorigen Jahres hat der erbitterte Wahlkampf, der mehrere Monate hindurch die politischen Leidenschaften des amerikanischen Volkes erregte und auf dem weiten Gebiete der Vereinigten Staaten, von den kanadischen Seen bis zum Golf von Mexico, von den Küsten des Atlantischen Oceans bis zu den Gestaden des Stillen Meeres, mit steigendem Wetteifer geführt wurde, sein Ende erreicht. Die Candidaten der republikanischen Partei, James A. Garfield und Chester A. Arthur, trugen, der erstere für das Amt des Präsidenten, der letztere für das des Vicepräsidenten, über ihre demokratischen Gegner, Winfield S. Hancock und William H. English. den Sieg davon.

Der Mann aber, welcher nunmehr durch die Stimme seines Volkes berufen ist, vom 4. März 1881 an als das den regierenden Häuptern der mächtigsten Nationen gleichgestellte Oberhaupt der großen transatlantischen Republik eine hervorragende Rolle in der Geschichte seines Landes zu spielen, führte noch vor wenig mehr als fünfundzwanzig Jahren als Holzhacker, Farmarbeiter und Bootsmann auf dem Ohio- und Erie-Canal ein äußerst hartes, [99] schwerbedrängtes Leben. Allein schon zu jener Zeit mochte wohl, wie einer seiner Biographen meint, Mancher, der den strebsamen, mit unerschütterlicher Ausdauer und Willenskraft sich emporringenden Jüngling näher kannte, zu der Ueberzeugung gekommen sein, daß in dem eigenthümlich gearteten, pflichttreuen jungen Manne Kräfte schlummerten, die ihn dereinst einem höhern, von dem gewöhnlichen Lebensweg weit abliegenden Ziele entgegenzuführen im Stande wären.

Die äussere Erscheinung, namentlich die Gesichtsbildung, Garfield’s ließ vielleicht ein deutsch-amerikanisches Blatt, das in St. Louis im Staate Missouri erscheint, zu der Annahme gelangen, daß er deutscher Abkunft sei und sein Name ursprünglich Garfelder oder Gerbefelder lautete. Allein dem ist nicht so; Garfield’s Familie stammt aus Neu-England. Der erste seiner Vorfahren in Amerika, welcher Edward hieß, kam um’s Jahr 1630 aus Chester in England nach Massachusetts und ließ sich dort in dem Städtchen Watertown nieder.

Die eigentliche Familiengeschichte unseres Garfield beginnt indessen erst mit dessen Urgroßvater, Solomon Garfield, der im Jahre 1766 die Wittwe Sarah Stimpson heirathete und nach der Stadt Weston in Massachusetts zog. Abraham Garfield, ein Bruder Solomon’s, kämpfte beim Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges in dem ruhmreichen Gefechte bei Concord. Als nach dem Revolutionskriege eine starke Auswanderung aus Massachusetts nach den wilden, noch wenig bewohnten Gegenden der mittleren Theile des Staates New-York stattfand, wanderte auch Solomon Garfield dorthin und kaufte bei Worcester in Otsego County ein Stück Land, auf welchem er mit seiner Frau und fünf Kindern, Thomas, Solomon, Hannah, Rebecca und Lucy, die Farmerei betrieb. Der älteste Sohn Thomas, der Großvater des Generals Garfield, wuchs in Worcester auf, führte ein achtbares Mädchen, Asenath Hill, als Gattin heim und ernährte sich und die Seinigen ebenfalls als Farmer. Sein ältester Sohn Abraham, geboren 1799, war ein hochgewachsener, kräftiger, auch höheren Bestrebungen nicht abgeneigter Mann, der, etwas unruhiger Natur, längere Zeit eine Art Wanderleben in den noch wenig bebauten Gegenden seiner Heimath führte, schließlich aber doch die ebenso liebenswürdige, wie fleißige, einer Hugenottenfamilie entsprossene Eliza Ballon heirathete und in Cuyahoga County, im Staate Ohio, wo die ihm verwandte Familie der Boyntons wohnte, in der Nähe von Orange eine Farm erwarb. Hier nun wurde James A. Garfield am 19. November 1831 als das jüngste von vier Kindern geboren. Sein Vater, der sich bei einer Feuersbrunst zu sehr angestrengt hatte und in Folge dessen schwer krank geworden war, starb leider schon im Mai 1833 und ließ seine Familie in sehr bedrängten Verhältnissen zurück. Kurz vor seinem Tode sprach er, auf seine Kinder zeigend, zu seiner Frau:

„Eliza, ich habe vier Schößlinge in diese Wälder gepflanzt; ich muß sie vor der Zeit Deiner Sorge überlassen.“

Und die Wittwe, obschon tief niedergebeugt durch den allzu frühen Verlust ihres Gatten, verlor den Muth nicht; sie arbeitete fleißig im Hause und auf dem Felde, spann Garn und Wolle und wob selbst die Kleider für sich und ihre vier Kinder. Ihr ältester Sohn Thomas, der jetzt in Michigan lebt, stand ihr lange Zeit treu zur Seite, ebenso ihre beiden Töchter, Mehetabel und Mary, die gegenwärtig verheirathet sind und zu Salem in Ohio wohnen. Auch der kleine James mußte, sobald es seine Kräfte erlaubten, die Hände mit anlegen und bei der Bebauung der kleinen Farm helfen; er lernte schon früh den Acker’ pflügen und besäen, das Getreide und das Gras mähen, den Hammer und das Beil schwingen und die Säge führen.

Die Farm der Garfield’s lag sehr einsam; Besuch kam selten, nur die Boynton’s ließen sich öfters sehen und halfen der Wittwe mit ihren Kindern durch Rath und That. Garfield’s Mutter war, ohne einer orthodoxen Richtung anzugehören, eine wahrhaft religiöse Frau; es verging kein Tag, wo sie nicht ihren Kindern passende Stellen aus der Bibel vorlas. Auch der Oheim Boynton, der seine Unterhaltung gern mit Bibelsprüchen schmückte, war ein starker Bibelheld; er trug dieses Buch überall mit sich, auch bei der Arbeit auf dem Felde, und wenn er ermüdet auf der Pflugschar ausruhte, so las er nicht selten zur Stärkung ein Capitel aus der Bibel. Im Norden von Ohio herrschte überhaupt nur diese Zeit ein sehr religiöser Sinn; es gab dort die verschiedensten Secten, worunter die Campbelliten, Anhänger des Schotten Campbell, zahlreich vertreten waren. Diese Seele, der sich auch die Garfield’s anschlossen, verwarf alle Dogmen und Glaubensbekenntnisse; die Bibel war ihre einzige Richtschnur; Gastfreundschaft, Bruderliebe und Wohlwollen gegen Alle, ohne Unterschied des Standes und der Abstammung, erkannten die Campbelliten als ihre leitenden Grundsätze an. Wenn Fremde auf der Garfield’schen Farm vorsprachen, waren es meistens Reiseprediger.

Die Unterhaltung mit den Nachbarn drehte sich in der Regel um Farmarbeiten und religiöse Dinge, während, politische Fragen in zweiter Reihe standen. Der Sinn des jungen James wurde auf diese Weise schon früh auf die Lehren Campbell’s hingelenkt, obschon er der Politik seine Aufmerksamkeit nicht ganz versagte. Als er in seinem siebenten oder achten Lebensjahre einmal gefragt wurde, ob er der Partei der Whigs oder derjenigen der Demokraten angehörte, antwortete er nach einigem Zögern:

„Ich bin ein Whig, aber ich bin noch nicht getauft.“ Der Knabe setzte voraus, daß die politischen Parteinamen mit den religiösen Fragen, von denen er so oft sprechen gehört, in Verbindung ständen.

Den ersten Unterricht genoß James A. Garfield in einer Districtschule. Der kleine James war in der Schule sehr unruhig, lernte aber doch das Lesen sehr schnell, sodass er ein Neues Testament als Belohnung für seinen Fleiß erhielt. Es werden verschiedene Geschichten aus der ersten Schulzeit des späteren Generals und Congreßrepräsentanten erzählt; so soll er ohne Veranlassung selten mit seinen Mitschülern in Streit gerathen sein, durch Neckereien und Beleidigungen wurde er aber leicht in hellen Zorn versetzt, und dann kam es zu harten Kämpfen, aus denen James, der für sein Alter ungewöhnliche Kräfte besaß, meistens als Sieger hervorging.

Zeitungen und Tagesblätter gab es in dem Garfield’schen Haushalte lange Zeit nicht; das erste Blatt dieser Art, auf welches, wie der General sich entsinnt, seine Mutter abonnirte, war die religiöse Wochenschrift „Der Protestantische Unionist“, der in Pittsburg erschien. Die wenigen Bücher, welche er zu Hause fand oder von den Nachbarn erhalten konnte, las James mit dem größten Eifer und wußte sie fast auswendig, da er mit einem sehr guten Gedächtniß begabt war. Den kleinen „Robinson Crusoe“ las er so oft, bis das Buch in Stücke zerfiel. Außerdem studirte er, so weit seine Feld- und häuslichen Arbeiten es zuließen, Kirkhain’s Grammatik, die Rechenbücher von Pike und Adam und Woodbridge’s Geographiebuch. Spielsachen und Bilder fand man in der Familie Garfield’s nicht; seine Mutter war zu arm, um solche Dinge zu kaufen. Im Uebrigen würde man mit der Annahme irren, daß die Garfield’s viel ärmer gewesen seien als die meisten ihrer Landsleute. Zu der Zeit, von welcher hier die Rede ist, befanden sich fast alle Farmerfamilien im nördlichen Ohio in mehr oder weniger ärmlichen Verhältnissen; bei den Garfield’s war dies nur in etwas höherem Grade der Fall, weil das Haupt der Familie so frühzeitig gestorben war. Auch besserte sich die Lage der Mutter, als die Söhne erwachsen waren. Im Uebrigen galt Armuth für keine Schande, und der Reichere sah nicht stolz und übermüthig auf den Aermeren herab, wie dies dort vielleicht in der Gegenwart der Fall sein mag. In Garfield’s Jugend entehrten, wie er selbst bestätigt, wohl Faulheit, Unmüßigkeit und unsittlicher Lebenswandel in seiner Heimath den Menschen; jegliche Art von ehrlicher Arbeit stand dagegen in hoher Achtung und fand überall die vollste Anerkennung.

Als Garfield das sechszehnte Lebensjahr erreicht hatte, ging er in benachbarte Landbezirke und verdiente sich durch Farmarbeit und Holzfällen eine runde Summe Geldes, mit der er seine Mutter unterstützte. Der lebhafte Schiffsverkehr auf dem Eriesee weckte in ihm die Lust, Seemann zu werden, und so brach er denn nach Cleveland auf und arbeitete um’s Jahr 1848 als Bootsmann auf einem Canalboote, welches Kohlen und Eisen nach Pittsburg brachte. Allein dieses Leben konnte er trotz seiner kräftigen Körperconstitution nicht recht vertragen; was er im Sommer verdient hatte, ging während des Winters für Medicin und ärztlichen Beistand wieder hin. Seine Mutter, welche niemals seine Neigung zum Schiffs- und Seeleben gebilligt hatte, bekämpfte diese Leidenschaft ihres Sohnes durch eine andere, und zwar durch den Trieb nach Wissen. Hier kam ihr ein ausgezeichneter Districtslehrer, Namens Samuel D. Bates, zu Hülfe. Man stellte dem lernbegierigen Jünglinge vor, wie es viel lohnender sei, durch wissenschaftliche Kenntnisse zu Ehre und Ansehen zu gelangen, als [100] durch harte körperliche Arbeit. So geschah es denn, daß Garfield im Frühjahr 1849 die sogenannte Geauga Akademie in der Stadt Chester mit 17 Dollars in der Tasche bezog, eine Summe, die er von seiner Mutter und seinem Bruder Thomas erhielt. Dieses Lehrinstitut stand unter der Obhut eines gewissen Daniel Branch, dessen Frau die Abtheilung für weibliche Schüler leitete; und hier war es, wo Garfield seine spätere Frau, Lucretia Rudolph, die nur wenig jünger als er war, kennen lernte. Die Geauga Akademie hatte eine kleine Bibliothek von nahezu zweihundert Büchern, die Garfield mit Eifer benutzte. Obschon er mit dem größten Fleiße seinen Studien oblag, so war er doch, um sich Kost und Wohnung zu verdienen, bald gezwungen, dem Zimmermann Heman Woodworth bei dessen Berufsarbeiten am Sonnabend und in den sonstigen Freistunden hülfreiche Hand zu leisten, aber für die Sommermonate, wo Ferien waren, kehrte er zu seiner Mutter zurück und unterstützte dieselbe durch Farmarbeiten, wo und wie er nur konnte. Nach zwei Jahren verließ er die Geauga Akademie und trat im August 1851 in eine höhere Schule ein, die erst kürzlich in dem Städtchen Hiram in Portage County gegründet war, und nun wollte es der Zufall, daß er hier abermals mit Lucretia Rudolph zusammentraf, da deren Eltern nach Hiram gezogen waren. Gegenseitige Neigung verband bald die beiden jungen Herzen, und sie beschlossen, ein Paar zu werden, sobald Garfield das College absolvirt, das Examen bestanden und einen festen Lebensberuf ergriffen habe.

In Hiram war es auch, wo Garfield im Jahre 1850 sich taufen ließ, doch ohne sich einer bestimmten Secte anzuschließen. Er bewahrte sich seine freie religiöse Meinung und blieb im Wesentlichen den Campbelliten, in deren Kirchen er später wiederholt Vorträge hielt, getreu. Während Garfield fleißig weiter studirte und im Winter, wo auf der Lehranstalt in Hiram kein Unterricht gegeben wurde, zu Warrensville für achtzehn Dollars den Monat als Schulmeister fungirte, hatte seine Braut Lucretia in Cleveland eine Anstellung als Lehrerin gefunden.

Endlich, im Jahre 1854, war Garfield in seinem Wissen so weit fortgeschritten, daß er das Williams-College in Neu-England, an dessen Spitze Dr. Hopkins stand, besuchen konnte. Er hatte sich durch den Unterricht, den er in Warrensville ertheilt, eine kleine Summe erspart und erhielt durch die Verpfändung der Police einer Lebensversicherung, in die er sich mit Hülfe seines Bruders und eines gewissen Dr. Robinson eingekauft hatte, eine weitere Summe, sodaß er den Cursus auf dem Williams-College, ohne zu sehr in Noth zu gerathen, bei weiser Sparsamkeit zu absolviren im Stande war.

In: August 1856 bestand er mit Auszeichnung sein Examen. Er hatte die alten Sprachen, das Lateinische und Griechische, ziemlich gut inne, auch konnte er sich im Deutschen gewandt ausdrücken und war wohlbewandert in Goethe’s und Schiller’s Werken, während er von den englischen Schriftstellern, außer Shakespeare, vornehmlich Dickens, Thackeray und Tennyson liebte. Geschichte gehörte zu seinen Lieblingsfächern, und bei den Debattirübungen, die häufig auf dem College vorgenommen wurden, zählte er zu den gefürchtetsten Gegnern. In der letzten Zeit seines Aufenthaltes auf dem Williams-College gewann er auch ein lebhaftes Interesse für politische Fragen; er war ein begeisterter Anhänger von John C. Fremont, dem ersten Präsidentschafts-Candidaten der republikanischen Partei, zu der ihn vornehmlich sein Haß gegen das Institut der Negersclaverei hinzog.

In die Heimath zurückgekehrt, wurde Garfield von seinen Freunden und Bekannten mit großer Liebe empfangen. Man war dort seit einiger Zeit bemüht gewesen, eine höhere Lehranstalt unter dem Namen „Hiram Eclectic Institute“ zu errichten, in der eine mehr classische Bildung auf religiöser Grundlage zu möglichst niedrigen Preisen gewonnen werden könnte, und so war es natürlich, daß man seine Aufmerksamkeit auf den mit guten Zeugnissen von einem renommirten College des Osten heimkehrenden Landsmann lenkte und denselben für die neue Anstalt zu gewinnen suchte. In der That erhielt der fünfundzwanzigjährige Garfield eine Anstellung an dem erwähnten Institut als Lehrer der lateinischen und griechischen Sprache, und da er sich in dieser Stellung rühmlichst hervorthat, so wurde er schon nach einem Jahre zum Präsidenten der Anstalt gewählt. Diese für einen so jungen Mann seltene Auszeichnung war nun Garfield bemüht durch verdoppelten Fleiß und gewissenhafte Amtsführung zu verdienen, und er hatte das Glück, die seiner Leitung anvertraute Schule kräftig emporblühen zu sehen. Allein seine umfassende Lehrerthätigkeit hinderte ihn nicht, sich eifrig juristischen Studien hinzugeben; denn es war schon zu der Zeit, wo er sich mit Lucretia Rudolph, verlobte, sein Lieblingswunsch gewesen, dereinst ein tüchtiger Rechtsanwalt zu werden. Seine Stellung als Präsident des Hiram-Instituts hatte es ihm unterdessen ermöglicht, seine Braut als Gattin heimzuführen, und diese ist ihm stets eine verständnißvolle Begleiterin und eine treue Stütze in seinem vielbewegten Leben gewesen.

Der Präsidentschaft-Candidat der republikanischen Partei John C. Fremont war zwar bei der Präsidentenwahl im Jahre 1856 seinem demokratischen Gegner James Buchanan gegenüber unterlegen, aber der „unabwendbare Conflict“, der zwischen dem Norden und Süden der Union, zwischen den beiden Arbeitssystemen, dem der freien Arbeit und dem der Sclavenarbeit, bestand und in seinen Folgen bis in die neueste Zeit fortgedauert hat, hatte seine Lösung nicht gefunden. Die blutigen Kansas-Nebraskawirren warfen dunkle Schatten auf die sociale und staatliche Fortentwickelung der Vereinigten Staaten, und der Sclavenaufstand des alten John Brown, des „Helden von Osawatomie“, erregte die Gemüther aller denkenden Bürger in der nordamerikanischen Union. In der Gebirgsschlucht von Harper’s Ferry ertönten am 17. Oktober 1859 einige Musketensalven, denen bald der laute Donner des Secessionsgewitters antworten sollte. John Brown unterlag bei seinem Befreiungsversuche und erlitt am 2. December den Tod eines Verbrechers am Galgen. Sein Tod erlöste den Norden der Vereinigten Staaten von dem verderblichen, aber leider mächtigen politischen Zauber, womit die herrschsüchtigen Sclavenhalter des Südens den sonst so klaren Sinn der nördlichen Unionsbürger nur zu lange gefangen gehalten hatten. Die Trauer, welche durch das erschütternde Ende des alten Freiheitskämpfers in den verschiedensten Bevölkerungsschichten wachgerufen wurde, verwandelte sich bald in Begeisterung für die Sache, für die er sich zum Opfer gebracht hatte, und das schlichte, aber ergreifende Lied:

„Im Grabe modert John Brown’s Leib;
Sein Geist geht uns voran –“

führte nach zwei kurzen Jahren Tausende und aber Tausende in den blutigen Entscheidungskampf, welcher die Macht des rebellischen Südens brach und die Negersclaverei vernichtete.

Auch James A. Garfield konnte sich der eben geschilderten Bewegung nicht entziehen. Während der Jahre 1857 und 1858 nahm er lebhaften Antheil an allen politischen Fragen des Tages, sodaß sein Ansehen stieg, und im Jahre 1859 wurde er in den Senat der Gesetzgebung von Ohio gewählt. Hier zählte er bald zu den einflußreichsten Vorkämpfern für die nationale Einheit und Freiheit der Union, und als der Sturm des Secessionskrieges losbrach, griff auch er zu den Waffen. Freiwillige eilten massenhaft, sich einreihen zu lassen in die Schaaren der Kämpfer gegen die südlichen Rebellen, und in Hiram bildete sich eine Compagnie, die fast ausschließlich aus Schülern Garfield’s bestand; er selbst wurde zum Obersten eines Freiwilligen-Regiments erwählt und im December 1861 nach dem östlichen Kentucky commandirt. Wir müssen darauf verzichten, seine Soldatenlaufbahn hier genauer zu verfolgen, so ruhmreich sie auch für ihn war. Sein Sieg über den Rebellenführer Humphrey Marshall bei Piketon und Prestenburg verschaffte ihm den Rang eines Brigadier-Generals; er kämpfte mit unter Grant bei Pittsburg Landing, nahm Theil an der Belagerung von Corinth an der Grenze der Staaten Tennessee und Alabama, und war Mitglied des Kriegsgerichts, das über den General Fitz John Porter urtheilte. Im Januar 1868 wurde er vom Präsidenten Lincoln zum Stabschef der Cumberland-Armee ernannt, die unter dem Befehl des Generals Rosecranz stand, zu dessen intimsten Freunden und Rathgebern er gehörte, und in der äußerst blutigen, aber für die Unions-Armee nicht gerade glücklichen Schlacht bei Chickamauga zeichnete er sich so sehr aus, daß er zum Generalmajor befördert wurde.

Während aber Garfield sich als Soldat ruhmreiche Lorbeeren pflückte, vergaßen ihn seine Landsleute in der Heimath nicht. Derselbe Congreßdistrict, welcher so oft den edlen Freiheitsvertheidiger Joshua R. Giddings, den Freund des früheren Präsidenten John Quincy Adams, in die Bundesgesetzgebung gesandt, wählte im Sommer 1862 James A. Garfield zu seinem Vertreter im Repräsentantenhause des Congresses. Lange Zeit schwankte Garfield, ob er bis zum Ende des Krieges in der Armee bleiben oder dem

[101]

Fahrende Musikanten im Dorfwirthshaus.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von W. Großmann.

[102] ehrenvollen Rufe, als Gesetzgeber in die Bundeslegislatur einzutreten, Gehör geben sollte. Schließlich entschied er sich jedoch für das Letztere, erfüllte aber seine militärischen Pflichten bis zum December 1863, wo er seinen Sitz im Repräsentantenhause zu Washington City einnahm, den er durch die Wahl seiner Mitbürger bis auf diesen Augenblick mit Ehren behauptete. Garfield zählt eben zu den von Gott begnadeten Menschen, die, ohne sich vorzudrängen, überall, wo sie erscheinen und thätig eingreifen, sich Liebe, Achtung und Ansehen zu erwerben verstehen. So geschah es auch im Congreß. Er wurde bald in die wichtigsten Ausschüsse gewählt und vertheidigte als Redner seine Ansichten im Plenum in so sachlicher Weise und mit solcher logischen Schärfe, daß er sehr bald zu den wirksamsten Congreßrednern gehörte. Fast bei jeder Debatte von Bedeutung fand seine Meinung Gehör und achtungsvolle Berücksichtigung. Das Gesetz, welches ein nationales Erziehungsbureau in’s Leben rief, wurde von ihm in Vorschlag gebracht und durchgesetzt. Seine Reden über die in alle staatlichen und socialen Verhältnisse so tief eingreifende Finanzfrage gewannen ihm den Ruf eines der gründlichsten Kenner der finanziellen Zustände der Union. Die von ihm im Jahre 1868 gehaltene Rede über Silber- und Papiergeld fand auch ihren Weg nach Europa und trug nicht wenig dazu bei, den Nationalcredit der Vereinigten Staaten diesseits des Atlantischen Oceans zu stärken und aufrecht zu erhalten. In England wurde diese Rede so beifällig begrüßt, daß der bekannte Cobden-Club den Beschluß faßte, Garfield ihretwegen zum Ehrenmitglied zu ernennen, eine Auszeichnung, die bis dahin nur wenigen amerikanischen Congreßleuten, z. B. dem verstorbenen Bundessenator Charles Sumner, zu Theil geworden ist. In fast allen wesentlichen Fragen ist Garfield ein warmer Unterstützer der Reformpolitik des Präsidenten Rutherford B. Hayes gewesen. Als James G. Blaine, Vertreter des Staates Maine im Congresse, im Jahre 1877 in den Senat gewählt wurde, übernahm Garfield auf einstimmigen Wunsch seiner Parteigenossen die Führerschaft derselben im Repräsentantenhause, und im Januar 1880 wurde er von der Legislatur des Staates Ohio an Stelle des Demokraten Allen G. Thurman zum Mitglied des Bundessenats gewählt, in den er am 4. März 1881 eingetreten sein würde, wenn er nicht in der letzten Präsidentenwahl zum Oberhaupt der Vereinigten Staaten berufen worden wäre. Auf die Geschichte seiner Nomination zum Bannerträger der republikanischen Partei in dem vorjährigen Präsidentenwahlkampfe hier näher einzugehen, ersparen wir uns, weil wir darüber bereits in einer früheren Nummer dieses Blattes (Nr. 30 von 1880) berichteten.

Garfield verfügt über eine so außerordentliche Arbeitskraft, daß er neben seiner Thätigkeit als Gesetzgeber und Lehrer auch noch Zeit fand, seinen juristischen Studien mit Erfolg obzuliegen. Im Jahre 1861 wurde er von dem Obergerichte des Staates Ohio zur Rechtspraxis zugelassen, und fünf Jahre später erwarb er die Berechtigung, auch vor dem höchsten Gerichtshöfe der Vereinigten Staaten zu prakticiren. Er hat bei verschiedenen Gelegenheiten eine anerkennenswerthe Unabhängigkeit seiner Ueberzeugung an den Tag gelegt, und als Congreßrepräsentant und Rechtsanwalt Maßregeln, die er für recht erkannte, unterstützt, selbst wenn dieselben sich nicht der Billigung der Majorität seiner Parteigenossen erfreuten. Auch auf literarischem Gebiete hat er sich mit Glück versucht. Unter seinen Schriften verdienen besonders die Essays über den „Amerikanischen Census“, über „College-Erziehung“ und die „Zukunft der Republik“ hervorgehoben zu werden. Eine Reise, die er im Jahre 1867 nach Europa unternahm, hat nur dazu beigetragen, seinen geistigen Blick zu erweitern. Er ist wohlbewandert in der englischen, deutschen und französischen Literatur, und seine Vorliebe für das Deutschthum hat er wiederholt in Wort und That bekundet, so z. B. in der trefflichen, von einem tiefen Geschichtsstudium zeugenden Rede, die er am 17. Februar 1880 im Repräsentantenhause zu Washington City zu Ehren des verstorbenen deutsch-amerikanischen Abgeordneten Schleicher von Texas hielt.

Nicht weniger aber leuchtet seine Anerkennung deutschen Wesens und deutscher Culturarbeit auch aus den Worten hervor, die er am 18. Oktober 1880 an eine große Anzahl deutscher Bürger aus Cleveland richtete, die ihm eine Ovation darbrachten. Er sagte unter Anderem:

„Sie sind die Vertreter alter und beachtenswerther Ueberlieferungen Ihres alten Heimathslandes, und ich weiß, Ihre Herzen schlugen höher bei der Kunde eines Ereignisses, das erst vor wenigen Tagen an Ihrem schönen Rheinstrome stattgefunden hat, als der gewaltige Kölner Dom, an dem 630 Jahre lang gebaut worden, vollendet und dem Frieden geweiht wurde. Dieser Dom hat Herrschergeschlechter, alle Wandelungen auf religiösem Gebiete, jeden Wechsel in der Herrschaft und unzählige Kriege überdauert, um schließlich vom Kaiser Wilhelm dem Frieden und den ruhmreichen Erinnerungen des deutschen Volkes geweiht zu werden. Es ist für Sie unzweifelhaft eine wundervolle Sache, daran Theil zu haben aber, Mitbürger, ich vertraue, daß Sie in dieses Land gekommen sind, um auch uns an dem Aufbau eines großartigen Tempels zu helfen, nicht eines gothischen Bauwerkes, das aus dem Gestein von den Ufern des Rheines aufgeschichtet wird, sondern eines Bauwerkes, das aufgerichtet wird aus den Herzen und dem Leben, dem Streben und Hoffen Aller, die in diese Republik gekommen sind, um sie zu ihrer Heimath zu machen und hier Einrichtungen auszubauen, die nicht, ich vertraue darauf, in 600 Jahren von heute an ihr Ende erreicht haben werden, sondern in ihrer großartigen Anlage immer weiter in die Hohe streben werden, deren Grundlagen sich immer mehr vertiefen, deren Dom stets in die Höhe wachsen und für Alte offen stehen wird, die in dieses Land kommen, um Amerikaner zu sein und ihre Geschicke mit den unserigen zu verflechten. Zu allen diesen Leuten spricht der Genius Amerikas mit den Worten eines deutschen Dichters – ich meine Novalis:

,Gieb treulich mir die Hände,
Sei Bruder mir und wende
Den Blick vor deinem Ende
Nicht wieder weg von mir!
Ein Tempel, wo wir knieen.
Ein Ort, wohin wir ziehen,
Ein Glück, für das wir glühen.
Ein Himmel mir und dir!“’

Es dürfte bekannt sein, daß Garfield in den letzten Jahren außer seinen politischen und geschichtlichen Studien sich sehr viel mit nationalökonomischen Arbeiten beschäftigte, aber weniger bekannt ist es wohl, daß er sich zu Zeiten eifrig mit den alten Classikern zu thun machte. Eines Tages besuchte ihn ein Freund in seiner Wohnung zu Washington City und fand ihn unter lateinischen Büchern vergraben. Auf die Frage, was denn dies zu bedeuten habe, erwiderte Garfield: „Ich fühle mich durch die beständigen politischen Tagesfragen und Kämpfe so ermüdet und überarbeitet, daß ich eine Erholung haben mußte, und da habe ich mir aus unserer Congreßbibliothek alle Bücher zusammengesucht, die über den Horaz handeln. Ich lese die Gedichte des alten Römers, komme dadurch auf andere Gedanken und habe Erholung und geistigen Gewinn zugleich.“

Während des Präsidentenwahlkampfes wurde Garfield von den Demokraten gar häufig der Vorwurf gemacht, daß er sich in unsauberer Weise mit dem amerikanischen Credit Mobilier eingelassen habe. Dies wurde zwar von republikanischer Seite gründlich widerlegt, aber auch verschiedene Aussprüche seiner erbittertsten politischen Gegner sprechen für die Reinheit seines Charakters. So erklärte z. B. der Exgouverneur Hendricks von Indiana, einer der hervorragendsten und talentvollsten Führer der demokratischen Partei, einmal mehreren seiner Gesinnungsgenossen kurz vor dem letzten Präsidentenwahlkampfe: „Ich will Ihnen sagen, wen meiner Ansicht nach die Republikaner für das Präsidentenamt nominiren sollten und wen ich als ihren stärksten Mann betrachte. Er ist ein echter Mann, ein Mann von Grundsätzen, ein ehrlicher Mann und würde einen guten Präsidenten für uns Alle abgeben. Persönlich halte ich ihn für den besten Mann, der für das Präsidentenamt ernannt werden könnte. Ich meine James A. Garfield von Ohio.“

Aehnlich äußerte sich auch Henry Watterson aus Kentucky, bekannt als Politiker, Redner und Journalist, über Garfield, indem er sagte: „Garfield würde nicht im Stande sein, eine unehrliche Handlung zu begehen.“

Solchen Zeugnissen über Garfield’s reinen Charakter schließen sich die Aussprüche anderer bedeutender Demokraten an, z. B. des Senators Thurman, des Congreßrepräsentanten Payne (Ohio), des früheren Vicepräsidenten der südlichen Conföderation, Alexander Stephens und des Richters Black von Kentucky, des Busenfreundes Hancock’s.

In den letzten Jahren pflegte Garfield zur Zeit der Congreßsitzungen mit seiner Familie in einem ihm gehörigen Hause [103] in Washington-City zu leben, das angenehm und wohnlich, wenn auch nicht prachtvoll und splendid eingerichtet ist; denn Garfield gebietet nur über ein mäßiges Vermögen. Wenn der Congreß nicht Sitzung hatte, zog er gern auf eine kleine Farm in der Ortschaft Mentor, in Lake-County im Staate Ohio. Seine Mutter ist noch am Leben und weilt gewöhnlich bei ihrem geliebten Sohne James. Von den fünf Kindern Garfield’s besuchen die beiden ältesten Söhne, Harry und James, eine Schule in New-Hampshire, während seine Tochter Mary oder Molly, wie sie gewöhnlich genannt wird, mit ihren beiden jüngeren Brüdern Irwin und Abraham im elterlichen Hause lebt.

Was schließlich noch die äußere Erscheinung Garfield’s betrifft, so ist er sechs Fuß hoch und stark und kräftig gebaut. Auf seinen breiten Schultern thront ein mächtiger Kopf; aus seinen blauen Augen leuchtet ein milder Ernst, und seine hohe Stirn verräth Gedankenfülle und Festigkeit des Charakters. Ein Vollbart umrahmt ihm Kinn und Wangen, und sein hellbraunes Haar fängt an zu ergrauen. Das ist die äußere Erscheinung des Mannes, der nunmehr das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten übernehmen und, wenn nicht alle Anzeichen trügen, ein würdiger Nachfolger seines Landsmannes Hayes von Ohio sein wird.

Rudolf Doehn.




Blätter und Blüthen.

Die gegenwärtigen Handfertigkeits-Bestrebungen. In unserer Nr. 4 von 1880 brachten wir von Karl Biedermann einen Aufsatz „Die Erziehung zur Arbeit, eine Forderung des Lebens an die Schule“. Es wurde darin an der Hand der geschichtlichen Entwickelung nachgewiesen, daß in der Bildungsgeschichte des deutschen Volkes die Forderung, den Menschen nicht nur zum Wissen, sondern auch zum Können zu erziehen, schon seit Jahrhunderten, wenn auch mit abwechselndem Erfolge, hervortrete, sowie daß solche neuerdings sich wieder Geltung zu verschaffen suche. Der Aufsatz schloß mit dem Wunsche, daß die mit dem Thema „Erziehung zur Arbeit“ jetzt von Neuem auf die Tagesordnung gesetzte Frage hoffentlich nicht wieder von ihr verschwinden werde, ohne greifbare und bleibende Resultate hinterlassen zu haben. Diese Hoffnung scheint in der That ihrer Erfüllung entgegenzugehen. Eine Anzahl rühriger und zielbewußter Männer hat, ohne bislang unter einander in Verbindung zu stehen, diese Sache an verschiedenen Orten Deutschlands bereits derart weiter gefördert, daß man ihr schon heute den Charakter einer beginnenden Bewegung beilegen darf. In dem Nachstehenden geben wir im Anschluß an unsere früheren Artikel einen Gesammtüberblick über die jüngste Entwickelung dieser wichtigen Angelegenheit.

Im Herbst vorigen Jahres hielt der bekannte dänische Rittmeister von Clauson-Kaas einen Lehrerunterrichtscursus in Emden, an welchem mehr als sechszig Personen Theil nahmen, die meist von Schulbehörden, Communen oder Vereinen abgesandt waren. Fast alle deutschen Gaue von Königsberg in Preußen bis Zabern im Elsaß waren hier vertreten. Die in dem Cursus Ausgebildeten wirken gegenwärtig als eifrige Pioniere in ihren Heimathsgauen, und wir werden demnächst in der Lage sein, diejenigen Orte zusammenzustellen, in welchen, vornehmlich in Folge der von Emden ausgegangenen Anregung, weitere Arbeitsschulen errichtet worden sind: heute seien nur erwähnt: Königsberg in Preußen, Eisenach, Meißen, Rochlitz, Dresden, Zittau, Chemnitz, Plauen, Emden, Osnabrück, Waldenburg in Schlesien, Dörnhau, Görlitz, Liegnitz, Augsburg, Würzburg und Zabern.

In Leipzig war es die „Gemeinnützige Gesellschaft“, welche sich des Gedankens der Arbeitsschule annahm: sie beauftragte zunächst eines ihrer Mitglieder mit der Abfassung einer Denkschrift, welche den Werth und die Ziele einer praktischen Beschäftigung der Jugend darlegen sollte; darauf errichtete man eine Arbeitsschule und sucht nun durch Vorträge an anderen Orten das Interesse für diesen Gegenstand weiter wachzurufen.

In Schlesien ist der Stadtrath von Schenckendorff zu Görlitz für die Entwickelung dieser Volkswohlfahrtsfrage zunächst eingetreten, indem er die Vorstände der Görlitzer Corporationen, Behörden und Vereine dafür gewann, mit ihm gemeinsam der preußischen Unterrichtsverwaltung eine Denkschrift zu überreichen, in welcher einerseits der Werth und die Bedeutung des Handfertigkeitsunterrichts dargelegt war und andererseits das Ministerium gebeten wurde, durch Entsendung von Commissarien nach Dänemark und Schweden eine eingehende Prüfung der in den skandinavischen Ländern schon mehr entwickelten Handfertigkeitsanstalten bewirken zu lassen; sollte diese Prüfung zu einem guten Resultate führen, so möchte, wie die Denkschrift weiter ausführt, auch der Staat eine fördernde Stellung zu dieser Sache einnehmen. Der Grundgedanke der Denkschrift ging dahin, daß Volk und Staat gemeinsam an die Lösung dieser ebenso wichtigen wie schwierigen Frage herantreten sollten. Die Stellungnahme des Ministeriums, welches schon früher die Berliner Arbeitsschule unterstützt hatte und in neuester Zeit der Waldenburger Arbeitsschule den namhaften einmaligen Betrag von 2000 Mark zuwendete, zu dem gedachten Antrage war eine durchaus wohlwollende, und in der That sandte dasselbe zu Anfang November vorigen Jahres eine aus acht Mitgliedern bestehende Commission nach Dänemark und Schweden ab. Aus der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 15. December vorigen Jahres ist bekannt, in welcher Weise sich das der Stellung nach älteste Mitglied der Commission, der geheime Regierungsrath Schneider, über das Resultat dieser Besichtigung geäußert hat. Schneider sagte, daß er auf dieser Reise gesehen habe, wie die Sache im großen Stile möglich und ausführbar sei; er glaube, daß, wenn sie richtig betrieben würde, die allgemeine (formale) Bildung gewiß gefördert werden könne, und gestände zu, daß diese Sache Seiten habe, mit welchen man sich durchaus befreunden müsse. Er neige daher, wiewohl er sich nicht gerade für eine obligatorische Einführung des Handfertigkeits-Unterrichts aussprechen könne, doch zu der Annahme, daß es wünschenswerth erscheine, allen freiwillig von Privaten oder Gemeinden gemachten Versuchen Seitens der Unterrichtsverwaltung nicht nur eine entschieden wohlwollende Beachtung, sondern auch eine thatsächliche Förderung entgegenzubringen.

Diese Aeußerungen sind hochbeachtenswerth und stimmen im Großen und Ganzen, soweit uns bekannt, auch mit den Ansichten der übrigen Commissionsmitglieder überein. Gewiß denkt aber Niemand in Deutschland daran, den Handfertigkeits-Unterricht schon jetzt als einen obligatorischen Lehrgegenstand in den Schulen einzuführen; es hieße das sicherlich nichts anderes, als mit dem voraussichtlichen Ende beginnen wollen. Soll die Sache gedeihen, so müssen auf dem Wege der freien Entwickelung zunächst die weitesten Kreise des Volkes dafür interessirt werden: hat sie dann in den allgemein verbreiteten Arbeitsschulen Boden gefaßt und hier den Beweis erbracht, daß durch die Anleitung zu Handfertigkeiten die Volkswohlfahrt in der That wesentlich gefördert wird, so kann dann die endgültige Lösung der Frage kaum irgend welchen Schwierigkeiten mehr begegnen.

Schenckendorff legte ferner der königlichen Regierung zu Oppeln in einem Promemoria den Werth dar, welchen die Arbeitsschulen für die sittliche Erziehung der Bevölkerung in den oberschlesischen Nothstandsdistricten haben dürften. Die Oppelner Regierung, welche diese Anregung durchaus sympathisch aufnahm, hat in Folge dessen zu Kobier eine Arbeitsschule in’s Leben gerufen. Hoffentlich geht die genannte Regierung, welcher jetzt so namhafte Staatsmittel für die Schulen in Oberschlesien zur Verfügung gestellt sind, energisch weiter nach dieser Richtung vor.

In Baiern hat sich der „Volkserziehungs-Verein zu München“ dieser Angelegenheit, und zwar auf breitester Grundlage angenommen; Lorenz Illing sagt darüber: „Der Volkserziehungs-Verein zu München will, vor der Hand auf dem Wege der Privatthätigkeit, mehrere Schulwerkstätten in verschiedenen Stadttheilen errichten, sodann einen Bildungscursus für Arbeitslehrer, wenn möglich eine Bildungsanstalt für männlichen Arbeitsunterricht in’s Leben rufen und die auf diesem Gebiete speciell gesammelten Erfahrungen bei der anzustrebenden Durchführung und Einführung von Schülerwerkstätten den Behörden etc. zur Verfügung stellen. Dabei rechnet er auf die Mitwirkung des Gewerbe- und Lehrerstandes, der Behörden und der Staatsregierung und des Comités zur Hebung des baierischen Gewerbes in Stadt und Land, weil es sich nicht blos um thatsächliche Verbesserung der Volksschule, die Bildung, Erziehung und den Unterricht des Volkes, sondern auch um Förderung der Industrie und des Gewerbes in seinen elementarsten Erscheinungen handelt.“[2]

So möge denn diese beginnende Bewegung sich mehr und mehr über unser Vaterland ausbreiten und in den weitesten Schichten des Volkes Wurzel fassen. Große Aufgaben stellt unsere Zeit; sollen wir ihnen ganz und dauernd genügen, so muß vor Allem die Erziehung hierin mitwirken; sie muß nicht nur, wie jetzt, das Gemüth und den Verstand bilden, sondern auch die praktische Veranlagung des Menschen in ihr Bereich ziehen. Ein frischer Hauch wird dann den jugendlichen Geist beleben, und gesunder an Leib und Seele wird der Mensch dem Leben zugeführt werden, aber auch ein erweitertes Lebensglück des Einzelnen, eine erhöhte Leistungsfähigkeit der Nation und eine segensreiche Gewöhnung des Menschen von Jugend auf an die Arbeit werden die weiteren schönen Früchte einer solchen Erziehuug sein. Aus vollem Herzen rufen wir daher hinaus in unser Vaterland: Volksfreunde aller Orten, rafft Euch auf zur Erreichung dieses schönen Zieles!




Frau Scholastica. Dieser Name hatte von jeher in der deutschen Touristenwelt einen guten Klang, weshalb auch der Tod der trefflichen Frau, welche ihn trug, die allgemeine Theilnahme erregt. Die bekannte Wirthin am schönen Achensee war das Muster einer Wirthin vom alten Schlage, freundlich und aufmerksam, gediegen in ihren Leistungen und billig in ihren Rechnungen. Obgleich sie keine Freundin des modernen Luxus war, ließ sie es ihren Gästen keineswegs an behaglichem Comfort fehlen. In ihrem Hause herrschte eine bewunderungswürdige Ordnung und Reinlichkeit, vor Allem aber eine wohlthuende Gemüthlichkeit und Herzlichkeit. Stets war sie gleich freundlich gegen Alle, und sie machte keinen Unterschied zwischen dem vornehmen Aristokraten und dem schlichten Touristen, zwischen dem reichen Gründer und dem in seinen Mitteln beschränkten Fußwanderer. Die Verpflegung, welche sie allen zu Theil werden ließ, zeichnete sich weniger durch die Menge der Gerichte und die Feinheit der Wahl, als [104] durch geschmackvolle Zubereitung und den Ueberfluß aus. Statt unverschämter oder zudringlicher Kellner fand man hier eine bescheidene weibliche Bedienung, an deren Spitze die gute Bernarda, eine Verwandte der Scholastica, und die stille, blonde Agnes stand. Nie bemerkte man an ihrem Tisch jene schäbige Knauserei moderner Hotelwirthe, jene mikroskopischen Schnitzel, papierdünnen Fleischschnitte und zerkleinerten Mehlspeisen, von den mißgünstigen Augen der Kellner bewacht; nie wurde die herumgereichte Schüssel dem hungrigen Gaste mit affenmäßiger Geschwindigkeit entzogen, sondern zwei- und dreimal angeboten. Je besser es den Leuten schmeckte, desto heller strahlte das Gesicht der guten Wirthin.

Sie selbst stammte aus einer angesehenen Familie in Achenkirchen; ihr Vater war der geachtete Arzt Joseph Hechmayr und ihre Mutter – Frau Benedicta – eine Schwester des bekannten Anton Aschbacher, der mit dem berühmten Speckbacher sich zur Vertheidigung Tirols erhob und sich im Kampf gegen die Franzosen auszeichnete. Von ihrer gleichnamigen Tante erbte Scholastica das Gasthaus am Achensee, das sie bis zum Jahre 1863 allein verwaltete. Nach ihrer Verheirathung mit dem wackeren Johann Meßner wuchs der Fremdenzufluß so überraschend an, daß die alten Räume nicht mehr ausreichten. In kurzer Zeit erhob sich um das alte, bescheidene Gasthaus eine förmliche Colonie von neuen Häusern im geschmackvollen Schweizerstil; es wuchs zu einem ganzen Dörfchen mit einer eigenen Kirche an, welche das glückliche Ehepaar auf seine Kosten erbauen ließ.

Im Laufe der Jahre verbreitete sich der Ruf der Scholastica immer weiter; aus ganz Deutschland strömten Touristen und Sommergäste herbei, von der Schönheit des Sees, der herrlichen Gegend und der ausgezeichneten Bewirthung angezogen. In dem dreibändigen Album des Hauses findet man die ersten und besten Namen der Welt eingezeichnet, so am 17. Juli 1859 den verstorbenen König Max von Baiern mit seinem geistigen Hofstaate, Dr. von Kobell, Friedrich von Bodenstedt, und Riehl; unter anderen Notabilitäten, welche das Album aufweist, mögen hier genannt werden: Herzog Ernst von Coburg-Gotha, Prinz Friedrich Karl von Preußen und Fürst Eduard von Leiningen. Von Schriftstellern und Dichtern trifft man Namen an, wie: Paul Heyse, Adolf Pichler, Widmann etc., von Gelehrten dem berühmten Chemiker Liebig mit seinem Schwiegersohne Moritz Carriere, von Schauspielern La Roche und der genialen Sophie Schröder mit ihren beiden Töchtern, von Künstlern den Malern Hasemann, Wilhelm Scholz, Krauskopf, Rosenthal und Paul Meyerheim, welche das Album mit sinnigen oder humoristischen Zeichnungen und Aquarellen schmückten.

Auf allen Seiten aber findet man das Lob der guten Scholastica in Poesie und Prosa in den verschiedensten Sprachen, deutsch, französisch und englisch, selbst im Sanskrit und Arabischen verkündigt. So singt der bekannte poetische Tourist Heinrich Noë aus München:

„Es nährt und pflegt dich auf’s allerbest’
Scholastica, der Wirthinnen Krone,
Am Guten, was sich nur ersinnen läßt,
Das werde der Guten zum Lohne!“

Ein anderer Dichter läßt sich folgendermaßen vernehmen:

„Der Kneipen giebt es viel auf ,Au’,
So Murnau, Buchau, Pertisau.
Doch lieber ist mir die auf ,A’,
Des Achensee’s Scholastica.“

In lateinischen Strophen feiert ein fahrender Schüler nach Scheffel’s Weise den Achensee und dessen Wirthin:

Laus tibi lacus,
Laus tibi locus,
Laus tibi tabernaculum,
Laus tibi plenum poculum.
Vivat jocosa Scholastica! et caet
.“

In freier Uebersetzung:

„Gepriesen sei der See,
Gepriesen sei der Strand,
Wo ich ein gastlich Haus
Und volle Becher fand!
Hoch lebe Frau Scholastica! etc.“

Unter der großen Menge von Lobgedichten ist mir nur eine tadelnde Stimme aufgefallen, die sich jedoch mit Unrecht über die häufige Wiederkehr des „Kälbernen“ an der Wirthstafel gleich in drei verschiedenen Sprachen beschwert:

Deutsch.

„Für Kälbernes heiß,
Für Kälbernes kalt,
Für Kälbernes jung,
Für Kälbernes alt.
Für Kälbernes zart,
Oder zum Beißen schwer,
Hab’ Dank, Scholastica!
Ich mag keines – mehr.“

Englisch.

For veal hot,
For veal cold,
For veal young,
For veal old,
For veal tender,
For veal tough,
Thanks, thanks, Scholastica!
We had – enough
.“

Französisch.

Pour du veau chaud,
Pour du veau froid,
Pour du veau vieux,
Dur comme bois,
Pour du veau tendre,
Ou à moitié crû,
Merci, Scholastica!
Je n’en veux – plus
.“

Max Ring.





Fahrende Musikanten im Dorfwirthshaus. (Mit Abbildung S. 101.) Von allem fahrenden Volke, das einst in großer Zahl bunten Wechsel in das öffentliche Leben brachte, sind die Jünger der Tonkunst die ersten gewesen, welche eine bevorzugte Stellung einnahmen, und sie scheinen auch am längsten sich der allgemeinen Gunst zu erfreuen. „Fahrende Sänger“ waren jene ersten Tonkünstler, die ihre Gesänge von Burg zu Burg, von Schloß zu Schloß trugen, und die Harfe war ihre stete Begleiterin. Ihnen gesellten sich, in Folge der Völkerwanderung, von Welschland her allerlei „fahrende Leute“ zu, u. A. römische Fechter und Tänzerinnen. Jeder neue Krieg förderte neue Schaaren Heimathloser mit den verschiedenartigsten Erwerbsweisen an’s Tageslicht, sodaß namentlich zur Zeit des blühendsten Wohlstandes der Deutschen, von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg, außer den fahrenden Sängern und Spielleuten, Possenreißer aller Art, Quacksalber, Taschenspieler, Raritätenkrämer, Schauspieler und nach den Kreuzzügen auch fahrende Priester und Flagellanten, aber auch fahrende Nonnen und Schüler von Ort zu Ort wanderten. Nach jedem Krieg gab es auch wieder arbeitslose Landsknechte. Endlich vermehrten die Zigeuner diese fahrenden Horden, bis nach dem Dreißigjährigen Krieg abermals Welschland uns das schlimmste Gesindel, Schatzgräber, Geisterbanner, Goldmacher und Wunderdoktoren, in’s Land brachte, deren Nachtrab, die Kameel-, Affen- und Bärenführer, noch die harmloseste Zugabe war. Wer sie alle recht genau kennen lernen will, muß Holtei’s „Vagabonden“ lesen.

Die neuere Zeit hat stark mit ihnen aufgeräumt; es ist fast nichts übrig geblieben, als was zum nothwendigen Ausputz unserer Messen, Jahrmärkte, Vogelschießen und dergleichen Volksfeste gehört: die wandernden Kunstreiter, Seiltänzer, Taschenspieler, Menagerien, Affentheater etc., die Tonkunst aber vertreten, unerschrocken der strengen Polizei gegenüber, noch immer Harfenmädchen und Musikanten.

Von letzteren stellt unsere Illustration uns ein Quartett im Dorfwirthshause vor. Glücklicher hätte der Künstler die geheimnißvolle Macht der Musik nicht zur Anschauung bringen können; es ist vom Orpheus bis zum Rattenfänger von Hameln und bis zur Gegenwart dieselbe Zaubergewalt, welche durch die Töne die Gemüther der Unschuldigen fesselt. Wie glücklich ist die Kinderschaar, welche den Musikanten von der Straße herein nachstürmte! Wie drängen die Hintersten noch herein, und wie lauschen sie und gucken scheu und neugierig die fremden Männer und ihre Instrumente an! Aber die Kinder sind es nicht allein, auch die Aelteren freuen sich; und wenn erst die tanzfähige Jugend herbeikommt, dann können wir’s erleben, daß die Kinder in die Winkel geschoben werden und die Lustbarkeit in alle Beine fährt. Das ist das uralte Privilegium, das dem Musikanten unveräußerlich bleibt: Volkslust ist ohne Musik nicht denkbar, und wo der heimische Musikant fehlt, wird der fahrende immer ein willkommener Gast sein.



Zum hundertjährigen Geburtstage Friedrich Fröbel’s. Am 21. April soll in Blankenburg in Thüringen, da, wo er seiner Zeit den ersten Kindergarten gegründet hat, dem verdienstvollen Pädagogen ein Denkmal errichtet werden. Mit der Schöpfung der Kindergarten hat Fröbel nicht allein Principien einer naturgemäßen Erziehungsweise für die erste Kindheit aufgestellt und demgemäß das System Pestalozzi’s ergänzt, sondern er hat auch damit die Frau auf ihren wahren Berufskreis hingewiesen und ihre Thätigkeit zu einem Factor im öffentlichen Leben gemacht. Alle diejenigen, die sich für diese Bestrebungen interessiren, haben Gelegenheit, sich an dem Werke der Liebe, das man Fröbel darbringen will, zu betheiligen. Beiträge zur Errichtung des Denkmals nehmen Herr Rentamtmann Kiesewetter in Blankenburg (Thüringen) und das Vorstandsmitglied des allgemeinen deutschen Fröbel-Vereins, Fräulein Angelika Hartmann, Seminarvorsteherin, Leipzig, Thalstraße 29, entgegen.





Vermißte! Wir theilen, außer der Reihenfolge unserer Verschollenenliste, die demnächst fortgesetzt werden wird, als besonders dringlich die nachstehenden Aufrufe mit:

Richard Gustav Vincenz aus Dresden, ein Klempnergeselle, der vor zwei Jahren auf die Wanderschaft ging und in Warnsdorf in Böhmen Ende November und Anfang December des vorigen Jahres sich seine wunden Füße heilen ließ, hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Jetzt, wo sein Vater lebensgefährlich erkrankt ist, bittet seine Familie den Sohn, heimzukehren oder Nachricht von sich zu geben.

Wilhelm Holz, ein Zimmermann und tüchtiger Arbeiter, ging von Greifswald 1870 nach Hamburg in Arbeit; als dort der Strike ausbrach, schiffte er sich nach Australien ein, schrieb schon um Weihnachten aus Queensland den Seinen und bat um sofortige Antwort, weil er beabsichtige weiter zu reisen. Die Antwort muß ihn nicht mehr erreicht haben; denn seitdem, seit nun zehn Jahren, hat er kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Sein Vater ist vor zwei Jahren, voll quälender Sehnsucht nach dem Sohn, gestorben; die alte Mutter aber hat ihre letzte Hoffnung auf die „Gartenlaube“ gesetzt, – möchte ein Trost für sie möglich sein!

Ein „tiefbetrübter Vater“ bittet um Aufsuchung seines einzigen Sohnes: Friedrich Christian Lages, der als Comptoirist am 3. April 1878 aus Wolfenbüttel, seiner Vaterstadt, nach Hamburg reiste, dort einige Tage in einem Gasthofe wohnte und seitdem spurlos verschwunden ist. Er würde jetzt vierundzwanzig Jahre alt sein; untersetzter Statur, mittelgroß, mit dunkelblondem Haar, hat er die Eigenheit, beim Gehen die Füße auffällig hoch zu heben. – Alle Nachforschungen durch die Behörden waren vergeblich; die Ungewißheit über das Schicksal des jungen Mannes lastet schwer auf der Familie.

Von Dresden ist seit dem 3. November 1879 der Handlungs-Commis Oscar Albert Ullrich, damals zwanzig Jahre alt, spurlos verschwunden. Schwächlicher Statur, aber gesunder Gesichtsfarbe, mit dunkelbraunem Haare und blau-grauen Augen, trug er über seinem dunklen Anzuge einen hellbraunen Herbst-Ueberzieher und einen braunen Lodenhut.




Kleiner Briefkasten.


Eine einfache Bauerfrau. Ben Joseph Akiba war ein gelehrter Rabbi, Vorsteher der jüdischen Akademie zu Jabne. Er wurde, 120 Jahre alt, von den Römern getödtet. Zu seinem Grabmale bei Tiberias pilgerten die Juden.


  1. Der Baikal liegt in Meereshöhe von 408 Meter; seine Längenausdehnung beträgt 623,3 Kilometer, seine Breite zwiswchen 15 bis 82 Kilometer; seinen Umfang schätzt man auf 1974 Kilometer; der Flächeninhalt mißt 32,223 Quadratkilometer.
  2. Lorenz Illing, „Wesen und Werth der Schulwerkstätten, ein Beitrag zur Hebung des baierischen Gewerbes“ (Franz, München 1880. 34 S.). Außerdem erwähnen wir noch folgende Fachschriften: Th. Raydt, „Arbeitsschulen und Hausfleißvereine“ (v. d. Velde-Veldmann, Lingen an der Ems 1880. 22 S.). Dr. phil. Woldemar Götze, „Die Ergänzung des Schulunterrichts durch praktische Beschäftignng“ (Heinrich Mattheis, Leipzig 1880. 34 S.). Emil von Schenckendorff, „Der praktische Unterricht, eine Forderung der Zeit an die Schule, sein erziehlicher, volkswirthschaftlicher und socialer Werth“ (Ferdinand Hirt, Breslau 1880. 84 S.).