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Die Gartenlaube (1881)/Heft 53

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[873]

No. 53.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



An unsere Leser.

Wie wir schon an der Spitze unserer vorigen Nummer mittheilten, lassen wir, um die Nummern-Bezeichnung unserer Zeitschrift in genauen Einklang mit der Wochenzahl des Jahres zu bringen, statt der üblichen 13, in diesem Quartal ausnahmsweise 14 Nummern erscheinen, und ist daher die gegenwärtige als eine Extra- und Gratis-Nummer zu betrachten. – Nr. 1 des neuen Jahrganges wird am 5. Januar 1882 ausgegeben werden.




Mit dieser Nummer schließt der neunundzwanzigste Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten ihre Bestellungen auf das erste Quartal 1882 schleunigst aufgeben zu wollen und bringen denselben zugleich zur Kenntniß, daß wir den neuen Jahrgang mit der fesselnden Erzählung:

„Der heimliche Gast“ von Robert Byr

eröffnen werden. Derselben wird sich eine Reihe von novellistischen Beiträgen aus der Geisteswerkstatt unserer bedeutendsten Autoren anschließen, und zwar in erster Linie:

„Recht und Liebe“ von Levin Schücking,0 „Bob Zellina“ von Karl Theodor Schultz,

sowie die hervorragenden kleineren Erzähstulgen „Zwischen Vater und Sohn“ von C. del Negro, „Erkannt“ von A. Burchard u. a. m.

Auch auf den übrigen Gebieten der Unterhaltung und Belehrung werden wir im neuen Jahrgange unsere alten Ziele treu im Auge behalten und stets bestrebt sein, den Lesern in geschmackvoller Form einen gediegenen Inhalt zu bieten, vor Allem aber für den deutschen Vaterlandsgedanken und die Kräftigung gesunder Freiheitsbestrebungen, sowie für die gemeinnützige Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und die vernunftgemäße Pflege des öffentlichen Wohlfahrtssinnes energisch eintreten. Auch werden wir dem illustrativen Theil unseres Blattes, wie immer, unsere besondere Sorgfalt widmen.

Unter der Zahl demnächst erscheinender, besonders interessanter Artikel heben wir hier nur hervor: „Mohammed und sein Werk“ von Johannes Scherr, „Zum hundertjährigen Geburtstage Friedrich Fröbel’s“ von Wichard Lange, „Das Neue Wien“ von Balduin Groller, „Die Herrschaft des französischen Geistes“ von Rudolf Elcho und „Die moderne höhere Bildungskrankheit“ von einem bewährten Schulmanne. Zur Länder- und Völkerkunde liegen uns in den „Bildern aus dem Stillen Ocean“ von O. Finsch sowie in zahlreichen zeichnerischen und schriftstellerischen Erzeugnissen Rudolf Cronau’s eine Reihe fesselnder Beiträge vor, und werden namentlich die Berichte unseres letzterwähnten Specialartisten, je mehr er in bisher wenig bekannte Regionen der Neuen Welt vordringt, in Wort und Bild des Eigenartigen und Interessanten eine große Fülle bieten, sodaß die Rubrik „Um die Erde“ von jetzt ab eine der beachtenswerthesten unseres Blattes bilden wird.

Redaction und Verlagshandlung der „Gartenlaube“. 


Meister Jeremias.
Eine Sylvestergeschichte.
Von Josef Schrattenholz.

Der Schneidermeister Jeremias Lump saß am Sylvesterabend in seiner engen Dachstube auf dem gelb gestrichenen, tannenen Werktisch und bemühte sich eifrig, beim trüben Scheine der alten, mit einem zerbrochenen Cylinder geschmückten Petroleumlampe das letzte Knopfloch eines dicken, braunen Winterüberziehers einzufassen. Es war noch ziemlich früh; in der Schneiderwohnung aber würde es, wenn die Lampe nicht gebrannt hätte, stockfinstere Nacht gewesen sein. Das machten die hohen Giebel der engen Gasse, auf welche die kleine Lebensbühne des Meisters Jeremias hinausschaute. Er hatte sie oft verwünscht, diese blauschindeligen Dächer, diese qualmenden, rußbedeckten Schornsteine, die ihm das liebe, goldene Sonnenlicht so unerbittlich einkerkerten und nur zuweilen einen dünnen, flüchtigen Strahl auf seinen Werktisch springen ließen. Ja, er hatte diese dunkelnden Dächer oft verwünscht, zumal im Winter, wo er durch den großartigen Petroleumconsum zu einer Mehrausgabe gezwungen wurde, die seinem Verdienst eine empfindliche Wunde schlug. Manchmal aber hatte er sich auch über sie gefreut: wenn er im Frühling oder Sommer durch das enge, von den Händen seiner Tochter Lieschen mit duftenden Geranium- und Epheugardinen behangene Fenster auf die alten Dächer schaute, wie

[874] wohl that ihm dann das milde, durch das saftige Grün der Blätter gedämpfte Licht, wie wohl der Anblick der Spatzen und Tauben, die sich auf dem glänzenden Spielplatz herumtrieben und von den wurmstichigen Gesimsen die ausgestreuten Brodkrumen wegnaschten! Und erst des Nachts, wenn der Mond die blanken Schindeln in eine flüssige, bläulichweiße Metallmasse zu verwandeln schien – wie gern blickte er dann durch das kleine enge Fenster hinaus und sah Hitzepitz, seinen getreuen Kater, lustige schwindlige Promenaden ausführen.

Jeremias Lump hatte sich in allen Fährlichkeiten des Lebens eine gewisse humoristische Ader zu wahren gewußt. In den letzten Tagen aber schien ihn dieselbe zur großen Betrübniß Lieschen's gänzlich verlasse zu habe. Der Rock, den er da vor sich hatte, gehörte dem Küster von St. Agatha, der morgen, am heiligen Neujahrstage, in diesem neuen Kleidungsstück Gott seine würdige Persönlichkeit beim Hochamte als wohlgefälliges Brandopfer entgegenbringen wollte. Der Rock mußte also heute noch abgeliefert werden. Schon zweimal vierundzwanzig Stunden hatte der alte Meister seine runzligen, kunstfertigen Finger ununterbrochen über den braunen Tüffel gleiten lasse. Eine Nähmaschine besaß er nicht, und würde er auch, selbst wenn er sie besessen, nicht angewendet haben – „aus Princip nicht!“ wie er zu sage pflegte. Jeremias war ein geschworener Feind der Nähmaschine. Er hielt es mit der alten, soliden Handarbeit, und damit hielt es der Küster ebenfalls – darum hatte der ihm auch den neuen Winterüberzieher in Auftrag gegeben.

Zu jeder anderen Kalenderzeit würde Jeremias durch seine gelungene Kunstleistung entschieden beglückt gewesen sein. Aber heute! – Die letzten zwei Thaler, die er von den Ersparnissen des verstrichenen Sommers erübrigt, waren vor ein paar Tagen heimlich dazu verwendet worden, Lieschen, die mit dem Neujahrstage auch ihren Geburtstag feierte, Stoff zu einem neuen Sonntagskleide zu kaufen. Er mußte ihm doch etwas zum Geburtstage schenken, dem guten, treuen Kinde, und das Kleid hatte es schon lange nöthig, so nöthig wie Brod. Die große Flasche Punschsyrup, die er seit der Verheirathung mit seiner lieben Frau - sie lag nun schon sieben Jahr auf dem Kirchhof die Selige! – in Gesellschaft seines geliebten Töchterleins und einiger guten Freunde am Sylvesterabend regelmäßig leerte, stad diesmal noch im Schaufenster des gegenüberwohnenden Colonialwaarenhändlers, der Gänsebraten, den Lieschen so schmackhaft mit Kastanien und Aepfelschnitzeln zu schmoren wußte – das hatte sie von ihrer Mutter gelernt! – lag noch beim Geflügelverkäufer, und er, Jeremias Lump, der ehrbare Schneidermeister, der sich ordnungsmäßig vom Lehrling zum Gesellen, vom Gesellen zum Meister emporgeschwungen, der seine vorgeschriebenen drei Jahre in ehrlicher Arbeit auf der Wanderschaft zugebracht und noch nie eine Naht genäht hatte, die von selbst wieder aufgegangen, er hatte nur noch sieben und einen halben Silbergroschen – nach Mark und Pfennigen rechnete er nie – baares Geld in der oberen Kommodenschublade liegen. Der Küster bezahlte sehr unpünktlich; auf den Arbeitslohn für den Ueberzieher konnte er also nicht rechnen.

Jeremias warf über die runden Gläser seiner uralten, aus der Spitze seiner knochigen Nase hockenden Hornbrille einen verstohlenen, flüchtigen Blick auf seine blonde Tochter. Die saß am unteren Ende des Werktisches auf einem rohen Holzstuhl und stickte an einem Teppich für das Tapisseriegeschäft, für das sie, seit sie aus der Elementarschule entlassen war, beständig arbeitete. Einen Augenblick stieg in Lump der gottlose Gedanke auf, sein Kind zu fragen, wie viel es für die Arbeit erhalte und wann es den Lohn verlangen könne, aber entrüstet über sich selbst, drängte er diese Idee sofort wieder zurück. Wußte er doch, daß das Mädchen mit jedem Stich, den es da machte, auch ein lange ersehntes Glück zusammennähte; hatte er doch selbst ihm ein- für allemal gesagt, daß jeder Groschen, den es durch eigene Arbeit verdiene, zu seiner Aussteuer benutzt werden sollte. Er selber hatte ja nichts außer dem Wenigen, was er mit Nähnadel, Scheere und Bügeleisen erwarb, und Fritz, der Steinhauergeselle, Lieschen's Bräutigam, hatte auch nichts. Mit schmerzlich verzogenem Munde kraute Meister Jeremias sich mit der mageren Linken hinten in dem grauen Haarbüschel, der wie ein altes verwittertes Strohdach über seine schäbige Cravatte herunterhing, und wischte sich mit dem wachs- und staubgeschwärzten Zeigefinger der Rechten unter seiner Hornbrille über die Augendeckel. Er wußte nicht, wie es eigentlich kam, aber der Gedanke an den Punschsyrup, den Gänsebraten und Lieschen's Stickerei machte ihn so confus, daß er den Ueberzieher wie in einen wogenden Nebel gehüllt erblickte. Gewaltsam raffte er sich empor und nähte das Knopfloch fertig. Dann schritt er zum feurig leuchtenden Ofen, nahm den glühenden Bolzen heraus, schob diesen mit der verbogenen Feuerzange in das Bügeleisen, bügelte die Knopflöcher, nachdem er sie mit einem Mund von Wasser etwas angefeuchtet, glatt, hing den Rock, mit dem Futter nach außen, an das Kleiderreck und legte sich, so lang er war – er war aber nicht sehr lang, der Alte – mitten unter die Tuchabfälle und Flicklappen auf den Werktisch.

„Weck’ mich um sieben Uhr, Lieschen!“ sagte er.

„Soll ich Dir ein Kopfkissen holen, Vater?“

„Nein.“

Jeremias krümmte die dünnen Beine zusammen, legte den Kopf, gegen die Tischplatte geneigt, auf die beide Vorderarme, sodaß Lieschen sein Gesicht nicht sehen konnte, und weinte.

Das kam von den schlechten Geschäftsverhältnissen, von der fabrikmäßigen Nähmaschinenarbeit, die einem ehrlichen, soliden Handwerksmann den letzten Bissen Brod fortschnappt! Hatte er jemals in einem Winter so wenig Arbeit gehabt, jemals in seinem Leben in einem ganzen lieben langen Jahre so wenig erübrigt? Flickarbeit, ja die kam vollauf, aber ein neuer Anzug oder ein neuer Ueberzieher, Sachen, an denen noch etwas zu verdienen war, die konnte er zählen. Hätte er mehr zu thun gehabt, er würde etwas Anderes gethan haben, als dem frommen Wühlhuber seinen Paletot zu machen. Er hatte auf den Küster nie besonders viel gehalten. Seit vorigem Herbst aber, wo er im „Goldenen Lümmel“ mit ihm so hart an einander gerathen, war seine Abneigung gegen ihn noch gewachsen. Jeremias hatte an dem betreffenden Abende eines seiner politischen Lieblingsthemata: die ungerechte Vertheilung der Glücksgüter, erörtert, worauf der dicke Küster, ein salbungsvolles Gesicht schneidend, mit einer Lieblingsphrase des städtischen Wochenblättchens bemerkte: Jeremias sei „socialdemokratisch angehaucht“ und werde wohl auch einmal, wie Bebel und Liebknecht, mit dem Zuchtpolizeigefängniß Bekanntschaft machen. Jeremias war darauf in eine entrüstete Philippica ausgebrochen. Er hatte betheuert, daß das Zuchtpolizeigefängniß in unserer Zeit für einen ehrlichen Kerl gar keine Schrecken mehr besitze, hatte es für eine Ehre erklärt, „socialdemokratisch angehaucht“ zu sein, und sich dann über Berechtigung und Ziele der deutschen Socialdemokratie in einer so beredten, bierbegeisterten Weise ausgesprochen, daß die Mäuler der friedliebenden Stammgäste sich immer weiter öffneten, der Küster, ohne sein Glas zu leeren, mit einer bezeichnenden, auf Jeremias gemünzten Handbewegung nach der Stirn heimwärts eilte und der Henkel des Bierseidels, womit Jeremias seine Rede-Absätze laut aufklopfend interpunktirte, schließlich bei einem gar zu pathetisch auf den Tisch gestoßenen Ausrufungszeichen zerbrochen in seiner Hand stecken blieb.

Unrecht hatte der fromme Wühlhuber mit seiner Bemerkung nicht. Er hatte Recht. Jeremias aber hatte auch Recht. Jeremias, der im Jahre Achtundvierzig, eine alte Vogelflinte von seinem seligen Vater in der Hand, auf einer leibhaftigen Barricade gestanden, der Lassalle vor Gericht gesehen und den herrlichen Professor Gottfried Kinkel in einer Volksversammlung sprechen gehört – Jeremias war jetzt der Socialdemokratie mit Leib und Seele ergeben, und wenn er keinem socialdemokratischen Vereine angehörte oder den „Vorwärts“ nicht hielt, so lag das lediglich daran, daß ein solcher Verein in Schwatzhausen nicht existirte und er für das genannte Partei-Organ das Abonnementsgeld nicht erschwingen konnte. Dafür hingen aber über seiner Kommode um den zerbrochenen Rasirspiegel in säuberliche Lithographie – er hatte sie vom Schulmeister Muger gegen ein paar Flickarbeiten in Zahlung genommen – die Portraits von Kinkel, Freiligrath, Struve, Hecker und Lassalle. Dafür standen aber auf seinem Kleiderspind neben Schiller's sämtlichen Werken – die „Phantasie an Laura“ konnte er noch von seinem Brautstand her wörtlich auswendig – dem Gebetbuch seiner seligen Frau und Lieschen's Schulbüchern drei ganze Jahrgänge der Kölner „Rheinischen Zeitung“ von 1847, 1848 und 1849, sowie ein dicker, mit starker schwarzer Knopfseide zusammengehefteter Band revolutionärer Flugschriften, Aufrufe, Reden und Gedichte. Dafür aber lag in der mittleren Kommodenschublade, wozu er den Schlüssel stets in seiner linken Westentasche trug, unter den Hemden [875] seiner seligen Frau, neben der sorglich in einem Schächtelchen geborgenen Nationalcocarde, ein fleckenlos gehaltenes Heft, von dessen Existenz selbst Lieschen nie etwas erfahren hatte. „Das Unrecht des Rechts!“ so stand in langen altfränkischen Lettern auf dem Umschlag. Jeremias hatte die Vorarbeiten zu diesem verborgenen Geistesschatz schon seit 1849 begonnen, wo sein bester Freund und Wandergenosse, Peter Flink, unter der Anklage des Widerstandes gegen die Staatsgewalt zwei Jahre festgesetzt, dadurch in seinem Handwerke ruinirt und schließlich ohne Entschädigung, wegen Beweismangels, wieder entlassen und zur Auswanderung nach Amerika gezwungen wurde. Keine ungerechte Anklage, keine Inconsequenz und Härte des Strafgesetzes, wovon die im „Goldenen Lümmel“ gehaltenen beiden Zeitungen Meldung brachten, entging seit jener Zeit den Augen Lump’s. Er sammelte diese Nachrichten so gewissenhaft, wie ein Goldgräber den Goldstaub, eine Braut die Liebesbriefe des Bräutigams und ein zum ersten Male amtirender Pfarramtscandidat seine Gedanken. In unbewachten Stunden suchte er dann aus der Fülle des vorliegenden Materials die schroffsten Fälle aus, klebte dieselben auf und versah sie mit säuberlich geschriebenen Randbemerkungen. Das Endresultat dieser Sammlung bildete eine: „Der Zukunftsstaat im Rechtszeitalter“ betitelte Abhandlung, eine Arbeit, die niemals fertig wurde und sich aus einzelnen, abgerissenen, monatelang von einander entfernten, zwar confusen und barocken, aber unstreitig neuen und eigenartigen Gedanken und Einfällen zusammensetzte. Dieses Manuscript war Jeremias’ bestes Eigen. Was dem Geizhals sein Arnheim, dem Minister sein Portefeuille, dem Bischof sein Krummstab, das war Jeremias Lump sein „Unrecht des Rechts“. Er bewahrte das Manuscript nicht in einem Secretär oder Pulte auf – es schlummerte friedlich unter den Hemden seiner Seligen – er bot es auch keinem Verleger zum Druck an, und doch war er vernarrter in dasselbe, als ein Poet in sein erstes Bändchen halbflügger Jugendgedichte.

Von der Existenz des Heftes wußte, wie gesagt, außer ihm selbst keine sterbliche Seele; der Inhalt desselben aber war nichtsdestoweniger in Lump’s Umgangskreisen mehr oder minder bekannt; denn Jeremias fielen die guten Gedanken nicht von selbst in den Schoos; wie Lessing mußte er sie „durch allerlei Röhren und Druckwerk“ aus sich herauspressen, aber gerade die Schwierigkeit der Geburt machte ihm seine Geisteskinder noch lieber, prägte sie seinem Gedächtniß nur noch fester ein, und häufig genug brachte ihn das Citiren seines geliebten revolutionären Gedankenschatzkästleins bei den abendlichen Sitzungen im „Goldenen Lümmel“, die er namentlich in der letzten Wochen übermäßig lange ausdehnte, mit seinen Freunden und Bekannten heftig an einander. Des Meisters Schwiegersohn in spe hatte sich sogar vor drei Wochen bei ähnlichem Anlaß zu der verwegenen Aeußerung hinreißen lassen, mit einem so verbissenen alten Socialdemokraten wolle er nichts mehr zu schaffen haben. Fritz hatte sich seitdem auch wirklich ganze vierzehn Tage nicht auf der Werkstatt sehen lassen.

Alle diese Thatsachen, Erinnerungen und Erlebnisse, gewürzt und durchzogen von dem Dufte des mangelnden Gänsebratens, tanzten Jeremias jetzt durch den trüben, müden, duselnden Kopf und, halb ungewiß, ob er das letzte Knopfloch an dem neuen Ueberzieher fertig eingefaßt habe oder nicht, entschlief er.

Ihm träumte, er sei gestorben und er flöge nun glattrasirt, wie es nur an besonders hohen Feiertagen bei ihm vorkam, im weißen Leichenhemde, sein „Unrecht des Rechts“ unter dem Arme, gen Himmel, dem heiß ersehnten Ideallande der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entgegen. Er flog gerade über Schwatzhausen, seiner Vaterstadt, empor und blickte erstaunt auf die blauen Dächer, die grünen Alleen und den breiten klaren Strom, der an der Stadtmauer vorbeifloß. Wie oft hatte er an seinem Ufer gesessen und geangelt! Und die Kirchthurmspitze von St. Agatha, mit dem angrenzenden Treppengiebel des „Goldenen Lümmel“, wo er so manchen Schoppen Bier geleert – wie merkwürdig herrlich sich das Alles von oben ausnahm! Es that ihm ordentlich leid, daß das Schöne ihm so schnell aus den Augen schwand. Aber mit Blitzesschnelle ging’s aufwärts, an der Sonne und den Sternen vorbei durch eine, wie ein umgekehrter erweiterter Trichter sich emporspitzende prächtige Waldschlucht, deren Bäume – das Wasser lief ihm im Munde zusammen! – dicht mit Braunschweiger Würsten, Schinken, Aachener Printen, gebratenen Gänsen und Punschsyrupflaschen belaubt waren, bis unter ein zweites, schöneres, anscheinend größeres, helleres Himmelsdach. Die Sterne und Planeten dieses Firmamentes hatten die buntesten Farben und Formen. Sie flammten gelb, grün, roth, blau, braun, schwarz und weiß, violett und bronzen, in Quadrat-, Dreieck-, Ring-, Raketen- und Guirlandengestalt, ein Feuerwerk, wie Jeremias so herrlich es nie gesehen, selbst nicht vor fünfundzwanzig Jahren, bei dem ersten und letzten Schwatzhausener großen Sängerfeste. Immer weiter, wohl eine halbe Stunde, flog der todte Schneidermeister durch diesen Zauberhimmel, bis er schließlich in einen Strom blendend rothen, wie vom Winde bewegten Lichtes kam, dessen Wellen ihn sanft emportrugen vor eine riesige, von oben bis unten mit glänzenden, nagelneuen Ducaten beschlagene Thür.

Prüfend betastete er das Ducatenthor mit den Händen. Es waren leibhaftige, echte Ducaten; er merkte es genau, wenn er auch nur einmal in seinem Leben, und das war an seinem Hochzeitstage, wo die Mutter ihm das Stück als Heckepfennig schenkte, einen solchen besessen hatte. Lange blieb ihm aber zur Bewunderung des Goldthores nicht Zeit; denn kaum hatte er es ein paarmal prüfend auf- und abgetastet, als es mit einem gewaltig dröhnenden Tone, welcher aus einer mächtigen Baßtuba zu kommen schien, aufsprang und sich sofort wieder hinter ihm schloß. Jeremias stand in einer mit tausend Engeln gefüllten, edelsteinbesäeten, säulengetragenen, hochgewölbten Vorhalle. Sie war wohl zwanzigmal so hoch, wie das Chor der St. Agatha-Kirche. Am Eingange saß auf einem rothen Plüschstuhle an einem kleinen, perlmuttereingelegten Tischchen, wie sie der Schreinermeister Burr, Jeremias’ Nachbar, so theuer verkaufte, ein alter, verschrumpfter Greis mit einem mächtigen Schlüsselbunde vor sich.

„Ah, Jeremias Lump!“ sagte der Greis, „bist Du auch da?“

„Zu dienen!“ erwiderte Jeremias unter tiefer Verbeugung, als ob er den Hut lüften wollte, nach seinem Kopfe greifend. „Habe ich die Ehre, Seine Gnaden Herrn Sanct Peter – –“

„So ist mein Name!“

„Wo ist denn meine Frau, gnädiger Herr Petrus?“

„Deine Frau? Ja, die ist im Frauenhimmel.“

„Im Frauenhimmel?“ echote Jeremias erstaunt. „Giebt es denn hier für die Weiber einer besondern Himmel?“

„Natürlich!“ versetzte Petrus. „Sonderbar, daß Du das nicht weißt. Wenn Du aber Dein Weib einmal sehen willst, so soll’s Dir vergönnt sein.“

Der Heilige winkte einem nebenan stehenden Engel, welcher Jeremias unverzüglich beim Arme nahm und ihn durch die Halle über eine hohe Marmortreppe an eine kleine Thür führte, in deren Mitte ein Schiebfenster sich befand.

„Sieh’ hin!“ sagte der Engel. Jeremias guckte durch das kleine Fenster und erblickte in einem endlosen, mit starkem Gänsebratendufte gewürzten Saal tausend und abertausend weißgekleidete Frauen auf goldenen Bänken, phantastische Handarbeiten machend, wozu sie Lieder sangen, so seltsam hell, so überirdisch kräftig, daß er fast betäubt davon wurde. Je länger er hinschaute, desto unermeßlicher schien ihm der Raum, desto zahlreicher die versammelten Weiberschaaren. Die letzten Reihen erblickte er nur als weißen Nebel, woraus hier und da, wie aus einer Weihrauchwolke, ein paar verschwommene Köpfe sichtbar wurden. Die Unendlichkeit des Saales erfüllte ihn mit einem gewissen Grauen, welches nur durch die stumme Befriedigung darüber gemildert wurde, daß die himmlischen Arbeiterinnen keine einzige Nähmaschine benutzten. In einer der mittleren Reihen saß auch seine Frau.

„Evchen!“ rief Jeremias. „Evchen! Evchen!“ rief er noch einmal aus Leibeskräften. Aber Evchen hörte und sah nicht.

„Die kennt mich ja gar nicht mehr,“ sagte Jeremias, dem Engel zugewendet.

„Das darf Dich nicht wundern,“ versetzte dieser. „Die seligen Geister dieser Orte sind aller Erinnerung an die Erdenwelt bar.“

„In welchen Himmel komme ich denn?“ fragte Jeremias.

„Du? – Du kommst wahrscheinlich in den Armenhimmel.“

„Wie viele Himmel giebt es denn eigentlich hier?“

„Das weißt Du auch nicht? Sechs Himmel haben wir. Einen für die genialen Menschen, einen für die Talentvollen und einen für die Armen im Geiste, und zwar für beide Geschlechter immer einen besonderen – das macht zusammen: sechs.“

„Und ich soll in den letzten?!“ rief nun Jeremias etwas gereizt.

„Ja, es sei denn, daß Du auf Erden eine besonders hervorragende geistige That vollbracht hättest.“

[876] „Eine besondere That, Herr Erzengel?!“ schmunzelt Jeremias. „Na, dann schauen Sie einmal her!“ und mit einer energischen Bewegung hielt er dem seligen Geiste sein Manuscript unter die Nase. „Da glaube ich denn doch, daß ich mindestens unter den Talentvollen ein Plätzchen bekomme.“

„Ich kann irdische Handschriften nicht lesen,“ erwiderte der Engel, nachdem er einen flüchtigen Blick auf das Heft geworfen hatte. „Kennst Du hier Jemanden, der Deine Schrift zu beurtheilen vermöchte?“

„Ja natürlich!“ rief Jeremias. „Fähren Sie mich nur zu Ferdinand Lassalle oder zum Professor Gottfried Kinkel – doch nein, der ist noch nicht todt. Also zu Herrn Lassalle, wenn ich bitten darf – der ist auch gewiß der Beste.“

Stillschweigend schwebte der Engel mit unserem Meister durch einen weiten Park, aus dessen Gebüschen Paradiesvögel und Papageien flatterten und herrliche Fontainen Punschsyrup in die Höhe spritzten, bis zu einer dichten Laube. Diese bildete den Eingang zu einem andern Saale, der ebenfalls mit seligen Geistern ausgefüllt war. Statt aus Gold waren die Bänke hier uns Rubinen, aus faustgroßen Smaragden und Topasen zusammengesetzt, und die darauf Sitzenden sangen nicht, sondern declamirten in einer unverständlichen Sprache. Der Engel schritt hinein. Jeremias wollte ihm folgen, wurde aber wie von einem unüberwindlichen Drucke an der goldenen Schwelle zurückgehalten.

Nach einer kurzen Weile trat der Himmelsbote wieder heraus in die Laube, hinter sich Lassalle. Sonderbar, so lange Lassalle noch im Saale war, trug er ein ebenso blaues Gewand wie alle anderen dort Anwesenden, leuchteten seine Züge und seine Hände ebenso weiß. Kaum aber. hatte er die Schwelle überschritten, als er dieselben schwarzen Beinkleider und denselben tadellosen Frack trug, welche schon bei der Gerichtsverhandlung in Düsseldorf, wo Jeremias ihn zuerst erblickte, dessen bekleidungskünstlerische Bewunderung in so hohem Maße erregt hatten. Ein penetranter merkwürdig natürlicher Gänsebratenduft schien an Stelle des Lichtstromes getreten zu sein, welcher den berühmten Agitator eben umfloß.

„Etwas Neues?“ fragte Lassalle.

„Jawohl!“ sagte der Engel und überreichte ihm Jeremias’ Manuscript. „Ich erbitte mir Dein Urtheil darüber.“

Lassalle durchblätterte das Heft flüchtig und versetzte dann: „Das ist crasser Unsinn. Du mußt den Mann in’s Purgatorium sperren. Er hat sich eine verrückte Grille in den Kopf gesetzt.“

„Was?“ schrie Jeremias; „Unsinn? Verrückte Grille? Einsperren? – Wie können Sie so etwas – sagen, Herr Lassalle? Wollen Sie denn vielleicht leugnen, daß unsere gegenwärtigen Rechtszustände im Allgemeinen total unhaltbar sind, daß dem unschuldigen durch das Gesetz geschädigten Staatsbürger noch immer keine Entschädigung wird, daß die Herrschaft des Capitals, die Classenwirthschaft, das Fabrikwesen, die Nähmaschinen jeden ehrlichen Handwerker, der es mit der soliden Handarbeit hält, in’s Elend stürzen? Haben Sie nicht selbst in Düsseldorf –“

Lassalle gab dem Engel das Manuscript zurück und sagte:

„Laß es verschwinden!“

Der Engel trat mit dem Fuße leicht auf den Boden. Durch den Tritt entstand ein Loch, woraus eine lodernde Flamme emporschlug, sodaß Jeremias entsetzt zur Seite sprang, aus den Flammen aber tauchte das lachende Gesicht eines gehörnten Teufels hervor, dem der Engel das „Unrecht des Rechts“ in den weit aufgesperrten Rachen schlenderte. Dem Schneidermeister wankten die Kniee. Lassalle wandte sich zum Fortgehen.

„Aber erlauben Sie, Herr Lassalle!“ kreischte Jeremias auf und faßte den Davonschreitenden mit dem Muthe der Verzweiflung am Frackzipfel. „Das ist denn doch ein Bischen stark! Wenn das Recht sein soll –“

„Laß mich in Ruhe!“ rief Lassalle. „Du bist hier im Himmel und nicht auf der Erde. Was kümmern mich Deine verrückten Allotria? Meinst Du vielleicht, Du könntest Deine dummen Gleichheitsideen und Rechtsbegriffe auch hier an den Mann bringen und mit Socrates, Dante, Goethe und Luther an einem Tische sitzen? Da irrst Du Dich doch gewaltig. Ungenügsame Menschen! Wollt Ihr auf der Erde schon einen Himmel haben, so begehrt Ihr hier noch einen besseren, und gäbe man ihn Euch, Ihr würdet bald wieder nach einem angenehmeren verlangen. Ach, auch ich strebte leider einmal, Euch zu helfen. Eure wirklichen und, was noch mehr, Eure eingebildeten Leiden zu mildern – aber sehr mit Unrecht! Euch Menschenkindern ist nie geholfen, weil Ihr meist Euch selbst nicht helft, weil Ihr nie Selbstbeschränkung, kein Pflichtbewußtsein, keine Erkenntniß besitzt. Thörichter Mann Du! Hättest Du, anstatt Deine Zeit mit den dummen Schmierereien zu vertrödeln und im ‚Goldenen Lümmel‘ Deine Hosen durchzurutschen“ – Jeremias, an seine Schneiderehre gefaßt, schaute unwillkürlich nach seinem hinteren Menschen, erblickte aber nur sein Leichenhemd – „hättest Du in an den schönen unbenutzten Stunden Flickarbeit gemacht, so könntest Du Dir jetzt zwei Gänse kaufen und eine Flasche Punschextract dazu. Dann brauchtest Du heute, am heiligen Sylvesterabend, nicht Pellkartoffel mit Häringen zu essen. Es ist ja eine Schande. Ein ordentlicher Arbeiter, der tüchtige, solide Handarbeit macht, und dann auf Sylvesterabend Pellkartoffel mit Häringen!“ –

Lassalle verschwand. Dem armen Schneidermeister waren die Thränen in die Augen gestiegen. Er schämte sich vor dem Engel und wollte sein Taschentuch herausziehen und sich die Nase zu putzen suchte aber wieder vergebens nach seinem Beinkleide.

„Komm in’s Purgatorium!“ sagte der Engel.

Jeremias trat drei Schritte zurück. Er wußte zwar nicht ganz genau, was das Purgatorium war, aber er verband mit dem Worte instinctiv den Begriff eines abgeschlossenen, Freiheitsentziehung bedingenden Raumes.

„Fällt mir gar nicht ein,“ sagte er entschlossen. „Heute ist Sylvesterabend und morgen Lieschen’s Geburtstag, und ich muß Lieschen ein neues Kleid schenken und muß auch noch die Knopflöcher glatt bügeln. Zudem, Herr Engel, gestehe ich Ihnen, daß es mir hier durchaus nicht gefällt. Wo einen die Frau nicht einmal wieder erkennt und so merkwürdig mit fremdem Eigenthum umgegangen wird, wo alles, was im Wochenblättchen steht, so schnurstracks herumgedreht wird und man nicht einmal seines Lebens sicher ist, da soll doch lieber gleich ein heiliges Schockmillionen –“

Aber er konnte den Fluch nicht aussprechen; denn kaum hatte er ihn auf den Lippen, als alles um ihn her in stockfinstere Nacht versank und er aus unmeßbarer Höhe in sausender Courierzugsschnelligkeit herunterwirbelte, immer tiefer, tiefer und tiefer, bis er mit seinen bloßen Füßen am Schwatzhausener Stromufer mitten in einem Distelstrauch zur Erde gelangte und mit einem lauten „Au!“ in die Höhe fuhr.

„Was ist Dir, Vater?“ hörte er die silberne Stimme Lieschen’s in sein Ohr klingen.

Schwer aufathmend schaute Jeremias mit blinzelnden Augen um sich. Wahrlich, da lag er auf seinem geliebten Werktisch, mitten unter den Flicken, auf seinen Füßen der Kater, sein zärtlicher Hitzepitz, der im Uebermaß animalischen Wohlbehagens nochmals seine spitzen Krallen in des Meisters Socken hakte, an einer Wiederholung seines Liebesbeweises aber durch einen wohlgezielten Fußtritt gehindert wurde.

Da lag er – da stand das wackelige Kleiderspind, die Kommode und der geborstene Ofen, und hinter dem Ofen das hölzerne Ellenmaß. Da hingen noch die altersgelben Lithographien der Revolutionshelden und die grünen Laubgardinen an dem kleinen Fenster; da waren die Schindeldächer und schwarzen Schornsteine, die das Wintermondlicht jetzt mit einem magischen, wunderbar sanften Glanze überschüttete. O, wie schön war es doch! Wie schön! Wahrhaftig, es war schöner als im Himmel!

„Du hast lange geschlafen, Vater,“ sagte Lieschen. „Ich wollte Dich eben wecken; denn es ist beinahe acht Uhr, und Du weißt, heut ist Sylvesterabend. Ich muß doch den Werktisch noch etwas abräumen!“

„Ja natürlich, Kind,“ murmelte Lump verwirrt, wischte sich den Schweiß von der Stirn und krabbelte sich mit seinen mageren Armen und Beinen vom Tische.

„Der Küster hat seinen Rock schon holen lassen. Die Magd hat fünf Thaler auf Abschlag mitgebracht. Den Rest bekämest Du nach Neujahr, ließ der Küster sagen.“

„Fünf Thaler?!“ rief Meister Lump. „Wo sind sie?“

„Hier, auf der Kommode!“

In einem Sprunge war Jeremias an dem alten Möbel und bedeckte mit einer raubthierartigen Bewegung die aufgezählten Thalerstücke mit beiden Händen Nie hatte ihm ein Tagelohn

[877]

Sepp’s Brief.
Nach dem Oelgemälde von F. Defregger.

[878] solche Freude gemacht. Ueberwältigt von den durch einander fluthenden Empfindungen, die ihm fast den Athem in der Brust zusammenpreßten, mußte er sich ein paar Secunden an die alte Kommode lehnen, dann aber entrang sich seinem Munde ein lautes:

„Hurrah, Kind! Nun können wir heute Abend doch unsere Gans essen und unseren Punsch trinken! Nun will ich aber doch gleich –“

Und hastig nach seiner Kappe greifend wollte der alte Meister mit Jünglingseile zum Zimmer hinaus.

Aber welch eine Zaubergewalt nagelte ihn auf einmal an den Boden und ließ ihn mit abgesperrten Augen nach der offenen Thür des anstoßenden Wohnzimmers starren? Waren es nicht Männerstimmen, die daraus hervordrangen? –

„Vater,“ sagte Lieschen leise und legte ihren runden Arm um seine Schulter, „der Gänsebraten ist fertig, und auch der Punsch, und Fritz und Fritzens Vater sind auch da. Und der Fritz hat auch drei Flaschen Brauneberger mitgebracht; denn Fritz ist gestern Meister geworden und –“

Aber Lieschen wurde am Weitersprechen verhindert; denn Fritz trat mit seinem Vater in die Werkstätte und nahm den alten Schneidermeister bei der Hand und schüttelte diese so herzlich, daß Jeremias vor Schmerz und Freude die Augen überliefen Und nachdem dann das wichtige Tagesereigniß und die daraus folgenden Consequenzen mit lauter Stimme wirr durch einander dem Alten in die Ohren posaunt worden und er Fritz und das liebe Töchterchen geküßt und dem letzterer sein Geburtstagsgeschenk, das neue Kleid, überhändigt hatte, schritten die vier armen glücklichen Menschen in’s Wohnzimmer und bewunderten die dort von Fritz und seinem Vater aufgestapelten Herrlichkeiten.

Jeremias aber, bevor er sich zu Tische setzte, schritt unter dem Vorwande, eine andere Jacke anziehen zu wollen, in die Werkstätte, nahm aus der mittleren Kommodenschublade – er fand es blindlings – sein „Unrecht des Rechts“ heraus und überlieferte es resignirt dem Feuermunde des geborstenen Arbeitsofens. Weder an jenem Abende, noch bei anderen Gelegenheiten hat er seine geliebten oppositionellen Weltverbesserungsideen wieder ausgekramt. Jenen Sylvestertraum aber hat er desto häufiger erzählt, und der Küster - mit welchem er in der Folge ganz gut Freund wurde – bezeichnete denselben stets als einen Finger Gottes.

Er hatte ihn nicht vergebens geträumt, den sonderbaren Traum, der socialdemokratische Schneidermeister. In emsiger, unverdrossener Thätigkeit, die nur durch’s Alter und die von Lieschen ihm geschenkten munteren Enkel manchmal unterbrochen wurde, füllte er sein Leben bis an sein seliges Ende mit solider Handarbeit aus, und eine besondere Freude gewährte es ihm, wenn er den Pfahlbürgern Schwatzhausens Sonntags Abends im „Goldenen Lümmel“ sozusagen aus eigener Anschauung versichern konnte, daß es im Himmel keine Nähmaschinen gäbe.





Der Vorläufer des St. Gotthardtunnel.

Eine Parallele zwischen Einst[WS 1] und Jetzt.

Unsere Zeit liebt das Außergewöhnliche, das Gigantische. Die Bauwerke der Gegenwart, mögen es hochgethürmte Viaducte oder unterirdisch gesprengte, langhin sich ausdehnende Felsentunnels sein, sie haben nur dann sich einer Beachtung zu erfreuen, wenn ihre Dimensionen das Gepräge des Großartigen und mit diesem zugleich die Grenzen des jetzt Erreichbaren ausweisen.

Seit längerer Zeit erfreut sich die Anlage und Ausführung des großen St. Gotthardtunnels der Beachtung der ganzen civilisirten Welt.

Angesichts solcher allgemeinen Beachtung, welche das bewunderungswürdige Bauwerk findet, dürfte ein Blick auf dessen Vorläufer nicht uninteressant sein. Derselbe, das Urner Loch, markirt eine entlegenere Zeit, eine bescheidenere Verkehrstechnik.

Wenn wir von dem Orte Göschenen bergaufwärts schreiten und somit über die nördliche Mündung des großen St. Gotthardtunnels hinweg, durch die Höllenschlucht der Schöllinen marschiren, gelangen wir in etwa dreiviertel Stunden zur Teufelsbrücke, um ungefähr fünf Minuten später das einstmals vielbewunderte Urner Loch zu erreichen.

Als im Jahre 589 n. Chr. die Langobarden von Süden her über den St. Gotthard zogen und nordwärts in die Thäler hinabsteigen wollten, fanden sie, am Nordende des weiten, ebenen Urseren Thales angelangt, eine wildromantische Felsschlucht, in die, in jähem Falle, rauschend und tosend, die Reuß sich hinabstürzte. An den Felswänden entlang wurde von den Langobarden eine theilweise Ueberbrückung der Schlucht angebracht, die, in Ketten hängend, Jahrhunderte hindurch den Weg in’s Reußthal hinab ermöglichte.

Erst im Jahre 1707 beschlossen die Bewohner des Urseren Thales, den Durchbruch des den Weg versperrenden Felsens ausführen zu lassen. Pietro Moretini aus dem Meyenthale (jetziger Canton Tessin) übernahm die Ausführung des Unternehmens, und am 18. October 1707 wurde mit den Arbeiten begonnen, und schon am 10. August 1708 konnte man den fertigen Tunnel passiren, sodaß die Langobardenbrücke nun überflüssig geworden war. Die Bewohner des Urseren Thales zahlten dem Pietro Moretini 8149 Münzgulden, und der Canton Uri gab die Bewilligung, daß von den Passirenden ein Wegegeld zu fordern sei, „bis die Unkosten wieder bezahlet“.

Der damals vielbewunderte und schnell berühmt gewordene Tunnel wurde zuerst das Urseler, dann aber allgemein das Urner Loch genannt. Die Dimensionen dieses Felsendurchbruchs werden mit zweiundvierzig Klafter und vier Schuh Länge, acht Schuh Höhe und sieben Schuh Breite angegeben. In der Mitte befand sich eine mit einem eisernen Gitter verwahrte Oeffnung, die gleich einem Fester den Blick in die Reußschlucht hinab ermöglichte.

Ein friedliches Dasein war dem Urner Loch während eines Zeitraumes von einundneunzig Jahren geschieden, und in buntem Wechsel durchzogen im Laufe der Jahrzehnte Kaufleute und Wanderer, Säumer und sonstige Reisende das Felsenthor.

Im Jahre 1799 marschirten dagegen österreichische, französische und russische Heeresmassen durch dieses Felsenthor, um die Schrecken des Krieges in die sonst so friedlichen und stillen Hochthäler zu tragen. Vom Mai bis August 1799 bekämpften sich Franzosen und Oesterreicher mit wechselndem Erfolge an den nördlichen und südlichen Abhängen des St. Gotthard; die Generäle Soult, Suchet Lecourbe und Haddik erschöpften alle taktischen Künste, und die gänzlich verödeten Hochgebirgsthäler bezeichneten den Schauplatz des in seiner Art seltenen Gebirgskrieges.

Im September des Jahres 1799 erschien am südlichen Fuße des St. Gotthard der hochbejahrte Marschall Suwarow mit einem russischen Heere, das circa 25,000 Mann und 5000 Pferde in seinen Reihen zählte. In verwegenen Angriffen theuere Erfolge erringend, drangen die Russen siegreich vor, um schließlich, vor dem Urner Loche angelangt, dasselbe verstopft zu finden. Die fliehenden Franzosen hatten um ihren Verfolgern das weitere Vordringen zu erschweren, einen Theil des Loches durch Sprengung und Verstopfung unwegsam gemacht.

Das Werk des Pietro Moretini, der erste Tunnnel, der am St. Gotthard sich befand, war jetzt ein strategisch wichtiger Punkt geworden, und gutgezielte Flintenschüsse, welche die Franzosen zwischen den Spalten der im Tunnel errichteten Steinbarricade hindurch abfeuerten, streckten dort manchen Russen zu Boden. Die Russen räumten den Schutt und die aufgerichteten Steinblöcke hinweg und marschirten, das Urner Loch passirend, nordwärts in das Reußthal hinab, um in neuen mörderischen Kämpfen das trügerische Waffenglück zu erproben.

Obwohl schon am 25. Juli 1775 der englische Mineralog Greville per Kutsche die erste Fahrt über den St. Gotthard gewagt und 1793 ein anderer Engländer dasselbe Experiment wiederholt hatte, war der Weg über den Berg bis in die Zeit von 1820 bis 1880 im Großen und Ganzen doch nur ein Saumpfad zu nennen. Als in jenen Jahren die heutige kunstvolle Straße über den St. Gotthard gebaut und gebahnt wurde, hat man auch das Urner Loch erweitert und vergrößerst und 1827 wird es als eine Felsengallerie von 210 Fuß Länge und von 12 bis 15 Fuß Höhe geschildert.

Daß dieser in der Gegenwart unbedeutend erscheinende Tunnel ehemals eine außerordentliche Berühmtheit und Wichtigkeit erlangte, wird uns erklärlich, wenn wir bedenken, daß über der St. Gotthard [879] und mithin durch diesen Tunnel die am meisten zwischen Italien und der Schweiz beziehungsweise Deutschland benützte Verkehrsstraße sich hinzog. Ehe noch die Straße vervollkommnet wurde, passirten jährlich mehr denn 16,000 Menschen und 9000 Pferde, den Unbilden und den mannigfachen Gefahren der Hochgebirgswelt trotzend, den St. Gotthard und in Folge dessen auch das Urner Loch.

Seit circa einem halben Jahrhundert durcheilten eidgenössische Postkutschen und Postschlitten das Urner Loch, und Tausende von Menschen erfreuten sich alljährlich an dem jähen Wechsel der Scenerie, den dieser kurze Tunnel an seinen Ausgangspunkten in höchst überraschender Weise gewährt. Der unsterbliche Sänger Tell’s erwähnt auch in seinem Meisterwerke die grauenvolle Höllenschlucht der Schöllinen, die, von jeder Vegetation entblößt, von der nördlichen Mündung des Urner Lochs sich nordwärts zu den weiteren und anmuthigeren Thalgeländen hinabsenkt, und gedenkt des stillen, freundlichen Hochthales, der weiten, anmuthigen und grünen Hochebene von Andermatt und Hospenthal, indem er seinen schweizerischen Volkshelden begeistert von dem „Thal der Freude“ sprechen läßt. Tief unter dem Urner Loche und diesem „Thal der Freude“ durchbohrt heute den Riesenleib St. Gotthards der 14,920 Meter lange St. Gotthardtunnel, eine der stolzesten Leistungen unseres Jahrhunderts.

Wenn aber nach der Eröffnung desselben für den Eisenbahnverkehr in der dunklen Tiefe da unten das Dampfroß auf glattem Schienenwege mit Windeseile seinen Weg zurücklegt, wird keine Eidgenössische Postkutsche mehr über den St. Gotthard rollen. Der Transitverkehr im hochgelegenen Urserenthale, seit Jahrhunderten die Haupterwerbsquelle der Bewohner, wird dann gänzlich versiegen, und nur während des Hochsommers werden vereinzelte Touristen das weite stille Thal besuchen, um vielleicht vorübergehend oder während kurzer Wanderrast sich an der nahen großartigen Hochgebirgsscenerie zu erfreuen. Die Bewohner des Urseren Thales werden, ihren jetzigen Haupterwerb einbüßend, zum großen Theil entweder auswandern oder zu anderem bis jetzt ungewohntem Erwerbe greifen müssen. Karl Stichler.




Um die Erde.

Von ’’Rudolf Cronau’’.
Fünfter Brief: Baltimore.

Die Eisenbahn, welche New-York mit Philadelphia und Baltimore verbindet, führt durch zwei Reihen Bretterzäune und Holzbaracken, auf denen abwechselnd die Worte: „Iron Bitters, a true tonic“ („Eisen-Bitter, ein wahres Stärkungsmittel“) – „Use Blood Pills, good for all pains“ („Blutpillen, gut gegen alle Schmerzen“) und ähnlich lautende Ankündigungen in riesengroßen Lettern, bald gelb und grün, bald roth und schwarz zu lesen sind. Nur ab und zu ist dieser Spießruthengang unterbrochen, und der Reisende gewahrt, daß er durch eine wirkliche Landschaft fährt, eine Landschaft mit Wäldern und Wiesen, mit Dörfern und Städten und Strömen, von welch letzteren einige weltbekannte Namen tragen wie: Delaware, Susquehanna, Brandywine etc. Nach Hesse-Wartegg, der bekanntlich über die Vereinigten Staaten ein umfangreiches Buch geschrieben hat, soll die Gegend sogar eine der fruchtbarsten der Welt sein, und wahrlich, wenn die Industrie und Agricultur mit dem üppigen Stande der Reclame nur annähernd gleichen Schritt hält, sind die Länder an der Pennsylvania-Bahn ein zweites Canaan.

„Lookout for the locomotive“ („Hab’ Acht auf die Locomotive!“) ist das zweite charakteristische Avis, das dem Auge des Europäers begegnet. Der sich immer wiederholende einfache Satz auf der weißgestrichenen Planke belehrt uns, daß wir im Lande der Selbsthülfe sind, wo Bahnwärter, Barrièren und Warnungstafeln nicht zu den gewöhnlichen Institutionen gehören; wir befinden uns in einem Lande, wo die Züge, unbekümmert um das, was etwa ihren Weg kreuzen könnte, in die Welt hinausdampfen, wo der cow-catcher die einzige „sanfte Mahnung“ ist, die uns daran erinnert, daß wir die Augen offen halten und bei Seite zu gehen haben. Der cow-catcher, wörtlich „Kuhfänger“, ist nämlich eine pflugartige Vorrichtung am Kopfe der Locomotive, die alle nicht auf das Schienengeleise gehörigen Gegenstände rücksichtslos bei Seite wirft. Dem Umstande, daß seine Belehrung besonders zahlreich den frei umherlaufenden Kühen zu Theil wird, verdankt das Instrument seinen eigenthümlichen Namen.

Der cow-catcher ist so recht das Wahrzeichen Amerikas und sollte von Rechtswegen mit der Umschrift „Lookout!“ in das Staatswappen aufgenommen, zum wenigsten aber in Riesendimensionen an den großen Hafenplätzen angebracht werden, als erste Mahnung an die Einwanderer, die Augen in jeder Weise offen zu halten. Das Leben in Amerika ist nämlich eine unausgesetzte Schlacht; die Siegenden schreiten unbarmherzig und unaufhaltsam über die Strauchelnden hinweg, und man hat sich darum wohl vorzusehen, daß man nicht falle; denn nur in den seltensten Fällen findet sich Jemand, der einem wieder auf die Beine hilft. Also „Lookout“ – sonst kommt der cow-catcher.

Auf den Bahnen Amerikas giebt es außer den Emigranten-Waggons nur „Erste Classe“, und mit dieser Einführung ist dem armseligen Kastengeist, der in Europa das Reisen manchmal so unangenehm macht, Thor und Thür verschlossen. Ob aber wohl für ewige Zeiten das Gleichheitsgefühl in Amerika so vorherrschend sein wird, daß der Staatsmann, der Senator sich dazu versteht, mit seinem Diener dieselbe Sitzbank zu theilen, daß die reiche, diamantenstrotzende Gemahlin eines Börsenkönigs gewillt ist, dieselbe Luft zu athmen mit der einfachen Handwerkerfrau im Kattunkleide?

Aber trotz Allem ist das Reisen in Amerika leicht und angenehm: nirgends begegnen wir der leidigen Bevormundung des Publicums durch das Bahnpersonal; nirgends ist eine allein reisende Dame den Zudringlichkeiten eines Musterreisenden ausgesetzt. Der Bequemlichkeiten einer amerikanischen Eisenbahnfahrt sind viele – aber davon später vielleicht einmal! Heute will ich Sie in die Stadt führen, die stolz auf die Schönheit ihrer Frauen ist – nach Baltimore. Und fürwahr, man braucht im Staate Maryland nicht mit der Diogeneslaterne zu gehen, um „weibliche Ideale“ zu suchen. Wären unsere Sitten noch die der alten Römer und hauste neben den Maryländern das frauenbedürftige Volk der Latiner, wer weiß, ob ich nicht auch ein – Latiner würde. Die naiven Tage aber sind vorbei; sie kehren nicht wieder. Seitdem die leidigen Statistiker herausgerechnet, daß jetzt die Zahl der Frauen im amerikanischen Staatenbunde fast so groß, wie die der Vertreter des starken Geschlechts, hat man den Glauben längst aufgegeben, daß ein Mädchen „nur nach Amerika“ zu gehen brauche, um sich unter dem halben Hundert ihm zu Füßen knieender, goldsackumgebener Millionäre „den besten“ heraus zu suchen.

Die Damen von Maryland sind – doch soll ich die Schönheit derselben mit kritischem Messer seciren? Wahrlich nein! Freuen wir uns lieber derselben und sagen nur noch, daß die Töchter des Tabakstaates von der Natur besser bedacht sind, als von ihren Modistinnen, und daß sie, wie alle Schönen Amerikas, noch weit reizender sein würden, wenn sie weniger Essig zur Vertilgung der Röthe ihrer Wangen, weniger Quittensaft für ihre Scalplocken gebrauchen wollten.

Baltimore ist aber nicht allein stolz auf seine Frauen, es beansprucht auch den pompösen Namen „die Stadt der Monumente“, und zwar im Hinblick auf die drei Bauten: das Washington-, das Schlachten- und das Wildey-Denkmal. Das bedeutendste derselben, das Washington-Monument, welches ich Ihnen anbei im Bilde vorführe, ist auf einem Hügel in der Nähe der Vernon-Kirche und der Peabody-Librairie gelegen und besteht aus einer mächtigen, 160 Fuß hohen Säule von weißem Marmor, die von einer 15 Fuß hohen Statue Washington’s gekrönt wird. Eine Wendeltreppe führt im Innern bis zu der Plattform des Capitals empor, und soll man von derselben aus einen herrlichen Blick über Stadt, Land und Hafen genießen, den ich mir aber leider versagen mußte, da ich noch unter der Knieprobe der Besteigung des Thurmes der Trinity-Church von New-York zu leiden hatte.

Wohl der schönste Zug im Charakter des amerikanischen Volkes ist die Freigebigkeit bezüglich der Errichtung von Schulen, Spitälern, Waisenhäusern, Bibliotheken u. dergl. Baltimore, die [880]

Die Tannenmeise.

In Wald und Feld ist’s kahl geworden;
Verstummet ist der Lieder Schall.
Es hat der rauhe Wind aus Norden
In’s Grab gelegt die Blumen all’.

Er ließ der Flocken wilden Reigen
Aus grauen Wolken niedersprüh’n.
Nur Eines blieb: An Tannenzweigen
Erglänzt und prangt das dunkle Grün.

Und in den dicht beschneiten Aesten
Ein Vöglein singt, sobald es tagt.
Das schied nicht mit den Sommergästen;
Das hat’s mit Eis und Schnee gewagt.

Die Tannenmeise hat vertrieben
Nicht Sturm und Frost. Ihr lust’ger Laut
Sagt, daß dem Baum sie treu geblieben,
Drinn sie das Nest im Lenz gebaut.

Das Vöglein hat im Zweig gesessen;
Es sang so frisch und frühlingsfroh.
Da hat’s der alte Baum vergessen,
Daß längst schon Lenz und Sommer floh.

Daß Winter herrscht ringsum im Lande
Mit harter Hand, er ahnt es kaum,
Und träumt im weißen Schneegewande
Noch weiter seinen Sommertraum.

Emil Rittershaus.





Stadt der Monumente, darf besonders stolz sein auf die Namen seiner Menschenfreunde; denn keine Stadt des Landes hat Namen aufzuweisen von so gutem Klange, wie: J. Patterson, John Hopkins, George Peabody, Thom. Wilson und Mac Donogh.

Dem Gemeinsinne dieser Männer verdankt die Stadt die trefflichsten Anstalten: das Gebäude der Peabody-Bibliothek mit seinen Bücherschätzen, eines der prächtigsten und bestbestellten seiner Art, die John Hopkins-Universität, welche trotz ihrer Jugend einen hervorragenden Rang unter den Hochschulen des Landes einnimmt, und das von demselben Manne gegründete Hospital. Auch das Deutschthum hat seine gemeinnützigen Bestrebungen durch Errichtung einer vortrefflichen Waisenanstalt bekundet. Die Perle Baltimores aber ist der Druid-Hill-Park. Der amerikanische Maler braucht nicht, wie in Europa, meilenweit nach Motiven zu laufen oder tagelang nach einem seinen Wünschen entsprechenden Baumaste zu suchen: der Park ist reich an auserlesenen alten Baumgruppen, deren Aufbau und Farbenpracht das Auge jedes Künstlers mit Wonne erfüllt; er ist reich an schönen Anlagen, Quellen, Seen und Fontainen, an belebten Wegen wie an Pfaden, die tiefer und tiefer in das verschwiegene

[881]

Das Washington-Denkmal in Baltimore.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[882] Waldesdunkel führen. Nichts ist da zu hören von dem Knirschen der zahllosen den Park durcheilenden Wagen, nichts vom Hufschlage der Pferde, nichts von dem fröhlichen Kreischen der Kinder, die allenthalben auf dem grünen Rasen ihrer Spiele pflegen. Denselben reizenden Anlagen, natürlich in kleinerem Maßstabe, begegnen wir auch in der Stadt, und sie bilden die einzigen Oasen inmitten der sonst erschreckend langweiligen Ziegelwüste. Die Gleichförmigkeit, in welcher die Wohnhäuser, einige Paläste der Aristokratie ausgenommen, der beiden Städte Philadelphia und Baltimore errichtet sind, hat hoffentlich in der ganzen Welt nicht wieder ihres Gleichen. Bar jeder ästhetischen Regung, bar jedes künstlerischen Schmuckes zeigt sich die Außenseite des Heims der Bewohner der beiden Nachbarstädte. Jeder Häuserblock bietet dieselben trostlosen rothen Backsteinwände, dieselben unzähligen, einander aber äußerst ähnlichen Fensterbänke, Thüreinfassungen und Treppen von – weißem Marmor, dieselben schmalen Boudoirfenster im Handtuchformat, welche sechs Wochentage hindurch tief verhangen sind, um am siebenten, dem Sonntage, das stereotype, mit der Regelmäßigkeit eines Perpendikels hin- und hergehende Bild einer „Lady auf dem Schaukelstuhl“ zu zeigen, die mit der Langeweile der Straße um die Wette gähnt.

Es ist wahr, die amerikanische Nation hat bisher nicht viel Zeit erübrigen können, um an Kunst zu denken. Alles, Alles ist ja Geschäft, aber nicht allzu lange mehr wird es dauern, und die Kunst wird mit vollen Segeln ihren Einzug halten in das Land, dem die Zukunft gehört; sie wird und muß das „home“ und die Städte der Amerikaner schöner gestalten, und ihrem Siegeszuge werden die Ausgeburten der Geschmacklosigkeit und Nützlichkeit weichen. Nach fünfzig Jahren werden die Städte Amerikas sicherlich ein ganz anderes Gepräge haben; denn überall schon beginnt sich das Verlangen nach Kunst, nach künstlerischer Umgebung zu regen; die Grundbedingung, das Geld, ist in reichstem Maße vorhanden – und der Amerikaner ist zu intelligent, um sich auf die Dauer dem erquickenden, belebenden Luftstrome der Kunst zu verschließen.

Der herrlich gelegenen Metropole des frauenberühmten Maryland ist eine höchst interessante Geschichte eigen. Der Schriftsteller, welcher es unternimmt, die Chronik amerikanischer Städte zu schreiben, kommt nicht in Versuchung, seine Zeilen durch seltsame Sagen und Wunder aus dem grauen Alterthum herauszuputzen; denn das größte Wunder sind ja eben die Städte selbst mit ihrer schnellen Blüthe und rapiden Entwickelung. Hat doch Baltimore, die fünfte Stadt der Union, z. B. erst vor wenigen Monden seinen 150. Geburtstag gefeiert.

Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich am oberen Patapsco ein Ort, der zu Ehren des damaligen Grundherrn von Maryland, Lord Baltimore, „Baltimore Town“ genannt wurde. So primitiv die ersten Anfänge aber auch waren, in der kleinen Stadt steckte ein Unternehmungsgeist, der mit der Zeit den größeren Häfen und Nachbarstädten viel zu schaffen machte. Die Geschichte Baltimores hat viel Paralleles mit derjenigen Venedigs. Wie dort, so wuchs auch hier ein stolzes, unternehmendes Geschlecht tüchtiger Kaufleute und Seefahrer heran, die auf ihren selbsterbauten schnellsegelnden „Klippern“ alle Meere durchstreiften, zur Zeit der Continentalsperre zu den verwegensten Blockadebrechern gehörten, den ganzen westindischen, mexicanischen und südamerikanischen Handel an sich rissen und das kleine Baltimore noch vor Ablauf des achtzehnten Jahrhunderts zu einer Metropole des Seehandels der Neuen Welt machten. Nicht geringen Antheil an diesem Aufblühen der Stadt hatte der deutsche Theil der Bevölkerung; eine Reihe der achtbarsten Firmen war in ihren Händen, und wie sehr man ihre Intelligenz zu schätzen wußte, geht aus dem Umstande hervor, daß, als 1782 die ersten Stadtväter Baltimores, sieben an der Zahl, ernannt wurden, fünf derselben Deutsche waren.

Auch als die Revolution der dreizehn Colonien ausbrach, standen die Deutschen nicht zurück, und als das Doppelgefecht von Lexington und Concord geschlagen war und der Continental-Congreß Truppen verlangte, bildete sich in Maryland ein vollständig deutsches Regiment und eine deutsche Artillerie-Compagnie, welche beide Truppenkörper mit großer Auszeichnung unter General Smallwood fochten und in mancher Schlacht ihr Blut für ihr Adoptiv-Vaterland vergossen.

Mit dem Jahre 1796 zur „City“ erhoben, wuchs Baltimore immer mehr empor, und wohl verstanden es seine Handelsherren, sich Ansehen zu verschaffen. Im Kriege von 1812 liefen in drei Wochen allein vierundvierzig Kaperschiffe aus dem Hafen der Stadt, und die Heldenthaten derselben bilden eines der glorreichsten Capitel der Geschichte jenes Krieges. Wie sehr die kleine Stadt den Engländern zu schaffen machte, beweist, daß die britischen Befehlshaber 1814 besonders angewiesen wurden, das „Piratennest am Patapsco“ ganz exemplarisch zu züchtigen, aber die Bevölkerung Baltimores, unter Leitung des deutschen Artillerie-Officiers Armstädt, heizte den britischen Linienschiffen dermaßen ein, daß sie vorzogen, sich aus dem Staube zu machen. In bedeutender Zahl fochten die Deutschen Baltimores in dem entscheidenden Kampfe bei North Point mit, wo wieder Oberst Armstädt den Oberbefehl führte und die Engländer schlug. Interessant ist ferner die Notiz, daß innerhalb dieser Kämpfe in Baltimore Amerikas wunderschöne Nationalhymne entstand, das Lied vom Sternenbanner.

Nach Beendigung des zweiten Unabhängigkeitskrieges schwang sich Baltimore erst recht empor, und zahlreiche bahnbrechende Neuerungen sprechen von dem regen Geiste, der die Bewohner der jungen Stadt beseelte.

Hier wurde der erste Flußdampfer gebaut, hier das Kohlenleuchtgas zuerst als Stadtbeleuchtung angewendet. Baltimore ist ferner die erste Stadt, welche eine Eisenbahn anlegte, die erste, in welcher Eisengebäude errichtet wurden, die erste, welche Cylinderformpressen benutzte und die erste Telegraphenleitung des Continentes fertig stellte. Zwar trat im zweiten Viertel des jetzigen Jahrhunderts ein entschiedener commercieller Rückgang ein, aber die Calamität, die den Handel der Stadt zu vernichten drohte, ward überwunden, und heute erfreut sich dieselbe einer Blüthe, wie nie zuvor.

Baltimore ist jetzt eine der hervorragendsten Städte Amerikas, und man darf derselben kühn eine rein deutsche Bevölkerung von hunderttausend Seelen zuschreiben. Wie die deutsche Handelswelt noch heute durch die achtbarsten Firmen vertreten ist, so unterhalten die Deutschen Baltimores ferner zwei Tageblätter und mehrere andere Zeitschriften, eigene, auf Gemeindekosten erhaltene englisch-deutsche Schulen und zahlreiche gesellige und wohlthätige Vereine.




Blätter und Blüthen.

Die Vererbung des Accents. Man erkennt in der Regel den Ausländer an dem „fremden Accent“ seiner Aussprache; denn es ist viel leichter, in den Geist einer Sprache einzudringen, als sich die richtige Wiedergabe der jedem Dialekte eigenthümlichen Modulationen der menschlichen Stimme anzueignen. Bei Leuten, die erst in ihren Jugendjahren fremde Sprachen erlernen, ist dieses Vorhandensein des fremden Accents leicht erklärlich. Der in dem Kindesalter empfangene Eindruck der Muttersprache behält in der Regel den neu einwirkenden Einflüssen gegenüber die Oberhand. Diese allgemein bekannte Thatsache wird jedoch noch verständlicher, wenn man die merkwürdigen Erscheinungen in Betracht zieht, die bei Taubstummen, welche die articulirte Sprache erlernt haben, beobachtet wurden. So berichtete vor Kurzem eine englische gelehrte Fachzeitschrift von einem jungen, von seiner Geburt an taubstummen Schottländer Folgendes: In seinem siebenzehnten Lebensjahre erlangte derselbe in Folge wiederholter Fieberanfälle sein Gehör wieder. Er begann sofort zu sprechen, aber die Hausgenossen konnten ihn nur mit Mühe verstehen und bemerkten bald, daß der junge Schottländer, dessen Eltern aus dem schottischen Gebirge stammten, das Englische mit demselben fremden Accente aussprach, welcher den Hochländern jener Gegend, wenn sie Englisch lernen, eigen ist. Der junge Mann hat aber den gaelischen Dialekt seiner Eltern niemals gekannt, da er das Gehör erst während seines Aufenthaltes in Nieder-Schottland, wo jener Dialekt nicht gesprochen wird, wiedererlangte. Dieser interessante Fall, welcher nur durch die Macht der Vererbung zu erklären ist, steht keineswegs vereinzelt da. Ein Sachverständiger aus Manchester, Joseph Alley, berichtet gleichfalls von einem Taubstummen, der erst in seinem siebenzehnten Jahre das Sprechen lernte. Derselbe hielt sich von seiner frühesten Kindheit in der Grafschaft Lancashire auf, und dennoch verrieth seine Aussprache deutlich den in seinem Geburtsorte, der Grafschaft Stafford, üblichen Accent[WS 2].

Noch interessanter ist schließlich die Wahrnehmung, welche der berühmte Kenner der spanischen Literatur G. Ticknor[WS 3] in der Taubstummenanstalt zu Madrid gemacht hatte: Keiner von den dort aufgenommenen Schülern hat jemals in seinem Leben einen Laut vernommen, und ihre Aussprache war nur das Resultat der Nachahmung der äußeren Bewegungen ihrer Lehrer. Diese Lehrer aber waren ohne Ausnahme Castilianer, und trotzdem sprachen die einzelnen Taubstummen stets mit dem Accente ihrer Provinz das Spanische aus. Man unterschied bei denselben ganz deutlich die eigenthümlichen Accente der Catalonier, der Basken und der Castilianer, ja sogar die selteneren von Andalusien und Malaga. Diese Thatsachen bilden einen interessanten Beitrag zum Capitel von der Vererbung physiologischer Fähigkeiten und bewahrheiten den alten Spruch, daß eben Jeder sprechen muß, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.




Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

[883]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sonst
  2. Vorlage: Accenct
  3. George Ticknor; Vorlage: Tickner